London (2007)

17. Februar (Samstag)

Schon um 4 Uhr geht es los. Der Vorteil ist, dass es so ungehindert wie noch nie zum Flughafen geht, ohne LKWs und Busse. In Stansted geht es wegen Umbauarbeiten an der Zuglinie zuerst mit dem Bus weiter, dann mit dem Zug zur Liverpool Street und dann mit der U-Bahn nach Bayswater. Als wir um 9 Uhr vor dem Queensbury Hotel in Bayswater stehen, sind wir fünf Stunden unterwegs und haben Auto, Flugzeug, Bus, Zug und U-Bahn benutzt.

 

Das Hotel ist in einem der typischen, weiß gefassten  Viktorianischen Bauten, die als Reihenhäuser nur unzureichend beschrieben sind und heute als Billighotels funktionieren. An dem Hotel ist alles schlecht außer der relativ zentralen Lage.

 

Als erstes geht es zu Speakers’ Corner bei Marble Arch („Ist das das weiße Teil?“). Dort ist zu dieser Zeit noch kein speaker zu sehen. Statt dessen bewegt sich eine große Gruppe von Freizeitsportlern am Rande des Parks nach den Anweisungen von zwei Trainern zur Morgengymnastik.

 

Bei dem obligaten Besuch in einem Starbucks gibt es muffins und shortbread zu einem in einem massiven Tonkrug servierten Kaffee. Man sitzt dabei mit dem Rücken zum Lokal auf Barhockern.

 

Nach einem Spaziergang über die Oxford Street, u.a. an Selfridges vorbei, geht es zu einer Führung auf den Spuren Oscar Wildes zum Green Park.

 

Der Führer erscheint als Oscar Wilde, mit breitkrempigem Hut, Seidenkrawatte, Frack, grauer Weste und sogar der grünen Nelke im Knopfloch.

 

Oscar Wilde war beliebt bei den Frauen. Unter anderem deshalb, weil er einen ganzen Abend lang parlieren konnte, ohne auch nur ein einziges Mal von Sport zu sprechen. Cricket lehnte er ab, weil es ständig unziemliche Stellungen erforderte, Fußball sei höchstens etwas für rough girls, keinesfalls aber für delicate boys.

 

Die Beziehung zu Bosie war kurz, jedenfalls die körperliche Beziehung, denn beide hatten denselben Wunsch: Sie wollten bald jüngere Partner. Die Gefahr im Anbändeln mit männlichen Prostituierten bestand darin, dass sie auch erpressen konnten. Kurioserweise war nur die männliche Prostitution illegal.

 

Oscar ging prinzipiell nicht zu Fuß. Er benutzte immer einen Wagen. Das war etwa so kostspielig wie heute ein Taxi. Allein darauf muss er ein Vermögen verwendet haben.

 

Das Bild des am Boden mit den Kindern spielenden Oscar – sehr modern, sehr unviktorianisch – ist nur die halbe Wahrheit. Er gebrauchte jeden Vorwand, um das Weite zu suchen, und zog sich auch zum Schreiben ins Hotel zurück, z.B. ins Albemarle Hotel in Mayfair.

 

Wir stehen gegenüber dem Brown Hotel, dem Ort, in dem Oscar die berühmte Protestnote erhielt. Dummerweise brachte er die Sache vor Gericht. Er hätte sie einfach ignorieren können. Dazu kam, dass die Note ihn keineswegs der „Sodomie“ bezichtigte, sondern des „posing as a sodomite“, genau gesagt, mit Rechtschreibfehler, „posing as a sondomite“. Außerdem war Sodomie, das hier nichts anderes als Homosexualität bedeutet, nur zu beweisen, wenn ein zweiter sich selbst anklagte.

 

Oft werden Bosie oder die Regierung für Oscars Vorgehen verantwortlich gemacht, aber Bosie sah Oscar erst am folgenden Tag, als die Entscheidung bereits gefallen war, und er riet zur Flucht statt zum Prozess, und die Regierung, an der Spitze eines Reichs von Millionen Menschen auf der halben Erde, hatte vermutlich anderes zu tun. Außerdem hatte Oscar dort einflussreiche Freunde, darunter Asquith. Eine eher einleuchtende Erklärung ist die, dass Oscar offenen Auges in sein Unglück rannte. Er sah sich als tragische Figur, und der Prozess war das Instrument, diese Tragödie in Gang zu setzen.

 

In Filmen wird unter den vielen Klischees über Oscar auch das seines alten, grauhaarigen Dieners Arthur verbreitet. In Wirklichkeit war der Diener ein sechzehnjähriger Junge, der ihm in allem zu Diensten stand und den Oscar Ginger nannte, der also rothaarig war. Es sei denn, ginger werde interpretiert als Cockney Rhyming Slang, und dann stünde ginger für ginger beer und damit für queer.

