Liverpool (2006)

5. April (Mittwoch)

Auf der freien Fläche des Luxemburger Flughafens ist es um diese Jahreszeit am frühen Morgen noch winterlich kalt: 1°!

 

Innerhalb von fünf Minuten gibt es zwei Flüge nach London City Airport. Zwei Fluglinien, die sich Konkurrenz machen?

 

Im Flugzeug gibt es neben einem Sandwich einen wunderbaren kleinen Obstsalat aus Weintrauben und Apfelsinen-, Kiwi- und Ananasscheiben.

 

Der City Airport ist jetzt an die U-Bahn angeschlossen. Am Fahrkartenautomaten stehen freundliche Helfer, die einem den Preis nennen  und das Rädchen in die richtige Position bringen. Man fragt sich fast, warum es dann nicht gleich einen Schalter gibt.

 

Von der hypermodernen London Dockland Railway geht es in die vorsintflutliche Northern Line. Auf dem Bahnsteig ist es so voll, dass man fürchtet, von der nachrückenden Menge auf die Gleise gedrückt zu werden.

 

In der Bahnhofshalle in Euston steht ein Pulk von Menschen, die alle in die gleiche Richtung starren. Sie sehen auf die Anzeigetafeln, auf denen die Gleise bekannt gegeben werden, von denen die Züge abfahren. Plötzlich stürmen dann alle los.

 

Irgendwo verabschiedet sich eine Frau, und es klingt wie “Have a noice die”. Sie selbst würde vermutlich, zu Recht, bestreiten, das so gesagt zu haben, denn sie macht sicher einen Unterschied zwischen day und die, aber einen anderen Unterschied als den von uns gewohnten.

 

Solange das Gleis noch nicht erscheint, ist noch Zeit für einen Kaffee. Das Kaffeegeschäft wird hier ausschließlich von Ketten betrieben, die nach der Art der Hamburgerketten organisiert sind. Alles wird doppelt und dreifach verpackt und kommt ungefragt in eine Tüte. Es ist auch nicht ganz billig. Eine dieser Ketten heißt Upper Crust, und angesichts des Photomotivs merke ich, dass ich den Photoapparat zu Hause gelassen habe.

 

Die britischen Züge, besser als ihr Ruf, wirken niedriger als die deutschen durch die länglichen, niedrigen Fenster, die auch einen anderen Ausschnitt aus der „Wirklichkeit“ bieten.

 

Die Ansagen werden routiniert heruntergeleiert, von einem Zugführer mit starkem indischen Akzent. Wir halten in verschiedenen Städten, die mir etwa sagen, ohne dass ich in einer einzigen jemals gewesen wäre: Milton Keynes, die am Reißbrett entstandene Kunststadt, Nuneaton, George Eliots Heimatstadt, und Crewe, bekannt durch den Namen des lokalen Fußballsklubs, Crewe Alexandra.

 

Im Zug gibt es eine Quiet Zone, in der ich auch rein zufällig lande. Eine gute Idee, auch wenn sich nicht alle immer daran halten, besonders an das Verbot zu telephonieren.

 

Unterwegs habe ich Zeit, über eine Fernsehsendung über Krabben auf Kuba nachzudenken. Die Krabben leben im Wald, müssen aber zur Laichzeit weiterhin ihre ursprüngliche Heimat, das Meer, aufsuchen. Wenn es so weit ist, laufen sie alle gemeinsam los, wie an einem Band gezogen, und durchqueren die auf dem Weg liegenden Dörfer wie eine Invasionsarmee und bedecken jeden Quadratmeter. Kurz vor dem Meer müssen sie eine Straße überqueren, und auf dem Rückweg noch mal. Das ist gefährlich, denn sie sind so dichtgedrängt, dass kein Auto ausweichen kann, selbst wenn der Fahrer es versuchen sollte. Dabei gibt es erhebliche Verluste, aber da es so viele gibt, so die kühle Kalkulation der Evolution, bleiben immer noch die meisten am Leben. Die toten Krabben sind ein gefundenes Fressen für die überlebenden, und die kehren dann oft zurück, um sich die Mahlzeit nicht entgehen zu lassen – und werden dann selbst überfahren. Die zweite Paradoxie: Die Krabben flüchten angesichts der herannahenden Autos in den vermeintlich sicheren Schatten – unter die Räder. Es sieht so aus, als legten sie es geradezu darauf an, überfahren zu werden. Wer sein Ziel erreicht, stirbt, wer sein Ziel nicht erreicht, überlebt!

