Der Kuss

Ein unscheinbarer Offizier, der schüchternste, farbloseste, bescheidendste der ganzen Brigade, zieht mit seinen Kameraden ins Manöver. Auf dem Weg machen sie halt auf einem Gutshof, wo der Hausherr zu einer Abendunterhaltung mit Ball einlädt. Der Offizier steht abseits und genießt die Musik und den Kognak. Der Sohn des Hausherrn lädt ihn zu einer Partie Billard ein. Auf dem Weg zurück verläuft er sich gedankenverloren in dem Haus und kommt durch ein dunkles Zimmer. Plötzlich hört er eine Frauenstimme: “Endlich!”. Und fühlt, dass die unbekannte Frau ihn umarmt und ihm einen leidenschaftlichen Kuss gibt, im gleichen Moment aber zurückweicht. Es gibt keinen Zweifel: Es handelt sich um eine Verwechslung. Der Offizier kehrt beschwingt zu den Tanzenden zurück und zieht am nächsten Tag, von einem unbekannten Glücksgefühl getragen, mit den Kameraden ins Manöver. Erwartungsvoll sieht er dem Moment entgegen, wo sie auf dem Rückweg wieder an dem Gutshof vorbeikommen. Als es endlich soweit ist, stellt sich heraus, dass es keinen Ball gibt. Der Ball ist abgesagt worden. Der Offizier zieht sich zurück und legt sich ins Bett. Es beginnt eine Zeit der Selbstreflektion, eine Zeit des Nachdenkens über das eigene Leben und das eigene Glücksbedürfnis. Er sieht ein, welche vergeblichen Hoffnungen er an sein eigenes Leben geknüpft hat, in einer Szene, die voller Resignation, voller Melancholie, voller Weisheit ist. Als der Offizier dann erfährt, dass der Ball nun doch stattfinden soll, verzichtet er und bleibt einfach liegen. (Besprechung von Tschechows Kurzgeschichte “Der Kuss”, in “Forum”, SWR2: 01/02/2017)

 

This entry was posted in Leben and tagged , , , , . Bookmark the permalink.