2. Juni (Freitag)
Später Flug von Hahn nach Dublin. Dort ist er merklich wärmer. Ich habe keinerlei Erinnerungen an den Flughafen und Umgebung. Mit einem Bus geht es für 7€ schnell und bequem ins Zentrum, zur O’Connell Street. Erst als wir in die einbiegen, weiß ich wieder, wo ich bin. Es ist noch viel los, und überall sieht man elegant bis aufgemotzt und provokant gekleidete Frauen. Die Suche nach der Talbot Street gestaltet sich schwierig, denn sie geht doch nicht direkt von der O’Connell Street ab. Langsam mache ich mir Sorgen wegen der späten Ankunftszeit, aber als wie an der Celtic Lodge ankommen, steht die Tür offen, und der Portier erwartet uns. Durch ein wahres Labyrinth von Treppen geht es in das einfache Zimmer im dritten Stock.
3. Juni (Samstag)
Geträumt, ich müsste Treppen rauf und runter laufen, dabei zwei Pappschachteln in der Hand haltend. Ich laufe immer schneller, denn der Abstand zwischen Stufen und Decke wird immer geringer, und am Ende versuche ich, auf einem Treppenabsatz die Schachteln wegzuwerfen, aber das geht nicht mehr, denn nicht einmal dafür ist mehr genug Platz.
Die Sonne scheint in den von lauten Ukrainern bevölkerten Frühstücksraum, und draußen es ist tatsächlich sonnig, trocken und warm. In der O’Connell Street steht jetzt die damals geplante, spitz zulaufende silbrige Nadel, die alle Gebäude überragt. Böse Zungen interpretieren sie als eine Anspielung auf die Drogenszene der Straße.
In der Touristeninformation buchen wir einen pub crawl noch für denselben Abend und eine Exkursion für den nächsten Tag. Erst aber gehen wir auf den von Absolventen des TCD geleiteten geschichtlichen Gang durch Dublin und dann noch auf eine Tour durch das TCD selbst. In beiden Führungen gibt es Anekdoten und Zitate und ein paar erinnerungswürdige Details zur Geschichte:
– Heinrich II., der englische König, bekam die Erlaubnis zur Invasion von Irland vom Papst – einem Engländer, dem einzigen englischen Papst der Geschichte.
– Am heutigen Bell Tower befand sich das von Heinrich II. gegründete Kloster, das dann von Heinrich VIII. aufgelöst und in ein Hospital, später in ein Gefängnis umgewandelt wurde. Erst unter Elisabeth kam es zur Gründung der Universität, mit dem Ziel, eine protestantische Elite aufzubauen und protestantischen Klerus im Land selbst auszubilden – es war nicht immer einfach, englischer Priester dazu zu bewegen, nach Irland zu gehen: Man fürchtete, von den Wilden geschlachtet zu werden.
– Dass es lange keine Katholiken am TCD gab, lag nicht an den Protestanten, sondern an den Katholiken selbst – die katholische Kirche riet davon ab, bei den Ketzern zu studieren – mit Erfolg!
– Elisabeth veranlasste die Publikation des Book of Common Prayer auf Irisch, als Teil der Strategie, den irischen Ketzern die richtige Version des Christentums beizubringen – das Buch ist heute Bestandteil der Bibliothek des TCD.
– Das Book of Kells stammt eigentlich nicht aus Kells, sondern aus Iona; von dort wurde es wegen der Wikingereinfälle nach Kells gebracht, und von dort in der Zeit der Religionskriege nach Dublin – vorläufig!
– Der Architekt der Bibliothek des TCD hatte vorher militärische Gebäude entworfen; das erklärt ihre Strenge; sie hat ihre genaue Länge deshalb, weil sie die Bibliothek des Trinity College in Cambridge übertreffen sollte – um einen Meter!
– Vom Erweiterungsbau der Bibliothek, der wie ein auf dem Kopf stehender überdimensionaler Kopierer aussieht, war Henry Moore so entsetzt, dass er seine Statue versetzen ließ – sie wurde durch eine golden glänzende Erdkugel mit durchbrochener Oberfläche ersetzt, die den Zustand der Welt symbolisiert.
– Das irische Parlament war das erste als Parlamentsitz konzipierte Gebäude Europas – und ist jetzt ironischerweise kein Parlamentsitz mehr, sonder Sitz der Bank of Ireland!
– Die Kartoffelplage des 19. Jahrhunderts war deshalb so verheerend, weil fast ausschließlich eine Kartoffelsorte angebaut hatte, die lumper potato, die dann von einem Pilz befallen wurde.
– Wolf Tone, der Anführer der von der französischen Revolution inspirierten Rebellion gegen die Briten, war Protestant; er war der Meinung, dass Irland von Iren regiert werden sollte, unabhängig von ihrer Konfession.
– Die Justitia am Schloss wendet der Stadt ihren Rücken zu, was die Iren mit folgendem Ausspruch würdigen: „The Statue of Justice, Mark well her station, Her face to the Castle, And her arse to the Nation”
– Die Teilung Irlands bedeutete nicht nur ein Teilung des Landes, sondern auch eine Teilung der Provinz Ulster, deren Name oft als Synonym für ‚Nordirland’ gebraucht wird; drei der neun Grafschaften von Ulster gehören allerdings zur Republik Irland; die Teilung war nicht ‚sauber’, sie ging sogar durch einzelne Ortschaften und durch einzelne Bauerhöfe.
– Am Tag der Unabhängigkeit gab es keine großen Feiern; erst in den letzten Jahrzehnten wurde die Unabhängigkeit zu einem erinnerungswürdigen und später zu einem glorifizierten Ereignis in der Geschichte Irlands gemacht.
– Die Tatsache, dass die Statue O’Donnels in der City Hall größer ist als die anderen hat eine einfache Erklärung: Sie stand früher draußen!
Als der Führer im TCD über die historischen Umstände der Gründung der Universität spricht, hebt ein Amerikaner die Hand, unterbricht die Darstellung und fragt, indem er auf einen Ahorn zeigt: „How old is that oak tree over there?“
Zur Stärkung geht es am Nachmittag ins Elephant & Castle, mitten in Temple Bar, wo bei dem guten Wetter viel los ist und richtige Festtagsstimmung herrscht.
Beim abendlichen pub crawl gibt es szenische Aufführungen aus Werken von Beckett, Wilde, Behan und anderen und allerhand biographische Details, z.B. die, dass Beckett Cricket für Irland spielte und dass Goldsmith zwei neue nursery rhymes erfand, weil er nicht genug zusammentragen konnte.
4. Juni (Sonntag)
Heute geht es mit einem Kleinbus und einer Führung, die mehr durch ihren Witz und ihre Lebendigkeit begeistert als durch ihren Informationsgehalt aus Dublin heraus. Es geht durch County Meath, mit kurzen Besichtigungen von Fourknocks, dem alten keltischen Friedhof von Monasterboice, Mellifont Abbey, dem ältesten Zisterzienserkloster in Irland, dem Hill Of Slane, wo St. Patrick sein Osterfeuer entzündet und damit die Machthaber provoziert haben soll, und dem Hill of Tara, dem Krönungsort der keltischen Könige, von wo aus diese das Osterfeuer sehen konnten.
Der Führer bezeichnet Mellifont Abbey als das wichtigste einzelne Gebäude in der irischen Kulturgeschichte und schildert lebendig, wie die Steinbauten die einheimischen Kelten beeindruckt und wie ein Wolkenkratzer im Amazonasgebiet gewirkt haben müssen. Bei der Kreuzigungsszene auf einem der Hochkreuze in Monasterboice sieht Jesus wie ein irischer Mönch aus und die römischen Soldaten wie Wikinger. Der Rundturm kann nicht nur Fluchtturm gewesen sein, sondern war wohl auch Magazin für wichtige Manuskripte und Bücher.
Bei der Fahrt von Monument zu Monument geht es über eine Straße mit dichter Bewaldung zu beiden Seiten. Das ist ‚authentische’ irische Landschaft, nicht die grünen Hügel. So muss es früher überall ausgesehen haben.
Das Kapitelhaus von Mellifont Abbey, relativ gut erhalten, wurde als Speisesaal benutzt, als die Gebäude nach der Auflösung des Klosters zum manor house der Familie Moore wurden. Es hatte einen blauen Marmoreingang, den die Moores am Spieltisch verloren haben sollen. Die Gebäude gingen dann an die Balfort Familie über, die das manor house nicht bewohnten und das Kapitelhaus als Schweinestall benutzen ließen. Auch relativ gut erhalten ist das Lavabo, dessen Steine, Portland Stone, zum Teil aus Bristol hierher gebracht wurden. Die Kirche des Klosters hatte ungewöhnlicherweise einen Nordeingang, da der Westen durch den nahen Fluss in feuchtem Schlammboden lag.
Der Fahrer erklärt mir, dass die Entfernungen und die Geschwindigkeitsangaben in Kilometern, aber die Tachometer der meisten Autos in Meilen sind. Jenseits der Grenze, im Norden, ist natürlich alles in Meilen.
Seit den Touren verstehe ich einiges besser: Warum hatte Heinrich II. Interesse an Irland? Weil es reiche Klöster und wichtige Handelszentren der Wikinger gab. Warum unterstütze der Papst ihn dabei? Weil er die falsche Version des Christentums bekämpfen wollte, die monastisch und nicht auf Rom ausgerichtete. Warum hatte die sich so gut entwickeln können? Weil die Römer nicht bis nach Irland kamen. Deshalb sind die ältesten irischen Städte Wikingerstädte.
Am Abend gibt es dann eine neue Erfahrung mit einem Abendessen im Hard Rock Cafe. Sensible Augen haben es ebenso geortet wie das Starbucks Cafe. Kurioserweise ist das eine ein Café, das andere nicht, obwohl beide so heißen. Das ist was für Pragmatik.
Später noch in ein Pub in der Nähe des Schlosses. Her gibt es ein lokales Publikum, ganz anders als in Temple Bar, und dennoch stolze Preise: 4€ für ein Pint. In einem Fernseher wird eine Sportart übertragen, die wie eine Mischung aus Hockey, Fußball und Cricket aussieht, eine Art quidditch für muggles. Es ist Hurling, das als schnellste Ballsportart der Welt gilt.
5. Juni (Montag)
Am Morgen, als ich meine Fahrt nach Belfast und die Rückkehr nach Dublin organisiere, habe ich bereits völlig den Überblick über die Tage verloren und weiß kaum noch, welcher Tag heute ist.
Am Bahnhof sehe ich eine Werbung der DART, die durch ihre unorthodoxe Rechtschreibung auffällt: know exactly when ur dart is coming. Simply txt 2 get the nxt.