 

Wenn er gefragt wurde, was die grüne Nelke zu bedeuten habe, sagte Oscar: Nichts. Sie habe keine besondere Bedeutung, es sei nur ein Versuch, die unvollkommene Natur zu korrigieren. Tatsächlich war die grüne Nelke aber auch ein Erkennungszeichen unter den Homosexuellen von Paris.

 

Zu den Erkennungszeichen von Oscar gehörte auch, dass er immer glatt rasiert war, im Gegensatz zu den meisten anderen Männern seiner Zeit, bei denen der Bart die Norm war.

 

In einer Arkade sehen wir das Geschäftshaus von Smithers Publishers. Sie waren dafür bekannt, erotische und schlüpfrige Texte zu veröffentlichen, und sie veröffentlichten auch Oscars Reading Gaol, allerdings nicht unter dem Namen Oscar Wilde, sondern unter Oscars Gefängnisnummer.

 

In der St. James’s Street sehen wir das Geschäft von Oscars Schneider. Gleich gegenüber war die Praxis eines Arztes, der sich auf sexuell übertragene Krankheiten spezialisierte. Von ihm stammt vermutlich die unsinnige, aber populäre Theorie, nach der Oscar an Syphilis starb. Die Ursache dafür waren Oscars Zähne! Er hatte schlechte Zähne, und schlechte Zähne waren oft auch die Folge der Behandlung von Geschlechtskrankheiten mit Quecksilber!

 

Bei James J. Fox, einem wunderbaren historischen Tabakladen, in dem wir auch in den mit einigen Dokumenten bestückten kleinen Kelleraum gelassen werden, war Oscar Kunde. Er rauchte 80-100 Zigaretten pro Tag, ovale Zigaretten, mit einem goldenen Mundstück, auf dem in roten Lettern Oscar eingraviert war. Hier waren, wie man den alten Rechnungsbüchern entnehmen kann, auch Napoleon III und Churchill Kunde. Churchill rauchte 10 Zigarren pro Tag, immer von derselben Sorte: Romeo and Juliet. Er trank zum Mittagessen und zum Abendessen jeweils eine Flasche Champagner, danach Cognac und zwischendurch Whisky. Er wurde 91!

 

Die erste Frau, die in Großbritannien im Parlament saß, war ausgerechnet eine gebürtige Amerikanerin, Nancy Astor. Sie hatte einen pathologischen Hass auf Churchill. Zu den bekannten Wortwechseln zwischen den beiden gehört dieser: „If I were your wife, Sir, I’d put poison in your tea. – If I were your husband, Madam, I’d drink it.“

 

In der King Street stehen wir vor dem Gebäude, in dem einst das St. James’s Theatre stand, ein riesiges Theater mit 1200 Plätzen, das später einer städtebaulichen Sünde zum Opfer fiel, als es für einen Wohnhauskomplex abgerissen wurde. Das St. James’s Theatre war weiter im Westen als die anderen Theater gelegen. Hier feierte Oscar einige seiner größten Erfolge, und hier sorgte er für einen Skandal, als er nach der Erstaufführung von Lady Windermere, stürmisch vom Publikum gefordert, mit der Zigarette in der behandschuhten Hand auf die Bühne trat und damit, willentlich oder nicht, einen echten Fauxpas beging: in der Gegenwart von Frauen zu rauchen.

 

Am ehemaligen Hintereingang des Theaters steht noch das Golden Lion, eine typische Theaterkneipe, sehr reizvoll aussehend, das eine Theatre Bar hatte, die auch Oscar frequentierte. Hier übergab Queensbury ihm einen Strauß aus verrottetem Gemüse. Oscar bedankte sich artig und sagte, der Strauß werde ihn immer an Queensbury erinnern.

 

Oscar hatte am Ende ein gutes Verhältnis zum Gefängnisdirektor und bekam von ihm das Privileg, einen Tag früher in Zivilkleidung das Gefängnis verlassen zu können. Das erste Geschäft, das er aufsuchte, war Hatchard auf Piccadilly, ein historisches Geschäft, das noch überlebt hat, mit Sprossenfenstern und schwarzer Holzvertäfelung, ganz in der Nähe von Fortnum and Mason gelegen und von dem Granitbau der Royal Academy, in der Oscar seine berühmten Vorträge hielt, über die USA, über die Renaissance in Großbritannien, über den Ästhetizismus.

 

Gegenüber das Albany, ein Backsteinbau, ursprünglich die Residenz des Duke of Melbourne. Später wurde das Gebäude umgestaltet und es wurden Einzelapartments für Männer eingebaut. Die dienten angeblich vor allem denen, die es abends nach dem Clubbesuch nicht mehr nach Hause schafften. Hier wohnten u.a. Graham Greene und Byron, Huxley und Priestley.

