Redefreiheit

„Von diesem Balkon rief der Sozialdemokrat Phillip Scheidemann am 9. November 1918 die Deutsche Republik aus.“ So steht es auf einer Gedenktafel am Berliner Reichstag. Und in Geschichtsbüchern und Chroniken. Und so wird es an deutschen Schulen gelehrt. Das Problem ist: Es stimmt gar nicht. Es handelt sich um eine Blüte deutscher Erinnerungskultur. Populär, aber wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt Photos, Tonaufnahmen und Berichte, aber keine davon ist stichhaltig, und die meisten entstanden erst später. Scheidemann selbst trug zur Entstehung des Mythos bei. In seinen Memoiren, zehn Jahre nach dem umstrittenen Ereignis entstanden, stilisiert er sich selbst zum Ausrufer der Republik. Da spielte er selbst schon keine Rolle mehr in der deutschen Politik. Und seine beiden wichtigsten Kontrahenten, Ebert und Liebknecht (der hatte wirklich eine Republik ausgerufen, die Räterepublik) konnten nicht mehr widersprechen. Sie waren bereits tot. Scheidemann selbst hatte die Rede 1921 in einem Erinnerungsbuch mit keinem Wort erwähnt. In einer Rede  von Carl Seevering, Sozialdemokrat, zum Jahrestag der Revolution 1928 ist von Scheidemann mit keinem Wort die Rede. Erst nach dem Krieg fasste die Legende Fuß. Was den Wortlaut angeht, ist in frühen Quellen davon die Rede, Scheidemann habe vom Sturz der Dynastie und der bevorstehenden Bildung einer neuen Regierung gesprochen. Von der Republik ist nicht die Rede. Was die Photos angeht, stellte sich Scheidemann nachträglich für eine Inszenierung in das Fenster der Reichskanzlei (nicht des Reichstags), zehn Jahre nach der Revolution. Und dann existiert noch ein Photo, auf dem der angebliche Scheidemann akrobatisch und schwindelfrei in Rednerpose acht Meter über dem Boden frei auf einer schmalen Balkonbrüstung steht. Es ist aber nicht zu erkennen, ob es sich dabei um Scheidemann handelt. Experten halten das Photo für eine Montage. (Machtan, Lothar: „Und nun geht nach Hause“, in: Die Zeit 15/2018: 21)

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