 

Die Entscheidung, an welchem der beiden Bahnhöfen ich aussteigen soll, wird mir abgenommen, denn der Zug hält nur in Liverpool Lime Street Station, eine Sackbahnhof mit einer riesigen Halle unter Glas.

 

Es ist sonnig, und der Taxifahrer fühlt sich sogar bemüßigt, eine Sonnenbrille zu tragen. Es geht, umständlich wie immer in englischen Taxis, zum Feathers Hotel auf Mount Pleasant, und als ich den niedrigen Preis sehe, 2.80, merke ich, dass ich das auch zu Fuß hätte erledigen können, und dem Taxifahrer damit wohl auch einen Gefallen getan hätte.

 

Die Frau an der Rezeption sieht aus wie die heimische Friseuse, spricht aber mit breitestem Liverpooler Akzent. Das Zimmer ist noch nicht frei, dafür ist das Geld sofort fällig.

 

Jetzt ist es gerade einmal 12 Uhr, und ich bin schon am Ziel. Zu Fuß geht es in die Innenstadt, am Fanshop von FC Everton vorbei und dann am Fanshop des FC Liverpool. Das Motto von Everton ist Nil satis nisi optimum, und man kann T-Shirts kaufen, die den Aufdruck haben: „Red’s a swear word”.

 

In der gar nicht so leicht zu findenden Touristeninformation – man ist gerade nach der Kür zur europäischen Kulturhauptstadt 2008 umgezogen – bekomme ich eine Karte für die Magical Mystery Tour, habe aber noch Zeit, zu den Docks hinunter zu gehen und dort den Bus zu besteigen. Wie in so vielen anderen englischen Städten ist das Hafenviertel, nachdem der Hafen von den großen modernen Containerschiffe nicht mehr angelaufen werden kann, restauriert und in ein Vergnügungs- und Informationsviertel verwandelt worden..

 

Am Albert Dock ist das sehr gelungen, allerdings auch einseitig touristisch. In den alten Lagerhäusern, auf roten Säulen und aus braunen Ziegelsteinen, um ein rechteckiges, geschütztes Wasserbecken gruppiert, sind unter den auf roten Säulen ruhenden Arkaden Souvenirgeschäfte und alle möglichen Lokale untergebracht. In einem von ihnen bekomme ich eine heiße Suppe, die angesichts der Kälte – die Sonne ist etwas trügerisch – willkommen ist, aber so heiß, dass ich mir die Zunge verbrenne. Wenn ich Amerikaner wäre, würde ich eine Klage anstrengen. Wie immer in England, fließt der Tee aus der Messingkanne nut teilweise in die Tasse.

 

Auf der einen Seite des Hafenbeckens befindet sich eine riesige Baustelle, auf der ich mich verlaufe. Hier putzt sich Liverpool für 2008 heraus. Davor fließt der breite, träge Mersey vorbei. Auf der anderen Seite befinden sich verschiedene Museen, für die leider keine Zeit ist, das Maritime Museum, in dem auch ausführlich über den Sklavenhandel und das Atlantische Dreieck informiert wird, die Beatles Story und die Tate Gallery. Tate war, was ich nicht wusste, Liverpooler, genauso wie Gladstone, der Premierminister, Willy Russell, der Dramatiker, Alfred Lewis Jones, der entdeckte, dass die Malaria von Moskitobissen ausgelöst wurde (und nebenbei Bananen in England heimisch machte und persönlich auf der Straße anpries), Kitty Wilkinson, eine Art Florence Nightingale Kleinformat (ohne den Reichtum und die vornehme Abstammung),  der Parlamentsabgeordnete William Huskisson, der in die Geschichte als erster Toter eines Eisenbahnunglücks einging, ein gewisser W. Mackenzie, ein passionierter Spieler, der sich unter einer Pyramide begraben ließ, am Spieltisch sitzend und die entscheidende Karte in der Hand haltend, und ein gewisser Colonel Broadneux (XVII), der mit 83 ernsthaft krank wurde und sich einen Sarg zimmern ließ, den er, nachdem er überraschend wieder genesen war, so bequem fand, dass er ihn als bett benutzte – bis zu seinem Tod mit 109!

 

Eine Frau im hiesigen Touristenzentrum weiß nicht genau, wo er Bus abfährt, entschädigt mich aber dadurch, dass sie in allerbester Liverpooler Manier am End sagt: „It’s alrights“. Ich kannte diese Besonderheit des lokalen Akzents, des Scouse, hatte es aber noch nie in freier Wildbahn gehört.