 

Als er nach Frankreich ausgewandert war, hatte Oscar Selbstmordgedanken, verwarf sie aber mit dem Argument: Ich habe die Wahl zwischen dieser Welt, jener Welt und Australien. Aber von jener Welt und Australien habe ich keine guten Nachrichten.

 

Er legte sich einen neuen Namen zu und starb an einer Entzündung des Ohrs, die schon zu weit fortgeschritten war, als sie diagnostiziert wurde. Er wurde in einem Grab ohne Namen beerdigt.

 

Bosie heiratete und bekam einen Sohn, den er nach Strich und Faden verwöhnte. Dieser Sohn wurde von Bosies Vater entführt, der der Meinung war, ein solcher Mann wie sein Sohn tauge nicht zum Vater. Bosies Sohn wurde als Folge der Erfahrungen geistesverwirrt und starb in einem Irrenhaus.

 

Oscars Frau nahm den Namen Holland an. Ihr ältester Sohn starb im 1. Weltkrieg. Die Nachfahren von Oscar und Queensbury verstehen sich gut.

 

Danach zum Leicester Square. Dort sehen wir die Statue von Chaplin. Ein Mann macht uns auf eine Kuriosität aufmerksam: Chaplin hält den Stock in der ‚falschen’ Hand. Er trug ihn im Leben immer links. Leider kommt die Erkenntnis zu spät für meine London Curiosities.

 

Das viel gelobte und lange gesuchte Café von St.-Martin-in-the-Fields finden wir geschlossen vor. Es wird umgebaut. Stattdessen geht es ins Spaghetti House.

 

Dann geht es Whitehall runter und an den Cabinet War Rooms vorbei in den St. James’s Park. Dort gibt es Pelikane, die schon seit Jahrhunderten hier gehalten werden. Und es blühen überall schon die Osterglocken. Von der kleinen geschwungenen Brücke über den Weiher hat man eine phantastische Sicht auf einen bebauten Hügel. Es muss die andere Seite von Whitehall sein, aber es dauert lange, bis ich die geduldig vorgetragenen Erklärungen verstehen.

 

Der St. James’s Palace liegt nicht, wie ich immer glaubte, direkt hinter dem Zugang zum Park bei den Horse Guards in Whitehall, sondern in unmittelbarer Nähe des Buckingham Palace, und an dessen Seite liegt der Eingang zum Green Park. Dann geht es runter zur Themse und zur Westminster Bridge und zum Parlament. Dort kommt passenderweise ein rosa Taxi an uns vorbei. In der Ferne sieht man das (für mich) noch neue Millennium Wheel.

 

Dann geht es zurück nach Bayswater. Jetzt sieht man, dass das Viertel voller Touristen ist und ganz auf touristische Bedürfnisse zugeschnitten ist. Der Spar-Markt ist rund um die Uhr geöffnet.

 

18. Februar (Sonntag)

Nach einem spartanischen Frühstück in einem Frühstücksraum mit dem Charme einer Fabrikhalle geht es zum Tower und zur Tower Bridge Experience. Vorher aber wird noch ein touristisches Bedürfnis gedeckt, das Vorrang vor allen kulturellen Erfahrungen hat. Glücklicherweise geling das, weil geballte Reiseerfahrung mir zielsicher den Weg zu den Toilettenanlagen auf dem Platz vor dem Tower weist. Das ist doppelt erfreulich, denn es ist dringend und die Toiletten sind groß, sauber und gratis und verfügen über warmes Wasser, Seife und Handtücher.

 

Als die Tower Bridge geplant wurde, gab es alle möglichen Bedenken gegen ihren Bau: Die Tay Bridge war gerade zusammengebrochen, der Bau der Brücke würde das Ende des East London Pool bedeuten, die Konstruktion sollte angeblich zu schwierig sein. Es wurden Dutzende von Entwürfen diskutiert und wieder verworfen. Darunter befand sich auch ein ‚flache’ Brücke, die sich seitlich öffnete. Die Tower Bridge ist die östlichste der Brücken des Zentrums und musste den Schiffsverkehr in den damals noch westlich von ihr gelegenen Hafen gewährleisten.

 

Für den Bau wurden Granit aus Cornwall und Stahl aus Schottland und zwei Millionen Nieten verwendet.

 

Obwohl sie heute nach Verlegung des Hafens viel weniger genutzt wird, passieren noch immer ca.1000 Schiffe pro Jahr die Brücke. Die Durchfahrt ist gratis, aber man muss 24 Stunden vorher Bescheid geben, um die Maschinerie zum Hochfahren der Brückenteile vorzubereiten. Die kurzen Enden verschwinden dabei in einer Versenkung. Der ganze Vorgang dauert dann gerade einmal eine Minute.