Der Georgian Walk am Vormittag stellt sich als ein echter Hit heraus und straft meine Skepsis Lügen. Wieder ist auf den Straßen viel los, u.a. durch die an allen Ecken auftauchenden Teilnehmerinnen eines Wohltätigkeitlaufs.
Der Walk beginnt bei Bewleys, das eine schöne Art Deco Fassade hat, die man erst richtig sieht, wenn man ein paar Meter Abstand nimmt, was bei der Geschäftigkeit der Straße selten geschieht. Das Gebäude beherbergte früher eine Schule, und an einer Tafel wird an einige der berühmten Schüler erinnert: Wellington, Emmet, Moore und viele andere.
Weiter links sieht man in eine Seitenstraße und an deren Ende die St. Anne’s Church. Hier wurde Oscar Wilde getauft, und hier heiratete Bram Stoker, und zwar Oscar Wildes frühere Freundin!
In einer Seitenstraße rechts sieht man die Fassade eines Pubs mit einer klassischen einfachen Fassade, McDaids. Ursprünglich war das Gebäude die Leichenhalle, die auch hier gegen die body snatchers abgesichert werden musste.
In der Tangier Street, einer ganz schmalen Gasse mit großem Namen, sieht man den Künstlereingang des Gaiety Theatre und, gleich gegenüber, den Hintereingang zu dem Pub. Angeblich sieht man hier abends kostümierte Schauspieler, die Spielpausen nutzen, um kurzzeitig die Bühne gegen den Tresen tauschen.
Am Ende der Straße betritt man durch ein klassizistisches Tor St. Stephen’s Green, eine große Parkanlage um einen Platz herum, der auch St. Stephen’s Green heißt. Das Tor heißt im Volksmund Traitors’ Gate, da es die Namen der irischen Soldaten auflistet, die in den Burenkriegen für England gefallen sind.
St. Stephen’s Green war früher ein Park nur für die wohlhabenden Anwohner des Platzes. Erst als das Parlament aufgelöst wurde und die Wohlhabenden Dublin den Rücken kehrten, wurde er der Allgemeinheit zugänglich gemacht. An schönen Tagen wie heute hat er eine herrliche, gelöste Atmosphäre, trotz der vielen Menschen.
Auf einem Rasenstück nicht weit vom Wegesrand die naturalistische Büste von Joyce, der diesen Park liebte. Am Sockel ein Zitat aus Ulysses, das in Joycescher, verfremdender Art auf den Park Bezug nimmt. Weiter abseits und nicht so gut zu finden die minimalistische Büste von Yeats. Während man Joyce auf den ersten Blick erkennt, gelingt es bei Yeats auch auf den zweiten Blick nicht. Der Kommentar der Dubliner: „He doesn’t look himself this morning“.
Die Statue von Joyce befindet sich in der Nähe der schön geschwungen O’Connell Bridge, einer kleinen Fußgängerbrücke über einen Teich, die für sich in Anspruch nimmt, die wahre O’Connell Bridge zu sein und schon vor der im Zentrum so geheißen zu haben. Die hatte früher einen anderen Namen.
Am Ausgang des Parks eine expressionistische Skulptur, die eindrücklich und voller versteckter Symbolik, die man eher erahnt als erkennt, den Hunger der Kartoffelepidemie darstellt. Diese Skulptur befindet sich parkeinwärts; parkauswärts, zum Platz hin, und durch einen Halbkreis aus Steinen von ihr getrennt, befindet sich eine Statue Wolfe Tones, ein Ensemble, das im Volksmund auch Tonehenge genannt wird.
Noch am St. Stephen’s Green, aber am Rande des Platzes, befindet sich hinter einem Gitter der kleine Hugenottenfriedhof. Nach der Aufhebung des Edikts von Nantes kamen französische Hugenotten hierher, darunter, wie auf einer Gedenktafel vermerkt, eine Familie Beaulieu, vielleicht die Vorfahren der Gründer des Cafés. Wie auf allen Hugenottenfriedhöfen steht auch hier, hinten links, ein Maulbeerbaum. Dessen Laub bietet das beste Futter für die Seidenraupen, und die wiederum stehen für die Seidenherstellung, einem der wichtigsten Wirtschaftszweige der Hugenotten.
Vom St. Stephen’s Green geht es zum Merrion Square, dessen etwas kleinerem Pendant. Hier befindet sich eines der besten Hotels Dublins, das Merrion Hotel, das besonders für seine afternoon teas bekannt ist. Man muss es aber wissen. Es leistet sich den Luxus, nicht auf sich aufmerksam zu machen. Man erkennt gar kein Hotel, und der Name erscheint nur auf einer kleinen Messingplatte, so einer wie der einer Rechtsanwaltspraxis.
Dieser Platz ist umstanden mit typisch Georgianischen Häusern, mit jeweils vier, nach oben niedriger werdenden Stockwerken und Keller. Auf den Bürgersteigen runde Platten, die wie Kanaldeckel aussehen. Ihre Funktion: Sie bedecken die Schächte, in die die Kohle eingeführt wurde. Jedes 7. Haus hat eine Außenbeleuchtung. Das war verordnet, zum Wohle der Fußgänger, kam aber auch den Bewohnern zugute, die abendliche Besucher erkennen und sich in der sonst unbeleuchteten Diele orientieren konnten. Auf den Dächern sind die Kamine zu einer Reihe zusammengefügt. In einem der Häuser befindet sich der Sitz des Irischen Fußballverbandes, und zwar der des ‚richtigen’ Fußballs.
Die Georginischen Häuser sind normalerweise aus Backstein, aber manchmal hat man sie, zwecks Zurschaustellung des eigenen Wohlstands, mit Steinquadern verkleidet.
Am Merrion Square, etwas zurückversetzt, befindet sich auch der heutige Parlamentssitz, Leinster House, von einem deutschen Architekten gebaut, der hier den anglisierten Namen Cassel annahm. Als Leinster House gebaut wurde, war der Merrion Square noch völlig unbebaut, und man hatte freie Sicht auf die Dubliner Berge. Dazu passt die breite Front des Gebäudes, dessen Stadtseite ganz anders aussieht als seine Landseite. Der Duke of Leinster sagte, er habe ein Stadthaus und ein Landhaus gleichzeitig.
Ganz in der Nähe die Nationalgalerie, in der Shaw, ein notorischer Schulschwänzer, viele Stunden verbrachte, die er in der Schule hätte sein sollen. Er sagte später, alle Bildung, die ihm Irland mitgegeben habe, habe er in der Nationalgalerie erhalten. Und er hinterließ ihr testamentarisch die Tantiemen einiger einer Stücke, und noch heute kassiert die Nationalgalerie jedes Mal mit, wenn irgendwo Pygmalion gespielt wird. Einer Anekdote zufolge schickte Shaw seinem Lieblingsfeind Churchill zwei Karten für die Uraufführung mit den Worten: „Bring a friend – if you have one.“ Worauf Churchill sich höflich bedankte und zurückschrieb: „Can’t make it for the opening night, but I’ll come to the next performance – if there is one.“
Ganz in deren Nähe, etwas zu bombastisch für den Platz, das ehemalige Naturkundemuseum. Im Gitter ist die Zahl 1922 eingelassen, nicht weil es da gebaut wurde, sondern weil es von da an, dem Jahr der Unabhängigkeit, zum Sitz des Ministerpräsidenten wurde. Das irische Wort für ‚Ministerpräsidenten’, taisoch, erscheint hier in zwei verschiedenen Formen, im Nominativ und im Genitiv.
Im Park stehen alte Gaslaternen. Sie haben oben horizontale Eisenstangen, deren Funktion nicht auf den ersten Blick zu erkennen ist. Sie dienten zum Anlehnen der Leiter, die man brauchte, um die Laternen anzuzünden. Heute haben sie eine neue Funktion gefunden: Sie sind die Stangen, an denen die Blumenkübel befestigt werden.
Im Park, aber an dessen äußerstem Rand, die Skulptur von Oscar Wilde, in Sichtweite seines Elternhauses, das sich in einem Eckhaus des Merrion Square befand. Hier praktizierte sein Vater, ein früher Augenspezialist, der auch ein stadtbekannter Schürzenjäger war. Die Skulptur ist unorthodox: Wilde liegt in extravaganten, bunten Kleidern etwas gekrümmt auf einem Fels und hat das Gesicht, das auf der anderen Seite ernst ist, auf einer Seite zu einem abschätzigen Lächeln verzerrt. Die Skulptur ist nicht etwa farbig bemalt, sondern aus verschiedenfarbigen Steinen zusammengesetzt. Ihr gegenüber, auf der anderen Seite des schmales Fußwegs, zwei Säulen mit Epigrammen von Oscar Wilde in seiner Handschrift, teils mit Korrekturen, u.a.:
– Being natural is simply a pose.
– Lying, the telling of beautiful untrue things is the proper aim of art.
– Most people are other people.
– Who, being loved, is poor?
– The suspense is terrible. I hope it will last.
Über die Nassau Street geht es zum TCD. Die Nassau Street liegt höher als das TCD. Und das hat seinen Grund: Sie wurde erhöht zur Abwehr des Hochwassers des Liffey!
An der Seitenfront eines Hauses hat man einen Baum gefällt, um einen Namenszug wieder sichtbar zu machen, den von Finn’s Hotel. Es ist das Haus, in dem die spätere Nora Joyce arbeitete, als Joyce, zunächst ohne Erfolg, um sie warb.
Am Nachmittag bleibt noch Zeit für einen Besuch des Writers’ Museum. In einer etwas altertümlichen Präsentation gibt es Dokumente aus dem Leben der bekannten und nicht ganz so bekannten irischen Schriftsteller.
In der ersten Vitrine ist ein Faksimile des Book of Kells ausgestellt und die erste Bibel auf Irisch (XVII).
Maria Edgeworth war die erste, die einen Roman mit einem Iren als Protagonisten und mit irischen Themen schrieb.
Von der Eingangspassage aus Dracula gibt es eine Lesung, die Appetit auf den Roman macht.
Synges Playboy führte zu massiven Unruhen im Publikum. Es gab Proteste gegen ein Stück, in dem Unterhosen erwähnt werden und dessen Protagonistin sich mit Konterrevolutionären einlässt. Die Aufführung drohte zu scheitern. Schließlich bestieg Yeats die Bühne und sorgte für den Fortgang der Aufführung. Das Stück wurde zu einem Erfolg und begründete die Reputation des Abbey Theatre.
O’Casey kämpfte lange um die erste Aufführung und hatte dann einen Bombenerfolg mit Juno and the Paycock. Er wendet sich dann langsam von seiner pro-irischen Attitüde ab und wird kritisch gegenüber der Revolution. Das ist ein Tabuverstoß, der ihn zum Außenseiter macht. Er emigriert nach England und untersagt die Aufführung seiner Stücke in Irland, eine Entscheidung, die er erst kurz vor seinem Tod wieder rückgängig macht.
