Lucca (2004)

3. September (Freitag)

Wie immer, viel zu früh am Bahnhof, erst recht, da der Zug Verspätung hat. Wie die Bahn behaupten kann, nur 20% der Züge hätten Verspätung, ist mir rätselhaft. In Trier ist jedenfalls Verspätung die Regel, nicht die Ausnahme. Irgendwo habe ich mal gelesen, dass nur Züge mit mehr als 10 Minuten Verspätung als verspätet gelten, und vermutlich wird nur die Ankunftszeit am Zielbahnhof gemessen. Das würde jedenfalls die Differenz zwischen subjektiver Wahrnehmung und objektivem Tatbestand erklären.

 

Trotz Verspätung in Koblenz reichlich Zeit zum Umsteigen. Der Zug ist noch nicht einmal angezeigt, und es fahren noch zwei Züge durch. Man bekommt die wahnsinnige, fast furchterregende Geschwindigkeit der Züge regelrecht zu spüren. Wenn man drin sitzt, merkt man nichts davon. Es ist sommerlich warm trotz der späten Zeit. Eigentlich könnte man jetzt ganz gut zu Hause bleiben.

 

Ich teile das Abteil mit einem nach Kohlenpott klingendem Ehepaar aus dem Kohlenpott und einem nach Bayern klingendem Hessen, der so undeutlich spricht, dass ich ihn erst für einen Italiener halte. Er ist weder von dem Bayern noch von dem Italiener sonderlich begeistert. Das Ehepaar ist ausgerechnet aus Essen und spricht mit einer Mischung von Neid und Bewunderung über Oberhausen. Sie waren in dem neuen Aquarium. Besonders angetan waren sie von der Schlange – “Bestimmt 200 Meter Schlange!” Sie können sich minutenlang darüber unterhalten, dass Frankfurt ein Sackbahnhof ist, obwohl sie sich einig sind. “Frankfurt ist ein Sackbahnhof, ne?” – “Ja, Frankfurt ist ein Sackbahnhof.” – “Natürlich ist Frankfurt ein Sackbahnhof.”  – “Sag ich doch.” – Weiß du noch, wie wir nach Mittenwald gefahren sind, da sind wir auch über Frankfurt gefahren, und da hab ich ganz genau gesehen, dass Frankfurt ein Sackbahnhof ist. Da muss der nachher ja rückwärts rausfahren.”- “Ja, ja Franfurt ist ein Sackbahnhof.” Klingt irgendwie nach Loriot. Zur Sicherheit wird auch noch meine Meinung eingeholt: “Frankfurt ist doch ein Sackbahnhof?”

 

Als  die Diskussion darüber losgeht, ob Mannheim nach Frankfurt kommt, kommt der Schaffner und sammelt alles ein: Reservierung, Fahrkarte und Ausweis. Man kommt sich irgendwie nackt vor, aber wenigstens kann nichts geklaut werden.

 

Um halb zwölf werden die Betten gemacht, und um zwölf schlafen alle, außer mir. Zu viel Kaffee am Nachmittag? Oder das beunruhigende Gefühl, besser zu Hause geblieben zu sein?

 

4. September (Samstag)

Jedenfalls muss ich eingeschlafen sein, denn um zwei Uhr, als jemand laut an die Tür klopft, an der Tür rüttelt und bittet aufzumachen, holt er mich dadurch aus dem Schlaf. Ich glaube, es handele sich um ein Missverständnis, aber es ist der Schaffner, der kurz und bündig erklärt, wir müssten in Basel umsteigen. Hier sei Ungeziefer, und es werde ein Sitzwagen angehängt. Wir bekommen auch gleich unsere Dokumente zurück, denn von jetzt ab sind wir normale Fahrgäste. In einem Abteil sind Wanzen aufgetaucht, und wir werden, zum Erstaunen aller anderen Fahrgäste, die neugierig fragen, was denn passiert sei, evakuiert. Statt in einem anderen der acht Wagen passiert es natürlich ausgerechnet in unserem. Praktischerweise werden gleich auf dem Bahnsteig die Pässe kontrolliert. Ich bin erstaunt, wie zügig das Umrangieren geht, immerhin muss unser Wagen aus der Mitte des Zugs abgetrennt und ein neuer angehängt werden, aber insgesamt geht doch eine Stunde verloren und damit mein Anschluss in Florenz. Aber ich vertraue erst mal auf mein Glück von der Pragfahrt.

 

Das Meckern vergeht mir ohnehin, als ich die Geschichte meines neuen Nachbarn höre: Er hat gerade eine dreitätige Klassenfahrt nach Trier hinter sich, und zwar mit 26 Viertklässlern!  Die Klassenfahrt, von ihm weder geplant noch gewollt, hat er für eine schwangere Kollegin übernehmen müssen. Er ist gleich nach der Rückkehr zum Bahnhof gefahren, um diesen Zug zu erwischen. Seine Schwester heiratet in Florenz, und hat ihre Hochzeit gegen seinen Protest in die Schulzeit gelegt. Es ist ohnehin knapp für die Hochzeit um eins, und er muss vorher noch ins acht Kilometer entfernte Hotel, wo seine Frau mit seinem neu gekauften Anzug wartet. Italienisch kann er kein Wort. Sein Bruder, dessen Nummer er nicht hat, hat ihm entgegen der Abmachung keine SMS geschickt, und das Handy seines Vaters, dessen Nummer er hat, ist ausgeschaltet. Als wir so ins Gespräch kommen, stellt er fest, dass er ohnehin in Mailand hätte umsteigen müssen, das aber nicht gemerkt hat, was aber sowieso nichts genutzt hätte, weil wir ja Verspätung hatten. Er kommt aber auf diese Art und Weise noch eine knappe Stunde später an, als er geplant hatte.

 

In der Zwischenzeit sind wir, nach Halsstarre verursachenden Nickerchen und einem starken Kaffee auf Kosten der Bahn, informiert worden, wie wir eine Entschädigung beantragen können. Vermutlich gibt es eine freie Fahrt nach Wittlich Hbf. (einfache Fahrt), nur donnerstags nachmittags, an ungeraden Tagen zu benutzen, bei dem eine über 60-jährige Begleiterin noch eine Ermäßigung von 50% bekommt.

 

Die Fahrt geht am Lago Maggiore vorbei. Im Halbdunkel sieht man zwei Zwillingsberge, von denen der eine im Dunkel liegt, der andere durch Straßenlaternen einen Lichterkranz wie ein Weihnachtsbaum hat. Die Stadt an der schweizerisch-italienischen Grenze heißt Chiasso, ‘Lärm’. Hier ist es auffällig ruhig. Danach verändert der Zug seinen Charakter und wird zum Pendlerzug. Die Gänge füllen sich mit Leuten, die zur Arbeit oder zur Schule in den nächsten Ort fahren. In einem Gespräch schnappe ich telefonino auf, das längst vergessene Wort für ‘Handy’.

 

In Florenz steigt der Lehrer, von meinen wenig hilfreichen guten Wünschen begleitet, als erster aus, ich als letzter. Als ich gedankenverloren dem Ausgang entgegengehe, merke ich auf einmal, dass ich ja noch gar nicht angekommen bin und noch einmal umsteigen muss. Der Zug hat die Verspätung aufgeholt (!) und ich habe reichlich Zeit. Außerdem ist Florenz ein Sackbahnhof! Das erleichtert das Umsteigen. Ich bestehe meine erste Sprachprobe bravourös, indem ich eine Flasche Wasser bestelle. Mit der bewege ich mich zum Fahrplan und stelle fest, dass um 12.30 gar kein Zug fährt. Dann merke ich, dass ich vor dem Ankunftsplan stehe. Alles in Ordnung. Schon kurz danach trifft der Zug ein, ein moderner Schienenbus, der zwischen Pisa und Florenz hin und her fährt. Vor, bei und nach dem Einsteigen werde ich von allen möglichen Leuten gefragt, ob der Zug nach Pisoia, Montecatini oder andere böhmische Dörfer fährt. Keine Ahnung. Kann mich nicht mal jemand fragen, ob der Zug nach Lucca fährt?

 

Der Zug hält in jedem Ort, das erste Mal noch in Florenz. Er ist ziemlich voll, aber die meisten steigen bald aus. Die Fahrt geht über Prato – wo ich der seligen George Eliot gedenke – und über Sesto, das bestimmt nach der Entfernung von Florenz benannt ist, wie Quint in Trier.

 

Ein rumänischer Zigeuner verteilt einen Bettelbrief mit einem furchtbar schmalzigen Text. Ein rauer Italiener neben mir murmelt etwas von lavorare, zerreißt den Zettel und wirft ihn in den Abfall. Der Zigeuner, der laut Text auch mit einem freundlichen Lächeln zufrieden gewesen wäre, sammelt Briefe und Geld mit kalter Geschäftstüchtigkeit ein. Als er zu dem Italiener kommt, ist von Menschenwürde und Herzenswärme nicht mehr die Rede.

 

Zwei Holländerinnen beginnen zu lachen und halten sich die Nase zu, und bald darauf nimmt auch meine weniger empfindliche Nase den bestialischen Gestank auf, von dem man nicht weiß, ob er von drinnen oder von draußen kommt. Glücklicherweise kommt bald Lucca.

 

In Lucca, wo es heiß, ruhig und geruchsneutral ist, entscheide ich mich, zu Fuß zum Hotel zu gehen. Der Bahnhof ist gleich außerhalb der Stadtmauern. In die Stadt kommt man nicht, indem man durch ein Stadttor spaziert, sondern über verschiedene, in die doppelte Mauer eingefügte Treppen und einen verwinkelten Weg. Dann geht es über einen Wall, und man steht gleich vor dem Dom, der sehr italienisch (toskanisch?) aussieht und einen schönen, isoliert stehenden Turm hat. Der Dom selbst ist etwas verbaut, hat Marmorverkleidung, aber keine ganz geschlossene Marmorverkleidung.

Der Stadtplan im Reiseführer gibt nur eine ungefähre Ahnung, wo das Hotel liegen könnte, aber zur Orientierung genügt es. Die Stadt ist eine sehr italienische Mischung aus Alt und Neu, und zwar “richtig” alt und vergammelt alt. Das Zentrum ist weitgehend autofrei, und es gibt zwar auch schmale Gässchen, aber die sind die Ausnahme. Um diese Zeit sind fast nur Touristen unterwegs, aber nicht viele. Ich werde auch prompt nach dem Weg gefragt. Nach ein paar Irrwegen finde ich die Straße, in einem sehr ruhigen Viertel gelegen. Die Straße hat einen neuen und einen alten Namen, Via Mordini und Via Nuova. Dabei stoße ich wieder aus das verwirrende già, was eigentlich ‘schon’ heißt. Hier steht aber già Via Nova, aber so heißt die Straße nicht schon, sondern nicht mehr. Das Wort scheint das Gegenteil von sich selbst zu bedeuten.

 

Das Hotel, nur 50 Meter hinter der Schule, ist in einem Haus mit einem abweisend aussehenden, verschlossenen Portal. Auf mein Klingeln antwortet niemand. Nicht sehr beruhigend. Ich suche nach anderen Klingeln, traue mich aber noch nicht. Es gibt auch noch eine zweite Klingel fürs Hotel, aber darauf antwortet auch niemand. Dann versuche ich es noch einmal bei der ersten Klingel, und jetzt meldet sich jemand durch das Haustelephon, eine Frau, die sich gleich tausendmal entschuldigt und ankündigt, sofort zu kommen, was sie auch tut. Es geht über eine Eingangshalle und einen doppelten Innenhof in die kleine Pension und das ebenfalls kleine Zimmer. Die sehr nette Frau sagt, sie sei gerade dabei gewesen, zwei andere Gäste zu bedienen, zwei ältere deutsche Damen, die laut und unentwegt reden. Sie glauben vermutlich, das müsse man tun, wenn man in Italien ist. Ich habe auf meinem Weg bisher noch keinen Italiener so laut und so viel reden hören. Zu meinem Entsetzen informiert man mich, die beiden seien auch in der Schule. Schnell sende ich ein Stoßgebet gen Himmel, sie mögen in einem anderen Kurs sein.

 

Es handelt sich wirklich nicht um ein Hotel, sondern um eine Pension. Es gibt kein Telephon, keine Rezeption, keinen Aufenthaltsraum usw., nur Zimmer, und die Besitzerin ist auch nur morgens da. Man kommt über ein kompliziertes System von Portal, Gittertor, Gartenpforte, Glastür, Holzverschluss und Zimmertür ins Zimmer bzw. hinaus und bekommt vier Schlüssel, alle mit einer unterschiedlichen Funktionsweise. Vernünftigerweise versucht die Besitzerin erst gar nicht, das zu erklären, sondern zeigt es an Ort und Stelle. Auch so habe ich meine Zweifel, ob ich das je begreife.

 

Als ich allein gelassen werde, packe ich den Koffer aus und öffne das geheimnisvolle Kästchen, das lauter Überraschungen enthält. Ich bediene mich gleich mit dem Nougat, das im Himmel produziert worden sein muss, und beginne das Kreuzworträtsel, über das ich bald einschlafe. Den Rest des Tages und der Nacht verbringe ich schlafend mit kurzen Wachphasen, in denen ich Kekse esse und am Kreuzworträtsel weiterbastle.

 

5. September (Sonntag)

Nach etwa 16 Stunden Schlaf geht es gleich am frühen Morgen in die Stadt. In einem kleinen Café im Zentrum bestelle ich einen Cappuccino und ein Croissant, das erste “richtige” Essen, nach Keksen, Bananen, Studentenfutter, Nüssen und Schokolade, seit vorgestern um sechs Uhr abends. Beides zusammen kostet 1,80. Dafür bekommt man in Florenz nicht einmal die Untertasse hingestellt. Das Croissant ist frisch, und der Cappuccino stark und mit schäumender Milch aufgefüllt. Der Besitzer verwickelt mich gleich in ein Gespräch, und irgendwie schnappe ich das Wort Russia auf und nehme an, dass es sich um die Terroristen handelt. Ich sage, um überhaupt etwas zu sagen, irgendeine Platitude, stotternd und nervös, und er antwortet mit bedeutungsvoller Miene: “Ha detto bene – Das gaben Sie gut gesagt”. Na, ja.

 

Draußen hat er Zeitungen liegen, und auf einem Titelblatt sehe ich, wie das Olympiaergebnis in zwei Kolumnen aufgeführt wird: Italien und Toskana. Die Toskana hat 13 von 32 Medaillen und 5 von11 Goldmedaillen geholt.

 

 

Gleich gegenüber ist eine Ausstellung von Apparaten, die nach den Zeichnungen von Leonardo in Originalgröße nachgebaut worden sind. Man kann die Apparate berühren und in Bewegung setzen, um zu sehen, wie sie funktionieren. Vor dem noch verschlossenen Gebäude steht ein Plakat, das ohne Datumsangabe ankündigt, die Ausstellung sei “heute” bis 23.30 geöffnet. Heute? Ist das wirklich heute, Sonntag, oder ist es noch ein Überbleibsel von gestern?

 

Ich komme an einem Kleidergeschäft vorbei, das “ingresso libero”, ‘freien Eintritt’ verspricht, als wäre das keine Selbstverständlichkeit.

 

Ich gehe ziemlich ziellos durch die Gegend und komme an mehreren Plätzen und Kirchen vorbei. Wo immer ich auch bin, früher oder später komme ich immer wieder auf die Via Fillungo. Die scheint überall zu sein. Bei zwei Statuen sehe ich näher hin, um zu erfahren, wer es ist. Hätte ich mir sparen können: natürlich Garibaldi und Viktor Emmanuel II. Wer sonst?

 

Dann gehe ich auf die Stadtmauer. Es ist ganz anders, als man es sich vorstellt, kein enger Gang, sondern eine breite Promenade mit einem zentralen gepflasterten Weg mit Bäumen zu beiden  Seiten und nicht gepflasterten Seitenwegen. Es ist ideal zum Joggen, und wird auch weidlich ausgenutzt. Ich bedauere, im letzten Moment die Joggingsachen wieder ausgepackt zu haben: Man hat keinen Autoverkehr, man hat genug Platz, man hat Schatten (jedenfalls in diesem Teil der Stadtmauer), und – man kann sich nicht verlaufen. Nicht nur Jogger sind unterwegs. Dies scheint das Paradies der Frühaufsteher zu sein, während es in der Stadt noch ruhig war. Ein Anziehungspunkt ist Murabilia, das ich vorher schon auf unzähligen Wegweisern gesehen habe, eine Art Landesgartenschau  für Privatgärtner. In der Nähe gibt es ein Zentrum für Senioren, an dem auch ein Herztest angeboten wird. Der heißt “Cheek up cardiologico”. Spätestens jetzt bereue ich es, die Kamera zu Hause gelassen zu haben.

 

Ich gehe den ganzen Weg entlang, und am Ende habe ich, wie immer, einerseits das Gefühl, viel weiter gelaufen zu sein als die angegebene Strecke (4,2 km), und andererseits, nicht einen ganzen Kreis, sondern höchstens einen halben gemacht zu haben.

 

Dann geht es wieder durch die Straßen der Innenstadt. In einem winzigen Laden bekomme ich Ansichtskarten, Briefmarken, Telephonkarten und ein paar Kleinigkeiten und die saftige Rechung von 24,50. Natürlich glaube ich, über den Tisch gezogen worden zu sein, aber als ich draußen bin, rechne ich nach und stelle fest, dass es stimmt. Der Mann in dem Laden trägt ein viel zu enges, bedrucktes T-Shirt und hat unendlich lange Fingernägel, die ich aber erst bemerke, als er mit dem Finger auf die Nummer einer Telephonkarte zeigt. Eine italienische Schwuchtel? Jedenfalls tut er mir ungewollt den Gefallen, mich an eine typische Geste zu erinnern, die ich schon vergessen hatte: Man reibt die Innenfläche der Hände zweimal gegeneinander und das bedeutet: ‘Alles läuft glatt’, ‘kein Problem’. Moment mal: Kenne ich das nicht aus Griechenland?

 

Lucca ist nicht spektakulär, und dadurch auch nicht so überlaufen, aber es hat eine ganze Menge Monumente und seinen besonderen Reiz durch die intakt erhaltene Innenstadt innerhalb der Stadtmauern. Dabei ist nicht alles fein herausgeputzt, aber wirkt irgendwie echt. Die Häuser sind ziemlich hoch, mit Gittern vor den Fenstern im Erdgeschoss und (fast einheitlich grünen) Fensterläden in den anderen Geschossen. Die Gitter hatten ursprünglich wohl Schutzfunktion, sehen aber auch sehr dekorativ aus. Die Fenster sind meistens ganz unregelmäßig über die ganze Fassade verteilt. Einige Häuser haben Naturstein, einige unverputzte Ziegel (die aber sicher ursprünglich verputzt werden sollten), andere sind verputzt und sauber bemalt, meist in einem blassen oder in einem kräftigen Gelb, aber der Normalzustand ist abbröckelnder, etwas schmieriger Putz mit ein bisschen Graffiti. Neben den Gittern sind die Einfassungen der Portale auffällig: ein Rundbogen aus gleichmäßig behauenen Quadern, wie man sie in der Renaissance an den großen Palästen sieht.

 

An mehreren Balkonen sehe ich eine bunte Fahne mit vielen Streifen, wie ich sie schon in Athen bei den Demonstrationen gegen den Irak-Krieg, damals aber für griechisch gehalten habe. Muss sich wohl um die Fahne einer internationalen Friedensbewegung handeln.

 

Zufällig komme ich an der Torre Giugini vorbei und nutze die Gelegenheit, ihn zu besteigen, trotz des unangemessenen Preises (3,50). Der Turm bietet eigentlich nur die Aussicht, unterscheidet sich aber von den anderen, weil oben Bäume wachsen. Durch seine Höhe kommen die auch entsprechend zur Geltung und machen den Turm zu einem echten Blickfang. Auf dem Weg nach oben gibt es naive Zeichnungen, die Szenen aus der Geschichte der Familie Giugini darstellen. Der naive Stil kontrastiert mit den gewalttätigen Szenen: Hier wird jemand enthauptet, dort wird jemand vom Turm geworfen. Die Szenen sind beschriftet, in einem Italienisch mit alter Rechtschreibung: quistione, palagio, chome und, vor allem, Lucha und Luccha.

 

Die Aussicht ist wirklich bemerkenswert und das, was man “schön” nennt durch die einheitliche Bedachung der Häuser mit roten Ziegeln, die Berge im Hintergrund, den Baumkranz der Stadtmauer und das völlige Fehlen von Hochhäusern oder gar Wolkenkratzern. Selbst in der Ferne sieht man keine modernen Wohnblöcke. Ob die sich hinter den Bäumen verbergen? Die einzigen Häuser, die zu hoch sind, sind die mittelalterlichen Wohntürme.

 

Die Bäume machen sich auch oben ausgesprochen gut und verschaffen eine ungewöhnliche Atmosphäre für eine Aussichtsplattform. Allerdings ist es auch entsprechend eng. Ich versuche, mich von hier oben zu orientieren und stelle voller Verwunderung fest, dass ich ganz in der Nähe der Pension bin.

 

Ein kleiner deutscher Junge, der tapfer und ohne Murren den Aufstieg geschafft hat, will, kaum oben angekommen, wieder runter. Die Eltern versuchen, ihn zu überzeugen, dass es um die Aussicht geht – vergeblich. Für ihn geht es um Aufstieg und Abstieg. Und Aussicht bedeutet ihm nichts. Ästhetisches Empfinden haben wir als Kinder nicht, das ist alles angelernt.

 

Beim Abstieg lasse ich auf der schmalen Eisenstiege, die ganz oben auf die Aussichtsplattform führt, den Aufsteigenden den Vortritt. An der Art und Weise,  wie sie grazie sagen, kann man die Nationalität erkennen: Deutsche, Engländer, Japaner, Franzosen, Italiener. Zugegeben, den Japanern sieht man es auch an, aber glazie wäre auch sonst ein Erkennungszeichen.