 

Mehrere Flugzeuge haben es bereits geschafft, durch die Brücke zu fliegen. Im Krieg prallte eine Bombe an der Brücke ab. Und später gab es einen nie ausgeführten Plan, die Brücke in eine Glasschale zu kleiden.

 

Man kann in beiden Richtungen auf dem oberen Stockwerk über die Brücke gehen, aber die Sicht auf die graue, menschenleere City mit ihrem architektonischen Sammelsurium ist eher trist, ebenso wie der Blick auf die graue Themse, trotz der vielen Brücken.

 

Der obere Durchgang war für die Fußgänger gedacht, die an die Brücke kamen, als sie gerade hochgeklappt wurde. Dieser Durchgang wurde später geschlossen, weil die Leute lieber das Spektakel der sich öffnenden Brücke ansahen und warteten, bis sie wieder normal passierbar war.

 

Im Maschinenraum gibt es alle möglichen technischen Erklärungen, die sich aber meinem Verständnis entziehen, und im Souvenirshop gibt es den typischen Kitsch. Und es gibt ein T-Shirt von Bart Simpson: „English? I never go to England. Who needs it?“

 

Anschließend gibt es einen Kaffee im Starbucks zu Füßen der Brücke. Dabei blättern wir durch die Broschüre der organisierten Stadtführungen. Senioren werden dort als superadults bezeichnet.

 

Im Museum of London, das in dem seelenlosen Komplex des Barbican untergebracht ist, befindet man sich im Umbau, und es gibt weder Broschüren zur jetzigen Ausstellung noch zuverlässige Informationen über die zukünftige Gestaltung.

 

Auf einem modernen Stadtplan sind die Grenzen der römischen Stadt eingezeichnet. Sie erstreckte sich nördlich der Themse von der heutigen Tower Bridge bis zur Blackfriars Bridge.

 

Die Themse war zur römischen Zeit noch stärker den Gezeiten unterworfen und war bei Flut 300 Meter breit. Heute ist sie nur noch 100 Meter breit. Außerdem stieg der Wasserpegel um bis zu anderthalb Metern.

 

Das angelsächsische London, Lundenwic, erstreckte sich westlich der römischen Stadt. Christliche Kirchen wie St. Pauls entstanden dagegen innerhalb der City. Das Ufer der Themse verlief entlang des heutigen Strand.

 

Nach dem Sieg über die Dänen wurde die Stadt unter Alfred als Lundenburg wieder gegründet, und die Stadtmauern wurden wiederaufgebaut.

 

Die Pest von 1347 forderte 40.000 Tote. Bis heute ist nicht geklärt, ob die Pest durch einen Virus oder durch Flöhe übertragen wurde.

 

Cheapside war das Zentrum der Goldschmiede. Ein italienischer Reisender berichtet voller Staunen über die unermesslichen Schätze, die dort gefertigt wurden. 1912 stieß ein Arbeiter mit einer Spitzhacke auf die Reste einer Kiste, die 230, teilweise hier ausgestellte Schmuckstücke enthielt, von der Haarnadel bis zum Salzstreuer.

 

Durch die engen Bögen der alten London Bridge wurde der Wasserfluss gebrochen, und die Themse vereiste häufig. Besonders in Erinnerung blieb das Jahr 1683, als auf der Themse ein Frost Fair stattfand. Auf Abbildungen sieht man Karossen, Buden, Unterhalter und organisierte Ballspiele.

 

Pepys, der ein persönlicher Beobachter des Großen Feuers war, war auch von dem durch das Feuer und die zusammenstürzenden Häuser verursachten Krach beeindruckt. Das Feuer dauerte fünf Tage, und eine Woche später war der Boden noch so heiß, dass man ihn nicht betreten konnte.

 

Nach dem Feuer gab es neue Regelungen für den Häuserbau. Es durfte nur noch Stein oder Ziegelstein, kein Holz verwendet werden, und die Häuser hatten genormte Geschosshöhen: 4 Geschosse in den Hauptstraßen, 3 in den Nebenstraßen, 2 in den Gassen. Hervorragende Fenster und Erker wurden verboten. Das erste Gebäude, bei denen die damals verfassten Vorschriften nicht beachtet werden musste, ist das neue Globe Theatre mit seinem Strohdach.

 

Im Zentrum des Museums im Untergeschoss steht die Karosse des Bürgermeisters von 1757, die ganz unbürgerlich aussieht und einem Monarchen gut zu Gesicht stehen würde. Seit 1215 hatten die Londoner das Recht, den Bürgermeister zu wählen. Der wiederum musste seinen Antritt beim Hof in Westminster machen. Seit dem 18. Jahrhundert machte er die Fahrt in der Kutsche.