Shaw bekam den Nobelpreis nicht für Pygmalion, sondern für Saint Joan. Zu seinem Erfolg in England sagte er: „Damit die Engländer mich verstehen, bedurfte es vieler Jahre der Dekadenz meiner geistigen Fähigkeiten und des langen Kontakts mit der englischen Kultur.“
Behans Borstal Boy basiert auf biographischen Erfahrungen. Behan baute seine Reputation als Außenseiter und Rebell auf, indem er sich in irischen Kneipen zusammen mit seinen Bewunderern vollaufen ließ, und bekämpfte dann die von ihm selbst aufgebaute Reputation.
Am späten Nachmittag geht es mit dem Zug nach Belfast. Erst werde ich von dem richtigen Bahnsteig und eine abgetrennte Zone geschickt. Dort herrscht eine Atmosphäre wie bei der Grenzkontrolle in der DDR, und ich erwarte strengste Kontrollen. Dann löst sich alles aber in Wohlgefallen auf. Es bildet sich eine Schlange, man zeigt die Fahrkarte vor und landet dann auf eben dem Bahnsteig, von dem ich gerade weggeschickt wurde.
Die Fahrt nach Belfast ist völlig ereignislos. Wir sind von dichtem Wald zu beiden Seiten umgeben, selbst unmittelbar vor der Einfahrt nach Belfast. Es ist keine Grenze zu erkennen, es gibt keine Passkontrolle und erst recht keine Durchsuchung des Gepäcks oder der Passagiere. Ich kann nicht einmal ausmachen, ob es sich um eine irische oder eine britische Zuglinie handelt.
In Belfast muss ich dann aber Geld wechseln! Diese Grenze existiert weiter. Am Geldautomaten wird man vorsichtshalber informiert: „This cash machines dispenses British notes.“ Es gibt irische Banknoten. Auf einigen steht Northern Bank, auf andern Ulster Bank.
Belfast ist auf den ersten Blick eine einige Enttäuschung. Es ist weder schön noch hat es Atmosphäre, und die einzigen Menschen, die man draußen sieht, sind die Bauarbeiter an den unzähligen Baustellen im Zentrum. Die Pension, die ich mir ausgesucht hatte, liegt mitten in einer solchen Baustelle, und man weiß gar nicht, wie man dorthin kommen kann. Außerdem ist der Krach von der Baustelle auch nicht gerade einladend. Schließlich finde ich einen Taxifahrer, der mich zu einer Pension im Universitätsviertel bringt. Die Besitzerin ist erst etwas zurückhaltend, nimmt mich dann aber doch, als ich ihren offensichtlich improvisierten erhöhten Preis und sofortige Barzahlung akzeptiere.
Das Zimmer und das ganze Haus ist vollgestopft mit altmodischen, wild zusammengestellten und hochgradig kitschigen Accessoires und Schmuckstücken.
Als ich meine Sachen eingeräumt habe und mich in der Gegend orientieren will, ist der erste Argwohn der Wirtin verschwunden und überbordenender Freundlichkeit gewichen. Sie fragt mich nach allen Regeln der Kunst aus und erzählt wortreich von ihrem einzigen Urlaub außerhalb der Insel: mit dem Boot über Rhein und Mosel. Sie ist hellauf begeistert und kennt Rüdesheim und Cochem, nicht jedoch Trier. Sonst fährt sie jedes Jahr mit ihrem Lebensgefährten nach Donegal – jedes Mal genau von Donnerstag bis Dienstag. Nach Südeuropa fährt sie nie: „I don’t like hot countries“. Und meine Begeisterung über das gute Wetter hier – Belfast ist heute der wärmste Ort in ganz Irland – teilt sie auch nicht.
Noch jetzt wundere ich mich darüber, dass mir beim Ausstieg aus dem Zug ein nicht mehr ganz nüchterner junger Mann mit Fußballtrikot und kurzgeschorenem Haar den Vortritt gelassen hat, wenn auch mit einer leicht ironischen Handbewegung.
6. Juni (Dienstag)
Beim Frühstück werde ich einem anderen Gast vorgestellt, der hier Familienforschung betreibt. Als er hört, dass ich Deutscher bin, sagt er: „I thought you had a strange accent“. Und als er aus dem Haus geht: „Haben Sie einen guten Tag!“
Die Wirtin hat auch Stahlarbeiter als Gäste. Sie frühstücken vor und haben eine lange Schicht. Das seien noch junge Leute, die zu arbeiten bereit seien, nicht wie die anderen, denen die Regierung zu viel Geld fürs Faulenzen bezahle. Das Urteil ist nicht auszurotten, trotz drastischer Kürzungen im Sozialetat. Die Wirtin empfiehlt mir, die City Hall zu besichtigen. Das sei ein wunderschönes Gebäude. Viel zu schön für all die nichtsnutzigen Politiker. Zur Bejahung einer Frage sagt sie nicht Yes, sondern Aha.
Es geht zu Fuß in die Innenstadt. Ein Arbeiter entfernt mühsam Plakate von einem Verteilerkasten. Das scheint mir viel Aufwand angesichts der beschmierten Rollläden, herumliegenden Tüten und festgetretenen Kaugummis auf den Bürgersteigen. Dennoch ist die Innenstadt sauberer als die Dublins. Und die Leute sind etwas besser gekleidet.
In den Telephonzellen kann man auch Euros benutzen. Ist das Geschäftstüchtigkeit oder die schleichende Einführung der Währung?
In der Touristeninformation bekomme ich ein Ticket für eine Rundfahrt, für den stolzen Preis von acht Pfund, aber ich verstehe erst nach Überlegung: eight pounds klingt hier wie eight pints.
Die Bustour führt zunächst ins Universitätsviertel, ziemlich genau dahin, wo ich gerade herkomme. Die Queens University zählt Seamus Heaney, David Trimble und Mary McAleese zu ihren Absolventen. Die zentrale Straße ist die Dublin Road, die ehemalige Hauptstraße nach Dublin, das gerade einmal 100 Meilen entfernt ist.
Im Universitätsviertel bieten viele Lokale das Prinzip beat the hour an, d.h. je früher man kmmt, umso preiswerter ist es, und ein Gericht, das um 5 Uhr 5£ kostet, kostet um 10 Uhr 10£. Ob das auch für 1 Uhr gilt, wird nicht verraten.
Dann geht es nach Westbelfast, in die berühmte Falls Road, dem Zentrum des Viertels der „Nationalisten“, wie hier diejenigen heißen, die sich von Großbritannien lösen wollen. Ein Hochhaus an einer Straßenkreuzung war bis vor kurzem das Quartier der Britischen Armee, kugelsicher und mit Zugang nur über den Hubschrauberlandeplatz auf dem Dach!
Hier, an der Falls Road, gibt es die berühmten murals zuhauf, Wandmalereien politischen Inhalts. Sie sind technisch gut gemacht, künstlerisch wertlos und voller Pathos. Die irischen Kämpfer werden als Opfer den Palästinensern an die Seite gestellt. Helden wie Bobby Sands, der erste Hungertote in Gefangenschaft, werden zu Märtyrern stilisiert, und der Vergleich zwischen London und Belfast fällt so aus: London = No Blacks, no dogs, no Irish, Belfast = No racism, no prejudice, no bigotry“. Auf der gegenüberliegenden Seite gibt es ein Gedächtnis für die Helden des Widerstands mit Flaggen und pathetischen Inschriften und dem Emblem aller vier irischen Provinzen: Munster, Ulster, Leinster, Connaught.
Dann geht es in die Bombay Street, wo alles begann, einer kleinen Stichstraße mit Maschendrahtzaun. Zu beiden Seiten stehen identische Reihenhäuser aus Backstein, deren Bewohner sich jahrzehntelang bestens verstanden, bis es in den sechziger Jahren zu einem Nachbarschaftsstreit kam, der die Initialzündung für jahrzehntelange Konflikte war. Angesichts der winzigen Straße und der unaufgeregten Stadtteilatmosphäre wirkt das alles absurd.
Dann geht es durch ein verschließbares Eisentor in die Shankill Road. Hier trennt eine ‚ernsthafte’ Mauer mit Betonplatten und hohem Stacheldraht, eine Kopie der Berliner Mauer, die verfeindeten Lager.
Im protestantischen Viertel kommen wir auf einen weiten, offenen, gesichtslosen Platz, in dessen Mitte wild auf einen Haufen geworfen Holzbalken und Paletten liegen. Die Erklärung: Material für die Freudenfeuer bei der bevorstehenden Orange Parade.
Hier gibt es die protestantischen murals, weniger pathetisch als die katholischen, aber kriegerischer und mit mehr Geschichtsbezug. Hier werden in erster Linie William of Orange als Sieger über James II. (seinen Schwiegervater!) und Oliver Cromwell gefeiert. Außerdem werden Diskriminierung der Protestanten und Gewaltanwendung der Katholiken beklagt. Das beliebteste Motiv ist ein vermummter Kämpfer mit Maschinengewehr. Einer davon sieht den Betrachter immer an, ganz egal, von wo aus er ihn ansieht.
Dann geht es über die berüchtigte Antrim Road, früher als Butcher’s Mile bekannt. Hier patrouillierten protestantische Milizen und verdächtigten jeden, der nach 12 Uhr unterwegs war, Katholik und damit Feind zu sein – und behandelten ihn auch so.
Von hier aus hat man einen Blick auf einen Hügel, der die Form eines schlagenden Giganten hat und Swift zu Gulliver inspiriert haben soll. Dann geht es hoch zum Belfast Castle, einer neogotische Affäre und Imitation von Balmoral, einem Ort, den man nicht gesehen haben muss, der aber schön liegt.
Dann geht es in das Stadtzentrum hinunter. Hier ist von einer Statue die Rede, und ich weiß bis heute nicht, ob es die von Lennon oder Lenin ist. Die sind in der Aussprache nicht zu unterscheiden.
Vorbei an der viktorianischen St. Anne’s Church, deren größte Besonderheit ist, dass sie nur ein Grabmal hat, das Carsons. Dann geht es zum Clock Tower, der aus unerfindlichen Gründen nach Prinz Albert benannt ist. Der Clock Tower, eine Imitation des Big Ben, ist freistehend, aber aus dem Lot. Es mussten Spezialisten aus Pisa angeheuert werden, um ihn zu stützen. Daneben ein traditionelles Pub, das McHugh’s, das in den Reiseführern empfohlen wird.
Am Lagan steht eine große, blauweiße Lachsfigur aus Keramik, in Würdigung des ersten Lachses, der nach der Säuberung des Lagan hier ausgesetzt wurde.