 

Ich warte an der von ihr benannten Stelle und verpasse dadurch fast den Bus,  der ca. 200 Meter abseits steht und mich als letzten Gast mit heraushängender Zunge aufnimmt, um genau 14.30.

 

Der Bus ist ein gemäßigter Oldtimer, wahrscheinlich aus der Zeit der Blüte der Beatles, und ist mit Motiven des Plattencovers von Magical Mystery Tour bemalt. Das Publikum ist international, von australisch bis norwegisch.

 

Der Busfahrer hatte einen kurzen Auftritt in einem Beatlesfilm – als Busfahrer – und der Führer hat Paul McCartney persönlich kennen gelernt, allerdings zu einer Zeit, als dieser schon kein Beatle mehr war. Über die Begegnung erzählt er, wie über alles andere, mit Witz und Ironie, wobei seine liebste Zielscheibe der Busfahrer ist, Lesley. Die Beatles hätten Ringo nicht in die Band aufgenommen, weil der weltbeste Schlagzeuger gewesen wäre – Ringo sei nicht einmal der beste Schlagzeuger der Beatles gewesen – sondern weil er so gut mit Frauen umgehen konnte. Und aus demselben Grunde mache er seine Führungen mit Lesley, dem Busfahrer: „He’s a ladies’ man”.

 

Es geht vorbei an der Anglikanischen Kathedrale, von dessen Chorleiter Paul McCartney zurückgewiesen wurde, weil seine stimme nicht gut genug war. Als McCartney ihn Jahre später darauf ansprach, sah der Chorleiter keinen Grund, etwas zurückzunehmen: Ohne meine Zurückweisung wärst du kein Beatle geworden. Deinen Ruhm verdankst du mir.

 

Es geht vorbei an Elternhäusern, Schulen, Kneipen, Krankenhäusern und allen möglichen stinknormalen Gebäuden, die ihre Weihe ausschließlich ihrem Bezug zu der Biographie einer der Beatles verdanken. Und es geht über Penny Lane und vorbei an Strawberry Fields. Penny Lane wurde zum Titel eines Liedes, weil hier gemeinsam auf den Schulbus gewartet wurde, meist in der Hoffnung, der Fahrer würde ein gewisser Harrison sein, Georges Vater. Dann gab es die Fahrt oft gratis. Im Lied hat man sich etwas künstlerische Freiheit erlaubt, denn der Barbier und die Feuerwehr liegen im realen Vorbild etwas oberhalb von Penny Lane.

 

Auf Strawberry Fields lag ein Kinderheim der Heilsarmee. Die Band der Heilsarmee spielte an jedem Geburtstag für eines der Waisenkinder. Die Klänge eines Geburtstagständchen sollen den vierjährigen John Lennon in seinem nahegelegenen Elternhaus zu dem Berufswunsch Musiker inspiriert haben.

 

Es geht auch an Stationen vorbei, zu denen die bereits berühmten Beatles einen Bezug haben, einen Glaspavillon, indem der Botanische Garten untergebracht ist und der mit einer anonymen Spende von George Harrison wiederaufgebaut wurde,  die den jahrelang tatenlosen City Council endlich aus seiner Passivität erweckte, und die LIPA, die Liverpooler Kunstschule, die druch die Hilfe von John Lennon und Paul McCartney wiedereröffnet wurde und an der John Lennon früher jedes Jahr durch die Prüfung fiel, aber „with honours“, wie er es selbst sah.

 

Es geht auch durch das bessere Viertel, in dem Brian Epstein wohnte, der auf die Beatles aufmerksam wurde, als jemand in seinem Plattenladen, der garantierte, jede nicht vorhandene Platte zu besorgen, nach „My Bonnie“ fragte, die Beatles im berühmten Cavern hörte und deren Management übernahm, von Allan Williams, der froh war, sie loszuwerden und später ein Buch über den größten Irrtum in der Geschichte der Popmusik schrieb: The Man Who dropped the Beatles. Das  Auseinanderbrechen der Beatles begann mit Epsteins Tod, als die Beatles begannen, sich auch um die Geschäfte zu kümmern, Fehler machten und sich zerstritten.