 

Daneben eine rekonstruierte Viktorianische Ladenpassage, mit Frisör, Bank, Kneipe, Tabakladen, Bäckerei und Kaffeegeschäft.  Hier seiht man Messing-Reklame, heiße sterilisierte Handtücher beim Frisör und ein Briefkasten mit der Aufschrift VR und sechsmaliger Leerung pro Tag!

 

Im Barbican geht es einer gelben Linie entlang, die zur U-Bahn-Station zu führen scheint, tatsächlich aber wohl eher den Verlauf der römischen Stadtmauer markiert, dann aber wirklich zur U-Bahn führt. Dort das Plakat: „We’re here to make advertisement better, not to make better advertisement“.

 

Bei Charing Cross sehen wir eins der zwölf Kreuze, die Edward I errichten ließ zur Erinnerung an den Leichenzug seiner Ehefrau von Lincoln nach London.

 

Bei einem Kaffee lesen wir irgendwo, dass die Bobbies früher Peelers hießen, dass in 6 Jahren (1811-1817) 14 Themsebrücken entstanden, davor aber in 500 Jahren nur eine (Westminster Bridge), und dass London bei der ersten Volkszählung 1801 mehr als eine Million Einwohner hatte und damit die erste Millionenstadt der Welt war.

 

Am Abend eine Führung auf den Spuren Harry Potters, mit einer noch größeren Gruppe als zu erwarten war, und natürlich mit vielen Kindern. Als wir in der Halle warten, werden wir von einer Amerikanerin angesprochen, die fragt: „Are you also waiding for Harry Pudder?

 

J.K. Rowlings ließ sich von der Euston Station zu der berühmten Bahnsteig-Szene inspirieren, denn dort hatten ihre Eltern sich kennen gelernt. Gedreht wurde aber in King’s Cross, dessen Bahnsteige viel geeigneter sind als die der modernisierten der Euston Station, wie wir am folgenden Tag feststellen können. Bei King’s Cross hat man dem Bahnsteig 93/4 ein Monument gesetzt in Form einer Inschrift an einer Begrenzungsmauer, an der ein Gepäckwagen festgemacht ist – ein Photomotiv, das sich kein Harry-Potter-Fan entgehen lässt und dabei andere mitreist, die nicht zu den Eingeweihten gehören.

 

Da es eigentlich nicht genug lokale Stätten gibt, die mit Harry Potter in Verbindung gebracht werden können, schließt die Führung auch Dracula, Frankenstein und vor allem Dr. Jekyll and Mr. Hyde ein. Letzteres entstand zur Zeit von Jack the Ripper und lieferte eine psychologisch glaubwürdige Erklärung für das scheinbare Paradox, dass so ein Untier nachts sein Unwesen treiben konnte, ohne tagsüber aufzufallen.

 

Wir kommen an der Australischen Botschaft vorbei, in der einige bekannte Szenen von Harry Potter gedreht worden sind, wir sehen eine Telephonzelle, die das Vorbild einer Telephonzelle in Harry Potter ist und sehen in der Nähe des Leicester Square die Straße, die das Vorbild für Diagonal Alley gewesen ist, obwohl sie nicht diagonal ist und wir vorher durch eine Gasse gekommen sind, die viel eher wie das Vorbild von Diagonal Alley aussieht. Allerdings hat die Straße, die nicht wie das Vorbild von Diagonal Alley aussieht, Dutzende alter Geschäfte, in denen man sich vorstellen kann, Zauberstäbe und andere magische Paraphernalia bekommen zu können. Das streng gehütete Geheimnis der magischen Telephonnummer wird verraten: 62442 – denn das ergibt magic. Wir erfahren auch, dass Weasley ein Dorf in der Nähe von Bristol, der Heimat J.K Rowlings ist, dass es dort eine Familie namens Malpoy und einen Queer Ditch Marsh gab, dass Hedwig eine Heilige ist, die Waisenkinder unterrichtete, dass errol ein altes Wort für ‚Wanderer’ ist, und dass Harry Potter Anleihen bei klassischen Motiven der Weltliteratur macht und z.B. das Motiv der griechischen Mythologie in veränderter Form wieder aufnimmt, nach dem Orpheus in den Hades hinabsteigen muss und die Höllenhunde nur durch Musik überwinden kann.

 

Am Abend gibt es Bier und Chicken Kiew, immer eine gute Lösung bei britischem Pub Food, in einem Lokal in Bayswater.

 

19. Februar (Montag)

Am Morgen geht es auf Umwegen zu Harrod’s, auf Umwegen deshalb, weil die U-Bahn wegen einer Suchaktion geschlossen ist. Auf diese Art und Weise kommt man in den Genuss des Busfahrens. Nach einer langen Strecke mit zwei Linien, auf der ich meine Unkenntnis von London unter Beweis stelle, indem ich Harrod’s schon zweimal entdecke, wo es gar nicht ist, steigen wir an einem der überdimensionalen Museen von Kensington aus und befinden uns vor Harrods. Dort stehen livrierte Diener am Eingang, die die Kleidung der Besucher kontrollieren. Allzu strenge Maßstäbe werden allerdings nicht angelegt, und auch ich komme anstandslos rein.