Wir passieren die Odyssee Arena, ein modernes Multifunktionszentrum mit Eislaufhalle. Hier spielen die Giants, deren Anhänger zu gleichen Teilen Katholiken und Protestanten sind. Geht doch.
Im Hafenviertel stehen zwei große, gelbe Kräne mit der Aufschrift H&W, der Firma, die die Titanic baute und ihr Schwesterschiff, die Olympic.
Das ganze Viertel wird restauriert, umgebaut, neugebaut. Überall stehen Bagger, Bulldozer, Kräne Müllcontainer, Drahtzäune. Dazwischen das Trockendock, in dem die Titanic gebaut wurde, umgeben von Grasbüscheln und Kornblumen.
Zu den berühmten Belfastern gehören C.S. Lewis, George Best und Van Morrison. Der City Airport ist tatsächlich nach George Best benannt!
Belfast hat 509.000 Einwohner, Nordirland insgesamt 1,7 Millionen.
Wir sind im Süden (Universität) gestartet, dann in den Westen gefahren (Troubles) und sind jetzt im Norden (Hafen). Es fehlt noch der Osten.
Dort steht der Stormont, das Parlament, dessen Funktion jetzt wieder ausgesetzt ist. Es steht auf einer Anhöhe, ist aus Portland Stone und hat eine riesige, breite Fassade mit zwei eher nüchternen Flügeln und einem Mittelrisalit mit Figurenschmuck und sechs Säulen, eine für jede Grafschaft Nordirlands. Im Park zu Füßen des Gebäudes steht eine Statue von Carson. Sie ist insofern ungewöhnlich, als sie noch zu Lebzeiten errichtet wurde. Eine weitere Skulptur zeigt zwei Figuren, die sich über einem Abgrund umarmen. Diese Skulptur steht in auch in Jerusalem, Coventry, Berlin und Hiroshima.
Das Gebäude war durch seine erhöhte Lage und durch seine weiße Farbe so auffällig, dass es im 2. Weltkrieg schwarz gestrichen wurde. Dabei verwendete man bitchement paint und Kuhdung. Damit wurde verhindert, dass die Farbe in den Stein eindrang. Sie konnte später auch tatsächlich wieder beseitigt werden, aber einige schwarze Farbreste erinnern noch an die kuriose Geschichte.
Über die Stadtautobahn geht es zurück. Links sieht man Reihenhäuser, die aussehen, als wäre eine Bombe eingeschlagen. Die Erklärung: Es ist die Kulisse für einen Spielfilm, The Ring.
Dann kommen wir an St. George’s Market vorbei, der jetzt renoviert und wieder als Markt benutzt wird und im 2. Weltkrieg als Totenhalle diente. Belfast war die nach London am stärksten zerstörte Stadt im UK – obwohl man das auch in Bristol, Coventry und Liverpool sagt.
Die Tour endet an der City Hall, wohin mich mein Weg nach einer Suppe und einem Sandwich in einem schäbigen Schnellimbiss führt.
Dort werden wir von einer enthusiastischen, kugelrunden Frau geführt, die laut und deutlich, und mit erwartungsvollen Pausen und emphatischer Stimme die eher nichtssagenden Exponate benennt und beschreibt. Sie spricht mir leicht irischem Akzent, erkennbar am nachvokalischen r und an ein paar Vokalen, so dass Town Hall wie Tine Hall klingt und you will wie you well. Trotz der nur leichten Abweichungen werden einige Sätze zu exemplarischen Illustrationen von Hörverstehensschwierigkeiten: „When y(o)u c(a)n actu(a)lly see them, you well notice cream (a)n(d) gold.“
Es gibt herzlich wenig zu sehen, eine hohe Kuppel mit Flüstergalerie in der Eingangshalle, die Portraits einiger Bürgermeister, drei Empfangsräume, einen getäfelten Sitzungssaal. Die eigentlichen Schätze sind die Stadturkunden von 1613 und 1888, aber was deren jeweilige Bedeutung ist, bleibt unklar.
Im Sitzungssaal meinen alle Amerikaner, sich auf dem erhöhten Sitz des Bürgermeisters photographieren lassen zu müssen, aber nicht einmal, sondern immer wieder, alleine, mit Ehefrau, mit Familie und dann die Kinder alleine. Das nimmt gar kein Ende, aber man ist durch Sicherheitstüren im Sitzungssaal gefangen und kann nicht heimlich ausbüchsen. Dann kommt zu allem Übel ein Amerikaner auf die Idee, sich mit der Robe des Bürgermeisters photographieren zu lassen, und die ganze Prozedur geht wieder von vorne los.
Bei den Ratssitzungen gibt es die vernünftige Regelung, dass die maximale Redezeit 5 Minuten beträgt. Bei den Sitzungen geht es oft hoch her, aber Sinn Fein ist seit 28 Jahren im Stadtrat vertreten und arbeitet bestens mir den anderen Parteien zusammen! Das ist für mich die wichtigste Information der gesamten Führung und zeigt die Absurdität des ganzen Konflikts. Ansonsten bin ich froh, wieder raus zu sein.
Donegal ist überall: Es gibt Donegal Square, Donegal Place, Donegal Quay, Donegal Road und Donegal Pass!
Laut Prospekt kann man in Belfast das Geburtshaus Wellingtons besichtigen. In Dublin kann man das auch!
Die meisten, aber durchaus nicht alle nordirischen Protestanten sind für einen Verbleib beim Vereinigten Königreich: 20% sind für eine Union mit Irland! Bei den Katholiken zieht ein starke Minderheit, knapp die Hälfte, eine konföderierte Lösung vor, nur gut ein Viertel will die Vereinigung mit Irland und ein Fünftel zieht es vor, beim Vereinigten Königreich zu bleiben! Die anderen, Engländer, Schotten und Waliser, haben dagegen in der Mehrheit die Nase voll und wollen Nordirland irgendwie loswerden – am besten durch eine Vereinigung mit Irland!
7. Juni (Mittwoch)
Auf dem Weg in die Stadt komme ich an der Botanic Pharmacy vorbei. Es gibt hier keine besonderen Produkte wie Naturmedizin, sondern die Apotheke heißt nur so, weil sie auf der Botanic Avenue liegt.
Zuerst muss ich meine Rückfahrt organisieren. Der Zug von der Botanic Station zum Hauptbahnhof fährt nach Bangor. Ich dachte immer, das läge in Wales. Wieder was dazugelernt.
Dann geht es ins Zentrum. Die Statue von Königin Viktoria vor der City Hall, matronenhaft wie immer, ist umgeben von ihren Belfaster ‚Kindern’, einem Schiffsbauer, seiner Frau, einer Leinenweberin und ihrem Sohn, einem Studenten.
Nach einem Spaziergang Richtung Hafen entscheide ich mich gegen eine Hafenrundfahrt und buche ich eine Tour über die Sandy Row. Das sollte ich bald bereuen. Den Treffpunkt zu finden, war schwer genug, und dann finde ich mich als einziger Teilnehmer in der Gesellschaft eines Führers, den ich nicht verstehe, einem Mann aus dem Arbeitermilieu, der, selbst wenn er wollte, seine Sprache nicht auf die Bedürfnisse eines Ausländers einstellen könnte. Allmählich finde ich einige Entsprechungen heraus: Waithall, wo er geboren ist, ist Whitehall, belt ist built, sex ist six, gets ist gates und Lanfield ist Linfield. Auch hospittle, auf der zweiten Silbe betont, erschließt sich mir erst beim zweiten Mal als hospital, und song wird so gedehnt, dass es kaum identifizierbar ist.
Kenntnis von Belfast und seinen Stadtteilen wird natürlich vorausgesetzt, und als überzeugter Vertreter der protestantischen Sache unterstellt er auch, dass man wissen muss, worum es sich bei The Hall handelt, was The Twelfth ist und wer King Billy ist, der wie King Belly klingt, nämlich die Festhalle des Orange Order, der Tag der Siegesfeiern und William of Orange.
Die Kommentare, obwohl keineswegs militant, sondern sehr jovial vorgetragen, sind getrieben von provinzieller Enge und kleingeistiger Ideologie. Die hat man wie den Namen oder die Nationalität einfach angenommen. Sie in Frag zu stellen, kommt nicht in Frage.
Belfast ist eine Stadt der Superlative. Es hat die größte Werft, die größten Tabakfabriken und die größte Leinenproduktion der Welt. Zu sehen ist von all dem nichts. Dafür weidet man sich an stillgelegten Fabriken und beschwört deren glorreiche Vergangenheit, ergötzt sich an Mission Schools und Kriegsdenkmälern, Straßennamen, die sich von protestantischen Covenanters ableiten, sektiererischen Kirchen, an dem Laden, dessen Besitzer der Schütze des einzigen Tors war, als Nordirland England zum ersten Mal besiegte, und einer Stelle, an der William of Orange auf dem Weg zu der Schlacht am Boyne vorbeigekommen sein soll.
Zwischendurch muss ich mir in einem Geschäft Trommeln ansehen, die für die Orange Parade hergestellt werden, und zum Schluss muss ich auch noch mit in die Orange Hall, wo es nach den fünfziger Jahren mieft, einem Mittelding aus Jugendheim und Bahnhofhalle, wo alle die Paraphernalia des Orange Order aufbewahrt werden.
Der Mann selbst kommt mir wie eine Mischung aus Fußballwart, Obermessdiener und Pfadfinderführer vor. Am Ende fragt er mich, ob er nicht einige der Klischees über die Orange Men beseitigt habe.
Ich fühle mich regelrecht befreit, als ich die Halle wieder verlassen kann, durch die frische Luft und die Sonne ins Leben zurückgekehrt.
Am Nachmittag geht es dann zur Universität. Hier herrscht Provinzialismus der gehobenen Art. Hier sind das Palmenhaus und das Tropenhaus, die neugotische Fassade und ein Mann namens Kevin die Weltwunder. Der Bau ist von einem gewissen Layton gebaut, der für halb Belfast zuständig ist. Mehr als das Prädikat schön wurde man ihm nicht geben, aber das kann man ihm wie dem ganzen Campus nicht versagen.
In einer Festhalle ist unter den Portraits das von Mary McAleese, der jetzigen Präsidentin, nicht weil sie hier studiert hätte, sondern weil sie hier lehrte. Sowohl sie als auch Mary Robinson, ihre Vorgängerin, sind Absolventen des TCD!
Wieder bin ich der einzige bei der Führung. Angesichts der Nichtigkeit der Erklärungen etwas unangenehm, aber glücklicherweise findet sich in gemeinsamen Reiseerfahrungen in Kuba ein Thema.