 

Neben den Sehenswürdigkeiten gibt es Quizfragen zu den Beatles und jede Menge Anekdoten:

–          Die Glocken der neugebauten Katholischen Kathedrale sollten John, Paul George und Ringo genannt werden, aber die Kirche lehnte ab mit dem Argument, es gäbe keinen Hl. Ringo

–          Der erste Auftritt der Vorgängerband, der Quarrymen (Johns Vater war quarryman, d.h. er arbeitete in einem Steinbruch) fand zum Anlass des 550. Jahrestages der Charter Liverpools durch den König John statt –  auf der Ladefläche eines Lastwagens

–          Auf dem Friedhof von St. Peter’s Church, in dessen Jugendzentrum sich John und Paul zum ersten Mal „offiziell“ begegneten, liegt eine Eleanor Rigby begraben –  den Beatles zufolge reiner Zufall!

–          Die einzige nicht von Lennon/McCartney komponierte Single, die die Beatles herausbrachten, ist „Something“, von George Harrison komponiert

–          Das letzt Konzert überhaupt gaben die Beatles in San Francisco

–          John weigerte sich,  zunächst Paul, später George in die Band aufzunehmen, obwohl die beiden etwas konnten, was John nicht konnte – eine Gitarre stimmen

–          Das Lied, für dessen Copyright Paul McCartney am einträglichsten ist, ist das Copyright für Happy Birthday to You – er kaufte es auf einer Auktion.

 

Zwischendurch gibt es Musik (und zwar nicht von den Rolling Stones) und Witze: Sagt die Queen zu Paul McCartney: „Ich besitze selbst einige Platten von den Beatles“. Sagt Paul McCartney: „Macht ja nichts, ich besitze selbst einige Platten von Queen“.

 

Fußball findet auch Erwähnung, und wieder bekommt der Busfahrer, offensichtlich Everton-Anhänger, sein Fett weg: „Liverpool also has two of England’s leading football teams, Liverpool and … Liverpool amateurs“.

 

Am Ende geht die Fahrt am chinesischen Viertel vorbei, dessen Eingang durch ein chinesisches Tor markiert wird, das in Shanghai hergestellt wurde und ein Geschenk Chinas an Liverpool ist, in Erinnerung an die erste chinesische Niederlassung außerhalb Asiens. Die Straßenschilder sind hier zweisprachig, oder besser gesagt, in zwei Schriften.

 

Die Endstation ist wieder am Dock, das auf Mann Island liegt, dessen Name angeblich auf den Ursprung der Insel verweist, die entstand, nachdem man Riesenmenge von Baumwolle ins Wasser geworfen hatte. Liverpool war im 19. Jahrhundert einer der wichtigsten Häfen Englands.

 

Auf dem Rückweg zum Hotel komme ich ungewollt am berühmten Cavern Club vorbei, in dem die Beatles spielten, bevor sie berühmt wurden. An der Außenwand hängt eine Goldene Schallplatte für jeden Liverpooler Musiker, der jemals eine bekommen hat. Das sind erstaunlich viele, ca. zwei Dutzend. Liverpool war wirklich mehr als die Beatles: Gerry and the Pacemakers, the Merseybeats, Cilla Black (die eigentlich White hieß und irgendwann irrtümlich so vorgestellt wurde) und viele andere, die heute in Vergessenheit geraten sind, aber damals bekannt waren.

 

Für mich wird es Zeit, das Hotelzimmer zu beziehen. Es ist klein, einfach und gemütlich und liegt passenderweise im „University Wing“ des Hotels, dem Flügel, der eigentlich, wie so oft bei englischen Hotels, im Nachbarhaus liegt, zu dem man zur Erweiterung des Hotels einen Durchbruch gemacht hat.

 

Wo in anderen Städten ein Schild den Weg zur „Kathedrale“ weist, führt der Wegweiser hier zu den „Kathedralen“, der anglikanischen und der katholischen. Beide liegen gar nicht weit voneinander entfernt und haben ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, sehen aber so unterschiedlich aus, wie es nur sein kann. Die Anglikanische Kathedrale ist ein neugotischer Bau von Scott, dem Erbauer der Houses of Parliament, der nebenbei auch der Designer der roten Telephonzellen war, die immer noch typisch englisch sind, auch wenn man sie kaum noch findet. In Anerkennung dieser Verbindung hat British Telecom der Kathedrale eine Telephonzelle vermacht, die ihren Platz in der Kathedrale gefunden hat – voll funktionsfähig. Den Zuschlag für die Kathedrale bekam Scott, als er 21 war.