 

Bei Harrod’s gibt es über alle Abteilungen verteilt eine Ausstellung von Gitarren bekannte Rockmusiker, darunter welche von Dave Davis, Brian Jones, Jimi Hendrix. Die Gitarren sind einzeln hinter Glas aufgehängt und werden wie Kunstwerke angeboten – und wohl auch verkauft. Irgendwo hängt dieses Plakat: „I always thought the good thing about the guitar was that they didn’t play it in school.” (Jimmy Page)

 

Außerdem gibt es Kühlschränke und Geschirrspüler aus Edelstahl, die nicht wie Küchengeräte aussehen, sondern so, als entstammten sie einem Militärmuseum.

 

Die berühmte Nahrungsmittelabteilung ist immer noch beeindruckend, aber nicht mehr so ungewöhnlich wie früher. Die ganz normalen Warenhäuser haben inzwischen den Abstand verkürzt. Schön, dass es neben den Delikatessen auch ganz normale Dinge wie Milch in Tüten gibt: „Ich geh mal eben zu Harrods Milch holen“.

 

Als „krönenden“ Abschluss gibt es eine altarähnliche, an Kitsch nicht zu übertreffende und deshalb viel photographierte Gedenkstätte für Diana und Dodi, eingerahmt von Kunstgegenständen aus dem alten Ägypten. Wenn einem Harrod’s gehört, kann man sich die eine oder andere Kleinigkeit eben leisten.

 

Auf dem Weg zu den Bahnhöfen, die wir wegen Harry Potter aufsuchen, kommen wir an der British Library vorbei. Der Bau ist ganz aus roten Ziegeln, und vom Innenhof her sieht man auf den ganz und gar nicht profan aussehenden Bau des Bahnhofs von St. Pancras, ebenfalls aus roten Ziegeln. In der Eingangshalle die wunderbare Skulptur Sitting on History von Billy Woodrow (1995), eine Bank in Form eines waagerecht liegenden, leicht aufgeblätterten Buches, und die Skulptur Page 1 von Penelope Joe Tilson (1969), ein an der Wand hängendes Holzrelief, in dessen quadratischen Sektoren das Wort Yes 169 mal wiederholt wird. Ob das was mit der Jahreszahl zu tun hat?

 

In der U-Bahn eine Reklame, die dazu einlädt, ein Hotelzimmer zu kaufen. Man kann es 52 Nächte pro Jahr selbst benutzen, den Rest der Zeit vermietet man es quasi an das Hotel: „Earn money while others sleep“.

 

An der nächsten Station schließen die Türen nicht. Wir müssen den Zug verlassen und in einen anderen umsteigen, werden aber belohnt mit dem verbalen Ausbruch eines Passagiers, den man für Studienzwecke hätte aufnehmen müssen: „Oh, God Almighty“ mit Londoner Aussprache mit zwei glottal stops.

 

Vor unserem nächsten Termin haben wir noch Zeit für einen Kaffee in Covent Garden. Die Hallen sind jetzt nicht so überfüllt wie im Sommer und bieten eine schöne Atmosphäre: Wir sehen auf die St. Paul’s Church, und zwar auf deren Hintereingang, der aber wie die  Fassade aussieht, und von unten erreichen uns die Klänge von Opernarien, die hier von einer offensichtlich professionellen Sängerin mit mächtiger Stimme vorgetragen werden.

 

Am Nachmittag eine geführte Besichtigung der Inns of Court, bei der sich als Nebeneffekt ergibt, dass ich endlich die Templerkirche zu sehen bekomme, die sonst immer zuverlässig verschlossen ist.

 

Wir beginnen in Lincoln’s Inn Fields, einem lang gezogenen rechteckigen Platz auf den ehemaligen Ländereien des Earl of Lincoln. Der Rest des Namens erklärt sich daher, dass hier die Pferde weideten, mit denen Reisende die Gasthöfe erreicht hatten.

 

Auf dem Zentrum des Platzes fanden früher Hinrichtungen statt, und zwar Hinrichtungen von Menschen der feineren Gesellschaft, wohingegen das niedrige Volk in Tyburn hingerichtet wurde. Dort wurde gehenkt, hier kam man in einen dreifachen Genuss der Methode hung, drawn and quartered. Zu den Promis, die hier auf diese Weise ins Jenseits befördert wurden, gehörte Babington, einer der Hauptbeteiligten an der Verschwörung von Maria Stuart gegen Elisabeth.