 

Beim Zurückkommen sehe ich, dass in dem Gebäude, in dem die Schule ist, auch das Büro der Lega Nord ist. Die Schule selbst bietet “Courses of Italian as a foreign language” an, mit einer falschen Präposition, finde ich. Charlie ist anderer Meinung, aber: Auf das Urteil eines Muttersprachlers sollte man sich sowieso nie verlassen.

 

Als ich zurückkomme, sehe ich mir zum ersten Mal mit mehr Ruhe das Haus an, in dem die Pension untergebracht ist. Es hat das typische Portal der anderen Häuser und eine riesige doppelte Holztür mit zwei schweren vergoldeten Eisengriffen. Hinter der Tür ein kurzer Gang, der sich dann in einen überwölbten Innenhof ausweitet, dem wiederum ein freier Innenhof mit Arkaden folgt. Das Haus muss wohl das (gewesen) sein, was man auf Italienisch palazzo nennt, so eine Art Patrizierhaus. Dann kommt ein schwarzes Eisengitter, und dahinter ein Schotterplatz und wiederum dahinter ein wild wachsender Garten. All das ist groß angelegt und ziemlich heruntergekommen. Die Fenstergitter haben eine regelrechte Rostschicht, der Boden ist uneben, hier und da fehlen Fliesen, die Briefkästen sind verbeult, an verschiedenen Stellen kommen Sicherheitskästen und Elektroleitungen zum Vorschein, und die Tür ist vermutlich in der Renaissance zum letzten Mal gebeizt worden. Ob hier jemand wohnt oder arbeitet, ist nicht herauszufinden, obwohl es ein paar Büroschilder – Rechtsanwalt, Therapeutin – gibt. Aber auch in den nächsten Tagen begegne ich hier nie jemandem.

 

Hinter dem großen Gitter biegt man selbst aber links ab, und kommt durch ein kleines Gartentor in den gepflegten Vorgarten der kleinen Pension – und in eine andere Welt. Ich hole mir ein paar Tipps von der Wirtin und bekomme einen Stadtplan mit Straßennamen. Ich nehme allen Mut zusammen, ihr zu erklären, dass ein Handtuchhalter sich von der Wand gelöst hat und dass der Abfluss der Dusche mit Haaren verstopft war. Erstaunlicherweise versteht sie es, verspricht, Abhilfe zu schaffen und entschuldigt sich tausend Mal.

 

Dann folge ich ihren Anleitungen und finde zwar das Restaurant nicht, wohl aber den Platz, den sie beschrieben hat. Er ist ganz in unserer Nähe und in der Nähe eines Stadttors und hat einen Supermarkt, Telephonzellen, Briefkästen usw. Das Telephonieren erweist sich als schwierig. Erst wird die Karte immer wieder ausgespuckt, bis ich merke, dass man erst eine Ecke abtrennen muss. Dann erwische ich die falsche Ländervorwahl, dann ist besetzt. Ich kaufe Wasser und Cola und kehre zurück, und jetzt ist die Telephonzelle außer Betrieb. Ich versuche es gleich nebenan, und diesmal klappt es.

 

Ich gehe wieder ins Zentrum und lande zufällig in demselben Café wie heute morgen. Diesmal gibt es ein kleines Stück Pizza Margerita. Danach bestelle ich einen caffè freddo, der aber ganz anders ist, als ich ihn mir vorgestellt habe: pechschwarz, sehr stark und sehr süß, mit winzigen Eisstückchen, in einem kleinen Glas serviert. Je länger man das Eis schmelzen lässt, umso besser schmeckt er, aber als ich das feststelle, habe ich zur Abschwächung des Geschmacks schon ein Törtchen dazu bestellt.

 

Danach gehe ich noch ein bisschen durch die Stadt, an Ständen mit Honig, Gewürzen und alten Büchern vorbei und einer Pizzicheria (!), in deren Schaufenster große, rechteckige Pizzen liegen, die ganz anders aussehen als unsere, und daneben andere, die nicht pizza, sondern focaccia heißen, aber genauso aussehen.

 

Zwischendurch komme ich immer mal wieder auf die Via Fillungo. Bald bin ich schon wieder müde und kehre zurück, aber nach dem Kaffee und der langen Nacht ist an Schlaf nicht zu denken. Voller guten Willens hole ich ein Italienischbuch heraus, kann mich aber nicht konzentrieren. Also versuche ich mich am Kreuzworträtsel, aber das klappt auch nicht, also mache ich mich an die Notizen. Zum Abendessen gibt es Schokolade.

 

In der Zeitung habe ich unterwegs gelesen: Natascha Keller, die bei den Olympischen Spielen die Goldmedaille im Hockey geholt hat, ist schon die vierte in ihrer Familie, die eine olympische Medaille geholt hat, nach Großvater, Vater, und Bruder. Und die Mutter hat vermutlich nur deshalb keine Medaille geholt, weil Frauenhockey zu spät olympisch wurde.

 

Unter den neuen Einträgen in der letzten Ausgabe des Duden befindet sich auch Saftschubse für ‘Stewardess’.

 

Muchs Schrei, ist Oslo gestohlen, passte eigentlich gar nicht zum Thema der Ausstellung. Die Aussteller hatten es nur deshalb einbezogen, weil sie die Proteste der Besucher fürchteten.

 

In Berlin ist der erste türkische Biergarten eröffnet worden. Die Biergärten heißen in der Türkei Teegarten, bieten aber auch Bier an. In der Türkei sucht der Kunde das Fleisch aus und bereitet es dann selbst am Tisch zu. Auf die Frage, ob mehr Deutsche oder mehr Türken kämen, sagt der Besitzer: samstags Deutsche, sonntags Türken.

 

Friedrich II. (von Preußen) hatte sich auf einer seiner galanten Reisen eine Geschlechtskrankheit, Gonorrhöe, zugezogen. Das wurde erst nach langer Zeit höflichen Schweigens wieder ans Licht gebracht, und zwar von Erich Kästner.

 

Als die Gabel in Europa heimisch wurde, viel später als Messer und Löffel, gab es Kritik von der Kirche, die darauf bestand, man müsse Gottes Gaben mit Gottes Werkzeugen, also den Fingern, zu sich nehmen. In der Antike aß man mit den Fingern, aber auch da gab es schon Unterschiede: Das gemeine Volk aß mit allen fünf Fingern, die vornehmen Leute nur mit drei Fingern.

 

Sonnenbrillen gab es in China viel früher als in Europa. Sie hatten dort aber eine andere Funktion: Sie wurden bei Gericht von Angeklagten und Richtern getragen, damit man deren Gesichtsausdruck nicht sehen konnte.

 

Vor dem europäischen Sklavenhandel gab es in Afrika schon arabischen Sklavenhandel, mit der willigen Kooperation der afrikanischen Stammesfürsten, die ihre Untertanen für einen Spottpreis verhökerten.

 

80% aller Baustellen auf unseren Autobahnen bekommt der Autofahrer gar nicht zu Gesicht: Sie werden am Abend eröffnet und sind am Morgen schon wieder verschwunden. Wenn es Baustellen auch während der Hauptreisezeit gibt, dann aus zwei Gründen: Termindruck, z.B. die Zufahrt zum neuen Münchner Stadion für die WM, und technische Vorgaben, z.B. die Tatsache, dass der Asphalt bei niedrigen Temperaturen zu schnell erkaltet und dadurch rissig wird.

 

6. September (Montag)

Einen Wecker habe ich nicht dabei. Brauche ich aber auch nicht, denn pünktlich um halb acht krakeelen die deutschen Frauen im Haus herum. Auf diese Art bin ich wenigstens rechtzeitig in der Schule und kann vorher noch einen Kaffee trinken. Vor dem Eingang sitzen lauter junge Mädchen, aber oben ändert sich das Bild. Ich setze mich neben einen Japaner, der allein sitzt, eine sehr gute Entscheidung, wie sich später herausstellt. Es geht gleich mit dem Test los, bei dem man nur (immer freier werdende) Dialoge ergänzen muss. Wie immer, kommen lauter Dinge vor, die man eigentlich noch mal kurz vorher wiederholen wollte (Imperative, Personalpronomina). Ich habe das Gefühl, dass alles, was ich schreibe, irgendwie Spanisch klingt. Dummerweise muss man sich auch selbst einstufen, was immer nach hinten losgeht. Außerdem finde ich, dass jede der beschriebenen Stufen irgendwie auf mich zutrifft.

 

Dann warten wir auf das Interview, und ich komme mit dem vermeintlichen Japaner ins Gespräch, der sich als ein in Washington lebender, fließend und akzentfrei in Köln gelerntes Deutsch sprechender Koreaner entpuppt, der in sein sehr flüssiges Italienisch immer wieder spanische Brocken hineinwirft, weil er besser Spanisch spricht. Zu uns gesellt sich ein sehr freundlicher Engländer, Sean, der aus dem einzigen Grund Italienisch lernt, aus dem ein Engländer überhaupt eine Fremdsprache lernt: Er hat eine italienische Freundin. Mit ihm, der erfolgreich den Anschein erweckt, Italienisch zu sprechen,  kann man wunderbar surrealistische Gespräche führen: “Bist du zum ersten Mal in der Toskana? – Ja, ich trinke auch lieber Rotwein”. Ich gehe mit ihm einen Kaffee trinken, bei dem wir uns hauptsächlich über Fußball unterhalten. Das geht ganz gut, man wirft sich den Namen von Mannschaften oder Resultate zu und macht dazu ablehnende oder zustimmende Geräusche.

 

Dann kommt das Interview und eine ziemlich überflüssige Stadtführung. Das Mädchen hat selbst keine Ahnung und weiß mit so einer Gruppe auch nichts anzufangen. Überall stehen wie im Weg. Immerhin sagt sie irgendwann: Via Fillungo ist die zentrale Straße Luccas. Aha. Meine deutsche Freundin fällt durch überflüssige Kommentare auf.

 

Nach der Stadtführung gehen wir in ein Restaurant. Die Suche erweist sich als mühsam, keiner trifft so richtig eine Entscheidung, und am Ende landen wir in einem Wohnviertel, wo es weit und breit kein Restaurant gibt, und dann in einem etwas zu edlen Schuppen am Napoleonplatz, einem der vielen Plätze, die ich von meinem Umherirren vom Vortag kenne. Es stellt sich heraus, dass Sean 200 m hinter der Tower Bridge wohnt und einen ganz modernen, schwer zu beschreibenden Job hat, der etwas mit professioneller Bereitstellung von Gastfreundlichkeit zu tun hat. Der Koreaner, der längst die Hoffnung aufgegeben hat, jemand im Westen könne seinen Namen aussprechen, nennt sich Charlie, und das steht auch auf seiner Visitenkarte. Er ist weitgereist und kennt 47 der 50 amerikanischen Staaten, einschl. Alaska und Hawaii. Die beiden essen als Vorspeise eine “toskanische Spezialität”, die wie eine ganz normale Linsensuppe aussieht. Danach gibt es Hähnchen, das hervorragend schmeckt, aber in edel kleinen Portionen serviert wird. Nicht ganz das richtige für meinen Hunger. Sean trinkt caffè stretto, pures Koffein. In der Beziehung ist er ganz Italiener. Nebenbei lernen wir auch eine koreanische Begrüßung, anjan – oder vielmehr ich lerne sie, Sean dürfte damit erheblich überfordert sein. Beim Bezahlen merken Charlie und ich, dass wir kein Geld haben. Charlie bezahlt mit Kreditkarte, und Sean leiht mir 20 Euro und gibt uns noch gratis seinen Kommentar zur Einführung des Euro in GB dazu.

 

Als ich kurz ins Hotelzimmer gehe, um das Geld zu holen, sitzt die Wirtin im Garten und begrüßt mich mit “Buona sera”, was, wenn man ‘Guten Abend’ übersetzt, völlig unangemessen klingt. Es ist auf jeden Fall noch vor vier, denn dann erst beginnt der Begrüßungsumtrunk in der Schule, zu dem ich natürlich pünktlich erscheine. Es stimmt also doch, dass man es so früh sagt. Irgendwann bin ich einmal von einer besserwisserischen Italienerin korrigiert worden.

 

Beim Umtrunk gibt es Wein und süße und deftige Häppchen. Ich spreche mit einem Amerikaner aus Mississippi,  einer Holländerin aus Amsterdam, einer Schweizerin aus Zürich, zwei belgischen Ingenieurstudenten aus Brüssel, einem Österreicher aus Wien, einem Münchner. Weder Spanier noch Griechen sind vertreten, auch Franzosen sehe ich keine. Wir haben alle eine germanische Sprache als Muttersprache, auch die reichlich vertretenen Belgier. Dänen, die in Bologna so gut vertreten waren, scheint es auch nicht zu geben. Amerikaner wie Sand am Meer, aber Sean scheint der einzige Engländer zu sein.

 

Nach reichlich Wein gehe ich einkaufen. Im Obstladen übernimmt die alte Frau, die ganz allein ist, sofort das Kommando, wählt die Früchte selbst aus und macht eindeutige Kaufempfehlungen: “Die sind besser”. Ich tue alles, was sie will und kaufe Äpfel, Birnen und Bananen. Woher ich auf einmal diese Wörter wieder weiß, weiß ich nicht, aber ich weiß sie. Ich frage beim Hinausgehen noch, wo ich Wasser bekomme und sie sagt “Rechts” und zeigt dabei energisch nach links. Ich gehe nach links, und es stimmt.

 

Dann kaufe ich Wasser und Bier, muss aber zu Hause feststellen, dass ich keinen Öffner habe und meine Neffen mich immer noch nicht in die Kunst des Bierflaschenöffnens ohne Öffner eingewiesen haben. Dazu kaufe ich ein panino, das an Ort und Stelle zubereitet wird, ein mächtiges Stück Brot, das mit reichlich toskanischer Salami, aber sonst nichts belegt wird. Nichts wünscht man sich sehnlicher als ein Bier dazu, aber Wasser geht auch. So etwas trocken zu essen ist physiologisch m.E. unmöglich.

 

Das mit den Telephonkarten grenzt an Betrug: Ich habe noch 60 Cent, wähle und erfahre, bevor jemand abhebt, dass ich jetzt nur noch 20 Cent habe und dass man davon keine Auslandsgespräche bestreiten könne!

 

7. September (Dienstag)

Kurz vor Unterrichtsbeginn fällt mir ein, dass ich gar kein Papier habe. Gibt es aber in einem kleinen Tabakgeschäft, das um diese Zeit schon auf hat. Etwas läuft schief mit der Bestellung, und ich bekomme fast Briefpapier, kann das aber im letzten Moment noch verhindern.

 

Wir sind eine ziemlich alterslastige Gruppe, in der ich nicht weiter auffalle, mit nur einer ganz jungen Studentin aus Belgien. Es sind ein paar bemerkenswerte Fälle vertreten: ein österreichischer Arzt und fünffacher Familienvater, ein Juraprofessor der Sorbonne, der an der Cote d’Azur wohnt, eine amerikanische Malerin, die als Studentin zwei Jahre in Italien gelebt hat und deren Mann, Schriftsteller, auch hier ist (aber in einem anderen Kurs), ein emeritierter österreichischer Mediziner, ehemaliger Direktor der Wiener Klinik für Nuklearmedizin, Charlie, der koreanische Wunderknabe, und eine belgische Dolmetscherin, die sich in einem sabatical befindet und gleich vier Monate hier bleibt. Natürlich ist auch eine der lauten Deutschen aus der Pension in dem Kurs, aber sie geht hier glücklicherweise etwas unter. Wir machen das, was man in  Sprachkursen so macht – weder gut noch schlecht. Aber es ist erstaunlich, was alles so wieder an die Oberfläche kommt.

 

Inzwischen hat sich herausgestellt, dass Charlie auch Kisuaheli kann. Mit einer Selbstverständlichkeit, die bei jedem anderen arrogant wirken würde, sagt er, wie wertvoll das sei, wenn man mal gerade in Kenia oder Uganda ist.

 

In der Pause gibt es in einer Caffeteria, in der ich zufällig lande, einen Gutschein, auf dem die Kaffees abgestempelt werden. Wenn er voll ist, bekommt man einen Kaffee umsonst.

 

Nach dem Unterricht gehe ich nach ganz kurzer Pause zum Dom. Er ist wirklich so verbaut, wie er auf den ersten Blick aussah, und der Turm steht gar nicht frei, wie es aus der Ferne aussieht. Die Fassade, die wie abgeschnitten aussieht, grenzt an einer Seite an den Turm, lässt aber noch den größerer Teil dieser Seite frei. An eine andere Seite des Turms grenzt ein anderes Gebäude (Bischofsbank?), und an eines der Querschiffe grenzt noch ein anderes Gebäude (Bischofspalast?). Das sieht man aber nur, wenn man in einen Innenhof tritt.

 

Die Fassade ist marmorverkleidet und hat über der Portalzone noch drei nach oben schmaler werdende Geschosse, die alle auf wunderbar skulptierten Pfeilern stehen, einige ganz aufwendig, andere ganz einfach, z.B. einer mit einem Band, das sich an der Säule hochzuwinden scheint, ein anderer mit Zickzackstreifen. Darunter drei Arkaden, von denen die rechte, die an den Glockenturm angrenzt, kürzer ist als die anderen. Das alles ist gotisch, hat aber nichts zu tun mit dem, was wir unter Gotik verstehen. Auch der Skulpturenschmuck der hinter den Arkaden liegenden Portale ist gerade in Reih und Glied angeordnet. Über dem Hauptportal die Apostel, die alle hohle Augen haben, in denen ursprünglich wahrscheinlich Steine oder Edelsteine waren; sieht etwas gespenstisch aus. Zu beiden Seiten des Hauptportals die zwölf Monate, die mit etwas willkürlich ausgewählten Aktivitäten vertreten sind: Getreideernte, Obsternte, Fischfang, Schlachtung, Ausritt (mit einer Rose in der Hand), Dreschen (?) und ein paar andere, die kaum zu identifizieren sind. An den anderen Portalen Szenen aus dem Leben des Hl. Martin, dem die Kirche geweiht ist. Innen und außen die Kopie und das Original einer Skulptur, die die Szene mit dem Bettler zeigt. Allerdings ein ziemlich sparsamer Martin, der nur den Zipfel seines Mantels abschneidet.

 

Innen ist es, trotz des grellen Lichts der Mittagssonne, sehr dunkel. Auch hier ist es gotisch und sieht nicht gotisch aus. Der Chor wird gerade renoviert und ist durch eine Plane verdeckt. Im gesamten Langhaus fehlt die Bestuhlung, was komisch wirkt, aber einen Eindruck davon gibt, wie es früher gewesen sein muss.

 

Ich suche vergeblich ein Labyrinth, das ich auf einer Ansichtskarte gesehen habe, entdecke es dann, statt auf dem Boden, erst beim Hinausgehen an einem Außenpfeiler.

 

Einige etwas verblasste, große Fresken gibt es in den Seitenschiffen, und ein größeres Mosaik auf dem Boden des Mittelschiffs, ziemlich genau da, wo ich das Labyrinth erwartet habe. Es stellt das Urteil Salomons dar. Das Kind wird an den Füßen nach unten gehalten.

 

Ganz in der Nähe in einer Art Kapelle mit Gitterstäben das berühmte Volto di Cristo, eine riesige Christusfigur aus dunklem Holz (XII), der Legende nach von Nikodemus gefertigt und mit einem unbemannten Ochsenkarren nach Lucca gekommen. Obwohl die Skulptur einen nicht zu übersehenden Bart hat, wurde sie wegen der länglichen Figur und dem langen Rock für ein Mädchen gehalten. Das erklärte man dann so: Das Mädchen hatte sich geweigert, einen heidnischen Mann zu heiraten, und um die Ablehnung etwas wirksamer zu machen, ließ das Schicksal ihr einen Bart wachsen!

 

In einem abgetrennten Teil der Kirche (Eintritt!) ein einflussreiches Grabmal von Jacobo della Quercia, den ich schon aus Bologna kenne, die Marmorfigur einer jungen Frau auf dem Totenbett (XIV). Sie hat die Augen geschlossen, ganz feine Gesichtszüge (dabei ein nicht sonderlich schönes, etwas vortretendes Kinn), und die Körperpartien sind unter dem feinen Tuch deutlich auszumachen, vor allem die steil nach oben stehenden Füße (Oder soll sie die modernen, spitz zulaufenden Schuhe der Zeit tragen?). Zu ihren Füßen ein Hund mit Schlappohren und einem Ringelschwanz wie ein Ferkel, der etwas treudoof in die Luft guckt. Am Sockel des Grabmals erstaunlicherweise lauter üppige Engelchen mit Girlanden, wie man sie später man im Barock findet.

 

Danach etwas zu essen gesucht und die Erfahrung gemacht, dass dies nicht Spanien ist. Die italienischen Essenszeiten sind wie unsere, um 14.30 wird die Küche geschlossen. Dann irgendwo noch eine Lasagne und einen Salat bekommen, wegen der Hitze ein Bier dazu. Das Bier schmeckt schlecht und kostet fast so viel wie die Lasagne. Die schmeckt ganz gut, aber ganz anders als “unsere”: Die Lasagneplatten werden ohne Käse, ohne Tomaten, einfach aufeinandergeschichtet und mit einer üppigen Hackfleischsoße bedeckt. Kaum von Spaghetti zu unterscheiden. Der Salat wäre gut gewesen, wenn er nicht so entsetzlich bitter gewesen wäre. Wer hat das nur eingeführt? Dazu gab es im Brotkorb neben dem normalen Brot noch ein anderes Brot, das salzig und wie in Öl eingelegt schmeckte – wunderbar. Auf Nachfrage erfahren, dass das die berühmte focaccia ist – selbstgemacht, wie die Wirtin stolz hinzufügt.

 

Erst heute, von einem kurzen Abendbummel zurückkommend, merke ich, dass die Stimmen, die ich immer zur Essenszeit aus meinem Zimmer vernehme, nicht von einer Familie kommen, sondern von einem Lokal, dessen Garten an “unseren ” grenzt. Und ich hatte mich immer über die Regelmäßigkeit gewundert, mit der die Stimmen zu bestimmten Zeiten kommen und gehen!