Dann gibt es doch noch etwas Interessantes, einen in der Nähe gelegenen Friedhof mit schiefen, bemoosten Grabsteinen aller Art und wildem Pflanzenwuchs auf unregelmäßigem Terrain. Paradoxerweise sehe ich hier, bei den Toten, zum erstem Mal überhaupt Zeugnisse aus Belfast aus der Zeit vor seiner Erhebung zur Stadt 1888. Allerdings lag der Friedhof vermutlich außerhalb der Stadtgrenze. Er wurde zunächst von beiden Konfessionen benutzt, wurde dann aber immer katholischer, vermutlich, weil er zur Zeit der Penal Laws, als der Kult untersagt oder erschwert war, als Kultstätte benutzt wurde. Auf dem Friedhof wächst im Zentrum ein Weißdorn, ein Baum, der sich aufgrund der niederfallenden Blüten selbst vermehrt. Neben den älteren einfachen Grabsteinen mit Handwerkersymbolen gibt es ein eigentlich eher unpassendes Mausoleum, wohl zur Abwehr von body snatchers. Etwas prunkvollere Grabmäler gibt es aus dem 19. Jahrhundert, u.a. das des Gründers der ersten Zeitung Belfasts, die sich auf die Seite der Repealers schlug, derjenigen, die die Penal Laws abschaffen wollten, und das des Erfinders des bap, einem weichen Pendant zu unserem Brötchen und dem Bäcker Belfasts, der als erster Brot nach Gewicht verkaufte.
Noch am späten Nachmittag geht es wieder nach Dublin zurück, diesmal in einem älteren, vielleicht von einer anderen Linie betriebenen Zug, mit Waggons mit Holzimitationsverkleidung und grünen Polstern auf rostfarbenen Eisenstangen. Obwohl der Zug durch das historisch bedeutendere Antrim fährt, hält er nicht dort, sondern in Portadown und Newby, und unmittelbar danach sind wir wieder in der Republik, und wieder ist die Grenze mir entgangen. Die nächste Station, Dundalk, ist schon wieder zweisprachig, und nur daran kann man erkennen, dass man die Grenze passiert hat.
Im Reiseführer lese ich, dass ich in Belfast eines der Highlights Nordirlands verpasst habe: Ein Bier im Crown Liquor Saloon, einem Viktorianisches Ginpalast.
Am Abend nach der Rückkehr nach Dublin noch Spaziergang mit Photoapparat durch den Sonnenschein. Anschließend Abendessen in einem eleganten Pub im Art Deco Stil in der Talbot Street. Dabei eine merkwürdige Erfahrung gemacht: Die Kellnerin behauptet, Spanierin zu sein, spricht aber kein Spanisch, aber Englisch ist keinesfalls ihre Muttersprache.
8. Juni (Donnerstag)
Wieder von strahlendem Sonnenschein geweckt. Ich warte immer noch auf den ersten Regentropfen der Reise – in diesem Land, in dem es angeblich jeden Tag regnet.
Geträumt, dass Deutschland gegen Costa Rica gespielt und ich das Ergebnis nicht erfahren habe. Die Fernbedienung reagiert nicht, und wenn, dann bringt sie immer die falschen Seiten im Teletext.
Der Fund von zwei römischen Soldaten in voller Rüstung wurde von den Autoritäten verdrängt, da er mit der gängigen Lehrmeinung eines keltischen Irland nicht zu vereinbaren war. Als dann eine große römische Küstenfestung entdeckt wurde, wurde der Fund jahrzehntelang geheim gehalten.
Auf dem Weg zu St. Michan’s, meinem ersten Ziel für heute, mache ich Photos von Cyclelogical, einem Fahrradgeschäft, Get Stuffed, einem Lokal, und Just Cuts, einen Friseursalon.
St. Michan’s Church, über deren Aussprache sich die Dubliner nicht einig zu sein scheinen, ist in der Church Street. Ich aber verstehe, entgegen aller Plausibilität, Short Street und suche diese vergeblich.
Die Kirche mit ihrem grauen, quadratischen Turm erinnert an englische Pfarrkirchen auf dem Land. Sie war die erste Kirche auf dieser, der unhistorischen Seite des Liffey, die dann schnell wuchs und reich wurde.
Der einschiffige Kirchenraum ist ganz einfach, mit Paneele und Ausstattung in dunklem Holz.
Unter der Orgel eine aus einem Stück geschnitzte Skulptur von mehr als einem Dutzend Musikinstrumenten. Dieses Motiv befand sich früher auf der irischen 50- Pfund-Note.
Vorne ein Penitence Chair, ein Stuhl, auf dem man früher mitten in der Kirche Platz nehmen und öffentlich seine Vergehen beichten konnte, um Vergebung zu erlangen. Ein Dall ist belegt, bei dem ein Mann, der sich wegen des Begräbnis seines Sohnes mit dem Klerus überworfen hatte, vom churchwarden in die Kirche geführt und auf den Stuhl gesetzt wurde.
Dann geht es mit Führung in die Krypta, die den eigentlichen Schatz der Kirche enthält, nicht verweste Leichen. Der Führer empfängt uns in der Vorhalle mit Kaffeebecher in der einen und Zigarette in der anderen Hand, trotz einer Bandage an einem Arm. Er kennt Trier, kennt sich bestens mit Fußball und Rockmusik aus und hat für jeden von uns, außer mir ein holländisches Paar, das immer die Ferien in Irland verbringt und zwei Amerikanerinnen, ein nettes Wort. Er macht die Führung witzig und ohne Angst vor Dramatisierung. Es geht über den Kirchhof, und steigt man in die ‚Krypta’ hinab, durch eine mit schwarzen Stahlplatten geschlossene Luke, wie in einen Kohlenkeller.
Es gibt mehrere Gänge, mit Grabkammern hinter Gittern zu beiden Seiten. Wir sehen zwei. Der erste ist ganz kurz und enthält unversehrte Skelette in vier Holzsärgen, 400-800 Jahre alt, drei nebeneinander und einer quer dahinter. Die Skelette sind durch die Trockenheit der Kammern und die Präsenz bestimmter Gase erhalten geblieben.
Rechts und links jeweils eine Frau. Eine von ihnen war wahrscheinlich eine Nonne. Sie hat ganz feingliedrige Finger und Zehen und perfekt erhaltene Zehennägel. Dem Mann in der Mitte fehlen beide Füße und eine Hand. Die Frage ist, warum. Die Füße könnten möglicherweise abgetrennt worden sein, damit er in den Sarg passte, aber warum dann die abgehackte Hand? War es ein Unfall? Eine Strafe? Eine Kriegsverletzung? Selbstzerstümmelung? Da die Hand ganz sauber abgetrennt ist, glaubt man eher an eine Strafe, z.B. für einen Dieb, aber dann stellt sich die Frage, warum er hier begraben werden konnte. Eventuell ist es ein reuiger Verbrecher, der später Priester wurde. Der Mann hinten hat die Beine über Kreuz, was oft als Zeichen dafür angesehen wird, dass es sich um einen Kreuzfahrer handelt. Er war riesengroß und hat lange Finger, von denen zwei an einer Hand fehlen. Wahrscheinlich geschah das erst nach dem Tod, durch Pilger, Verehrer, Fans, die seine Mittelfinger berührten, um dadurch seine Kraft auf sich zu übertragen.
Dann kommt der große Moment: Das Gitter wird beiseite geschoben, und wir dürfen selbst die Erfahrung machen, wie es sich anfühlt. Das Ergebnis: Wenn man nicht wüsste, was man da berührt, würde man auf Holz tippen. Eigentlich nichts Besonderes, aber trotzdem läuft einem ein kleiner Schauder über den Rücken.
Der zweite Gang ist anders. Hier liegen Adelige in kunstvoll beschlagenen Särgen und der Quantenphysiker Hamilton vom TCD. Die Grüfte gehören Familien und können auch heute noch benutzt werden. Tatsächlich stehen in einer Grabkammer zwei Urnen mit der Asche von kürzlich Verstorbenen.
In einer weiteren Grabkammer die Särge zweier Brüder, die bei der Revolution von 1798 hingerichtet wurden. Davor das Todesurteil, das besagt, dass sie gehenkt werden sollten, aber nicht bis zu Tode. Vor Eintritt des Todes sollten sie heruntergenommen, ihrer Gedärme beraubt, gevierteilt und verbrannt werden.
Dahinter die Totenmaske Wolfe Tones, der sich, um dieser Strafe zu entgehen, selbst die Kehle durchschnitt.
Dann geht es zurück ins Zentrum. Ich glaube, mich hier inzwischen auszukennen. Die Strafe folgt auf dem Fuße. Ständig verlaufe ich mich, und außerdem weiß ich nicht mehr, was am Merrion Square und was am St. Stephen’s Green liegt. Nachdem ich ein paar mal hin und her gelaufen bin, komme ich endlich zu Kardinal Newmans Haus und muss erfahren, dass es heute geschlossen ist. Dies ist mein dritter vergeblicher Versuch bei meinem dritten Dublinbesuch.
Als ich zur National Gallery komme, merke ich, dass die Ausstellung zu Yeats, bei dem Georgian Walk empfohlen, nicht hier, sondern in der National Library ist. Und das Hotel, das für die afternoon teas empfohlen wurde, scheint wie vom Erdboden verschwunden. Kein Wunder, hatte die Führerin doch gesagt, dass es vornehm unauffällig ist.
Am Ende finde ich eher zufällig die National Library. Es ist eine hochmoderne Ausstellung mit Tonbandaufnahmen, Kurzfilmen und elektronischen Installationen. Glücklicherweise komme ich gerade rechtzeitig zu einer Führung, die einem hilft, die Fülle der Informationen zu kanalisieren. Die Führerin spricht /t/ ‚irisch’ aus, fast als Reibelaut, nicht weit von /©/ entfernt. Hin und wieder versteht man erst im zweiten Anlauf: „the leshers he wrote“, „the hash he wore at the ceremony“, „when World War I broke oush“.
Yeats entstammte einer begabten Familie, von beiden Seiten. Sein Vater gab seine Rechtsanwaltskarriere auf, um Künstler zu werden. Her sieht man ein bemerkenswert modernes Selbstportrait.
Daneben erste künstlerische Versuche des Sohns und Schulzeugnisse, aus denen hervorgeht, dass er kein besonders guter Schüler war, auch in Englisch nicht, und dass er Probleme mit der Rechtschreibung hatte.
Über die Theosophie kam Yeats zu Spiritualismus und Magie – hier ist sogar ein Zauberstab ausgestellt – und über das Okkulte zum Mystischen.