 

In einem der Häuser des Platzes ist das Museum, eher ein Kuriositätenkabinett, des eigenwilligen John Soane untergebracht, in einem haben die Anwälte der Königin ihre Kanzlei.

 

Die Inns of Court, die einzigen Ausbildungsstätten für barristers, werden konventionell in dieser Reihenfolge genannt: Lincoln’s Inn, Inner Temple, Middle Temple, Grey’s Inn. Jeder englische barrister muss einem der Inns of Court angehören.

 

Obwohl die Unterscheidung zwischen barrister und solicitor im Begriff ist, aufgeweicht zu werden, hat sie im Grunde Bestand: Der barrister, und nur der barrister, vertritt den Mandanten vor Gericht. Da alle barrister in London saßen oder zumindest hier ausgebildet wurden, war es nahe liegend, eine andere Instanz als Ansprechpartner für Mandanten in ganz England zu haben, den solicitor. Um barrister zu werden, braucht man nicht unbedingt ein Jurastudium. In jedem Fall aber braucht man ein gutes Abschlussexamen.

 

Der Rundgang beginnt in Lincoln’s Inn, einem großzügigen Areal mit dunklen Ziegelhäusern, das Leute, die es kennen, an Harvard erinnert. Streng genommen ist es wohl er umgekehrt: Harvard erinnert an Lincoln’s Inn. Hier blühen bereits die Kamelien.

 

In den Inns wurden die barrister ausgebildet, hier wohnten sie aber auch. Ein wichtiger Bestandteil der Inns ist deshalb die Dining Hall, und eine bestimmte Anzahl attestierter Abendessen ist weiterhin verbindlicher Teil der Ausbildung. Lincoln’s Inn hat gleich zwei Dining Halls, die ursprüngliche (XIV) und eine, nach der partiellen Zerstörung der ersten gebaute neue Dining Hall (XIX) in neugotischem Stil, mit historisierenden Türmchen, Kaminen, Glocken.

 

Die Kapelle steht – ungewöhnlich – auf einem gewölbten Unterbau. Bei ihrem Bau soll Ben Jonson mitgearbeitet haben, mit der Kelle in der einen und dem Buch in der anderen Hand. Dabei kann, wie der unser Führer sarkastisch kommentiert, weder bei der einen noch bei der anderen Sache viel herausgekommen sein. Dann folgt die berühmte Episode, derzufolge Ben Jonson gesagt hatte, er könne es sich nicht leisten, in Westminster Abbey begraben zu werden, woraufhin er, um Platz zu sparen, stehend begraben wurde. In der Kirche soll als erster John Donne gepredigt. Er hat sich mit zwei Versen in das kollektive Gedächtnis der Nation eingeschrieben: „Never ask for whom the bell tolls, it tolls for you“ und „No man is an island, entire for itself“.

 

In Haus Nr. 22 sehen wir den Eingang zu chambers, d.h. zu den Büros der barristers. Auf einem Holzbord am Eingang sind die zahlreichen Namen der hier ansässigen barristers verzeichnet, mit einer Vielzahl unterschiedlicher Titel: Sir, seinem Pendant Dame (wie Dame Elton John, wie der Führer klärend hinzufügt), Mr., Mrs., Ms. (meistens verheiratete Frauen, die unter ihrem Mädchennamen fingieren) und das neutrale Mz.

 

Nach Verlassen der Inns bleiben wir vor einem traditionellen Geschäft stehen, Ede & Ravenscroft von 1689. Hier werden Perücken verkauft. Die modernen Perücken sind aus Pferdehaar, aber die traditionellen waren aus Menschenhaar. Die Perücke bezog ihren Sinn aus der Herstellung einer gewissen Anonymität und auch Gleichheit, aber vergrößert auch, unserem Führer zufolge, die Distanz zwischen Angeklagtem und Richter. Angeklagte, die sonst schon kaum in der Lage seien, sich zu artikulieren, verlören den Rest ihres Selbstbewusstseins angesichts der Perücken. Außerdem juckten sie schrecklich. Männer, aber nur Männer, müssen außerdem vor Gericht einen den Juckreiz noch intensivierenden gestärkten Kragen tragen. Die heutigen Perücken sind kurz, mit einem kleinen Pferdeschwanz und zwei Zöpfen. Die langen Perücken werden nur zu zeremoniellen Anlässen, von den höchsten Würdenträgern getragen und sind verantwortlich für den Ausdruck big wig.