 

Allen weiteren Versuchungen in der Stadt widerstanden. Zum Abendessen gibt es Obst, Schokolade und Wasser.

 

8. September (Mittwoch)

Was man in einem Sprachkurs nicht alles lernt: Der französische Jurist beantwortet eine Frage, die wir immer schon als Kinder hatten und die kein Erwachsener je beantworten konnte: Was bedeutet TIR, die Abkürzung, die man auf Schildern von schweren Lastwagen sieht? Transports Internationaux Routiers (oder so ähnlich). Das steht für ein Abkommen, das es den Lastwagen, die diese Lizenz haben, erlaubt, ohne ständige Kontrollen die Ländergrenzen zu passieren.

 

Im Unterricht behandeln wir Sternzeichen und deren Charakteristika. Natürlich werden wir nach unseren gefragt und es stellt sich heraus, dass wir, Jungfrau, in der Mehrzahl sind, vier von zehn, völlig disproportional. Die Amerikanerin sagt, das sei immer so, davon gebe es einfach mehr. Ob das wohl stimmt? Und wenn, und wenn die naheliegenden Erklärungen wirklich stimmen, ist es dann in anderen Klimazonen anders?

 

Mit dem Brot, das ich gestern in dem Lokal gegessen habe, der focaccia, habe ich richtig gelegen: Es ist ganz einfach der Pizzateig, der stark gesalzen und mit Öl beträufelt wird und dann in den Ofen kommt, eine Spezialität der Toskana.

 

Die ganz jungen Schüler, die ich am ersten Tag vor der Schule gesehen habe, sind eine eigene Gruppe, Schüler aus Südtirol, also Italiener, die Italienisch lernen.

 

Am Nachmittag ein Musikvortrag zur italienischen canzone. Der Vortragende trifft 15 Minuten zu spät ein, mit Motorradhelm, Handy, Schlappen und Rucksack, und schüttelt auf dem Podium erst einmal seinen wilden Wuschelkopf aus. Entgegen allem Anschein ist er Professor am Konservatorium. Musik gehöre zwar zu der klassischen Vorstellung von Italien, sagt er, in Wirklichkeit gebe es aber zwischen den zwei Polen der klassischen Tradition und dem des Festivals von San Remo herzlich wenig. Von den Chanconniers, die im Ausland Erfolg hätten, seien in Italien viele gar nicht sonderlich bekannt, und von den wichtigen italienischen Chanconniers habe man im Ausland kaum Notiz genommen. Statt von der großen Liebe und ewiger Treue handelten die meisten Lieder eher von Enttäuschung, von unglücklicher Liebe, wie in dem Lied von Fabrizio d’André, das mit Selbstmord endet. Dessen Texte seien inzwischen auch Teil der italienischen Lyrik geworden. Er unterscheidet fünf Schulen und singt mit rauchiger Stimme, sich selbst auf der Gitarre begleitend, jeweils ein Lied, für die Schule von Genua zwei. Giorgio Gaber (Mailand), Lucio Dalla (Bologna), Fabrizio d’André und Gino Paoli (Genua), Antonio Vendetti (Rom), Pino d’Aniele (Neapel).

Kurzentschlossen die für den Tourismus gedachten Turnschuhe zu Laufschuhen und eine Freizeithose zur Jogginghose deklariert und mit Charlie über die Stadtmauer gelaufen, er zwei, ich eine Runde. Wir kommen fast zur gleichen Zeit an. Obwohl er keine sehr athletische Figur hat, macht er auch Hanteltraining. Er habe früher oft Rückenschmerzen gehabt, aber die seien durch das Muskeltraining verschwunden.

 

Auf dem Rückweg sehen wir eine Werbung für Bimbo, und er macht mich auf die Interferenz mit dem Englischen aufmerksam. Gilt auch für das Bimbo in Spanien, das Toastbrot.

 

9. September (Donnerstag)

Langsam verliert man das Gefühl dafür, welcher Wochentag ist.

 

Der Franzose beschwert sich, aber natürlich nur heimlich, über die lange Pause, ein altes Problem aller Sprachschulen, für das man immer noch keine Lösung gefunden hat.

 

Bei einem kleinen Vortrag, den wir alle der Reihe nach einmal halten müssen, benutze ich das in der Toskana durchaus gebräuchliche passato remoto und handele mir dafür einige spöttische Anerkennung ein.

 

Wenn man es zusammenschreibt, schreibt man caffeellatte mit zwei <l>, eine Art Binnenbuchstabe, der die beiden Bestandteile verbindet.

 

In den Texten kommen immer wieder kleinere Druckfehler, aber auch Akzentfehler vor, wie meine findigen Kollegen entdecken. Der Lehrer sagt, die Akzentsetzung werde nur von wenigen beherrscht, in der Schule lege man darauf nicht so viel wert. Der Versuch zu klären, ob es überhaupt zwei verschiedene Akzente geben müsse, scheitert. Wir, Lehrer und Lerner, reden ständig aneinander vorbei.

 

Das Verb ist lavorare, aber das Adjektiv laborioso. Die formalere Wortart, das abstraktere Wort ist dem lateinischen Modell ähnlicher.

 

Im Toskanischen gibt es eine Tendenz, das intervokalische /k/ wie /h/ oder /x/ zu sprechen. Das einfachste Beispiel ist Coca Cola, das wie Cocha Cola klingt. Aus Verschlusslauten werden Reibelaute, eine uralte Tendenz beim Sprachwandel.

 

In einigen italienischen Dialekten gibt es keinen Unterschied zwischen offenem und geschlossenem <e>, der Unterschied zwischen pesca und pèsca ist also aufgehoben.

 

Der Höhepunkt des Tages kommt zum Schluss, an ganz unerwarteter Stelle, als ich, eigentlich nur, um den deutschen Frauen aus dem Weg zu gehen, Zuflucht in einem Waschsalon suche, der Lavanderia Niagara. Dort gibt es Instruktionen auf Italienisch, Englisch, Arabisch und Deutsch. Das klingt dann so: “Führen Sie die Wäsche ein. Die Damer der Wäche beträgt 30 Minuten. Am Ende warter sie die automatisch Stauung ab und entnehemen sie die Wäsche und beginer den Tracker Vorgang. Das Washmihel ist im Preis imbegriffen und in Automatic Sichen Washprogramm shön mit eingegeben.”

 

Bei Charlie ist jeder Versuch vergeblich, von einem Land zu sprechen, bei dem er nicht mit eigenen Erfahrungen mitsprechen kann: Senegal? Keine Chance. Dänemark? “Die sind ja so was von eigen mit ihrem Gras. Da wollte uns ein Polizist doch glatt eine Geldstrafe geben, weil wir über das Gras gegangen sind”. Dominikanische Republik? “Da kommst du an den Strand und traust deinen Augen nicht. Alle Schilder sind auf Deutsch”. Er beschäftigt sich jetzt ernsthaft mit der Frage, wie am besten ein Kurzbesuch in San Marino einzubauen ist. Zu seinen früheren Ferienjobs gehört auch der des Eisverkäufers in Alaska.

 

Heute Nachmittag eine Exkursion auf eine fattoria, eine Art Gutshof, in der Umgebung, die Villa Maionchi. Gemessen an den lautstarken Ankündigungen eine einzige Enttäuschung, jedenfalls was das Essen angeht. Es gab eigentlich nur “Stullen”, abgesehen von Brot und Öl, und drei verschiedene Weine. Hält sich alles in Grenzen. Dann noch einen sehr guten Dessertwein zu passendem, trockenen Gebäck.

 

Die italienische Küche, die im Ausland eher bekannt ist (die Pizza ausgenommen) ist die der Emilia Romagna, ausgerechnet eine Region, die eher weniger Emigranten stellte. Die toskanische Küche ist im Gegensatz zu der piemontesischen Küche weniger kunstvoll, baut eher auf guter Selektion und unverfälschten einheimischen Produkten auf und den einheimischen Kräutern (Thymian, Myrthe) und dem Öl. Gewürzt wird fast nur mit Salz und ein wenig Pfeffer.

 

An einer Hecke sehen wir auch Kapern, eines der Gewächse, dessen man Früchte man besser kennt als die Pflanze. Sie hat eine schöne, der Passionsblume ähnliche Blüte.

 

Die fattoria befindet sich auf dem Gelände einer alten Villa mit Garten. Diese Villen des “römischen” Typus wurden von der frühen Neuzeit an immer gleicher im Verhältnis von Höhe, Breite und Länge, bis sie, wie diese, einen fast regelmäßigen Kubus bildeten. Der Garten, zunächst nur ein Anhängsel, wurde immer wichtiger. Er sollte schließlich ein eigenes Stück Natur bilden, auch von weitem zu unterscheiden von der Natur der Umgebung. Dabei waren Farben zunächst fast ausgeschlossen. Die Mauer war weiß und die Pflanzen grün. Nichts sollte von der Kontemplation der einfachen Schönheit ablenken. Eine wichtige Funktion hatte der Brunnen, hier zentral vor der erhöht liegenden Villa. Unwillkürlich folgt man dem Plätschern des Brunnens, der somit Orientierung bietet und den Weg des Besuchers lenkt. Schließlich wurde immer mehr Gewicht auf die Selbstversorgung gelegt. Die Villa sollte ein abgeschlossener Ort sein, der sich und seine Bewohner selbst versorgte, und am Ende sogar die für die Gebäude nötigen Stoffe selbst herstellte. Eine fast klosterähnliche Konzeption, auch wenn das Leben auf diesen Gütern alles andere als klösterlich war.

 

Zur Selbstversorgung gehörte auch der Wein, der in Eiche, vor allem aber in Kastanienfässern reift. Die Kastanie, und nicht, wie es das Klischee will, die Zypresse, ist traditionell der typische Baum der Toskana. Auch die oft völlig überteuerten Antiquitäten sind in der Regel aus Kastanie und meist Möbel, die die Leute bis vor kurzem weggeworfen hätten.

 

Beim Essen in der “deutschen” Ecke gelandet und Zeuge einer interessanten innerösterreichischen Diskussion über die eigene Identität geworden, zwischen einem jungen Ignoranten und einem gebildeten Älteren, der, historisch richtig, aber ideologisch verdächtig, das Deutsche an den Österreichern herausstrich: Uns Oberösterreicher verbindet mit Bayern mehr als die Bayern mit den Friesen oder Rheinländern. Und uns trennt mehr von den alemannischen Vorarlbergern als diese von den Schweizern. Es gibt keinen Zweifel, dass Österreich immer eine deutsche Macht war und dass Mozart sich als Deutscher sah (was nicht ausschloss, dass er sich als Österreicher sah). Interessant die Reaktion des jungen Österreichers, der sich in die Ecke gedrängt sah und Zuflucht nehmen musste zu verschwommenen Selbstbehauptungen. Alles sehr deprimierend.

Zum ersten Mal bricht der Versuch, immer beim Italienischen zu bleiben, völlig in sich zusammen.

 

Am Rande erzählt Stefano, der Boss und “Reiseleiter”, von einem italienischen Journalisten (?) und dessen interessanter Theorie davon, woran man messen kann, ob jemand irgendwo heimisch geworden ist: Je mehr Dinge es gibt, denen ich ein “mein” voranstellte, umso heimischer bin ich geworden: meine Schule, mein Bäcker, meine Straße usw.

 

Bei einem Abendspaziergang auf den ovalen Platz gestoßen, der auf dem Stadtplan so auffällt, das ehemalige Amphitheater. Wusste gar nicht, dass ich den schon kannte. Obwohl er mitten in der Stadt liegt, liegt er irgendwie abseits.

 

Wenn man durch die Straßen geht, stößt man hin und wieder auf einen bestialischen Gestank, einen Geruch nach Abwasser. Nach 20 Metern ist der Spuk vorbei, aber das gehört zu den Schattenseiten von Lucca.

 

Gleich zwei unserer Amerikanerinnen, beide noch ganz vorzeigbar aussehend, sind mit uralten, kleinwüchsigen Italienern verheiratet, die einen unglaublichen Unsinn reden und schrecklich blasiert sind. Das scheint die Frauen zu faszinieren.

 

Heute im Unterricht gehört, dass es bis vor ca. zehn Jahren noch überall in der Innenstadt und, wenn ich das richtig verstanden habe, sogar auf der Stadtmauer Autoverkehr gab. Jetzt gibt es klare und strikte Regeln für die Erhaltung des Stadtbilds, Vorschriften für die Fenster, die Fensterläden und die Veränderungen, die man an den Häusern vornehmen kann. Der einzige größere Eingriff ins Stadtbild ist die Piazza Napoleone, die während des Faschismus entstand. Warum habe ich das nicht selbst gemerkt? Jetzt ist es sonnenklar. Der Errichtung des Platzes und des riesigen Gebäudes an seiner Stirnseite, heute Sitz der Provinzialregierung (wohl eine Art Regierungspräsidium), fielen eine Menge älterer Häuser zum Opfer. Die Bewertung aus heutiger Sicht ist (natürlich) negativ, aber ist das nicht ein Vorurteil?. Der Platz ist weder schön noch hässlich, hat aber durchaus seine Wirkung und seine Funktion. Er ist nur vielleicht ein bisschen zu groß für die Innenstadt. In dem Zusammenhang ist auch vom “mittelalterlichen Charakter” Luccas die Rede. Ich würde wetten, dass kaum ein Bau, jedenfalls kaum ein Profanbau, wirklich mittelalterlich ist, und selbst wenn sie es alle wären, ergäbe das natürlich noch keinen mittelalterlichen Charakter.

 

Heute Mittag mit Charlie und den amerikanischen Künstlern, Martha und Kos, die ein wunderbares Überbleibsel der Protestgeneration sind, ein kleines Stück Pizza in der Via Buio gegessen, der winzigen Pizzeria, die bei den Einheimischen so populär ist. Kos und Martha kennen sie schon.  Man sitzt auf einer winzigen Bank draußen oder drinnen. Was störte war, dass der Belag einfach auf die fertige Pizza aufgelegt wird.

 

Kos hat einen fast kahl geschorenen Eierkopf und trägt absurd große Brillen, Martha sieht wie eine milde Version von Alice Schwarzer aus. Wenn sie sich in der Pause oder nach dem Unterricht begegnen, begrüßen sie sich, als hätten sie sich seit Wochen nicht mehr gesehen. Wunderbar! Sie sind beide sehr aufgeschlossen sehr freundlich und finden alles, was man sagt,  toll.

 

Kos sagt, er brauche jetzt “o un caffè o un pisolino”, und ich glaube, dass pisolino ein spezieller toskanischer Nachtisch oder eine Süßigkeit ist. Es heißt aber einfach ‘Nickerchen’. Bekommt er aber nicht, wohl aber den Kaffee. In der Nähe machen sich Arbeiter an einer Fassade zu schaffen, und die Amerikaner, die die Sache schon kennen, erklären uns, welche Vorbereitungen im Gange sind: Die Monumente und viele der historischen Häuser werden mit Kerzenhaltern ausgerüstet für das große religiös-folkloristische Fest am nächsten Montag, dem 13. September. Die Kerzenhalter befinden sich entweder in mehrarmigen Eisengestellen in der Form eines Kreuzes oder eines Sterns oder werden einzeln angebracht, z.B. an den Gittern, und zeichnen Konturen des Gebäudes nach, z.B. das Rechteck eines Fensters oder den Verlauf eines Bogens. Bei dem Fest wird das Volto Santo durch die Straßen getragen. Mit bedeutungsvollem Gesicht sagt Kos: “La processione è interessante. E noiosa – Die Prozession ist interessant. Und langweilig”. Ha detto bene – es gibt Dinge, die interessant und langweilig sind.

 

10. September (Freitag)

Im Koreanischen gibt es kein /f/, eine ungewöhnliche phonologische Lücke (oder so scheint es uns jedenfalls), die u.a. zur Folge hat, dass Fanta dort Panta heißt.

 

Nach dem Unterricht mit Charlie und auf dessen Vorschlag in ein ziemlich vornehm aussehendes Lokal, Di Simo, gegangen, das mir vorher schon ein paar mal beim Vorbeigehen aufgefallen war, mit einer Portalzone aus ganz dunklem Holz, in das mit goldenen Lettern der Name des Lokals eingeschrieben ist. Im Schaufenster liegt ein Schild mit der Aufschrift “Ristorante”. Ist auch nötig, denn von draußen sieht es wie eine Konditorei aus. Innen hat es eine Atmosphäre wie ein Musikcafé der alten Zeit, und prompt fängt jemand an, Klavier zu spielen, als wir bestellt haben. Ansonsten ist es aber ein ganz normales Lokal, mit ganz normalen Preisen. Als ersten Gang Penne arrabiata gegessen, die wirklich ihren Namen verdienen.

 

Danach ein Eis gegessen, das kleinste von allen. War immer noch zu groß. Das Milcheis sieht sehr einladend aus, das Wassereis, das irgendwie nach Plastik aussieht, weniger.

 

Dann Charlie in sein Cybercafe entlassen und nach San Michele gegangen, einer dunklen, hohen, trotz der vielen Ausstattungstücke irgendwie leer wirkenden Kirche mit grauen Mauern. Das Licht scheint nur durch eine winzige, absurd hohe Rosette mit Glasfenster im Chor zu kommen. Das täuscht aber, irgendwo gibt es doch noch Fenster in den   Seitenschiffen. Sonst würde man vermutlich gar nichts sehen. Die ganze Innenausstattung, mit zwei Ausnahmen, sagt herzlich wenig: hier ein Madonnenbild, dort eine Madonnenstatue, hier ein Fresko, dort eine Orgel mit bemaltem Prospekt, und irgendwo ein Pfeiler, mit dem jemand nichts anzufangen wusste und hier untergebracht hat. Die beiden Ausnahmen sind das Kreuz über dem Altar, ein ganz breites, bemaltes Holzkreuz, das ich für ganz modern hielt, das sich aber als frühmittelalterlich herausstellt: Ein am Kreuz eher stehender als hängender Christus, ohne gekreuzte Beine, ohne Wunden, ohne Blut. An den Seitenflächen ist noch überall Platz für Szenen in leuchtenden Farben, die man aber wegen des Lichts und der Entfernung nicht erkennen kann.  Die andere Ausnahme: ein Tafelbild im Seitenschiff mit ganz wirklich aussehenden, etwas unvermittelt auf einem Weg herumstehenden Heiligen in bizarrer Zusammensetzung: Stephanus, Helena, Rochus, Hieronymus. Die Fassade, aus weißem Marmor, ist schön, ähnelt der des Doms, hat aber noch ein Stockwerk mehr. Das verläuft nicht mehr ganz gerade, sondern läuft in der Mitte spitz zu, damit man weiß, dass hier das Ende ist. Darüber thront ein absurd großer Michael mit einem absurd großen Heiligenschein.

 

Danach in das ganz in der Nähe gelegene Geburtshaus Puccinis. Durch den dunklen, etwas unheimlichen Eingangsbereich arbeitet man sich an Zementsäcken und einer Betonmischmaschine vorbei nach oben, ins zweite Stock, wo das bescheiden ausgestattete Museum untergebracht ist. Puccini hieß mit Vornamen Giacomo Antonio Domenico Michele Secondo Maria, fast alles Namen von Ahnen, die selbst Musiker gewesen waren, angefangen beim Ururgroßvater. In einer Vitrine einige Briefe von ihm in einer schrecklichen Klaue auf gestempeltem, kleinformatigem, gelben Briefpapier mit Namensstempel. In einem anderen Raum die Zeitung mit der Todesnachricht, noch ganz im Stile des 19. Jh. mit einem ausführlichen Text mit kleinem Zeilenabstand und ohne Bilder, der die ganze Titelseite einnimmt. In einem weiteren Raum zwei frühe Plattenspieler, einen von der Art mit dem großen Horn, wie man sie kennt, der andere ganz anders, wie ein früher Computer aussehend, ein schweres, hohes, auf dem Boden stehendes, graues Eisengestell. Was die Präsenz der Plattenspieler rechtfertigt, ist nicht ersichtlich. An anderer Stelle Photos von Puccinis Häusern, mehr als ein halbes Dutzend, alle in verschiedenen Orten, u.a. Ortobello, Viareggio und Mailand.

 

Auf dem Platz vor dem Haus eine Bronzestatue Puccinis, rauchend in einem Sessel sitzend, mit einem nicht sehr einladenden Gesichtsausdruck, mit einer Mischung aus Stolz und Nachdenklichkeit. Drum herum das Hotel Puccini, das Caffé Puccini, das Ristorante Puccini und die Gelateria Turandot. Nur das Cinema Centrale verweigert seine Mitarbeit.

 

Dann gleich zum Bahnhof und die Fahrkarten für die für Sonntag geplante Fahrt nach Volterra gelöst. Angesichts einer langen Schlange ein bisschen an dem Fahrkartenautomaten herumgespielt, der angeblich nicht funktionierte, und irgendwann die magische Taste “cancellare” gedrückt. Danach ging alles glatt, in kleinen, unmissverständlichen Einzelschritten.

 

 

Warum habe ich eigentlich eine Jacke, eine Regenjacke und zwei Pullover mitgebracht? Bisher kaum ein richtiges Hemd angehabt, fast nur Freizeithosen und T-Shirts. Die heute in eine Reinigung gebracht, nicht ohne vorher hinzugehen und ein ausführliches “Vorgespräch” über Preise zu führen. Hätte ich mich vor einer Woche noch nicht getraut – und mir auch nicht zugetraut.

 

Schön ist es immer, wenn die Italiener, um sicherstellen, was gemeint ist, etwas wiederholen, was man gesagt hat, und einen dabei ungewollt korrigieren, z.B. eine junge Frau in der Touristeninformation, die wir nach Barga gefragt hatten, einen Ort in der Umgebung. Sie sagt Barga emphatisch und mit langgezogenem und offenen /a/, und es klingt wie ein anderes Wort. Nicht anders caffè latte.