Yeats litt sehr unter anfänglichen Misserfolgen und verstand nicht, warum die Iren das Abbey Theatre nicht mit mehr Begeisterung aufnahmen. Es gelang ihm aber schließlich, das Abbey Theatre zum ersten staatlich finanzierten Theater der englischen Welt zu machen. Öffentlich und lautstark mischte er sich in die Fragen seiner Zeit, z.B. die der Scheidung, ein.
Mit 21 verliebte er sich Hals über Kopf in die gutaussehende Maud Goone, war aber wohl mindestens so sehr in seine Obsession verliebt wie in sie. Er hatte lange über übernatürliche Schönheit nachgebrütet, und sie kam ihm gerade recht. Sie hielt ihn aber, da sie sich selbst erst gerade emanzipiert hatte, auf Distanz, ohne ihn zurückzuweisen und schaffte es, eine französische Affäre und zwei uneheliche Kinder vor ihm geheim zu halten!
Schließlich machte er Maud Goone und deren Tochter gleichzeitig einen Heiratsantrag – und wurde von beiden abgewiesen. Da die Sterne gerade gut standen, machte er einer dritten Frau, Geordie Hyde Lees, auch einen Antrag. Der wurde angenommen. Sie war gebildet und hatte sich der Esoterik verschrieben. Sie praktizierte automatic writing, einen Schaffensprozess, bei dem man sich die Hand von Geistern führen lässt.
Yeats legte größten Wert auf die richtige Diktion beim Lesen von Gedichten. Er entwickelte einen Sprechgesang, und ließ ein eigenes Instrument bauen, eine psaltery, ein Art Zither oder Harfe, auf der er und seine Partnerin, Florence Farr, sich bei ihren öffentlichen Lesungen, bei denen sie ihre Methode erklärten, gegenseitig begleiteten.
Später kam er zu Ehren. 1922 wurde er Senator und dann wurde ihm der Dr. h.c. des TCD verliehen. 1923 bekam er den Nobelpreis. Hier sind die Medaille und der Zylinder zu sehen sowie der gemeinsame Pass für die Einreise nach Schweden für ihn und seine Frau.
Er wurde auch zum Herausgeber der Oxforder Lyrikanthologie. Die Auswahl war allerdings umstritten: Seine Freundin Dorothy Wellesley ist stark vertreten, Rupert Brooke und Wilfried Owen überhaupt nicht.
Vom Osteraufstand war er schockiert und schrieb Gedichte, die sein Entsetzen zum Ausdruck brachten. Später zog er sich nach Rapallo zurück, wo er Kontakt zu Ezra Pound und Hauptmann hatte.
Auf seinem Grabstein steht die Inschrift: „Cast a cold eye on life, on death, horseman, pass by.“
Dann geht es zum Georgian House, einer weiteren beim Georgian Walk empfohlenen Besichtigung. In einem Akt von Vandalismus hat das Elektrizitätswerk eine ganze Häuserreihe abgerissen und dann aus schlechtem Gewissen oder in Reaktion auf die Kritik dieses Museum eingerichtet, mit Ausstattungsstücken aus ebendiesen abgerissenen Häusern.
Die Küche wie die Vorratskammer befinden sich im Keller, ebenso wie die Wohnung der Haushälterin. Nur sie und die Gouvernante wohnten hier, die anderen Bediensteten kamen nur zur Arbeit.
Auf dem Küchentisch steht eine Schachtel mit Fächern für die verschiedenen Gewürze – verschließbar. Gewürze waren kostbar. Die Haushälterin bewahrte den Schlüssel auf. Vor dem Herd eine hölzerne, mobile Vorrichtung, auf der die Teller vorgewärmt werden konnten. Auf einem Regal schön aufgereiht das Porzellan. Die Dienerschaft aß von Holzgeschirr.
In der Vorratskammer hängt ein längliches Brett von der Decke, das zuerst Rätsel aufgibt. Wozu dient es? Es ist das Rattenbord. Hier lagerte man Vorräte, an die die Ratten keinesfalls herankommen sollten. Durch ein Fenster kann man in den Raum der Haushälterin sehen, oder besser umgekehrt. Durch dieses Fenster kontrollierte sie, ob sich jemand heimlich an die Vorräte machte.
Im Gang hängen verschiedene Schellen mit verschiedenen Tönen. An ihrem Klang konnte man erkennen, wo man verlangt wurde.
Im Erdgeschoss in der Eingangshalle ist gleich hinter der Tür an der Wand ein breites Messinggeländer angebracht. Hier wurden die oft vom Regen nassen Mäntel der Besucher abgelegt. Man nannte das Geländer aber auch whiskey rail, denn es war auch eine Stütze und Orientierungshilfe für den abends nach Hause zurückkehrenden Hausherrn.
Ihm gegenüber steht ein scheinbar nutzloses Möbelstück, eine Art Sideboard, niedrig und ohne Platz für die Ablage, an dem vorne ein Spiegel angebracht ist, der bis zum Boden reicht. Hier konnten die Frauen kontrollieren, ob ihr Unterrock unter dem Kleid hervorguckte.
Im Esszimmer steht ein gedeckter Tisch. In einer Vitrine Glasgefäße aller Art, die vermutlich nur zur Dekoration dienten. Das Glas war dunkler als heute, da der Bleianteil größer war.
Auf dem Boden neben dem Tisch steht ein rundes Holzfass, mit einem senkrechten Schlitz. Wieder fragt man sich, wozu das gut sei kann. Es ist der Behälter, in dem die vorgewärmten Teller aus der Küche hierher gebracht wurden.
Daneben steht eine Art Trommel mit einem Schubfach. Auch die Nennung der Bezeichnung, Men’s Comforter, bringt einen noch nicht unbedingt auf die Funktion: Nach dem Rückzug der Damen konnten sich die Herren hierein erleichtern, ohne aufstehen zu müssen.
Im ersten Obergeschoss gibt es einen Raum zur Straße hin, in dem die Damen parlierten – ohne sich zu setzen: Der Reifrock verhinderte das. An den Fenstern schwere blaue Wollvorhänge. Sie wurden nie geschlossen. Sie dienten nur der Zurschaustellung des Wohlstands.
Ein Teil des Raumes ist abtrennbar. Dort stehen Musikinstrumente und Spieltische. Vor dem Kanin ein pole, ein Schutzschild gegen allzu große Hitze. Die würde die Wachsmaske zerfließen lassen, die Frauen wie Männer trugen – auch um Pockennarben unsichtbar zu machen.
Im 2. Obergeschoss befindet sich das Boudoir, der Raum, in den sich die Hausherrin zurückziehen konnte. In diesem Geschoss liegen keine Teppiche mehr, sondern Matten.
In einem Ankleideraum sieht man einen Stiefelknecht. Es gab keine Unterscheidung zwischen linken und rechtem Schuh.
Im Schlafzimmer ein sehr kurzes und hohes Bett, so hoch, dass man über ein kleines Treppengestell hineinklettern musste. Das Bett hatte einen Vorhang, der nachts immer zugezogen wurde. Man wollte sich gegen Infektionen und Zugluft schützen. An der Wand ein Anrichte mit vielen Schubladen für die Kleidung. Schränke gab es nicht. Die Kleidung wurde nie aufgehängt, sondern gefaltet.
Im 3. Obergeschoss das Kinderzimmer und das der Gouvernante. An den Wänden Bild- und Schrifttafeln, mit denen unterrichtet wurde. Daneben Stickereiproben der Gouvernante, die man bei der Stellensuche vorlegte. Sie formten sozusagen einen Teil des Lebenslaufs.
Im Kinderzimmer ein baby crib, eine Hängevorrichtung, in der das Baby geschaukelt werden konnte. Später konnte es abgenommen und auf den Boden gestellt werden und diente dann als Laufstall und Gehhilfe.
Kleine Jungen wurden wie Mädchen angezogen und man ließ ihnen die Haare lang wachsen. Da sie wertvoller waren, fürchtete man, dass sie von Elfen entführt werden könnten und wollte mit dieser Strategie die Elfen austricksen. Mit diesem schönen Clou endet die Besichtigung.
Wundgelaufene Füße und Blasen sind die Quittung fürs Umherirren. Am Ende geht es nur noch in eine Apotheke und in eine Buchhandlung. Dort kaufe ich einen modernen irischen Roman, einen Erfahrungsbericht eines amerikanischen Einwanderers, eine Geschichte Irlands und eine Geschichte des Osteraufstands.
In der Geschichte werden historische Klischees zurechtgerückt: Die Penal Laws wurden nicht sehr systematisch angewandt und hatten kaum praktische Bedeutung für die Mehrheit der Bevölkerung. Und ihre Aufhebung auch nicht. Auch die einfache Gleichsetzung Hungersnot und Rückgang des Gälischen kann nicht aufrechterhalten werden. Das Gälische war schon vorher auf dem Rückzug, vermutlich als Folge der Union mit Großbritannien.
9. Juni (Freitag)
Am frühen Morgen dauert die Fahrt zum Flughafen gerade mal eine Viertelstunde. Auf den Straßen ist nichts los, umso mehr aber in der Abflughalle am Flughafen. Die in den Gängen stehenden, sternförmig angeordneten Automaten, an denen man selbst einchecken kann und die für Entlastung sorgen sollen, machen die Sache noch unübersichtlicher. Der Verlauf der Schlangen ist nicht zu überblicken, Leute drängeln sich vor, die Angestellten verschwinden zwischenzeitlich, und in meiner Schlange geht gar nichts, als zwei Blondinen mit einem Kinderwagen einchecken wollen und nach ihnen zwei junge Leute mit Fahrrädern. Als man dann endlich durch ist, wird man in die hinterste Ecke des Flughafens geschickt, zu einem Anbau, in dem man über einen langen, sich mehrmals windenden provisorischen Gang gelangt. Dann geht es mit einer Verspätung von 45 Minuten los, und als ich endlich zu Hause ankomme, sind seit dem Aufstehen, die Stunde Zeitverlust mitgerechnet, acht Stunden vergangen.
Im Flugzeug Zeit für Lektüre in alten und neuen Büchern über Irland. Derry bzw. Londonderry wird auch Stroke City genannt, wegen der diplomatischen Schreibweise in vielen britischen Medien.
Dublin hat in fast allen Monaten des Jahres den geringsten Niederschlag unter acht ausgewählten Orten ganz Irlands. Nur in den Sommermonaten wird es von Kilkenny unterboten.
Die lange vertretene und auch heute gängige These, Irland sei ein römerfreies Land gewesen, muss revidiert werden. Dem Fund von zwei Skeletten in voller Rüstung hat man lange Zeit keine Bedeutung beigemessen, weil er nicht zur Vorstellung eines rein keltischen Irland passte. Als dann ein ganzes Lager ausgegraben wurde, versuchte man sogar, den Fund geheim zu halten.