 

Im Innern der Kathedrale steht ein Modell des ursprünglichen Entwurfs, an dessen Stelle dann der ausgeführte Entwurf mit einem Turm trat, der mächtig über Vierung erhebt, von außen ein beeindruckendes Bild, vor allem vom Wasser aus. Innen ist der Eindruck eher zwiespältig. Der Grundriss nimmt die Form auf, die viele englischen mittelalterlichen Kathedralen von ihren kontinentalen Gegenstücken unterscheidet. Breit und lang, aber nicht so hoch. Das Mittelschiff überwindet auch unterschiedliche Niveaus, und bei der Länge fragt man sich, welchen praktischen Nutzen so ein großer Bau überhaupt haben kann. Der Raumeindruck ist, obwohl alles neugotisch ist, eher der wie der einer der romanischen Dome im Rheinland.

 

Die Katholische Kathedrale, die Metropolitan Cathedral, ist ein moderner Rundbau in Weiß, auf einer erhöhten Stelle gelegen, mit einer Laterne, die in eine Krone ausläuft. Der Raum ist innen in sechzehn Sektionen eingeteilt, die durch Kreuzwegstationen und längliche moderne Glasfenster aus kleinen Segmenten getrennt sind und alle unterschiedlich ausgestaltet sind, mal als Kapelle, mal mit einer Nische für eine Skulptur, mal als Nebeneingang, mal als Empore. Unterder Laterne hängt ein großer, grauer Leuchter aus Stahl, der wie eine Dornenkrone aussieht. Den Inneneindruck kann man an einem sonnigen Tag wie heute am besten würdigen: das Licht bricht sich kaleidoskopartig durch die Glasfenster in verschiedenen Blautönen an den Wänden, in Dunkelrot über den Emporen und in Beigetönen in der Laterne.  Das hat was. Störend einzig die modernen Wandteppiche an den Seiten.

 

Im Vorraum gibt es eine kleine Ausstellung zur Baugeschichte. Ursprünglich gab es auch hier einen neugotischen Entwurf, von Pugin. Die Lady Chapel wurde gebaut, aber dann entschied man, dass Liverpools Katholiken andere Sorgen hatten als den Bau einer Kathedrale und stellte den Bau ein. Als das Projekt im 20. Jahrhundert wiederbelebt wurde, sah der Entwurf eine riesige Renaissancekirche nach Art des Petersdoms vor. Die Krypta wurde gebaut, aber im Verlauf der 2. Weltkriegs kam die Arbeit so gut wie zum Erliegen. Zu einem bestimmten Zeitpunkt arbeitete nur noch ein – namentlich bekannter – Maurer auf der riesigen Baustele, ein gewisser Arthur Brady. Dann erst, nach dem Krieg, gab es den modernen Entwurf. Der jetzige Bau steht auf der Krypta der Renaissancekirche und auf dem Gelände des ehemaligen Armenhauses, in dem im 19. Jahrhundert bis zu 4000 Menschen lebten, vorwiegend Katholiken. Die Idee einer Kathedrale konnte erst im 19. Jahrhundert aufkommen, nachdem der Catholic Emancipation Act (1829) den Katholiken volle Bürgerrecht einräumte und nachdem das Bistum Liverpool gegründet worden war.

 

Am Abend Gespräch und Kneipen besuch mit unserem Austauschstudenten, der von Liverpool sehr angetan ist. Tatsächlich ist die Innenstadt zwar nicht gerade ein Juwel, aber auch keine Ausgeburt von Hässlichkeit, und man tut alles, um sich mit Hinblick auf 2008 herauszuputzen, wie ich selbst an den Baustellen um das Albert Dock herum feststellen konnte.

 

Nicht so zufrieden ist er mit dem Wetter. Heute sei der schönste Tag des Jahres gewesen. Wie um ihn zu bestätigen, ist es an den nächsten beiden Tagen dann auch regnerisch.

 

Auf dem Weg zur Kneipe kommen wir über den Campus, der sich plötzlich auftut, nachdem man die blaue Eingangstür eines ganz normal aussehenden Reihenhauses durchschritten hat. Inmitten der alten Ziegelbauten steht der moderne weiße Bau der Bibliothek, die großzügige Öffnungszeiten und einen 24-Stunden Internetzugang hat.

 

In der Kneipe geht es laut und lebhaft zu, aber nicht unangenehm laut. Man kann sie eigenes Wort verstehen. An sechs Bildschirmen in allen Ecken des Lokal läuft Fußball, und erstaunlicherweise hält man hier zu Arsenal – es geht schließlich gegen Italiener. Ob das bei Manchester United auch der Fall wäre, bleibt ungeklärt.