 

11. September (Samstag)

Eine Salbe für die inzwischen wund gelaufenen Füße gekauft. Außerdem einen richtigen Wochenendeinkauf gemacht.

 

Komisch: Eins der italienischsten aller Wörter, ein Wort, das ich schon kannte, lange bevor ich anfing, Italienisch zu lernen, benutze ich nie, und das, obwohl es kurz, einfach und nützlich ist: Basta. Erst wenn die Italiener selbst es sagen, z.B. am Ende eines Einkaufs oder einer Bestellung, merke ich, dass ich es hätte sagen können.

 

Heute zum ersten Mal einen Supermarkt gesehen, verschämt in der Ecke eines Platzes versteckt. Alles andere bekommt man in den unzähligen kleinen Läden. Vor allem wimmelt es vor Lebensmittelläden, die immer auch fertige Gerichte anbieten, z.B. Lasagne, von denen man sich einen Teil abschneiden lassen kann, ganz nach Bedarf. Von allem ist immer wenig da, es geht nach dem Prinzip “solange der Vorrat reicht”.

 

Um überhaupt etwas zu machen, in die Leonardo-Ausstellung gegangen, die aber keine sonderlichen Erkenntnisse gebracht hat: Was ich verstanden habe, war nicht neu, und was neu war, habe ich nicht verstanden. Wie vielfältig und zukunftsweisend Leonardos Arbeiten sind, wird hier an einigen Apparaten aber besonders deutlich. Am meisten hat mir das Fahrrad gefallen, das das Prinzip des modernen Fahrrads vollends vorwegnimmt: zwei gleiche Räder, Kette, Sattel, Pedale auf beiden Seiten, Speichen usw. Allerdings sind die Details in der Zeichnung nicht gut zu erkennen, so dass der Nachbau vielleicht einen etwas zu “guten” Eindruck vermittelt. Die Zeichnung ist von Leonardos Schüler unterzeichnet, und man weiß nicht genau, was wem zuzuschreiben ist. Auch schön ein ebenso moderner Fallschirm. Bei den anderen Sachen wie dem Kugellager wäre ich lieber in Begleitung von jemand gewesen, der mehr davon versteht. Erstaunlich auch die Menge von Kriegsgeräten, die er entwarf und mit oft einfachen Veränderungen verbesserte, z.B. ein Katapult oder eine bewegliche Brücke. Am auffälligsten ein achteckiger Kasten, in dem an allen Seiten Spiegel angebracht sind, um ein Objekt von allen Seiten sehen zu können, was sonst nie möglich ist, eine Erkenntnis, die später im Kubismus produktiv Verwendung fand. Leonardo der Vielseitige entwarf die Kostüme für die Hochzeit von Ludovico il Moro, malte Portraits von Isabella d’Este und ihrem Ehemann, entwarf die Grabdenkmäler von Sixtus IV und Innozent VIII, führte geologische Studien der Täler der Lombardei durch, nahm als militärischer Berater an den Feldzügen Cesare Borgias teil, entwarf den Königspalast in Amboise (Antwerpen?), führte an der Universität Pavia anatomische Studien durch und legte die Sümpfe in der Umgebung von Rom trocken – als Normalsterblicher wäre man schon mit einem davon ganz zufrieden. Und er hat natürlich die Mona Lisa gemalt. Monna Lisa war die Frau von Francesco Giocondo, laut Vasari das Modell für das Bild, das in Italien nur unter dem Namen La Gioconda bekannt ist. Ein Zeitgenosse sagt aber, die Dargestellte sei eine Geliebte eines Medici, die wahrscheinlichere Erklärung. Mir will das Bild einfach nichts sagen.

 

Frustrierender Besuch in einem Internetcafé. Sobald ich an einem anderen Computer sitze, scheinen mir meine Kenntnisse nicht mehr zu nutzen. Das ist, als wenn man Führerschein hat und nur eine Marke fahren kann. Noch frustrierender ist es, dass der Chef, als ich eine blöde Frage stelle, auf Englisch antwortet. Ich verstehe die Sprache, ich verstehe den verdammten Computer nicht!

 

Am Abend im Fernsehen erst Fritz Wepper, dann Ratzinger gesehen. Beide sprechen Italienisch, der eine synchronisiert, der andere selbst.

 

Heute fängt die Fußballsaison an. Im Fernsehen eine Übertragung gesehen, bei der nur die Reporter im Bild sind. Die Übertragungsrechte sind wahrscheinlich bei einem Privatsender. Hin und wieder wird ins Studio umgeschaltet, wo andere Experten sitzen und Kommentare machen.

 

12. September (Sonntag)

Ausflug nach Volterra. Es geht früh los, und ich habe Glück, in der Cafeteria am Bahnhof schon vor acht einen Kaffee zu bekommen. Auf dem Hinweg merke ich, wie nah der Bahnhof ist – man braucht nur geradeaus zu gehen.

 

Wir müssen in Pisa umsteigen, und dann in Cecina. Auf dem Weg dahin kommt plötzlich das Meer in Sicht – völlig unerwartet, denn Volterra liegt landeinwärts. Die Landschaft wird zwischenzeitlich ganz schön, mit dicht bewachsenen runden Bergen, aber bald danach wieder normal. Irgendwo taucht eine vermutlich verlassene Kirche auf, die von allen Seiten von hohen Bäumen umstanden ist.

 

Charlie schwärmt von Jefferson, von seiner Vielseitigkeit und seiner Persönlichkeit. Er sei das amerikanische Äquivalent zu einem Gelehrten der Renaissance in Europa.

 

Die Organisation, für die Charlie arbeitet, vermittelt und unterstützt Projekte zur Zusammenarbeit zwischen Universitäten, z.B. die zwischen einer Universität in Montana und einer in Mali (seinem nächsten Reiseziel) zum Thema Landwirtschaft. Es kommen Hunderte von Bewerbungen für die Aufnahme in ein solches Projekt. Er selbst hat über 30 Projekte zu betreuen. Sicher schwer, den Überblick zu behalten.

 

Die Kommunikation auf Italienisch klappt ganz gut zwischen uns, obwohl wir beide dieselben Wörter kennen und dieselben Wörter nicht kennen. Schwieriger ist es mit dem Englischen: Er versteht mein (angeblich komisches) Englisch nicht, ich verstehe sein (wirklich komisches) Englisch nicht. Er kann meins aber gut nachmachen, genauso wie das der Italiener. Er hört auch italienischen Rap, findet aber dabei die Vokale, mit denen alle Wörter enden, störend. Der Rap muss kurz und abgeschnitten klingen.

 

Als ich schon auf dem Weg zu Gleis 2 bin, macht Charlie, den ich kurz vorher darauf aufmerksam gemacht habe, dass ich ein Experte für Irrfahrten bin, mich darauf aufmerksam, dass 2 nicht Gleis heißt, sondern Klasse. Ein Gleis gibt es gar nicht, denn es handelt sich gar nicht um einen Zug, sondern um einen Bus. Davon war in der Touristeninformation nicht die Rede. Glücklicherweise ist die Haltestelle gleich vor dem Bahnhof, In diesem gottverlassenen Kaff ist um diese Zeit nichts los. In der Zwischenzeit hatte ich Gelegenheit, zu bemerken, dass Charlie über alle Zeiten genau Bescheid weiß. Wie kann das sein? Ich habe doch den Ausdruck mitgenommen! Es stellt sich heraus, dass er dieser Tage in dem Restaurant, als ich kurz raus war, heimlich, still und leise alles akribisch abgeschrieben hat.

 

Der Bus kommt, und von jetzt an geht nur noch bergauf, in weiten Serpentinen. Dann kommen wir an einen stillgelegten Bahnhof. Der Bus hält, der Fahrer stellt den Motor aus und steigt aus. Endstation. Alle steigen aus. Das muss wohl Volterra sein.  Ja,  denkste, wir müssen umsteigen, in einen anderen Bus. Es geht weiter bergauf, jetzt in enger werdenden Serpentinen, und die Landschaft wird karger. Es geht auf insgesamt 500 Meter. Der Bus hält, wir sind schon eine gute Viertel Stunde über der Zeit. Das muss Volterra sein. Wir wollen aussteigen, aber es geht noch weiter. Dann kommt das Orteingangsschild Volterra, und nach einer ganzen Weile hält der Bus wieder. Wir stehen auf – und setzen uns wieder. Wir sind immer noch nicht da. Schließlich geht die Fahrt auf den Vorplatz einer Stadt, die sich gleich von einer schönen Seite zeigt – alte sandsteinfarbene Häuser an allen Seiten – und wo plötzlich Touristen auftauchen. Beim Aussteigen fragen wir den Busfahrer vorsichtshalber, ob die Abfahrt an derselben Stelle ist, und er teilt uns mit, der Bus, den wir nehmen wollten, fahre heute überhaupt nicht. Wir haben einen Fahrplan für werktags. Der einzige Bus heute fährt erst nach sechs, und ob wir dann noch Verbindungen nach Lucca bekommen, weiß er nicht. Wir lassen alle Schönheiten beiseite liegen und steuern die Touristeninformation an. Ob sie nicht herausfinden können, ob wir am Abend In Cecina noch eine Verbindung bekommen. Nein. Ob sie nicht in Cecina anrufen könne, um das zu erfragen. Dort am Bahnhof sei niemand. Wir sollten es mal in einer andern Informationszentrale versuchen. Die sei ganz in der Nähe und für so etwas zuständig. Wir folgen ihren Anweisungen, finden aber nichts. Wir gehen und zurück, und fragen schließlich irgendwo, wo man uns wieder in die Richtung von vorher schickt. Da finden wir aber nichts und gehen wieder zur ersten Touristeninformation . Diesmal lassen wir uns den Namen der Straße geben. Aber da ist nichts. Wieder landen wir bei den Leuten von vorher. Die wollen uns in die Touristeninfo schicken, was wir aber nicht wollen. Schließlich verstehen sie, was wir meinen, und begleiten uns, angesichts unseres gequälten Gesichtsausdrucks, gleich dorthin. Die Zentrale ist geschlossen. Was tun? Der Mann, der uns begleitet hat, schlägt ein Internetcafe vor, gleich um die Ecke. Charlie sucht nach Abfahrtszeiten, und ich dränge dem Mädchen an der Theke ein Gespräch auf: Was denn wohl ein Taxi nach Cecina koste? Keine Ahnung, bestimmt teuer. Wo denn ein Taxistand sei? Gebe es nicht. Sie ruft ihre Mutter zu Hilfe, und die beiden blättern in einem privaten Telephonbuch, ohne Erfolg. Inzwischen hat Charlie herausgefunden, dass wir heute Abend in  Cecina, wenn wir den einzigen Bus von Volterra nehmen, keine Verbindung mehr bekommen. Die Frauen greifen zum offiziellen Telephonbuch und werden fündig. Sie bestreiten sogar die Telephongespräche selbst und finden nach einigen Umwegen heraus, dass das Taxi nach Cecina 40 Euro kostet. Immer noch besser als eine Übernachtung. Inzwischen hat Charlie auch neue Zeiten für die Züge, die auch alle falsch waren, und wie bestellen erleichtert ein Taxi für halb fünf.

 

Wegen der knappen Zeit würde ich mich mit einem panino begnügen, aber Charlie, ganz fernöstliche Gelassenheit, schlägt ein richtiges Essen vor. Wir suchen sogar das im Reiseführer vorgeschlagene Lokal, der Osteria dei Poeti, und lassen uns Zeit für zwei Gänge.  Als wir kommen, sind wir die einzigen, als wir gehen, ist das Lokal rappelvoll. Trotzdem müssen wir bezahlen.

 

Charlies Vater war selbst Linguistik-Professor und unterrichtete neben Koreanisch und Chinesisch auch die finnisch-ugrischen Sprachen. Dennoch ist das Spracheninteresse keineswegs selbstverständlich. Die beiden Geschwister interessieren sich nicht weiter dafür. Der Bruder hat sogar das koreanische Erbe mehr oder weniger aus seinem Leben verbannt und spricht mit den anderen Familienangehörigen Englisch. Charlie hat auch eine ähnliche Phase durchlebt, sich aber davon emanzipiert. Er ist jetzt beides, Amerikaner und Koreaner, auch wenn das nicht immer kompatibel ist. Mit  seiner Freundin spricht eher meistens Koreanisch.

 

Dann geht die Besichtigung los. Zuerst zum römischen Theater, auf das man von einem Weg nahe der Stadtmauer hinuntersehen kann. Die Ränge, die Eingänge, die Szene sind klar zu erkennen, und es steht sogar noch ein Teil der Dekoration, ein paar Säulen und sogar ein Querbalken. Man sieht aber, dass es ganz nach dem römischen Standardmuster gemacht ist, mit den vertikal aufgeteilten Rängen, ganz wie in  den modernen Fußballstadien, und gegen einen Beg als natürlich Rückwand gebaut.

 

Kurz dahinter ein etruskisches Stadttor, von den Römern in der Wölbung ein bisschen geflickt. Der Unterschied ist ganz deutlich zu sehen. Der etruskische Teil hat riesige gelbe Quader, noch größer als die der Porta. An der Feldseite drei große, von der Zeit abgerundete und schwarz gewordene Köpfe, die ziemlich bedrohlich aussehen. Obwohl das Zentrum ziemlich voll war, hat sich hierher kaum jemand verirrt.

 

Dann folgen wir spontan einem Pfeil zu einem etruskischen Park, ohne genau zu wissen, was das sein könnte. In der Ferne sehen wir ein riesiges Monument, dem wir uns aufgepflegten Parkwegen langsam nähern. Es wirkt wie eine riesige mittelalterliche Festung, aber ein bisschen zu modern, um mittelalterlich zu sein, mit einer langsam schräg nach oben ansteigenden Mauer und einen schönen, großen, runden Turm mit Zinnen. Wir kommen durch ein Tor und gehen jetzt an der Stadtseite des Monuments entlang, wissen aber immer noch nicht, was es ist, und haben auch im Reiseführer nicht davon gelesen. Erst als wir wieder an den Rand der Innenstadt kommen, geht uns ein Licht auf: Ein großes dreisprachiges Schild erklärt die Funktion des Gebäudes: Landesjustizanstalt. Wir haben den Knast für ein Monument gehalten.

 

Dann kommen wir wieder ins Zentrum, zur Piazza dei Priori. Jetzt erst können wir die Schönheit des Platzes richtig wahrnehmen, ein absolut perfekt erhaltener Platz mit einer Reihe von gut zusammen passenden, hohen Gebäuden nach der Art des Palazzo della Signoria in Florenz. Die Funktion der Gebäude, früher oder jetzt, ist nicht ersichtlich. Kirchliche Bauten sind es jedenfalls nicht. Wir machen beide dieselbe Erfahrung, dass man, wenn man nach oben sieht, um den weit herausragenden Turm des zentralen Gebäudes zu sehen, schwindlig wird. Die dichten Wolken darüber ziehen mit großer Geschwindigkeit vorbei, und es scheint, als ob der Turm sich mit ihnen in Bewegung setze.

 

Den Dom finden wir erst nach einiger Suche, versteckt hinter der Rückseite des zentralen Platzes. Die sakralen Bauten müssen sich hier wirklich hinter den profanen verstecken. Das sieht alles eher bescheiden aus. Gegenüber vom Dom das achteckige Baptisterium, darin ein achteckiges Taufbecken im Zentrum und ein achteckiges Taufbecken in einer Ecke, und das ist das wahre Prachtstück. Es ist aus Alabaster (?) und hat Reliefs an allen Seiten, die man aber nicht alle sehen kann, darunter eine Szene mit der Taufe Jesu, nur die beiden Männer nebeneinander, mit einem ganz genau gearbeiteten Fell des Johannes, und einem Jesus, der sich fast unterwürfig beugt. Daneben eine nicht zu identifizierende Heilige, die aber eher wie die Teilnehmerin eines Schönheitswettbewerbs aussieht, mit einem ganz fein gearbeiteten Körper, überlangen Zehen mit genau gearbeiteten Zehennägeln und einem Dutt auf dem Kopf, bei dem man jedes Haar zu sehen glaubt.

 

Am Portal, ganz im Zentrum, eine ganz ungewöhnliche horizontale Reihe ganz kleiner Köpfe, von denen einer wie Adenauer, ein anderer wie Strauß (mit Hut) aussieht. Was das Ganze soll, ist völlig rätselhaft.

 

Der Dom gegenüber, dreischiffig, nicht sehr hoch, nicht sehr breit, hat eine schöne, aber mit zu viel Gold gefasste und zu grell bemalte Kassettendecke. Im Chor ein winziges Rundfenster, das oben an die Decke stößt und dadurch ganz deplaziert aussieht. Da das Fenster wohl zu wenig Licht hineinließ, hat man im Westen auch ein Rundfenster eingebaut, und dabei denselben Fehler wiederholt, diesmal aber noch stärker, so dass sogar ein Stück der Kassettendecke entfernt werden musste.

 

Im Mittelschiff eine Kanzel mit einem ganz ungewöhnlichen Abendmahl. Zehn Jünger in Reih und Glied, alle mit langen, ernsten Gesichtern, die in die Ferne sehen, als wären sie an der Szene oder an einander nicht interessiert. Am linken Ende Jesus mit dem Kopf des Johannes auf seinem Arm, und zu seinen Füssen liegend Judas, der regelrecht vor ihm kriecht.

 

Dann wieder durch die Straßen. Charlie sucht verzweifelt, aber nicht sehr geduldig und nicht sehr erfolgreich, nach Mitbringseln, die einzige Qual, die das Reisen für ihn bedeutet. Volterra ist vor allem für Alabaster bekannt, aber es gibt auch die typischen toskanischen Spezialitäten und den typischen Touristenkitsch. Am Ende kommen nur ein paar Ansichtskarten dabei heraus. Irgendwo sehen wir auf ein Geschäft, das Il Poggio heißt. Das Wort kommt uns beiden bekannt vor, wir können uns aber nicht erinnern. Wir tippen auf ‘Brunnen’, und liegen beide falsch. Es heißt ‘Hügel’.

 

In dem Moment fängt es an zu regnen. Natürlich hat Charlie sofort einen Schirm in der Hand, natürlich ist mein Schirm zu Hause – In Trier. Wir stellen uns einen Moment unter, aber da es nicht besser wird, kaufe ich kurzerhand eine Schirm für 5 Euro. Wir kommen noch an einem Museum mit einer berühmten Kreuzabnahme vorbei, aber für einen richtigen Museumsbesuch bleibt keine Zeit, also flüchten wir wieder ins Web and Wine von heute morgen, auf eine Kaffee. Diesmal bemerken wir, dass es einen Fußboden aus Glas hat, unter dem antike Mauerreste liegen – es verbindet also aufs beste Alt und Neu. Als wir das Cafe verlassen, hat es aufgehört zu regnen. Ich habe den Schirm ungefähr fünf Minuten gebraucht, ein Euro pro Minute.

 

Von dem Platz, auf dem wir auf das Taxi warten, hat man einen guten Ausblick auf die weite Ebenen, die Berge im Hintergrund und das Panorama der Stadt. Das alles ist schön, aber nicht spektakulär schön.

 

Die Taxifahrerin fragt Charlie, kaum dass wir eingestiegen sind: “Sind Sie Chinese oder Japaner?”. Sie bekommt eine dritte Chance und versucht es mit Thailänder.

 

Die Taxifahrerin spricht mit absurd offenen Vokalen. Sie habe gestern eine Fahrt nach Firähnse gehabt. Das klingt, als wolle sie einen Italiener parodieren.

 

Auf der Rückfahrt im Zug versucht Charlie vergeblich, mir den Unterschied zwischen seinem (koreanischen) Namen, Koo Cha-Kuang, und dem seines Bruders beizubringen.

 

Als wir in Pisa zum letzten Mal umsteigen und das Abteil betreten, stehen wir plötzlich vor den Amerikanern! Sie kommen gerade mit einem Bekannten aus Rom zurück.

 

Am Abend habe ich keine Lust, rauszugehen und begnüge mich mit Obst und Keksen.

 

13. September (Montag)

Im Unterricht fragt jemand, warum paese in einem Text groß geschrieben ist. Gute Frage. Man benutzt es, um die beiden Bedeutungen von paese voneinander zu unterschieden, Großschreibung für ‘Land’, Kleinschreibung für ‘Ort’.

 

Hier sagen die Lehrer nicht ständig Bravo! Schade. Hat mir in Bologna immer sehr gefallen, besonders, wenn es einer Frau galt. Dann hieß es immer Brava!

 

Die Lehrerin erzählt, dass man versucht hat, das Radfahren in der Via Fillungo zu verbieten. Das werde aber nicht respektiert. Wirklich nicht? Jetzt, wo sie es sagt, merke ich, dass da wirklich viel weniger Radfahrer sind als in den anderen Straßen. Die deutsche Nervensäge beschwert sich über die Radfahrer, die Belgier sagen, sie seien sehr rücksichtsvoll, jedenfalls im Vergleich zu Amsterdam, wo es ziemlich aggressiv zugehe.

 

Die Leute haben wirklich unglaubliche Erfahrungen: Die Belgierin hat mit ihrem Freund halb Amerika mit dem Motorrad durchfahren, um vor unbekannten Trauzeugen in Arizona zu heiraten, der französische Professor ist als Student durch Indien getrampt, die deutsche Juristin ist durch Andalusien geritten, der belgische Student, Bert, gerade 18 Jahre, hat schon ein Jahr in Südafrika mit lebensgefährlichen Situationen hinter sich, Martha hat eine lokale Kontroverse ausgelöst, als sie den Auftrag bekam, eine Mauer in der Stadt künstlerisch zu gestalten, und Charlie ist mit sieben Jahren ohne ein Wort Englisch zu seinen Eltern nach Amerika übergesiedelt, die er vier Jahre lang nicht mehr gesehen hatte.