‚I have travelled a hundred and fifty miles to see that?’ hat Thackery gesagt, als er am Giant’s Causeway ankam. Besonders beeindruckt scheint er nicht gewesen zu sein, und beklagte sich außerdem über die Touristen und die Touristenführer. Auch das, was man über den Giant’s Causeway heute liest, klingt nicht allzu verlockend. Ganz anders der Rock of Cashel, auf den ich diesmal verzichtete, in der irrigen Annahme, es handele sich „nur“ um einen Felsen. Steht für das nächste Mal auf dem Programm.
10. Juni (Donnerstag)
Späte Ankunft in Dublin, und dann dauert die Passkontrolle endlos lang, aber dann geht alles glatt: Ich habe kein Gepäck, der Bus steht sozusagen abfahrbereit, und nennenswerter Verkehr gibt es zu dieser Zeit auch nicht. Im Bus sitzt ganz vorne ein italienisches Ehepaar. Der Busfahrer wechselt sofort ins Italienische, als er das merkt. Seine Mutter ist Italienerin, und er spricht ganz passabel. Das Gespräch lässt kein Klischee aus.
Das winzig kleine Zimmer des Hotels grenzt an den Innenhof einer Kneipe, und die lauten Stimmen, Musik und die Lachsalven dringen nach oben, aber ich bin müde genug, um mich nicht daran zu stören.
11. Juni (Freitag)
Beim Frühstück frage ich die Kellnerin: “Have you got some marmalade?” Ihre Antwort, durch die sie sich sofort als Ausländerin zu erkennen gibt, lautet: “Yes.”
Anschließend suche ich wie vor vier Jahren das O’Reilly Institute. Obwohl ich auf der richtigen Straße bin, bekomme ich Zweifel und frage Passanten. Keiner weiß es. Dann gehe ich in ein Gebäude, von dem ich annehme, es gehöre zum TCD. Dort muss ich aber erst erklären, dass das O’Reilly Institute zum TCD gehört, denn dies ist das Gesundheitsamt. Man will man mich zum Haupteingang zurückschicken, aber da bin ich mir ganz sicher, dass es falsch ist. Schließlich finde ich das Institut doch noch, an einer Straßenkreuzung, hinter einem Bauzaun versteckt. Eine Freitreppe führt zum Eingang, einer Drehtür, aber die dreht sich nicht. Ich gehe um das Gebäude herum und komme zum Seiteneingang, aber da steht: „No Entry“. Erst hinten finde ich eine Treppe, die zum O’Reilly Institute hinaufführt. Von einem Mädchen an der Rezeption, das von dem Konferenz nichts weiß, werde ich in den Keller geschickt. Dort verlaufe ich mich und schließe mich am Ende unfreiwillig in den Computerräumen ein. Außer mir ist keiner hier, ich weiß nicht, wie die Sicherheitstür zu öffnen ist, und auf ein Klopfen regiert der einzige Mensch nicht, der während der Zeit meiner Gefangenschaft über den Gang an der gläsernen Sicherheitstür vorbeigeht. Ziemlich ratlos und aufgeregt wegen der fortgeschrittenen Zeit irre ich zwischen den Computern hin und her und den Gang auf und ab. Irgendwann kommt dann die Erlösung in Form eines Mannes, der in die Räume kommt. Als ich gerade an ihm vorbei gehen will, erkenne ich ihn als Carl Vogel, den Gastgeber der Konferenz.
Der Rest des Tages verläuft erfreulicher. Die Konferenz ist interessant und findet in angenehmer Atmosphäre statt. Ich bin der einzige Deutsche. Alle anderen sind Franzosen und Belgier. Außerdem bin ich der einzige Philologe, die anderen sind Computerspezialisten, obwohl sie sich nicht als solche verstehen. Immer wieder fällt das Wort engineering.
Im Verlauf der Tagung wird mir die Struktur des Instituts klar und auch die relativ großen Übereinstimmungen in den Lehrbereichen. Und ich verstehe auch, warum wir in den letzten Jahren kaum noch Austauschstudenten vom TCD bekommen haben: Es gibt keine. Die Studentenzahlen in diesem Fach sind trotz der traumhaften Berufsaussichten in den letzten Jahren ständig gefallen, nachdem sie bis 2000 ständig gestiegen waren. Jetzt soll der Tiefpunkt erreicht sein. Und die wenigen Studenten, die in Frage kommen für den obligatorischen Auslandsaufenthalt, wählen in der Regel Französisch statt Deutsch. Und selbst wenn sie Deutsch gewählt haben, stehen wir noch in Konkurrenz zu anderen deutschen Universitäten, die bessere Karten haben, weil es in der Vergangenheit persönliche Verbindungen mit Carl Vogel gab, der in Stuttgart geforscht hat.
Als es um Studiengebühren geht, stellt sich heraus, dass Carl Vogel selbst nicht sicher ist, ob seine eigenen Studenten Studiengebühren bezahlen. Auch eine Studentin, die dabei ist, um das Protokoll zu führen, ist sich nicht sicher, ob alle Iren von Studiengebühren befreit sind. Sie selbst hat keine bezahlt. Ausländer zahlen in der Regel, wobei die aus EU-Ländern geringere Gebühren zahlen, heißt es.
12. Juni (Samstag]
Als ich am Morgen in der Halle vor dem Konferenzzimmer warte, bemerke ich eine Plakette, in der von dem Minister for Education die Rede ist. Heißt es nicht Minister of Education?
Obwohl ihre Englischkenntnisse gut sind, gibt es ein paar Wörter, die von allen französischen Muttersprachler unorthodox ausgesprochen werden. Dazu gehört abroad, eins der häufigsten Wörter bei dieser Konferenz. Es wird unausweichlich mit Diphthong ausgesprochen. Und complicated wird ebenso grundsätzlich auf der zweiten Silbe betont. Ich habe Zeit, darauf zu achten, da einige der besprochene Punkte für uns einfach nicht von Belang sind. Auch von Carl Vogel kann ich einige Ausdrücke aufschnappen: chapter and verse, is cutting edge, firm believer in Osmosis, you can fudge a little bit, it’s goofy that we have exams only once …, doing the bones of one of them, we’ll wind down, we should adjourn.
Nach dem Ende der Konferenz gehe ich durch die Stadt, um Photos zu machen, Photos mit Hindernissen. Erst mache ich einige Photos, u.a. von Abrakebabra, einem Kebabstand, dann reagiert die Kamera auf einmal nicht mehr, und es dauert etwas, bis ich merke, dass ich die Batterie austauschen muss. Dabei öffne ich aus Versehen die Kamera, und es fällt Licht auf den Film. Der enthält auch noch die Photos von der letzen Dublinreise im Juni. Ich gehe die bisher zurückgelegte Strecke zurück, um zumindest die Photos von heute noch einmal zu machen.
An einer Ampel steht eine Frau mit Kinderwagen hinter mir. Die Frau hat ein Handy in der Hand und telephoniert, das Kind hat ein Spielzeughandy in der Hand und telephoniert ebenfalls.
Ein Werbeslogan für ein Nivea Deodorant macht intertextuelle Anleihen bei Marilyn Monroe: „Pearls are a girl’s new best friend.“
Wieder einmal scheitert ein Versuch, Kardinal Newmans Haus zu besichtigen, der vierte gescheiterte Versuch beim vierten Anlauf, einer für jede Reise nach Dublin. Zuerst war es die falsche Jahreszeit, dann der falsche Wochentag, dann war die Besichtigung ausgerechnet für den Tag ausgesetzt, da eine Konferenz stattfand, und heute ist einfach geschlossen, obwohl laut Reiseführer ab 14 Uhr geöffnet sein soll. Ein Schild mit der Angabe von Besichtigungszeiten gibt es nicht. Ich warte eine Zeitlang und sehe mir die elegant gekleideten Besucher an, die zu einer Trauung in der Kirche eintreffen. Dann gebe ich auf.
Statt dessen gehe ich in die National Gallery. Hier ist der Eintritt umsonst, und am folgenden Nachmittag wiederhole ich den Besuch. Ich sehe mir besondern einige irische Bilder genauer an:
– Maria McKinnen, Relative Perspective (2005): Sieht von nahem aus wie die unplanmäßige Verteilung von kleinen, verschiedenfarbigen Puzzleteilen, auf weißem, rechteckigen Grund, wobei sich die Puzzleteile nicht berühren, sondern durch einen Zwischenraum voneinander getrennt sind. Wenn man das Bild mit Abstand betrachtet, sieht man, dass es sich um eine Weltkarte handelt, die Kontinente zeichnen sich vom Wasser ab, aber nicht so deutlich wie auf einer Karte, und die Konturen sind nicht sehr klar.
– Daniel Maclise, Marriage of Strongbow and Aoife (1854): Auf den ersten Blick ein riesiger Historienschinken, aber die Erklärungen machen das Bild zum interessantesten Bild der Ausstellung. Das Bild ist größer als die Eingangstür zu diesem Raum. Als es restauriert wurde, wurde die Restaurierung hier vor Ort vorgenommen. Als es ursprünglich in die Ausstellung kam, wurde es gefaltet, und das führte dazu, dass der Rand des Bildes sich wölbte (heute noch zu sehen) und dass die Farbe an den Seiten abbröckelte. Damit das nicht wieder passiert, will man das Bild jetzt an Ort und Stelle belassen. Vor der Restauration war das Bild stark nachgedunkelt, und man hat zu Demonstrationszwecken zwei Stellen nicht restauriert, ein dunkles Viereck rechts unten und einen Teil des weißes Gewandes einer weiblichen Figur. Verblüffend, man hat sicher kaum noch etwas erkennen können. Das Bild stellt eine historische Szene dar (XII), die Hochzeit von Strongbow, dem normannischen Herzog, und Aoife, der Tochter des Königs von Leinster, McMurrough. McMurrough hatte seinen Thron verloren und hatte Strongbow um Hilfe angerufen. Der hatte als Gegenleistung die Hand der Tochter und die Nachfolge auf dem Thron gefordert, und so kam es zu dieser Hochzeit. Dieses historische Ereignis wird jetzt, Jahrhunderte später, aber nicht objektiv dargestellt, sondern wertend und wird damit zum politischen Kommentar zur Gegenwart des Malers: Der Schauplatz der Hochzeit wird von der Kirche auf das Schlachtfeld verlegt, Licht liegt üben den irischen, Schatten über den normannischen Figuren, der Priester segnet das Paar mit der ‚falschen’, der linken Hand, ein alter irischer Sänger liegt am Boden, er ist am Boden zerstört, und die Saiten seiner Harfe sind gerissen, das Kleeblatt im Vordergrund ist zertreten. Die Ankunft der Anglo-Normannen bedeutet das Ende Irlands, im 19. Jahrhundert eine Aussage von höchster Brisanz. Das Gemälde als Politikum.