 

Dann geht es noch am High Court of Justice vorbei, der noch über Old Bailey’s steht. Prominente Verfahren, die hier stattfanden, sind das Verfahren um den Irakkrieg, bei dem zum ersten Mal ein amtierender Premierminister, Blair, vor Gericht aussagte, das Verfahren um die Todesfahrt von Diana und Dodi und das Verfahren um Catharine Zeta Jones und ihren Ehemann, bei es um unerlaubte Hochzeitsphotos ging. Die Straße des Gerichts mündet in Carey Street, verantwortlich für eine weitere Redewendung: end up in Carey Street, ‚bankrott gehen’, denn das war manchmal der Fall, wenn man das Gerichtsgebäude verließ.

 

Wir gelangen dann zum Temple Court, der sich in Inner Temple und Middle Temple teilt. Es gibt oder gab ursprünglich auch einen Outer Temple, aber der hatte nichts mit der Jurisdiktion zu tun.

 

Die Temple Church ist ein Rundbau (XII) mit einem später angefügten, länglichen Schiff. Zur Einweihung der Kirche fand sich der Patriarch selbst ein. Der Kreis kommt als Form in der Kirche immer wieder vor. Die symbolische Idee soll gewesen sein, dass der Teufel sich in einem Kreis nicht verstecken kann. In der nach dem Modell des Tempels Salomons und der Grabeskirche in Jerusalem gebauten Rundkirche, die man nur von der Absperrung aus sehen kann, sind in den Boden Skulpturen von Tempelrittern mit Kettenhemden und Schwertern eingelassen. Es sind aber nicht deren Grabstätten.

 

Dan Brown lässt eine Szene seines Romans in der Krypta der Templerkirche spielen. Die Templerkirche hat aber keine Krypta. Bei den Diskussionen über das Werk wird, wie unser Führer viel sagend bemerkt, oft vergessen, dass es sich um einen Roman handelt.

 

Die Templerkirche hatte Glück, als das Große Feuer kurz vor ihr zum Stehen kam, wurde aber im Krieg schwer beschädigt und dann wieder aufgebaut. Als wir unserem Führer andächtig lauschen, hat sich inzwischen eine ganze Menge anderer Besucher in vorsichtiger Distanz unter die Zuhörer gemischt, darunter die Aufpasserin, die den Vortrag so interessant fand, dass sie kurzerhand die Kirche schloss, um mithören zu können.

 

In den beiden kam voneinander getrennten Innenhöfen der beiden Inns steht auf der einen Seite, in Inner Temple, eine kleine Skulptur auf einer hohen Säule, die einen Ritter zeigt, der einen anderen Ritter trägt, Symbol der Solidarität unter den Rittern. Allerdings darf auch der zweite Symbolwert der Skulptur nicht außer Acht gelassen werden: Das Pferd richtet dem Middle Temple seinen Hinterteil zu!

 

Im Middle Temple beeindruckt besonders die schöne, lang gestreckte Hall, in der vermutlich die Uraufführung von Twelfth Night stattfand. Sie soll eine besonders schöne Balkendecke haben und einen lang gezogenen Tisch, gefertigt aus dem Holz eines Baumes, den Elisabeth I dem Middle Temple vermachte, der aber unglücklicherweise in Windsor stand. Die pragmatischen Verantwortlichen des Middle Temple waren der Meinung, von einem so weit entfernt gelegenen Baum habe man nichts, auch wenn es sich um ein königliches Geschenk handele.

 

Im Innenhof des Middle Temple gibt es Maulbeerbäume, die bereits auf Geheiß von James I hier angepflanzt wurden. Sie sollten eine eigene englische Seidenproduktion in den Gang bringen. Dabei wurde jedoch ein folgenreicher Fehler gemacht. Es gibt zwei Arten von Maulbeerbäumen, rot blühende und weiß blühende, aber nur die Blätter des weiß blühenden Maulbeerbaums werden von den Seidenraupen, deren Kokons die Fäden für die Naturseide liefern, als Nahrung angenommen. James ließ rot blühende Maulmeerbäume anpflanzen.

 

Dann spazieren wir noch über die (für mich) noch neue Millennium Bridge, eine leichte, leicht geschwungene Brücke aus blitzendem Edelstahl, die, nach langen Anlaufschwierigkeiten, jetzt stabil ist und sich und ihre Passanten nicht mehr ins Wanken geraten lässt. Sie führt direkt von St. Peter’s Hill vor St. Paul’s Cathedral auf die andere Themseseite und auf die neue Tate zu. Daneben liegt das neu errichtete Globe Theatre mit einem viel photographierten Eintrittstor aus Gusseisen, auf dem alle in Shakespeares Werken erwähnten Tiere dargestellt sind. Die Millennium Bridge ist die erste seit der Tower Bridge errichtete neue Brücke und die einzige reine Fußgängerbrücke.

 

Am Ende des Tages und am Ende dieses Kurzbesuchs in London erwarten mich noch der Verlust meines Portemonnaies in Stansted und Nebel und rücksichtslose Busfahrer im Hunsrück.

 

 

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