 

Nach dem Unterricht gehe ich ein einfaches Lokal, das, was man in Spanien casa de comida nennen würde. Hier geht es einfach und rustikal zu, ohne überflüssige Worte. Das Eis zum Nachtisch wird in einem Plastikbecher serviert, so wie man es im Supermarkt gekauft hat, und wird, wie alle Speisen, eher auf den Tisch geschleudert als gestellt. Es gibt ein Menu für 10 Euro, aber “solo per operai – nur für Arbeiter”. Ob ich als Geistesarbeiter wohl dazuzähle? Zur Sicherheit nehme ich das menu touristico für 11 Euro.

 

Im Kreuzworträtsel gefunden: “Im Lob ist mehr Zudringlichkeit als im Tadel” (Nietzsche).

 

Heute ist das große Fest von Lucca, aber den ganzen Tag über merkt man nichts davon. In der Schule fällt kein Wort darüber, und die Geschäfte haben auch normale Öffnungszeiten, d.h. die Geschäfte, die geschlossen sind, sind nicht wegen des Fests geschlossen, sondern weil einfach einige Geschäfte montags, vormittags oder nachmittags, geschlossen bleiben.

 

Als ich kurz nach sechs wieder in die Stadt gehe, sind schon viele Kerzen angezündet, am hellen Tag. Das ist nur auf den ersten Blick überraschend. Schließlich können die Kerzen nicht auf Knopfdruck angezündet werden. Überall stehen Leute, teils Privatleute, meist aber städtische Angestellte, mit einem langen Docht ausgerüstet, auf Balkonen und Leiterwagen und zünden die Kerzen an, eine nach der anderen. Bei San Michele steht sogar einer auf einer der Galerien der Fassade und ein anderer ganz oben neben Michael. Vor der Kirche ist ein Markt, auf dem es unglaublichen Ramsch gibt. Da ist man erstaunt, was man alles nicht braucht. Vor dem Markt werden an einem Stand in Öl gebackene Hefekringel verkauft, als Spezialität von Lucca: “Der unvergessliche Geschmack Luccas”. In wie vielen Orten in Europa werden die wohl als regionale Spezialität verkauft?

 

Auf der Haupteinkaufsstraße eine hochschwangere Frau mit einem kugelrunden Bauch in einer Bluse, die den Bauchnabel frei lässt.

 

Als ich wieder in die Stadt gehe, ist es dunkel, und die Kerzen kommen zur Geltung, aber doch nicht ganz so, wie man es sich vorgestellt hat: Sie stehen in Konkurrenz zu Neonbeleuchtung und Straßenlaternen und sind so gut geschützt, dass ihr Flickern kaum zu merken ist, jedenfalls nicht aus der Entfernung. Fast sehen sie wie Glühbirnen aus. In einigen kleineren Ecken brennen auch Peckfackeln an den Fassaden – das hat was.

 

Bei uns ist die Prozession schon im Gange, aber es ist so voll, dass man nichts sehen kann, also gehe ich weiter, aufs Geratewohl, und komme zur Piazza Napoleone und erwische da genau den Anfang der Prozession – eine Polizeieskorte. Dann kommen mehrere Gruppen von Blutspendern. Ob das was mit dem Thema der Prozession zu tun hat oder einfach eine Frage der Anordnung ist, weiß ich nicht. Die meisten tragen nur ein Schild voran und gehen schweigend und in Alltagskleidung vorbei. Dann kommen ein paar Chöre, dann Pfarreien, unendlich viele. Bei einigen wird gebetet, bei anderen gesungen, und zwar grässlich schlecht. Ein junger Pfarrer betet mit missionarischem Eifer vor, so als wären es politische Slogans, die er da vorträgt. Sind es ja auch, in gewisser Weise. Ein anderer, mit der Hand am Kinn, blickt tiefsinnig, aber so, dass alle sehen, wie tiefsinnig er blickt. Die meisten Teilnehmer spulen das Programm ziemlich routiniert runter, ohne großen Enthusiasmus, ohne besondere Anteilnahme. Die an hohen Stangen mitgeführten Insignien – Kruzifixe, Gnadenbilder, Leuchten – werden allmählich immer aufwendiger und immer höher. Einige der Träger bekommen Applaus, wegen des großen Gewichts, das sie balancieren. Dann kommen Bischöfe, gleich im Dutzend, und die bekommen richigten Applaus. Wofür, ist nicht ersichtlich. Langsam wird man des Stehens müde. Dann kommt die Organisation “Lucchesi nel Mondo”, mit immer gleichem Banner, das die verschiedenen Orte angibt, Sao Paolo, Bangkok, Adelaide – alles vertreten. Ab jetzt wird es plötzlich bunter und folkloristischer. Es kommen Fahnenschwinger, dann Höflinge, wie einem Fürstenhof der Renaissance entlaufen, dann Soldaten mit Hellebarden und Armbrüsten, dann auch mittelalterlich aussehende Krieger mit Kettenhemden. Inzwischen kehren die ersten Prozessionsteilnehmer auch schon zurück und reihen sich als Zuschauer ein. Die Sache scheint dem Ende entgegen zu gehen. Ich habe alles gesehen außer – dem Santo Volto, dem Protagonisten. Keine Ahnung, wo sie das versteckt haben. Ich mache mich auf den Rückweg, und tatsächlich sind die Straßen abseits der Prozession schon rappelvoll. Jetzt beginnt nicht etwa das verschärfte Trinken, sondern der Ansturm auf die Süßigkeiten.

 

14. September (Dienstag)

Beim Frühstück, wie immer im Stehen, in der Cafeteria am Markt mit einer Holländerin gesprochen. Das muss die sein, von der Charlie geschwärmt hat (was ich ihr aber nicht verraten habe). Sie macht noch eine Woche und geht dann für zwei Wochen nach Bologna.

 

Die zweite Lehrerin, Paola, kommt bei den anderen sehr gut an. Ich finde eher, dass sie dasselbe macht wie Romano, muss aber zugeben, dass sie besser aussieht.

 

Heute morgen in der Pause in der Cafeteria ein Reisteilchen probiert. Gestern fehlte mir erst der Glaube, dann der Mut: Teilchen aus Reis? Zum Kaffee? Ja, ja, richtig verstanden. Beim Essen erwarte ich die ganze Zeit, auf Reiskörner zu beißen, aber es kommt nichts. Das Teilchen hat eine Vanillefüllung und schmeckt ganz normal. Wo ist der Reis?

 

Charlie ist mit meiner Aussprache seines richtigen Namens weiterhin unzufrieden. Bert, der junge Belgier, könne es besser. Glaube ich sogar. Der Junge, im Unterricht immer sehr zurückhaltend, ist unglaublich hell, hat eine schnelle Auffassungsgabe,  versteht jede Anspielung, macht alles mit einer gewissen Leichtigkeit.

 

Nach dem Unterricht kurz ins Zimmer, und als ich gerade überlege, wohin ich gehen soll, verdunkelt es sich plötzlich und fängt an zu regnen. Den ganzen Nachmittag hellt es nicht mehr auf. Eine Regenpause zum Besuch des Palazzo Pfanner genutzt, ganz in der Nähe. Pfanner war ein Bierbrauer, der vom Herzog der Toskana gerufen wurde, um die erste Brauerei in der Toskana zu gründen. Einer Broschüre zufolge war er Österreicher, einer anderen zufolge kam er aus “Konstanz in der Schweiz”. Da kann sich jeder aussuchen, was er will. Wichtiger als der Vater war der Sohn, der später Bürgermeister von Lucca wurde und u.a. ein Abwassersystem einführte und einen Aquädukt bauen ließ. Er war Mediziner und machte sich im 1. Weltkrieg besonders um die zurückgekehrten Verletzten verdient, als er im Erdgeschoss des palazzo eine provisorische Versorgungsstation einrichtete. Er behandelte alle, von Puccini angefangen, dessen Leibarzt er war, bis zu den Ärmsten, bei denen er häufig das Geld für die Medizin heimlich unter das Kopfkissen schob.

 

Der Palazzo hat vor allem einen schönen Garten, bei dem man über einen Kieselweg durch ein Spalier von heruntergekommenen Statuen und riesigen Blumenkübeln zu dem zentralen Brunnen mit einer hohen Fontäne kommt, die vom Wind bewegt wird. In den Blumenkübeln aus Ton Zitronenbäume. Der Garten ist ganz regelmäßig angelegt, wirkt aber nicht streng wie ein französischer Garten des Klassizismus, sondern fast eher wie ein verwunschener Garten. Am besten sieht er von oben aus, d.h. wenn man die breite Steintreppe ins Hauptgeschoss hochgestiegen ist. Von dort sieht man durch die Säulen den Garten und die direkt daran anstoßende Stadtmauer. Der große Empfangsraum, in den man direkt vom Balkon aus kommt, hat ein Deckengemälde, das illusionistisch einen Balkon darstellt, fast eine Wiederholung dessen, was man unmittelbar vorher “in Wirklichkeit” gesehen hat. Ansonsten hat man innen die Räume und Ausstattung, die man erwartet. Nichts Besonderes, aber es hat alles einen gewissen dekadenten Charme. Irgendwo steht kommentarlos ein großer, hölzerner, farbig gefasster Michael (XVI) herum, in der gleichen Haltung wie der auf der Kirche, mit ausgebreiteten Armen. Es hat ein sehr weibliches Gesicht und langes, in den Nacken fallendes blondes Haar. Als ich wieder auf dem Balkon stehe, sehe ich im Garten einen Besucher mit T-Shirt mit Ferrari-Symbol. Will nicht so ganz passen.

 

Auf dem Rückweg eine Schweizer Studentin getroffen, die sich, zu recht, über ihre zu niedrige Einstufung beklagt. Als sie ihr Anliegen vorgetragen hat, wurde sie abgewimmelt. Ungeschickte Strategie seitens der Leitung. Sie ist froh, außerhalb des Unterrichts ein bisschen Italienisch sprechen zu können und erzählt mir, dass sie zu Hause Elektroleitungen für Eisenbahntunnel zeichnet. Ihr Chef und viele der Arbeiter sind Italiener. Sie bleibt sieben Wochen in Lucca! Erstaunlicherweise findet sogar sie die Preise in Italien hoch. Da kann ich nur zustimmen.

 

Als ich wieder zu Hause bin, fängt es richtig an zu regnen. Weltuntergangstimmung. Nachdem ich ein paar verdächtige Geräusche eine Zeitlang ignoriere, ist es nicht mehr zu übersehen, als ich aufstehe, um ein Radiergummi zu holen: Es regnet rein. An zwei Wänden läuft das Wasser langsam runter, an einer Ecke tröpfelt es richtig. Ich stelle den einzig verfügbaren Behälter unter die tropfende Stelle und bringe erst mal alle Elektrogeräte in Sicherheit. Dann versuche ich, die Wirtin anzurufen, bekomme aber immer Rufumleitung. Mein Handy-Analphabetentum wird mir zur Last. Ich ziehe die Regenjacke an, von der ich mich dieser Tage noch gefragt habe, warum ich sie überhaupt mitgebracht habe, und will mich gerade auf den Weg zur Schule machen, als ich unten Geräusche höre. Die Wirtin ist doch da. Sie entschuldigt sich tausendmal und bietet mir gleich ein neues Zimmer an. Das ist sogar viel größer. Besser allerdings nicht, es gibt kaum Platz, wo man etwas abstellen oder hinlegen kann. Es hat auch keinen Schreibtisch, aber sie ist sofort einverstanden, als ich vorschlage, meinen Schreibtisch runterzutragen. Es dauert kaum ein halbe Stunde, bis ich mich häuslich niedergelassen habe, soweit das überhaupt geht.

 

Keine Lust rauszugehen, was aber auch nicht nötig ist, denn heute habe ich vom Einkauf eher zufällig kleine Portionen Paprika mit Hackfleisch mitgebracht, zwei rot, zwei grün. Schmeckt hervorragend, auch kalt.

 

Dem Kreuzworträtsel zufolge ist Agatha Christie ein Pseudonym. Sie hieß tatsächlich Mary Miller. Wusste ich nicht, oder hatte es jedenfalls wieder vergessen.

 

15. September (Mittwoch)

Heute im Unterricht erklärt die Lehrerin, dass eine Besonderheit im Italienischen dieser Region die Aussprache des <s> ist, so dass persona wie perzona klingt. Danach genau diese Besonderheit bei ihr selbst, besonders aber bei der Führung heute Nachmittag immer wieder bemerkt. Vorher noch nie drauf geachtet.

 

Beim Mittagessen vor Lachen gebogen, als Charlie erzählt, wie Pascal, die von morgens bis abends auf Hochtouren läuft und der man ständig eine Packung Valium verabreichen möchte, ihm wortreich und stürmisch wie immer erklärte, sie brauche jetzt unbedingt einen Kaffee. Sie käme sonst einfach nicht auf Touren. Und wie er, ganz asiatische Höflichkeit, bei sich dachte: “Nein, bitte nicht Pascal, alles, nur bitte keinen Kaffee!”

 

In der Caffeteria am Markt steht auf einem Regal eine Flasche Nippozzano, der Wein, der zur Grundausstattung von Theo und Marlies’ Weinkeller gehört. Die Glücklichen!

 

Nach der gestrigen Sintflut dröppelt es heute im Laufe des Tages noch ein bisschen. Am Nachmittag ist es wieder heller und wärmer, aber so ganz traut man der Sache nicht. Es ist auch längst nicht mehr so warm wie letzte Woche. Wir haben genau den Übergang vom Sommer zum Herbst erwischt.

 

Charlie hat von seinem Gastvater das Wort spossato gelernt, ‘erschöpft’, nicht zu verwechseln mit sposato, ‘verheiratet’. Man ist versucht, auch einen semantischen Zusammenhang zu entdecken.

 

Am Nachmittag Führung durch eine Photoausstellung mit Bildern von der Toskana, wieder, wie dieser Tage der Musikvortrag, in einem ehemaligen Klostergebäude, das jetzt für andere Zwecke genutzt wird. Am Eingang eine hölzerne Drehtür, über die man mit den Nonnen kommunizieren konnte, ohne zu sehen oder gesehen zu werden, und die auch der Entsorgung ungewollter Babys diente. Tatsächlich befinden wir uns auf der Via del Bastardo!

 

Die Photos, von einem gewissen Gianni Berengo Gardin, aus den Sechzigerjahren, sind in Schwarzweiß, meist im gleichen Format (ca. 30×40). Sie stellen eine alternative Sicht der Toskana dar, fern aller Klischees. Oft werden Landschaften dargestellt, die zwar menschenleer sind, auf denen der Mensch aber seine Spur hinterlassen hat, geschaffenes Land, Landschaft im wörtlichen Sinne, z.B. eine Fernsicht auf die Hügel der Toskana mit Feldern, auf denen in regelmäßigen Abständen Ährengebinde liegen. Diese Photos, bei denen der Photograph in den Hintergrund tritt, sind in der Ausstellung die Regel, daneben gibt es aber auch Photos, die Anekdoten erzählen und bei denen der Photograph, dem der “Schnappschuss” gelungen ist, zum Protagonisten wird, z.B. ein Mädchen im wehenden Kommunionkleid, das von mehreren Gendarmen aus einer gewissen Entfernung beobachtet wird, alles auf einem Balkon mit der Silhouette von Florenz im Hintergrund, eine Anekdote, die aber auch zwei italienische Themen, Kirche und Gendarmerie, zum Hintergrund hat. Andere Themen sind die harte und gefährliche Arbeit in den Steinbrüchen von Carrara  oder Szenen aus der abgelegenen und rückständigen Maremma, heute eine Touristenlandschaft, für die Toskaner aber mit anderen Assoziationen verbunden, wie heute noch an dem Fluch “Maremma cane” abzulesen. Auf einem anderen Photo sieht man eine Frau auf der typischen Steinbank einer Dorfkirche sitzen, allein, nur in Gesellschaft eines vor der Kirche abgestellten Autos. Ein Photo, das Schule gemacht hat, ist das eines sich durch die Landschaft nach oben windenden und in der Ferne sich verlaufenden, von einzelnen Zypressen gesäumten Wegs (Zypressen als die Anzeichen für “Weg” – da wo Zypressen sind, ist auch ein Weg), auf dem sich zwei Menschen befinden, kleine Figuren, die angesichts der Größe der Natur kaum auffallen, ein Thema, dessen Vorlage, wie oft in der Photographie, aus der Literatur statt aus der Malerei stammt und u.a. von Cesare Pavese gestaltet wurde. Photos von Monumenten zeigen immer Ausschnitte oder ungewöhnliche Perspektiven, wie eins von San Michele, das die Fassade aus einem extrem spitzen Winkel zeigt. Es wird kein Panorama gezeigt, kein Ensemble, sondern ein Blickwinkel, in völliger Übereinstimmung mit den mittelalterlichen Baumeistern, die genau das taten (so ist der schönste Blick auf San Michele der begrenzte Blick aus der Via Buio), zumindest in den mittelalterlichen italienischen Städten (mit der Ausnahme von Pisa, das ein perfektes Ensemble bietet, das aber eben als solches ganz gewollt konzipiert war und auf einer Freifläche außerhalb der Stadtmauern errichtet wurde). Ein weiteres Photo von Lucca zeigt die Piazza del Anfiteatro, den die ältere Generation noch als Piazza del Mercato kennt, früher eine eher arme Gegend. Auf diesem Bild ein Karren mit Kastanien. Die Kastanienverkäufer hatten ihren eigenen, jetzt langsam im Aussterben begriffenen Jargon. Diese Bilder sind völlig frei von Menschen. Dort, wo der Mensch auf den Bildern von Städten erscheint, erscheint er in der Masse, wie auf den Photos vom Palio in Siena, wo er ununterscheidbar und selbst zur Landschaft wird. Eine absolut lohnende Ausstellung.

 

An der Käsetheke frage ich nach einem Käse und erfahre, dass es Gorgonzola ist. Zu Hause merke ich, dass er aus Dänemark kommt. Das ist wie der Feta aus dem Allgäu.

 

Das Problem, wenn man immer mehr versteht, ist – dass man immer mehr versteht. Und sich dadurch auch eine Menge  Unsinn anhören muss, der vielleicht ganz angenehm klänge, würde man nicht verstehen, wie im Fernsehen die Witze und Kommentare des Conferenciers bei der Wahl der Miss Italia.

 

16. September (Donnerstag)

Heute endlich mal wieder gelaufen, aber, trotz viel besserer Bedingungen, auch nicht schneller als beim letzten Mal (23 Min.).

 

In irgendeinem Text kommt in Zusammenhang mit einem gewissen Filippo die Zahl 30 vor, wörtlich übersetzt ungefähr “Er hat alle 30”. Damit kann keiner was anfangen: Ist Filippo 30 Jahre alt? Noch nicht ganz 30? Schon über 30? Hat er 30 Freunde? Sind 30 Personen anwesend? Alles falsch. Er “hat alle 30” bedeutet, dass er an der Universität lauter Einser hat. Im italienischen Notensystem ist 30 die höchste Note (an der Universität).

 

Im Unterricht erzählt Charlie von seiner Übersiedlung nach Amerika, eine sehr bewegende Geschichte, aber so erzählt, dass es nicht kitschig wird, mit Witz und Distanz.

 

Sheila, die pensionierte schottische Französischlehrerin aus Glasgow, erzählt von einer Fahrt nach Barga, das vorher auch schon in der Touristeninformation in Lucca sowie von Paola empfohlen wurde. Für Sheila ein Pflichtbesuch, denn von Barga sind viele nach Glasgow ausgewandert. Warum, weiß niemand. Wie überhaupt niemand weiß, warum jemand nach Glasgow auswandert. Jedenfalls hat es zu freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Städten geführt.

 

Da am Ende immer unwillkürlich ein Vokal angehängt wird, klingt Picknick wie Pickenicke. Da ein Stück pezzo heißt, ist ein Stück Pizza un pezzo di pizza. Klingt irgendwie witzig.

 

Es gibt einige kleinere, ganz wichtige Wörter, deren Bedeutung schwer zu fassen ist und die man so gut wie nie selbst gebraucht: mica, pure, magari, semmai, anzi, parecchio usw. Ganz schwer, die in den aktiven Wortschatz zu übernehmen, auch wenn man es sich vornimmt.

 

Auf eine Checkliste für zukünftige Reisen kommen Schere, Badehose, Hut, Sonnencreme, Photoapparat, Brillenetui, Reisewaschmittel, Nivea, Adapter, Fön, Messer, Nagelbürste, Babycreme, Joggingschuhe, Flaschenöffner, … Aber wohin mit der Checkliste?

 

Heute Nachmittag nach San Frediano, von Charlie und Münchner unabhängig voneinander empfohlen, einer Kirche mit einem auffälligen Mosaik im oberen Teil einer ansonsten schmucklosen weißen Fassade. Frediano war ein Bischof von Lucca und irischer Abstammung. Eine merkwürdige Kirche mit einem schönen Raumeindruck, ein bisschen wie der der Trierer Basilika oder der römischen Basiliken, erstaunlich groß, hell, hoch, mit einer einfachen, flachen Holzdecke und schmucklosen Seitenwänden im Mittelschiff. Eigentlich fünfschiffig, aber in den äußeren Seitenschiffen sind fast überall Kapellen, und die anderen Schiffe wirken durch die hohen Arkaden wie ein Raum.

 

Das Vorzeigestück ist ein mittelalterliches Taufbecken (XII), groß, mit einer Säule in der Mitte, aus der noch ein anderes Becken wächst. Beide haben Skulpturen am Rand, oben kaum zu erkennen, unten zu erkennen, aber nicht zu identifizieren, Figuren zwischen Säulen, eine gebeugte Figur mit einem Handtuch in der Hand, eine Figur, die ein Fabelwesen am Schwanz packt, und eine größere Reiterschar, die wie mittelalterliche Krieger aussehen, aber wahrscheinlich – sie reiten auf Wellen – das Heer des Pharao sein sollen, die im Meer versinken. Was das alles soll, ist nicht ohne weiteres ersichtlich und dem kleinen Faltblatt nicht zu entnehmen.