– Yeats, The Liffey (1923): Yeats bildet einen sehr populären Schwimmwettbewerb im Liffey ab. Es ist keine realistische Darstellung des Ereignisses, sondern eine, die die Atmosphäre des Ereignisses einfängt. Yeats verwendet dicke Pinselstriche, die nur die Konturen und oft keine Details erkennen lassen, und er verwendet Farben, die nicht der Wirklichkeit entsprechen, aber ausdrucksstark sind, wie rote Flecken auf der Wasseroberfläche. Die Schwimmer bewegen sich auf die O’Connell Bridge zu, und die Anstrengung und Kraft der Schwimmer sind förmlich zu spüren. Zu beiden Seiten des Flusses und auf der Brücke drängen sich Menschen, deren Konturen sich häufig überschneiden, und aus der vorbeifahrenden Straßenbahn versuchen die Passagiere, auch einen Blick auf den Wettbewerb zu bekommen.
– Moynan, Military Manoeuvres: Ein schönes Bild, das eine Episode erzählt und das durch das Einfangen der vielen verschiedenen Reaktionen der Beteiligten und Beobachter etwas von einem Schnappschiss hat. Zerlumpte Kinder, vielen von ihnen barfüßig, spielen Militärkapelle, und haben sich dazu mit Kochtöpfen, Deckeln, gefüllten Dosen, Stöcken usw. bewaffnet. Am Ende des Zuges steht ihr Anführer, der als Dirigierstab einen Besen in der Hand hält. Links im Bild erscheint ein junger Offizier, sauber, gestriegelt, mit schmucker, eng sitzender Uniform, schwarzer Hose und roter Jacke, das genaue Gegenteil der zerlumpten Kinder. Er scheint von dem Auftritt der Kinder alles andere als begeistert zu sein und ihn als eine Provokation zu verstehen. Er ist dabei, auf den Anführer, den Jungen mit dem Besen, los zu gehen, wird aber von seiner Verlobten, die eher die lustige Seite sieht, am Arm zurückgehalten. Der ganze Zug ist stehen geblieben, und die Passanten ebenfalls. Einige blicken voller Furcht oder voller Spannung auf den Offizier, einige andere blicken sich gegenseitig an, andere sehen teilnahmslos weg oder sehen direkt den Betrachter an.
– O’Connor, The Poachers: Noch ein schönes Bild. Ein Wilddieb hat sich beim Wildern verletzt und Zuflucht in einer Bauernkate gefunden. Er sitzt auf einem Stuhl und die Tochter des Bauern lehnt über ihm und wischt mit einem Schwamm das Blut von seiner entblößten Brust. Neben dem Stuhl zwei Hasen, die Beute des Wilderers. Sehr schön getroffen der Ausdruck des ehrlich empfundenen Sorge und des Mitleids der jungen Frau, der Kontrast zwischen ihrem hellen Teint und ihrer hellen Kleidung und dem dunklen Teint und der dunklen Kleidung des Wilderers sowie die Details des Zimmers: Unter dem Tisch steht ein Korb voller Möhren, aus denen einige, vielleicht, weil der Korb von dem hereinstürzenden Wilderer angestoßen wurde, auf den Boden gefallen sind. Man spürt förmlich die Eile, mit der er in die Stube gestürzt gekommen ist. Zwei Hasen, seine Beute, liegen auf dem Boden, ebenso sein Hemd, das er sich in aller Eile vom Körper gerissen haben muss. Ein schönes Detail zeigt die Ärmlichkeit der Bauernkate: Ein Tischbein ist gebrochen und provisorisch mit einem Stück Holz geflickt worden. Ein atmosphärisch dichtes Bild, das mit photographischer Genauigkeit arbeitet, aber auch die Stimmung einfängt.
Außerdem sehe ich einen schönen Vermeer, Lady Writing a Letter with her Maid, einen eindrucksvollen Caravaggio, The Taking of Christ (1662), und das Bild einer italienischen Malerin, Lavinia Fontana, Visit of the Queen of Sheba (1600). Caravaggio benutzt sozusagen den Zoom, um die Szene der Gefangennahme im Detail zu schildern; er betrachtet sie nicht aus der Distanz, und die Figuren sind an den Rändern oft abgeschnitten. Das vermittelt den Eindruck der Unmittelbarkeit. Wie immer, gibt es starke Hell-Dunkel-Kontraste. Der Maler selbst erscheint als einer der Soldaten. Er hebt die Hand, in der er eine Laterne hält. Aber das Licht in dem Bild kommt nicht von der Laterne, sondern von außen. Sein eigenes Licht ist symbolisch. Es steht für die Kunst. Der Künstler wirft Licht auf das Geschehen.
13. Juni (Sonntag)
Heute mache ich die merkwürdige Erfahrung, dass man in Dublin am Sonntag morgen nicht viel unternehmen kann. Die Museen öffnen erst nachmittags, Kirchen sind nicht für Besichtigungen geöffnet und andere Sehenswürdigkeiten sind gleich ganz geschlossen. Ich finde aber im Reiseführer eine Möglichkeit: Das Waterways Visitor Centre. Dahin geht es mit der DART. Ich komme in ein völlig verlassenes Stadtviertel und habe keine Vorstellung, wohin ich muss. Endlich, nachdem ich ein paar Mal um eine riesige Baustelle gekreist bin, zeigt mir eine Frau den Weg. Ich komme ins Schwitzen – es ist schon richtig heiß, und ich denke mit Entsetzen an den Rest des Tages und die Rückreise. Als ich an meinem Ziel ankomme, macht die verbeulte Eisentür am Eingang auch nicht gerade einen einladenden Eindruck. Und tatsächlich, der freundliche Mann, der hier Wache schiebt, sagt mir, es werde umgebaut. Erst in gut einem Jahr werde wiedereröffnet. Das jedenfalls schließe ich aus den wenigen Worten, die ich verstehe. Dagegen wird mir ganz klar, dass er mir davon abrät, zu Fuß zurückzukehren. Aber ich tue es trotzdem und bin überrascht, dass ich nach zehn Minuten schon wieder vor einem Gebäude stehe, das ich zur Genüge kenne: O’ Reillys Institute.
Dann geht es zu St. Audoen’s Church, die man jetzt, nach Ende des Gottesdienstes, besichtigen kann. Sie liegt sehr schön auf einer Anhöhe, schön vor allem, wenn man sich ihr von unten nähert. Die Kirche ist normannisch (XII), aus grauem, unregelmäßigen Stein, und hat einen quadratischen, massiven Westturm. Darin befindet sich vor dem Eingang in die Kirche die Grabfigur des Stifters einer Kapelle (XV) sowie der Lucky Stone. Er wird auch heute noch von den aus der Kirche kommenden Gottesdienstbesuchern berührt. Er stand ursprünglich am Brunnen am Kornmarkt und wurde dann gestohlen, von Leuten, die, wie die Beschriftung Erklärung ausdrücklich betont, von außerhalb Dublins. Als sie sich von der Stadt entfernten, wurde der Stein immer schwerer, bis sie ihn fallen lassen mussten. Dann kam er hierher und fungiert seitdem als Glücksbringer.
Die Kirche hat eine vertrackte Baugeschichte. Sie war eine von drei Kirchen, die nach der normannischen Eroberung in Dublin erbaut wurden: St. Audoen im Westen, Christ Church im Zentrum, St. Patrick außerhalb der Stadtmauern.
St. Audoen lag nahe am Hafen. Es war eine einfache, kleine Kirche mit einem Holzdach (XII), die dann (XIII) nach vorne um fast das Doppelte vergrößert wurde, ein Zeichen für den enormen Bevölkerungsanstieg der Zeit. Die Verlängerung war jetzt der Chor. Schließlich wurde sie um eine Kapelle, St. Anne’s Chapel, erweitert, die längs zum Schiff lag (XV), und dann kam eine zweite Kapelle dazu, Portlester Chapel, die das Rechteck wieder komplettierte. Die Vergrößerungen gingen vor allem auf die Aktivitäten der einflussreichen Kaufmannsgilde zurück, die hier ihr spirituelles Hauptquartier hatte. Sie unterhielt alleine sechs Priester in ihrer Kapelle. Nach der Reformation wanderte die Gilde ab und die Kirche wurde vernachlässigt. Einige Teile verfielen ganz, und heute hat die Kirche wieder den Grundriss der ersten normannischen Kirche! Die anderen drei Teile sind Ruinen. Man sieht aber noch einige Bögen und einige Grabplatten, die heute im Freien, ursprünglich aber in der Kirche lagen. Man konnte im Kirchhof, aber auch in der Krypta und in der Kirche begraben werden, und das war eine besondere Attraktion von St. Audoen’s, die viele Geldgeber von außerhalb anzog.
Die heutige Kirche hat an der Nordseite ein Grabdenkmal zweier Ehepaare, das des Stifters und seines Schwagers, die mit ihren vier Kindern in Renaissancekleidung (mit Halskrause) kniend und mit gefalteten Händen auf dem Grabmal abgebildet sind. Darunter ein Momento Mori mit überkreuzten Knochen und einem Totenkopf, darüber ein übervoller Korb mit Broten, Früchten und anderen Naturalien, darunter auch Mais und Paprika, den Reichtum der Familie symbolisierend. Mais und Paprika, damals brandneu, stehen für Exotik, aber wohl auch für Handelsbeziehungen mit Amerika. Daneben ein fast gleich aussehendes Grabmal, auch in Weiß. Es besteht aber, trotz des Anscheins, nicht aus dem gleichen Material, sondern ist aus übertünchtem Holz, während das erste Grabdenkmal aus Kalkstein ist. Den konnte man sich hier zwar nicht leisten, wollte aber wenigstens so tun als ob.
Hinten steht ein viereckiges Taufbecken mit runden Wangen. In jede ist eine Muschel eingelassen. Der Grund: St. Audoen lag an dem Pilgerweg nach Santiago! Allerdings musste man oder konnte man einen Teil der Strecke mit dem Schiff zurücklegen, und das machte man von hier, vom Hafen aus. St. Audoen’s war die letzte Station des Pilgerwegs auf irischen Boden.
Dann gibt es eine Suppe in der Cafeteria des Castle, an deren etwas rauen Ton ich mich in früheren Besuchen schon gewöhnt habe – das freundlichstes Wort ist ein einleitendes now – aber die Ruhe und die stilvollen Räume, die sonnig und kühl zugleich sind, entschädigen dafür.
Am Abend mache ich mich auf die Rückreise in der Gewissheit, auch in der begrenzten Zeit etwas gesehen zu haben und mit der quälenden Frage, warum das Kardinal Newman Haus beim nächsten Mal wohl geschlossen sein wird.