 

In einer Kapelle in einer gläsernen Urne der nicht verweste Körper einer gewissen Zita, die das Hausmädchen einer bekannten Familie, der Fatinelli, gewesen sein soll. Sie ist mit einem furchtbar kitschigen grünen Kleid und einem priesterlich aussehenden weißen Spitzenumhang bekleidet, unter dem die schwarzen Knochen von Hand, Fuß und Gesicht hervorgucken, eine nicht sonderlich geschmackvolle und eher komische als schauerliche Kombination.

 

Dann nach San Michele, um die Kirche aus der Perspektive wie gestern auf der Photographie zu sehen. Ging aber nicht, der Markt ist im Weg. Aus Frustration doch einen Hefekringel, einen sog. Frate, gegessen. Frisch gemacht, noch warm und in Zucker gewendet. Nicht schlecht.

 

Erstaunlich im Zentrum das Nebeneinander von teuren Geschäften, vor allem Boutiquen und Juweliergeschäften, und Läden mit regelrechtem Ramsch, häufig dadurch zu unterscheiden, wie viele Artikel auf wie viel Raum angeboten werden.

 

Dann einmal die Ost-West-Achse hinunter gegangen, den ehemaligen römischen Cardus Maximus, wie ich vermute. Ist aber weniger interessant als die Via Fillungo, die Nord-Süd-Achse. Hin und wieder erscheinen ziemlich große Palazzi, die irgendwie nicht zu den engen Gassen passen. Dann die Via Fillungo hinauf.

 

Am Abend auf Vorschlag der Amerikaner zu viert ins Locanda di Bacco, ein von ihnen selbst entdecktes, neueres Lokal der etwas besseren Klasse. Die anderen fragen nach Fisch, müssen aber feststellen, dass es keinen gibt. Ich esse Wildschwein, eine Spezialität der Region. Wir schaffen es, den ganzen Abend beim Italienischen zu bleiben, und zwischendurch fragt Kos mich sogar, ob ich auch Englisch spreche. Am Ende übernehmen die Amerikaner ohne Zögern die gesamte Rechnung.

 

17. September (Freitag)

Heute morgen, kurz vor Unterrichtsbeginn: Eine Belgierin spricht mit einer Deutschen, ein Koreaner mit einem Belgier, eine Schottin mit einem Schweden, eine Belgierin mit einer Amerikanerin, alle auf Italienisch!

 

Dann erzählen zwei von den anderen von Sommerkonzerten, die regelmäßig in San Giovanni stattfinden, meist mit Schwerpunkt Puccini. Dabei gibt der Dirigent eine zweisprachige Einführung, in der er auf Englisch Dinge erzählt, die er auf Italienisch nicht erzählt. Schon deshalb müsse man hingehen. Jedenfalls war Puccini in Lucca nicht gerade beliebt. Einerseits führte er selbst ein Leben, das nicht den bürgerlichen Erwartungen entsprach, und arbeitete andererseits als Pianist in einem Bordell, wo er die Männer zu Gesicht bekam, die er dann sonntags als brave Familienväter im Gottesdienst wiedersah. Der Beliebtheit nicht gerade förderlich.

 

Fangfrage: Was ist der Unterschied zwischen qui and qua? Keiner! Jedenfalls nicht in der Bedeutung. Wohl aber in der regionalen Verteilung: Der Norden bevorzugt qua, die Mitte qui. Beim Gegenstück, und , gibt es dagegen einen Bedeutungsunterschied.

 

In einem Artikel sollten wir nach einem Grammatikfehler fahnden. Ich liege genial daneben, einige der anderen haben ihn gefunden.

 

Wir bekommen drei unvollständige Texte und sollen entscheiden, was sie sind. Ich spreche mich energisch für Lyrik aus. Dann stellt sich heraus, dass es Witze sind. Es fehlt nur die Pointe. Die müssen wir dann aus einer Auswahl finden.

 

Da heute für alle drei Belgier und für Charlie der letzte Tag ist, werfe ich die Flasche Dessertwein, die in der fattoria im Suff gekauft habe, ohne zu wissen warum, auf den Tisch. Auch meine deutschen Freundinnen reisen ab. Wie soll ich eigentlich nächste Woche wach werden? Einem ihrer Gespräche in der Pension entnehme ich, dass ich Deutschland die Sonne schient und für morgen 27 angesagt sind. Sauerei! Wofür fährt man eigentlich nach Italien?

 

Bei einer Hörverständnisübung sind wir alle überfordert. Die meisten haben nur ein paar Eigennamen verstanden. Nur in einem Punkt sind wir uns alle einig: Francesca ist Ballerina. Bei der Lektüre stellt sich heraus, dass Francesca Hausfrau ist und mit Nachnamen Ballerini heißt! Ich verstehe etwas, was kein anderer versteht: Jemand ist schwanger. Richtig! Später stellt sich heraus, dass ich imbarrazato als ‘schwanger’  aufgefasst habe, weil ich es mit spanisch embarazado gleichgesetzt habe. Dummerweise heißt imbarrazato aber nicht ‘schwanger’, sondern ‘peinlich’, glücklicherweise ist die Frau aber wirklich schwanger! Das ist wie in den Mathearbeiten in der Schule, bei denen man auf dem falschen Weg zur richtigen kommt.

 

Treffen zu einem kommentierten Gang über die Mauer an San Francesco. Ganz in der Nähe die Villa Guinigi und andere Villen, eigentlich überraschend, denn eine Villa lag immer außerhalb der Mauern, ein Palazzo immer innerhalb der Mauern (viele reiche Familien hatten beides). Die Erklärung: Dies ist außerhalb der Mauern, jedenfalls außerhalb der mittelalterlichen Mauern, nicht aber außerhalb der jetzigen Mauern, die aus der Renaissance stammen und eine Erweiterung waren, grob gesprochen parallel zur mittelalterlichen Mauer verlaufend (die genau entlang “unserer” Straße verlief und selbst bereits eine Erweiterung der römischen Mauer war).

 

Wie alle Kirchen Luccas, hat die Fassade von San Francesco den Dom von Pisa zum Vorbild, mit Blendarkaden und Marmor, allerdings mit sehr sparsamem Einsatz farbigen Marmors. Statt dessen viele Schattierungen von Weiß und Grau.

 

Dann an der Via del Bastardo vorbei durch ein Tor vor die Stadtmauern. Jedes Tor hatte seine eigenen Gesetze und seinen eigenen Kapitän. Ausländer (zu denen auch Florentiner und selbstverständlich Pisaner zählten) durfte nur durch das Tor Santa Maria in die Stadt. Die Mauer wurde zunächst zu militärischen Zwecken gebaut und hatte über 100 Kanonen und ein Kanalsystem, das Gelände vor der Mauer auf eine Höhe von 1 Meter zu überfluten und dadurch Angriffe zu erschweren. Die Mauer wurde aber nie zu militärischen Zwecken genutzt und schon bei dem Bau wurde deutlich, dass sie nicht gebracht wurde. Dennoch wurde sie weiter gebaut, einerseits zu repräsentativen Zwecken andererseits als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme.

 

Von der Mauer aus gut zu sehen, dass Lucca von Bergen umgeben ist, zu einer Seite hin von Bergen, die Marmor lieferten und beträchtlich zum Wohlstand beitrugen.

 

Sowohl Pisa als auch Lucca liegen am Rand ihrer Provinz (im Gegensatz zu Siena) und gefährlich nah zueinander. Pisa wurde, nachdem seine Seeherrschaft von Genua beendet wurde, zum Hauptfeind, da es sich landeinwärts orientierte. Lucca liegt nur 20 km Luftlinie vom Meer entfernt, weniger als andere Städte, die “am Meer” liegen, ist aber völlig landeinwärts ausgerichtet. Ein Blick auf die Speisekarte genügt: Fisch fehlt fast völlig, und die traditionellen Speisen sind eher die eines Bergvolks, darunter farro als eine Speise, die schon den römischen Soldaten verabreicht wurde, die mit schweren Rüstungen viele Kilometer zurücklegten.

 

Die mittelalterlichen Türme prägten das Stadtbild Luccas. Die heutigen haben allerdings mit den mittelalterlichen, die fast alle irgendwann abgebrannt sind, wenig zu tun. Es waren offene Türme, ungefähr wie ein modernen Glockenturm einer Kirche, mit einer Holz geschlossen wurden. Als in der frühen Neuzeit die Bevölkerung wuchs, ergab sich der Bedarf nach mehr Wohnraum, und man schaffte Verbindungen zwischen den Türmen, um aus mehreren Türmen einen Palazzo zu machen, überall noch in heutigen Stadtbild abzulesen, u.a. an der Piazza San Michele.

 

Schon vor dem Aufkommen des Tourismus war Lucca eine eher wohlhabende Stadt, durch Kommerz und viele kleine bis mittlere Betriebe, die sich schnell umstellen konnten. Der wichtigste Wirtschaftszweig war das Papier. Lucca hat ausgezeichnetes Wasser, das auch zu Heilzwecken verwendet wird, und der Name Lucca, kein römisches, sondern ein ligurisches Wort (Die Ligurien wohnten ursprünglich eher in der Toskana als in Ligurien und wurden dann von den Römern nordwestwärts getrieben), das wahrscheinlich ‘Wasser’ bedeutet. Das Wasser war die Grundvoraussetzung für die Papierherstellung.

 

Lucca ist eine konservative Stadt und blieb von der Renaissance, wenn auch die Stadtmauern in der Zeit der Renaissance entstanden, völlig unberührt, ganz im Gegensatz zu Florenz, wo die mittelalterliche Stadt zugunsten der Errichtung einer neuen Stadt im Stile der Renaissance abgerissen wurde. Aber Florenz ist nur eine von zehn Städten der Toskana und rechtfertigt überhaupt nicht die simple Gleichsetzung von Toskana und Renaissance. Lucca dagegen bewahrte das mittelalterliche und letztlich sogar das römische Grundmuster, mit den noch deutlich im Stadtplan ablesbaren zwei Achsen und San Michele am Kreuzpunkt dieser zwei Achsen (San Michele in Foro!) und dem, wie immer, außerhalb der Stadtmauern, aber nahe an einer wichtigen Achse gelegenen Amphitheater (vgl. Trier!).

 

Noch im 18. Jh. galt Lucca keineswegs als schöne, sogar als ausgemacht hässliche Stadt.  Wenn man hierher kam, tat man es aus geschäftlichen Gründen, nicht, um die Stadt zu sehen. Es war zu eng und zu dunkel und es gab keine großen Paläste und Plätze. Eine der Konsequenzen war die Errichtung der Piazza Napoleone. Dagegen blieb die Piazza del Anfiteatro, für die es schon einen Befehl zum Abriss gab, am Ende stehen.

 

Auch an der Stadtmauer gelegen der Botanische Garten, heute nicht mehr von herausragender Bedeutung, aber historisch für die Region von Bedeutung, denn von hier aus wurden die Villen der Umgebung mit den jeweils gewünschten Pflanzen versorgt, auch als der nach Frankreich exportierte und dann verändert als französischer Garten importierte Garten blühende Bäume wie Magnolie und Kamelie erforderten. Beide Bäume galten bis zur Romantik als reine Nutzpflanzen und wurden dann erst zu Schmuckpflanzen. der italienische Garten hatten immer eine Steigung und konnte so, von der Höhe aus, eine Sicht auf das Panorama der Bäume bieten. Die wären im immer flachen französischen Garten zu einer Mauer geworden und entfielen.  Statt dessen gab es dann die dem italienischen Garten zunächst ganz fremden Blüten.

 

Die Marmorverkleidung, auch am Dom zu sehen, ist letztlich ein Resultat arabischen Einflusses, der in ganz Italien, von Sizilien kommend, im Hochmittelalter immer wichtiger wurde. Die Vorgängerkirchen waren meist dunkel und schlicht, und unter arabischem Einfluss gewann das Element des Lichts immer mehr an Bedeutung, der Helligkeit, die auch durch den Marmor erreicht wurde. Dieser Einfluss ist auch in der italienischen Volksmusik zu spüren, der “echten” Volksmusik, die fern von der Melodiösität der italienischen canzone ist und statt Melodie eher durch Rhythmus bestimmt ist. Außenstehende könnten die traditionellen Volksleider aus Neapel, zum Beispiel, ohne weiteres für arabische Musik halten, mit der Schalmei und dem tamburello als klassische Instrumente.

 

Unterwegs ist einmal von einem knapp verhinderten Bürgerkrieg die Rede, und Charlie macht mich auf die Absonderlichkeit des englischen Worts Civil War aufmerksam und imitiert in Pseudo-Englisch, wie die englischen Gentlemen sich in einem Civil War gegenseitig mit höflichen Floskeln den Vortritt lassen, wenn es darum geht, sich gegenseitig abzuknallen.

 

Dann kommt der Abschied von halb Belgien und einem bedeutenden Teil Koreas. Richtig bewegend!

 

Das Lokal, dessen Garten an unsere Pension grenzt, muss in irgendeinem amerikanischen Reiseführer stehen. Wenn ich abends rausgehe, höre ich immer nur amerikanisches Englisch. Vielleicht sollte ich doch nicht hingehen.

 

Da ich mich am Mittag mit Keksen und dem dänischen Gorgonzola begnügt habe, gehe ich abends noch mal raus auf der Suche nach einem Restaurant im Zentrum, kann mich aber für nichts entscheiden und lande am Ende doch wieder in der einfachen Wirtschaft in der Nähe. Dort ist außer mir nur ein Touristenpaar und ein Italiener, der in langsamem, aber erstaunlich gutem Deutsch auf die beiden einredet. Mit blond gefärbtem Haar und gepiercetem Ohr entspricht er nicht eben dem klassischen Typ des Gastarbeiters. Als er geht, stellt sich heraus, dass die Touristen gar keine Deutsche, sondern Dänen sind. Von jetzt ab geht die Kommunikation zwischen dem Wirt und ihnen ausschließlich auf Italienisch – was sie nicht sprechen. Er bietet ihnen Wildschwein als zweiten Gang an. Soll ich mich einmischen? Glücklicherweise entschließe ich mich, die Klappe zu halten. Sie kommen auch so ganz gut zurecht. Der Tourist kommt irgendwann auf die gute Idee, einfach Si zu sagen, und sie essen, was sie bekommen, mit Genuss. Dann spielt sich vor dem Lokal endlich eine richtige italienische Szene ab, wie aus dem Bilderbuch: Eine junge Frau und zerrt einen jungen Mann bei den Haaren und tritt ihm mehrmals in die Weichteile, dabei schreien sie sich gegenseitig an, so als wollten sie uns in diesem ruhigen und ganz zivilisieren Stadt ein richtiges Stück Italien zeigen, mit Leidenschaft, Liebe und Lautstärke. Wunderbar! Interessant die Reaktion der Wirtsleute: Beide gucken gebannt zu, gehen etwas näher ran, um auch alles mitzubekommen, schließen aber zur Vorsicht die Türe.

 

18. September (Samstag)

Heute nach Pisa gefahren, eine wirklich besondere Erfahrung, einmal durch die fast makellose Schönheit aller vier Gebäude, von denen jedes für sich allein eine Stadt berühmt machen könnte, dann aber auch durch die besondere, von der Stadt isolierte Situation, die der Sache etwas von Disneyland gibt: Alles ist so arrangiert, als wäre es extra für uns Touristen dort hingestellt worden. Der gleiche Stil (trotz einer Bauzeit von mehr als 200 Jahren), das perfekte Arrangement, die Isolation von der Stadt und die perfekte Präsentation auf dem grünen Teppich geben der Sache etwas Irreales. Die Folge ist, dass ich nach der Besichtigung fast aufatme, als ich in die gar nicht sonderlich schöne, aber sehr reale Stadt zurückkehre, mit Märkten, Häusern, Gassen und ganz normalen Menschen.

 

Absichtlich bin ich von vornherein nicht der Beschilderung gefolgt, sondern vom Bahnhof aus durch die Stadt gegangen. Man verbindet Pisa so sehr mit dem Schiefen Turm, dass man überrascht ist, zunächst in eine ganz normale, nicht sonderlich schöne Stadt zu kommen. Es geht über die zentrale autofreie Straße, die zwischendurch mit einem Arkadengang etwas schöner wird, aber keine Schönheit wird, über den breiten, braunen Arno ans entgegengesetzte Ende der Innenstadt. Zwischendurch gehe ich schnell einen Kaffee trinken, nicht weil mir nach Kaffee ist, sondern weil ich dringend ein WC brauche, muss dann aber feststellen, dass die Bar, in der man im übrigen auch nicht rauchen darf, kein WC hat: “Mi dispiace”. Mir auch. Jetzt ist es noch dringender. Glücklicherweise wird der “Platz der Wunder” bald Abhilfe schaffen: Hier ist alles geregelt, und selbstverständlich nicht gratis. Im Laufe des Tages sollte ich zu einem der besten Kunden der Toilettenfrau werden.

 

Irgendwann endet die gerade Straße, man biegt links ab, und plötzlich sieht man den schönen weißen Turm vor sich, über einer hässlichen Mauer mit Plakaten und Graffiti an der Straße. Er ist nur 200 Meter entfernt, aber scheint schon einer anderen Welt anzugehören. Es gibt bestimmt viele Pisaner, die den Turm seit Jahren nicht mehr gesehen haben. Man hat keinen Grund, den Turm zu sehen außer dem, ihn sehen zu wollen, und mit ihm den gesamten “Platz der Wunder”. Das Areal ist zur Landseite von einer vermutlich mittelalterlichen Mauer aus Backsteinen umgeben.

 

Am Turm fällt zuerst auf, wie breit er ist. Auf Photos wirkt er schlanker. Man kann ihn jetzt wieder besteigen, aber man versucht, die Besucherströme zu regeln, u.a. durch den Preis. Auch der Dom ist abgesackt, von außen am südlichen Seitenschiff deutlich zu erkennen. An der Westfassade des Doms eine leicht zu übersehende Inschrift, die erklärt, wem dieser ganze Reichtum zu verdanken ist: dem Sieg der Pisaner Flotte über die Sarazenen. Die Fassade ist das Vorbild – das unerreichte Vorbild – der meisten Kirchen in Lucca und auch einer Kirche in Pisa, die ich in der Fußgängerzone gesehen habe – und wahrscheinlich vieler anderer Kirchen der Umgebung. Nur die Form der Säulen ist bei San Michele in Lucca aufwändiger und schöner.

 

Die Gebäude sind außen schöner als innen, obwohl der Camposanto mit seiner langgestreckten Fassade mit der unendlichen Reihe von Blendarkaden und ohne jedes Fenster für sich allein etwas wie ein mittelalterliches Lagerhaus aussieht. Als Ensemble aber sind sie umschlagbar. Das schönste einzelnen Gebäude ist das Baptisterium, vielleicht eins der schönsten Gebäude, das ich je gesehen habe, ein Rundbau mit einer Kuppel, mit romanischen und gotischen Arkaden. Perfekte Harmonie, und ein perfekter Kompromiss zwischen Schlichtheit und Auffälligkeit. Dabei nimmt man die Fülle der Steinmetzarbeiten erst wahr, wenn man näher hinsieht. Am Portal oben eine gotische Jungfrau mit Kind, darunter in byzantinischer Strenge die Apostel, an den Seiten andere Heilige und die Monate des Jahres, jeweils zwischen einer größeren und einer kleineren mit feinen Verzierungen versehenen Halbrundsäule, aber alles so wenig marktschreierisch präsentiert, das man es fast übersehen könnte.

 

Innen ist das Baptisterium, nüchtern, fast enttäuschend, mit einer hohen, schmucklosen Kuppel und dem nackten Marmor. Es hat im zweiten Stock eine Galerie, von der man in die Halle hinunterblicken kann. Im Zentrum ein achteckiges Taufbecken, das schlicht aussieht, aber am Beckenrand an jeder der acht Seiten eine ganz fein in den Stein gearbeitete, nicht gegenständliche Dekoration hat, die aus Hunderten von kleinen Elementen besteht. Sieht ein bisschen wie eine stilisierte Blume aus, soll aber wahrscheinlich gar nichts darstellen. Wenn man ganz genau hinsieht, entdeckt man an den vier Enden der Rose eine Fratze.

 

Ein Aufseher bittet um Ruhe, kein Wunder bei den vielen Besuchern. Ich dachte, es ginge um Pietät, aber es geht um eine “Vorführung”. Er hält die Hände als “Lautsprecher” vor den Mund schickt einen Ton Richtung Kuppel. Das Echo wiederholt den Ton mehrmals, der Ton ändert dabei seine Qualität und die Töne vermischen sich. Als das Echo verhallt ist, wiederholt er die Aktion und schickt dem ersten Ton einen zweiten, unterschiedlichen hinterher, und jetzt klingt es am Ende wie der langsam verhallende Gesang eines mehrstimmigen Chors.

 

Das Prachtstück des Baptisterium ist die ebenfalls achteckige Kanzel, aber sie ist fast immer von Gruppen umringt, und man bekommt die Details kaum zu sehen. Sie steht aus sieben Säulen, davon eine in der Mitte, von denen einige auf Löwen ruhen, die wiederum ein anderes Tier reißen.

 

Dann in den Camposanto geflüchtet, eine weise Entscheidung. Hierher verläuft sich fast niemand, höchstens mal eine Gruppe, die im Eiltempo durchgeschleust wird. Der Camposanto ist ein wahre Oase der Ruhe, und vom Innenhof sieht man die Kuppel des Doms, die Kuppel des Baptisteriums und die Kuppel des Camposanto gleichzeitig. Der Camposanto ist wie ein Kreuzgang ohne Kloster, aber nicht quadratisch, sondern ganz langgezogen. Hier ließen sich die reichen Familien begraben. Es gibt Steinplatten auf dem Boden und Sarkophage und Grabdenkmäler an den Seiten, und zwar antike Sarkophage mit heidnischen Motiven, die hier in der christlichen Neuzeit für dieselben Zwecke recycelt wurden. An einer Stirnseite hängen riesige verrostete Ketten, rechts und links des Zentrums, der Inschrift zufolge die Ketten des Hafens von Pisa, die von den Feinden entwendet, in Genua und Florenz gelagert und im 19. Jh. als Zeichen der Beendigung der Jahrhunderte langen Feindschaft zurückgegeben wurden.

 

In einem abgetrennten Raum an einer der Längsseiten “Il trionfo della Morte” (XIV), unter dem Eindruck der Pestepidemie der Zeit gemalt, ein vielfiguriges Gemälde mit verschiedenen Szenen, das sich nicht im ersten Moment erschließt, zumal es nicht besonders gut erhalten ist. In der Mitte der Tod, eine Frau mit Sense (Tod ist im Italienischen feminin!). Sie wendet sich den Reichen zu und nicht den Armen auf der anderen Seite, die ihr Kommen erbitten. Teufel mit furchterregendem Aussehen schnappen sich wahllos die Seelen, die in Form von Kindern durch die Lüfte schweben. eine Frau mit entblößter Brust stürzt kopfüber auf die Erde hinunter. In einer anderen Szene trifft eine Jagdgesellschaft im Wald auf drei offene Särge mit Toten in unterschiedlichem Verwesungszustand. Die Reiter halten sich erschrocken die Hand vor den Mund und angewidert die Nase zu, die Hunde schrecken zurück, die Pferde machen große Augen. Alles sehr lebendig (!) und realistisch wiedergegeben. Man entdeckt immer mehr Details: ganz feine Gräser, Schoßhündchen mit Ringelschwänzchen, kunstvoll in Form gebrachte Pferdemähnen, eine komplette Zurschaustellung der Hutmode der Zeit usw.

 

Auf dem gesamten Platz werden die Besucherströme geleitet, und überall kommt man nur mit Eintrittskarten hinein, die man vorher an einer zentralen Stelle kaufen muss. In den Dom gelangt man durch einen Seiteneingang. Trotz des Lärms findet am Seitenaltar des Querschiffs eine Messe statt. Der Priester ist allerdings mit einem Mikrophon ausgestattet, und der Bereich ist abgesperrt.

 

Der Dom wirkt durch die vielen zweifarbigen Arkaden irgendwie maurisch, vor allem, wenn man vom Seitenschiff durchs Mittelschiff ins Querschiff blickt und sich die verschiedenen Arkaden kreuzen sieht. Dann hat er etwas von der Mezquita in Córdoba.

 

Der Dom hat eine schwarz-gold gefasste Kassettendecke, prächtig, aber irgendwie nicht passend. Im Chor gibt es alles: Oben ein riesiges Christusmosaik, darunter große Ölgemälde, dazwischen zwei Statuen zwischen Säulen, und dazwischen eingequetscht im Zentrum ein modernes Fenster. In der Vierung sind Fresken, und an der dem Chor zugewandten Seite ganz oben unter dem Dach eine Tür, zu der eine zweiläufige Treppe führt.

 

Auch hier ist das Prachtstück die Kanzel, ganz ähnlich der des Baptisteriums, aber noch größer. Die Pfeiler sind hier zum Teil als Figuren gearbeitet, darunter Herkules im Verein mit Christus.

 

Obwohl ich längst nicht alles gesehen habe, gehe ich danach in die Stadt, um wenigstens etwas davon zu sehen, und es ist wie ein Aufatmen. Auf einem geschlossenen Marktplatz ein etwas rustikales, sehr authentisch wirkendes Lokal, aber leider keinen Platz gefunden. Sieht alles sehr gut aus, und die Gäste sind ausschließlich Italiener. Ich streife noch ein bisschen umher auf der Suche nach einem Lokal. Sofort auffällig ist der Unterschied auf den Speisekarten: Überall wimmelt es von Fischgerichten, auch die Pasta wird hauptsächlich in Fischvarianten angeboten. Oder bin ich einfach in die Nähe des Fischmarkts geraten? Am Ende auf einem offenen Platz am Ende der Innenstadt gelandet, wo es außer hervorragenden Crostini ein ganz normales Essen für teures Geld gab: 22,50, wovon nur 12, 50 auf die Speisen entfielen.

 

Auf dem zentralen Platz der Innenstadt, der Piazza dei Cavalieri, eine Kirche mit klassizistischer Fassade besichtigt, Santo Stefano dei Cavalieri, der ehemaligen Kirche eines Ritterordens. Fast ein Museum. Oben hängen die den Sarazenen abgenommenen Flaggen, darunter in Glaskästen große Stoffstücke unbekannter Provenienz mit arabischen oder islamischen Motiven, und im Westen große Holzteile der Schiffe, auf denen die Sarazenen bekämpft wurden, mit sehr weltlichen Schnitzereien.

 

Auf dem Platz auch ein größeres Gebäude, heute Sitz der Eliteuniversität, mit schönem Sgraffitoschmuck an der ganzen Fassade. In einer anderen Ecke des unregelmäßigen Platzes der Palazzo dell’Orologio, von Vasari geschaffen durch die Verbindung zweier bestehender Häuser geschaffen, ohne den darunter passierenden Verkehr zu behindern.

 

Etwas weiter ein sehr schönes, zweistöckiges, der Börse in Palma ähnliches Haus aus Sandstein mit einem flachen Holzdach, das wie ein Wohnhaus der Renaissance aussieht, der Beschreibung zufolge eine Kirche war (unvorstellbar) und in dem heute die Sparkasse untergebracht ist.

 

An einer Häuserwand steht “Sempre e comunque, contro chiunque – Immer und auf alle Fälle gegen wen auch immer”. Ein Gefühl, für das ich früher viel weniger Verständnis gehabt hätte.

 

Als ich wieder nach Lucca komme, habe ich fast ein bisschen das Gefühl, “nach Hause” zu kommen. Ich stoße auf einen Straßenmarkt, halb Antiquitäten, halb Trödel. Hier gibt es wirklich alles, von der Ikone bis zur Gasmaske.

 

Fürs Abendessen will ich in einem Feinkostladen, in dem ich schon mal gewesen bin, etwas kaufen, das ich mit aufs Zimmer nehmen kann. Ich kann den Laden aber nicht finden. Obwohl ich längst schwere Beine habe, drehe ich eine Runde nach der anderen, aber er ist wie vom Erdboden verschwunden. Ich bin aber ganz sicher, dass er in unserer Ecke ist, und versuche es deshalb immer wieder von neuem. Am Ende gehe ich einen anderen Feinkostladen, der mir auch schon oft aufgefallen ist. Dort werde ich von einer sehr unfreundlichen Frau bedient, wortkarg und mit geradezu feindseligem Blick, und ziehe an Ende mit zwei Bananen und einem trocken Stück Focaccia ab, das ich auf der Hand esse.

 

Am Abend noch eine Runde gedreht und ein Eis gegessen. In der Dunkelheit in die Pension zurückzukehren, ist etwas unheimlich. Es gibt in dem gesamten Eingangsbereich kein Licht, das einzige Licht kommt von dem Gartenrestaurant, und man ist in dem riesigen, unbewohnten Palazzo ganz allein. Inzwischen bin ich auch in der Pension allein.

 

19. September (Sonntag)

Heute morgen gelaufen, zwar entgegen dem Vorsatz nur eine Runde, aber immerhin (23 Min.). Wunderbare Bedingungen, schräg stehende Sonne, die ihre Strahlen durch die Bäume wirft, gute Luft, noch nicht zu heiß, die meisten anderen auch Jogger. Darunter auch Pascal, die aber so konzentriert mit dem Laufen beschäftigt ist, dass sie mich gar nicht erkennt.

 

Danach fast eines Herztods gestorben, aber nicht wegen des Joggens, sondern wegen eines Hundes. Die Hunde verfolgen die immergleiche internationale Strategie: Sie laufen zwar an der Leine, aber zehn Meter voraus. Sie schleichen sich lautlos, den Kopf angriffsbereit gesenkt, bis an eine Ecke, hinter der sie ihr Opfer bereits vermuten, besonders wenn dies die besonders attraktive Duftnote Schweiß trägt. Dann stürzen sie sich plötzlich mit Gebell auf ihr Opfer und fühlen sich durch dessen Todesfurcht auch noch ermutigt und gehen zum totalen Angriff über. Auch in Italien scheint es keinen Hundebesitzer zu geben, der dies auch nur für erwähnenswert hält oder gar dem Opfer eine Entschädigung für die verkürzte Lebenserwartung zu zahlen bereit wäre.

 

Danach ins Museum im Palazzo Guinigi. Auf dem Weg dahin Frühstück in einer in der Nähe gelegenen Cafeteria, wo ich gleich zweimal, aus verschiedenen Mündern,  “Arrivo” höre, so etwas wie “Ich komme gleich”, genauso wie im Französischen. War mir bis jetzt noch nie aufgefallen.

 

Im Museum bin ich der einzige, obwohl das Museum schon seit mehr als einer Stunde geöffnet ist. Ich bleibe auch der einzige und werde von dem geistesgestörten Aufpasser, der unentwegt vor sich hinbrabbelt, auf Schritt und Tritt verfolgt. Als ich das Museum wieder verlasse, wird sogar hinter mir abgeschlossen. Jetzt wird nur noch im Halbstundendtakt eingelassen.

 

Im Museum ist von dem “Eindringen der Etrusker” (VII) in die Rede. Sie waren also auch nicht die Ureinwohner sondern stießen bereits auf Ansässige. Diese namenlosen Vorgänger hatte sich hier wahrscheinlich wegen des Flusses, der Auser, angesiedelt. In dieser Zeit wurden die toten bereits verbrannt. Es gibt einige Urnen, die meisten schmucklos, aber auch ein paar Scherben von schwarzer Keramik mit einem eingeritzten Muster, einer Art Meander.

 

In der nächsten Epoche, als sich die Etrusker bereits durchgesetzt hatten (V), gibt es bereits prächtige Vasen mit Dekorationen aus der griechischen Mythologie und sehr schönen Schmuck, z.B. eine Halskette, an der in regelmäßiger und spiegelbildlicher Anordnung kleine goldene Amulette angebracht sind, die ich als Blatt, Kirschen und Lorbeerkranz interpretier, und eine geflügelte Figur, die genau wie ein christlicher Engel aussieht. Unglaublich! Alles winzig klein und sehr genau gearbeitet, mit ganz feinen Einkerbungen, die z.B. die Adern des Blattes darstellen.

 

Danach gab es eine Überschwemmung der Ebene und für mehr als hundert Jahre verschwindet jedes Zeichen von Zivilisation. Aus der Zeit nach der Rückkehr der Etrusker (III) gibt es dann bereits Münzen. Alle mit Abbildungen, aber ohne Beschriftungen. Es gibt aber auch winzige Tonscherben mit Aufschriften in einer Schrift, die alphabetisch aussieht, ungefähr so, als würde man unsere Buchstaben in Spiegelschrift schreiben. ein paar Wörter sind wohl identifiziert.

 

Diese ganze Periode ist geprägt von den nicht immer friedlichen Beziehungen der Etrusker zu den Liguriern, die sich auch hier niedergelassen haben. Am Ende dieser Periode verschwinden die Etrusker aus ungeklärten Gründen. Die Ligurier wurden dann von den Römern bekämpft, die aus kommerziellen Gründen Zugang zum Tyrrhenischen Meer und nach Norditalien suchten, und wurden dann endgültig von ihnen besiegt (180 v. Chr.). Aus dieser Zeit stammt Lucca, eine römische Gründung. Ein über den heutigen Stadtplan projektierter römischer Stadtplan zeigt die vielen Parallelen. Lucca erfährt sofort eine Blüte und wird mit allem ausgestattet, was eine römische Stadt auszeichnet. Nach dem Bau von Amphitheater und Thermen 2. Jh. n, Chr.) beginnt dann der Niedergang, und es gibt keine weiteren Bauten mehr. Das fällt ziemlich genau mit dem Aufstieg von Trier zusammen.

 

Dann kommt sofort ein Sprung ins Hochmittelalter und in die christliche Kunst. Vom christlichen Rom oder von den christlichen Eroberern ist nichts zu sehen. Es geht dann sogar ziemlich schnell ins Spätmittelalter. Dort u.a. ein Hochrelief mit den 12 Aposteln in Einzeldarstellungen (XV), davon drei bartlose, die anderen mit Bart. Ob das wohl irgendeine Bedeutung hatte? Ob man damit bestimmte Apostel meinte? Ob es irgendwie festgelegt war? Eindeutig zu identifizieren ist nur Petrus, die meisten anderen sind mit Büchern oder Palmzweigen ausgestattet.

 

Dann ganz kuriose Intarsienarbeiten, fünf große Tafeln mit einem Heiligen und vier Stadtansichten. Wirken hochmodern, alles ist auf grundlegende Formen reduziert, meist Rechtecke und Halbkreise, perspektivische Wirkung durch unterschiedliche Farbtöne und schwarze Balken.

 

Ich bekomme einen gehörigen Schrecken, als ich auf einmal einen langen, menschlichen Schatten gleich neben mir sehe. Es ist der einer mit Scheinwerfern beleuchteten Skulptur (XV), ein ganz ungewöhnliches Werk, ein Schmerzensmann mit einem ausgezehrten, aber noch jungen Körper und einem gealterten Gesicht mit ganz gespenstisch wirkenden Haaren und fragend ausgebreiteten Armen. Wie schon früher bei anderen Skulpturen bemerke ich die unverhältnismäßig langen Zehen. Die Figur ist ungefähr so groß wie ich und hat doppelt so lange Zehen.

 

Dann eine Verkündigung im Hochrelief mit einem eleganten Engel auf der linken Seite, der kniet und eine langstielige Blume in  der Hand hält. Da stimmt alles, einschl. der Körperhaltung und der wehenden Gewänder. Auf der rechten Seite eine ganz unzulängliche Maria mit einem fülligen Körper, einem viel zu großen Kindskopf, zu weit auseinandergestellten Beinen und einem ganz nach hinten gezogenen Haaransatz. Der kann zwar eine Modeerscheinung der Zeit gewesen sein, sieht aber aus wie eine Glatze. Der Heilige Geist macht die Sache auch nicht besser. Er hat einen Papageienschnabel und scheint die Jungfrau, statt sie anzuhauchen, eher zu bespucken.

 

Dann kommen riesige Bildtafeln aus Renaissance und Barock in Unzahl. Alles religiöse Motive. Die Rede ist u.a. von einem Maler aus Lucca, dessen Name ich aber nicht kannte. Es scheint überhaupt niemanden zu geben, der aus Lucca stammt und berühmt ist.

 

Nach dem Museum mache ich mich noch einmal auf die Suche nach dem Feinkostladen und finde ihn sofort. Es war nur gestern verschlossen und hinter einer Rolllade verschwunden. Ich werde von einem umwerfend gut aussehenden Italiener bedient, der dazu auch noch freundlich ist. Er versucht meine Fragen zu verstehen und gibt geduldig Auskunft, was mich zu noch mehr Fragen ermutigt.  Als ich nach einer Flasche Wein mit Schraubverschluss frage, muss er passen, bietet aber sofort an, mir eine andere zu öffnen und den Korken wieder draufzusetzen. Am Ende gibt es mir sogar noch unaufgefordert einen Becher, eine Gabel und ein Messer aus Plastik mit. Nur eine Sache bleibt ein Rätsel: Als ich nach Gorgonzola frage, fragt er zurück: “Dolce?”. Wie kann Gorgonzola süß sein? Ich wage nicht, nach einer Erklärung zu verlangen und sage einfach “Nein, den anderen”.

 

Dann zurück zur Pension. Da das Zimmer noch nicht fertig ist, gehe ich noch mal raus, um die von der Wirtin empfohlene Konditorei, Taddeucci, zu lokalisieren, in der es die besten buccellotte geben soll, eine örtlichen Spezialität. Sieht aus wie dunkler Rosinenkuchen und gibt es in allen Variationen. Das Wort soll angeblich von buccina kommen, dem lateinischen Wort für ein gekrümmtes Musikinstrument, einer Art Trompete (Kommt davon vielleicht auch spanisch bucino, ‘Hupe’?). Davon abgeleitet ist das Wort buccella für ‘Brot in Ringform’, alles weitere ist Spekulation. In der Konditorei ein Schild mit der Aufschrift, dass dieses Unternehmen keine Filialen hat: “Nostra ditta no ha succursale”. Da gibt es wohl unerwünschte Nachahmer.

 

Auf dem Rückweg bleibe ich in einem Straßencafé auf dem Platz vor San Frediano hängen und bestelle, im Schatten sitzend, aber die Sonne genießend, ein großes, kaltes, himmlisch schmeckendes gezapftes Bier, dem Glas zufolge ein Bier von “Forst: Spezialbrauerei seit 1857”. Ich sitze eine Viertel Stunde herum und tue – einfach gar nichts. Herrlich! Und da das Bier hervorragend schmeckt, bestelle ich gleich noch eins, trotz des stolzen Preises von 5 Euro. Dafür bekomme ich die pizzette, die ich mit dem zweiten bestelle, umsonst. Wahrscheinlich schlechtes Gewissen der Wirte für überhöhte Preise.

 

Im Fernsehen ein Interview mit Sofia Loren gesehen, die 70 wird und immer noch gut aussieht. Außerdem spricht sie sehr deutlich. Man versteht fast jede Silbe. Der Interviewer fragt sie, wen sie am meisten vermisse und sie antwortet ohne Zögern: Da Sicca. Der Interviewer fragt sie, was sie von ihm gelernt habe und sie antwortet ohne Zögern: Alles. Sie hatte keinen Schauspielunterricht, sondern war aufgrund ihres Aussehens zum Film gekommen. Alle Techniken erlernte sie beim Drehen. Als der Interviewer nach der wertvollsten Szene fragt, nennt sie, ebenfalls ohne Zögern, eine Szene, und als sie Worte zitiert, die sie in der Szene sagt, kommen ihr die Tränen. Die Szene wird dann im Bild gezeigt: Sie schleudert einem Auto Steine hinterher und den darin abfahrenden Männern wilde Flüche. Ich verstehe den Titel nicht, erfahre aber später, dass es wahrscheinlich “Die Römerin” ist, der aber auf Italienisch La Cociara heißt, was auch Römerin heißt, aber für Leute aus den Armenvierteln von Rom gebraucht wird.

 

Dann beginnt das Niesen. Es will gar nicht mehr aufhören, und wird immer schlimmer, so dass ich am Ende gar nichts mehr machen kann. Vom vielen Niesen dann auch noch Kopfschmerzen.

 

20. September (Montag)

Die große lokale Gesprächsthema ist das geheimnisvolle Verschwinden eines Mannes, eines barista, dessen Leiche jetzt, nach einer Woche, gefunden wurde. Es gibt immer noch keine stichhaltigen Erklärungen. Als die anderen davon erzählen, glaube ich, es handele sich um einen Rechtsanwalt, aber ein barista ist einfach ein Barbesitzer!

 

Nachdem die meisten der anderen abgereist sind, sind wir ein Seniorenclub, und meine anfänglichen Befürchtungen, zu alt zu sein, haben sich in Luft aufgelöst. Jetzt bin ich (vermutlich) sogar der Jüngste!

 

Mit Stefano, der Paola ablöst, und mit viel weniger Schülern wird der Unterricht fast ein Monolog des Lehrers, aber man erfährt das eine oder andere: Es gab traditionellerweise in Italien keine  Anti-Europabewegung, alle Parteien von rechts bis links waren sich in der Unterstützung der europäischen Bewegung einig, zu der De Gaspari einen oft unterschätzten Beitrag geleistet hat. Ein italienischer Politiker hätte es sich nicht leisten können, antieuropäisch zu argumentieren. Dies beginnt sich zu ändern. Auch die Benutzung demagogischer Photos und Inszenierungen wie Politiker mit Waisenkindern auf dem Arm waren allgemein verpönt. Sie gehörtem einem faschistischen Diskurs an. Auch dies befindet sich ganz allmählich in der Auflösung.

 

Der italienische Neorealismus fand zunächst in der Literatur statt, mit Pavese als einem wichtigen Exponenten. Davon nimmt dann das Kino die Bezeichnung, das der realistischen Darstellung der Wirklichkeit einschl. der Sprache die Sozialkritik hinzufügt.

 

Italien hat beides: Der Norden, besonders Piemont und Südtirol, hat sich selbst befreit, der Süden ist von den Amerikanern befreit worden. Das ist weiterhin ein Riss in der italienischen Gesellschaft, und bisher hat noch kein Politiker ernsthaft versucht, diesen Riss zu kitten.

 

In Lucca leben heute 10.000 Menschen innerhalb der Stadtmauern, der Rest in der in einen etwa gleich großen inneren und äußeren Ring aufgespaltenen Peripherie. Die Provinz Lucca ist in der traditionell linken Toskana traditionell die konservative Ausnahme, die mosca bianca, die ‘weiße Fliege’.

 

Gegenüber dem als laut, freundlich, offen und ungebildeten Livornesen gilt der Lucchese als verschlossen, calvinistisch, gebildet, fortschrittlich.

 

Heute wenigstens einmal durch die Porta Santa Maria gegangen, die so nahe ist und die man sonst immer nur aus der Distanz sieht. Sie ist viel größer als sie aussieht, mit zwei Jochen von insgesamt ca. 20 Meter Länge, und mit drei Durchgängen. Zwischen den beiden Jochen eine Spalte in der Decke, durch die früher wahrscheinlich ein Gitter heruntergelassen werden konnte. An der Landseite schmale Schießscharten, und an beiden Seiten Eisentore mit riesigen Riegeln und Schlössern. An der Landseite eine Marke mit einer Beschriftung, die ich nicht verstehe. An beiden Seiten Statuen, Löwen und Heilige.

 

Komischerweise habe ich noch kein einziges Buch gekauft, und bin auch noch in keiner einzigen Buchhandlung gewesen. Der Reiseführer des ADAC für 4,95 hat bisher ausgereicht, und ungelesene italienische Bücher habe ich noch zuhause.

 

Im Niederländischen sagt man Du kannst auf zwei Ohren schlafen, um zu sagen, dass man beruhigt, ohne Sorgen schlafen kann. Schöner Ausdruck!

 

Gegen Abend kurz nach San Alessandro gegangen, um die farbig abgestufte Fassade zu sehen, von der bei dem historischen Spaziergang die Rede war. Kein allzu perfektes Beispiel, aber immerhin sieht man, dass schmale Streifen dunkleren Marmors horizontal zwischen die helleren Blöcke gelegt sind. Auf dem Rückweg eine kuriose Entdeckung an San Michele gemacht: eine Treppe, die ganz nach oben führt, diagonal über den gesamten hinteren Teil des Giebels verlaufend. Wahrscheinlich, um den Engel putzen zu können.

 

21. September (Dienstag)

Im Unterricht die Stimme von Umberto Eco gehört, der, laut Stefano, ein ausgesprochen umgänglicher und einfacher Mensch und alles andere als ein Kostverächter ist, wovon sein ansehnlicher Bauch ein nicht zu übersehendes Zeichen ist. Er ist Piemontese, nicht, wie ich immer dachte, aus Bologna. Wenn ich mich richtig erinnere, hat er auch einen Bart, seht ungewöhnlich in Italien.

 

Stefano erzählt von dem pseudo-italienischen Wort espresso. Habe ich tatsächlich hier noch nie gehört. Das ist wahrscheinlich von ausländischen Italienschwärmern erfunden worden, die damit zeigen wollten, wie italienisch sie schon sind. Hier sagt man jedenfalls einfach caffè.

 

Wieder ein herrliches Missverständnis in einem Hörverständnis: Nach einigem Wiederkäuen können wir die Situation mit vereinten Kräften einigermaßen rekonstruieren, können aber einige lautmalerische Geräusche nicht einordnen. Wir sind uns aber alle einig, dass sie da sind, und interpretieren sie frei: Steine, die ins Wasser geworden werden, eine quakende Ente, das Röcheln eines Erstickenden. Klingt alles einleuchtend, passt aber überhaupt nicht in den Zusammenhang. Am Ende muss der Lehrer helfen: Es sind einfach – Zahlen. Ein Mann, der sich in Bedrängnis fühlt, zählt mit angsterfüllter Stimme: “quattro – tre – due – uno”.

 

Gleich nach dem Unterricht mit dem Linienbus nach Barga gefahren, einer historischen Kleinstadt in der Provinz. An der Haltestelle frage ich ein Mädchen, ob auf dem Bus, der nach Barga fährt, auch Barga steht, und sie sieht mich an, als hätte ich eine saublöde Frage gestellt. Was soll denn sonst draufstehen: Rom? Kairo? Peking? Vergeblich versuche ich, mich zu verteidigen und darauf hinzuweisen, dass Busse gelegentlich auch an Orten halten, die nicht der Zielort sind. Als der Bus kommt, ist er bereits voll – lauter Schüler. Meine Erwartung, dass sie alle nach zwei oder drei Stationen aussteigen werden, erfüllt sich nicht. Ich bleibe im Gang stehen, bei der kurvenreichen Strecke nicht immer ein Vergnügen. Die Schüler verhalten sich ganz normal, ausgesprochen ruhig, sind ganz normal gekleidet und machen das, was auch deutsche Schüler in Bussen machen: sich unterhalten, SMS schicken, CDs hören. Zur Normalität gehört auch, dass sie frei werdende Plätze sofort für ihre Freunde reservieren und sich wortlos an einem vorbeiquetschen, um einen Platz zu ergattern. Den Busfahrer rufen sie, wenn er hinten aufmachen soll, mit Capo an, so etwas wie Meister oder Chef. Am Ende frage ich eine Schülerin, wo ich aussteigen muss, und sie erklärt es mir ganz genau. Sie selbst steige im eigentlichen Zentrum Bargas aus, ich eine Station später, im historischen Zentrum. Als sie aussteigt, erklärt mir ein Junge, der die Unterhaltung mitgehört haben muss, zur Sicherheit: “Theesse eesse Barga”.

 

Zunächst geht es schon bald hinter Lucca an steilen Felswänden vorbei und an Steinbrüchen. Hier wird Kalk oder vielleicht sogar Marmor abgebaut. Die Landschaft wird bald grüner, gebirgiger und schöner, vor allem eine Strecke, die an einem Fluss, dem Serchio, vorbeiführt, einem richtigen Fluss ohne Kanalisation, an dessen Ufer die Bäume bis ins Wasser reichen und der eine schöne  alte Steinbrücke mit Arkaden hat. Zwischendurch kommt immer mal wieder ein Dorf, dann wieder Landschaft mit ziemlich hohen Bergen. Das hat durchaus etwas Alpines, aber auch etwas von Westerwald. An einer digitalen Anzeige am “Café New York” in einem der Ort, in dem wir halten, sehe ich 21:09 und glaube für einen Moment, das müsse die Zeit in New York sein, aber dann springt die Uhr um und ich merke, dass es das Datum ist. Dann kommt die Temperaturanzeige: 31 Grad. Es kommt mir längst nicht so warm vor, schon in den ganzen letzten Tagen nicht, und ich trage seit vorgestern auch einen Pullover, ohne zu schwitzen. Am schönsten ist der letzte Teil der Strecke, auf dem die Bäume ein geschlossenes Dach bilden und die Vegetation an den Seiten immer üppiger wird. Die Kurven werden so eng, dass der Bus hupen muss, um zu warnen, aber auch um sich den Weg freizukämpfen. Nach gut einer Stunde erreichen wir Barga.

 

Barga (10.000 Einwohner) ist wie Lucca in klein, nur mit engeren und verwinkelteren Gassen und mit dem großen Unterschied, dass es überall auf und ab geht. Nicht ein gerader Platz. Das alles gibt der Stadt eine noch viel “mittelalterlichere” Wirkung. Die Mauern sind riesig, fast ein wenig disproportioniert. Die Stadt gehörte nicht zu Lucca, sondern zu Florenz, und zwar “freiwillig”, wie es in der Broschüre heißt, was ihr eine Menge Privilegien eintrug.

 

Ich gehe als erstes zum Dom, die steilen Gassen hinauf, bis ganz nach oben, wo der Dom über der Stadt thront. Von der Plattform vor dem Dom hat man eine schöne Aussicht auf die Berge der Umgebung.

 

Der Dom ist uralt, wirkt sehr massiv und im besten Sinne primitiv, mit ganz vereinzelten Schmuckelementen. Der älteste Teil ist noch präromanisch. Die heutige Fassade war die Seite der ursprünglichen Kirche, dann wurde immer wieder umgebaut. An einem Seitenportal eine ganz merkwürdige Szene mit einem Gastmahl, bei dem zehn hochstehende Personen, alle ganz statuarisch, in zwei Gruppen zu fünf, davon jeweils einer mit Krone, bewirtet werden. Dazwischen Diener, denen von ihren Herren oder Aufsehern eine Hand auf den Kopf gelegt wird. Keine Ahnung, was das darstellen soll.

 

Das Innere hat Fenster, die nicht viel größer als Schießscharten sind und weitgehend nackte Wände. Die Fenster haben Alabaster statt Glas, durch das in der hellen Sonne ein wunderbar warmes gelbes Licht fließt. Aber sehen kann man innen wohl nur, weil die Tür aufsteht. Ich bin ganz allein und kann mich in Ruhe umsehen. Auffällig ein komplett erhaltener, niedriger Lettner aus Stein, mit glatten Flächen, aber allen möglichen kleineren Gesichtern und Fratzen an den Schnittstellen.

 

Auch hier ist das Prachtstück die Kanzel. Sie steht auf vier Marmorsäulen, von denen zwei von Löwen getragen werden und eine von einem Wurzelmännchen, das, wie ich später lese, das Heidentum symbolisiert. Einer der Löwen hat ein Fabelwesen unter sich begraben, der andere einen Menschen. Dieser Mensch hält eine Hand an das Maul des Löwen, so als wolle er ihn streicheln. Was das soll, lese ich später: Er streichelt den Löwen mit einer Hand und schlägt ihn mit der anderen. Das ist der Ketzer!

 

An der Brüstung die Hl. Drei Könige. Zwei kommen auf Pferden angeritten, der dritte verbeugt sich bereits vor dem Jesuskind, das eine auffallend schiefe Nase hat. In einem anderen Feld alle möglichen Motive gleichzeitig, sehr naiv dargestellt. Irgendwo in der Mitte erscheinen die Köpfe von Esel und Ochs, die das frei schwebende Jesuskind beschnuppern. Daneben eine herrlich primitive Taufe.

 

Nach einer pizzetta und einem diesmal kleinen Bier (Pschorr) gehe ich zur Touristeninformation, wo ich genau das erlebe, was Sheila heute morgen in der Pause sagte: Man fragt auf Italienisch, und bekommt eine Antwort auf Englisch. Das geht schon bei der Begrüßung los: “Buona sera. –  Hello.”  Nachdem es dann eine ganze Zeitlang gut auf Italienisch geht, wechselt er plötzlich grundlos wieder ins Englische. Was soll das?

 

Dann gehe ich ziellos durch die Gassen und komme irgendwie immer wieder an denselben Stellen vorbei. Irgendwo ist eine Seite aus dem Reiseteil einer englischen Zeitung ausgestellt, in dem von den “Fish and chips” aus Barga die Rede ist. Es gibt auch eine Ausstellung mit Werken von John Bellamy, und auch hier wird ausdrücklich auf die „Scottish connection” hingewiesen. Es scheint sogar ein Oper zu geben. Aber vielleicht habe ich da etwas missverstanden. Es kann doch wohl nicht sein, dass es eine Oper und keine Schule gibt. Oder?

 

Auch hier gibt es den einen oder anderen schönen palazzo, u.a. das Gebäude, in dem die Touristeninformation untergebracht ist. An verschiedenen Stellen sind Eisenstangen angebracht, die alten Masse. An zwei Seiten gibt es regelmäßig in Reihen angebrachte gusseiserne Ringe und Gehänge, vielleicht früher für Fackeln gebraucht. An anderen Häusern sieht man die Ringe, an denen die Pferde festgebunden wurden.

 

Bei einem Kaffee gleich unter der Mauer warte ich auf den Bus. Diesmal sind wir gerade ein knappes Dutzend, es gibt Sitzplätze in Mengen, und die Fahrt geht viel schneller vorbei.

 

Ich weiß zwar immer noch nicht, was farro ist, habe es aber jetzt wenigstens einmal probiert, und zwar kalt, als Salat. Schmeckt gut. Er war auf der Speisekarte einer Pizzeria, die von den anderen empfohlen wurde, aber die ich bisher boykottiert habe, weil sie Paulaner haben, und Paulaner dazu noch in der Leuchtreklame seitenverkehrt erscheint. Wahrscheinlich haben sich die italienischen Installateure gedacht: Versteht sowieso keiner.

 

22. September (Mittwoch)

Im Italienischen werden Abkürzungen, die bei uns mit Großbuchstaben geschrieben werden, mit Kleinbuchstaben geschrieben. Das ist gewöhnungsbedürftig, und zunächst fragt man sich, was Usa oder Cia bedeuten soll.

Stefano spricht positiv von der Tradition der italienischen Zeitungen, auch Intellektuelle des anderen Lagers zu Wort kommen zu lassen. Die wichtigsten Exponenten der beiden Lager waren lange Montanelli und Scalfari, die die Tradition von Croce und Gramsci fortsetzten.

 

Heute Nachmittag eine Fragestunde in der Schule, völlig unzureichend, mit einer Lehrerin, die eine perfekte Mischung aus Ungeduld und Unfähigkeit war. Danach aus Frust ein Forst.

 

Es gibt erstaunlich viele Hunde, und zwar keine streunenden, alle mit Herrchen (oder eher Frauchen), und im Vergleich dazu erstaunlich wenige Katzen. Sind wohl alle im Krieg aufgegessen worden.

 

Im Kreuzworträtsel gefunden: “Der Zuwachs an Weisheit lässt sich genau nach der Abnahme an Galle bemessen” (Nietzsche).

 

Am Abend in eine “bessere” Pizzeria gegangen, in der für einen passablen Preis (15 Euro) gutes Essen gab. Neben mir zwei junge Deutsche, die immer nur eine Zigarette für zwei anzündeten. Auch eine Möglichkeit, den Konsum einzudämmen.

 

23. September (Donnerstag)

Die Italiener sind wenig mobil. Viele Italiener sterben in der Stadt, in der sie auch geboren wurden, und das ist im allgemeinen die Stadt, in der auch die Eltern geboren wurden.

 

Als Weintrinker sind die Italiener im allgemeinen konservativ. Viele Italiener haben nie einen Piemonteser Wein getrunken, und wollen das auch nicht, auch wenn er internationale Anerkennung bekommt. Sie haben wenig Interesse daran, einen anderen Wein zu probieren als den, der gleich vor der Haustür wächst.

 

Bei Einladungen, wenn sie nicht ganz formell sind, schenkt sich jeder den Wein selbst ein und stellt dann die Flasche wieder in die Mitte des Tisches. Das Einschenken durch die Gastgeber wird als “kühl” und als aufdringlich empfunden!

 

Im allgemeinen haben die Universitäten des Südens einen schlechteren Ruf als die des Nordens, obwohl das zumindest für die Universitäten von Bari und Neapel ein Fehlurteil ist. Die Studiengebühren, auch wenn sie noch bezahlbar sind, sind in den letzten Jahren um 300% gestiegen.

 

eine Spezialität von Lucca ist die torta di verdura. Ich glaubte erst, mich verhört zu haben: Gemüsetorte? Stimmt aber wohl. Martha sagt, sie schmecke ausgezeichnet. Mit welchem Gemüse sie gemacht wird, habe ich nicht herausbekommen, wohl eine Art Spinat. Das englische Wort ist chard, aber das kenne ich auch nicht!

 

Dass alle italienischen Wörter ohne Ausnahme auf Vokal enden, stimmt doch nicht ganz. Abgesehen von Anglizismen wie feedback oder weekend enden auch alle Himmelsrichtungen auf Konsonant.

 

Bei Stefano im Unterricht die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer eine gute Idee ist, anderer Meinung zu sein.

 

Im Kreuzworträtsel gefunden: “Wer die Wahrheit zu predigen geht, der kommt mit Beulen nach Hause” (Sprichwort)

Im Laufe der Wochen sind drei aus unserer Gruppe freiwillig eine Stufen nach unten gegangen, kurioserweise alles Österreicher. In allen Fällen hatte ich den Eindruck, dass sie gut mithalten konnten, im Gegensatz zu unserem Schweden, der sich aber nichts anmerken lässt.

 

Heute nach der Schule ins Feinkostgeschäft gegangen, um nicht schon wieder auszugehen, mit dem Ergebnis, dass ich mehr Geld dagelassen und mehr gegessen habe als ich das in einem Lokal getan hätte.

 

Am Nachmittag den schönen bunten Umschlag von 29. August unter die Leute gebracht. Nach einigem Zögern und sorgsamem Zurechtlegen der wichtigsten Sätze in ein Bekleidungsgeschäft gegangen. Lief alles ganz gut, bis wir so ins Gespräch kamen und sich herausstellte, das die Verkäuferin Peruanerin ist. Auf einmal spricht sie Spanisch, und jetzt bricht alles zusammen. Ich bekomme kein Wort mehr heraus, weder Spanisch noch Italienisch. Es geht gar nichts mehr. Eigentlich auch ein gutes Zeichen, die drei Wochen sind jedenfalls nicht spurlos vorübergegangen. Und der Kauf war bis dahin so gut wie abgeschlossen. Herausgekommen ist eine Hose und ein passendes Hemd.

 

Nachher dann doch noch in eine Buchhandlung gegangen und ein wenig herumgestöbert. The Catcher in the Rye heißt in der Übersetzung La storia di Holden. Da geht dann ja doch was verloren. Am Ende ein Buch von Antonio Tabucchi gekauft, das heute im Unterricht genannt wurde, Sostiene Perreira, ein echter Bestseller. Tabucchi, Professor für Portugiesisch in Siena, ist hier genauso bekannt wie Eco.

 

24. September (Freitag)

Am Morgen gelaufen, etwas schneller und müheloser als sonst (20 Min.). Es ist etwas kühler, und am Himmel unheilverheißende schwarze Wolken.

 

In Italien geht man ein cafè, um einen caffè zu trinken. Es wird also, genauso wie im Deutschen und Englischen, aber anders als im Spanischen, in Schrift und Lautung unterschieden. Warum aber gibt es dann, in der Nähe des L’aurora Cafè, das Caffè Puccini? Das Caffè Puccini ist eine Kette und nach einer bestimmten Kaffeesorte benannt!

 

Ich weiß zwar immer noch nicht, was süßer Gorgonzola ist, weiß jetzt aber, was sein Gegenstück ist, nämlich ein Käse, von dem ein Krümel genügt, um dir Zunge und Gaumen zu verbrennen. Beim nächsten Mal werde ich mich jedenfalls trotz der sprachlichen Merkwürdigkeit für süßen Gorgonzola entscheiden.

 

Auch im Italienischen wird das Futur immer weniger gebraucht, um Futurisches auszudrücken, dafür aber immer mehr, um eine Vermutung auszudrücken: “Avrá 30 anni – Sie wird wohl 30 sein”.

 

Die Marche und die Abruzzen, obwohl in der Mitte Italiens gelegen, gelten als “südlich”. Die Unterscheidung ist also nicht rein geographisch, sondern sozioökonomisch.

 

Die Krimis von Camieri sind so erfolgreich, dass er eine Zeitlang gleichzeitig den 1., 2. und 3. Platz auf der Liste der meist verkauften Bücher einnahm. Den Namen seines Detektivs, Montalbo, hat er von Vázquez Montalbán abgeleitet!

 

Als ich am frühen Nachmittag zu einer letzten Besichtigung aufbrechen will und noch zwischen Botanischem Garten und Pinakothek schwanke, beginnt es zu regnen. Ich will den Schauer abwarten, aber der wird immer stärker und will gar nicht mehr enden. Nach vier Stunden Dauerregen steht der Garten völlig unter Wasser, und es gibt kein Anzeichen des Nachlassens. Ganz im Gegenteil, jetzt kommen noch Donner und Blitz dazu. Und, da ich mich am Mittag mit einer Birne und einem Keks zufrieden gegeben habe, stellt sich allmählich die Frage, was schlimmer ist: Nässe oder Hunger.

 

Dann lässt der Regen irgendwann am Abend doch noch nach und ich flüchte in die nächstbeste Trottoria, einer, wo ich vorher noch nie war. Sie könnte eigentlich schön sein, mit einer niedrigen Holzdecke, aber die nicht sehr geschmackvolle Dekoration stört. Es gibt hervorragende Antipasti, vor allem geröstetes dunkles Brot mit in Öl gebratenen Pilzen und hervorragenden Schinken. Der Rest schmeckt normal.

 

Neben mir ein älteres englisches Ehepaar. Der Mann hat im Krieg “the Germans” bekämpft, bis zu ihrem Abzug, und sagt bedeutungsvoll, “the Germans” hätten im Krieg alle Brücken von Florenz zerstört – bis auf eine, den Ponte Vecchio. Wenn es nach ihm ging, würde man eben auf den heute eine Bombe werfen. Es sei ja schließlich nur noch Nepp, nur noch für die Touristen da, ganz und gar “Jewish”. Sie sprechen von mir als “that man” und gehen offensichtlich davon aus, dass ich kein Englisch verstehe oder dass ich Italiener bin und deshalb kein Englisch können kann. Muss wohl an meinem italienischen  Aussehen liegen.

 

An einem anderen Tisch ein grobschlächtiger junger Mann, ein Muskelpaket mit Speckrolle im Nacken, der im Hauptberuf Rausschmeißer, Bodyguard oder ein Auftragskiller sein muss. Am Nebentisch sein Zwilling. Beide tragen schwarze Kleidung, schwere Armbanduhren, sind kahlgeschoren und haben attraktive Begleiterinnen. Frauen stehen eben aufs Grobe.

 

Die Stadt wirkt nach dem Regen ganz anders. Die Straßen sind zwar nicht ganz leergefegt, aber von der Atmosphäre der letzten Wochen ist nichts übriggeblieben. Alles scheint irgendwie geschlossener. Vielleicht ist das der Normalzustand.

 

25. September (Samstag)

Heute noch mal gelaufen, zum Abschluss sogar zwei Runden (50 Min). Wie Charlie sagt: Wie mühsam es auch war und wie langsam du auch warst, nachher bist du immer zufrieden. Fernöstliche Weisheit.  Interessant der Unterschied: Während der ersten Runde ist es noch menschenleer und sehr frisch, genau zur zweiten Runde kommt die Sonne richtig raus, und mit ihr auch die Leute, und mit ihnen auch die Hunde. Im Osten ein paar weiße Wolken, im Westen ein makellos blauer Himmel, mit unterschiedlichen Schattierungen: über uns dunkelblau, in der Ferne immer heller werdend. Ich achte auch zum ersten mal auf einige der Bäume am Wegesrand, darunter einige wichtige Prachtexemplare, mit geradem Stamm und weit ausholenden, unregelmäßigen Ästen mit dichtem Laubwerk.

 

Nach einem Kaffee dann vergeblich nach der Hose gefragt, die ein wenig umgearbeitet werden musste und für gestern fertig sein sollte. Die Verkäuferin hat aus Versehen Dienstag auf den Auftrag geschrieben. Sie versprechen aber, sie in einer Stunde fertig zu haben.

 

Dann doch noch drei Bücher gekauft, alle von verschiedenen, zeitgenössischen Autoren (Camileri, Locarelli, Sciascia), und nicht zu dick.

 

Dann eher als nötig nach Florenz gefahren. Vom Zug aus sieht man die Kuppel des Doms, den Turm des Doms, die Kuppel des Baptisteriums und den Turm des Palazzo della Signoria hinter Leitungen und Masten der Bahn im Vordergrund – nicht unbedingt das klassische Postkartenmotiv.

 

Im Bahnhof gehe dann zu McDonalds – eine sehr unitalienische Art, eine Italienreise zu beenden. Und als ich im Zug höre, wie im Nachbarabteil jemand fragt „Saren Se mal, isch bin doch rischtisch hier nach Kölln?“, da fühle ich mich schon fast wieder zu Hause.

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