 

Beim Bestellen bitte ich um Hilfe angesichts der verwirrenden Vielfalt der angebotenen Lagers. Da die Bedienung auch nicht weiter weiß, bitte ich um ein englisches. Gibt es nicht. Höchstens australisch, wenn man innerhalb des Empire bleiben will. Sonst nur continentals: belgisch, holländisch, französisch, deutsch.

 

Der Klassische katholische Verein ist nicht, wie ich immer dachte, Liverpool, sondern Everton. Das passt auch dazu, dass die Kirche, die der Vorgänger der Katholischen Kathedrale war, in Everton lag. Der Student sagt, die Konfessionszugehörigkeit spiele aber heute keine Rolle mehr. Ich bin da nicht ganz einverstanden, auch wenn ich nicht widerspreche. Vielleicht ist jemand heute Anhänger von Everton, weil sein Großvater es war, oder der Großvater dessen, der ihn zu Everton geführt hat, und der Großvater war vielleicht doch deshalb Anhänger von Everton, weil er Katholik war. Das brauch der heutige Anhänger gar nicht zu wissen. Dennoch spielt es eine Rolle. Das nennt man Tradition.

 

Er wohnt in Wavertree, einem Viertel voller Studentenwohnungen, in dem es auch einen Aldi und dessen englisches Pendant, Asda, gibt. Die englischen Mitbewohner bevorzugen Asda.

 

Zur Uni fährt er grundsätzlich mit dem Fahrrad . Die Busse seien unzuverlässig und überfüllt. Er erwähnt auch, dass Schlangestehen dort nicht an der Tagesordnung sei. Als ich das am nächsten Tagen gegenüber den Kollegen aus der Germanistik anspreche, bestätigen die das. Eine Randerscheinung oder die ersten Risse im System?

 

Nach Liverpool kommt man am besten mit einer Billigfluglinie, von Köln direkt nach Liverpool. Auf diese Art habe er auch sei Rad nach Liverpool geschafft.

 

Als wir gehen, ist es tatsächlich so weit: Arsenal hat sich für das Halbfinale qualifiziert.

 

6. April (Donnerstag)

Am nächsten Tag bekomme ich, trotz aller Freundlichkeit, die Mühen und Grenzen des Austauschprogramms zu spüren. Man muss sich schon selbst  einreden, dass die Mühe sich lohnt. Es geht schließlich nur um einen einzigen Austauschplatz, und selbst um den muss man kämpfen.

 

Die englischen Kollegen klagen über das Ausmaß der Bürokratie, über das Ausmaß der nichtakademischen Arbeit und über undurchschaubare und widersprüchliche Regelungen. Ganz wie zu Hause.

 

John Moores, der Namensgeber der jetzigen Universität (einer ehemaligen Fachhochschule) war keine Geistesgröße der Vergangenheit, sondern ein Geschäftsmann der Gegenwart. Er war de Gründer von Littlewoods. Seine und seines Bruders Statue habe ich irgendwo in der Innenstadt gesehen. Sein Sohn, der selbst großes Interesse an Fremdsprachen hat, war zur Einweihung eines von ihm finanzierten neuen Medienraums hier.

 

Auch an den englischen Universitäten kämpfen die kleinen Fächer ums Überleben. Die naheliegende Lösung ist hier die Zusammenlegung von Universitäten des gleichen Ortes. Jede Stadt, die was auf sich hält, hat mindestens zwei.

 

Bei einem Gespräch mit einer Frau aus der Verwaltung, die trotz vieler Jahre in London und Paris ihre Liverpooler Heimat mit keiner Silbe verheimliche kann, kommt die Rede auf das Sprachniveau, das im Eingangstest erwartet wird. Die Noten gibt es in Buchstaben. F genügt, um an Kursen außerhalb der School of Languages teilzunehmen. Ich frage, ob F die höchste Note ist, und sie sagt nein, es gebe auch G und es gehe sogar bis zu H, „up to haitch“. Ich könnte ihr stundenlang zuhören.

 

Da eine Kollegin wegen Krankheit ausfällt, habe ich eine Stunde Zeit, in einen Buchhandlung in die Innenstadt zu gehen. Ich bin wirklich verblüfft über die kurzen Wege. Dass man sich schnell entscheiden muss, ist gar nicht so schlecht, und es fällt ordentlich was ab aus der Schnittstelle von Humor und Sprache, und der obligate Krimi soll fehlt auch nicht.

 

Beim Mittagessen mit den Kollegen der Germanistik – einem Deutschen, einer Engländerin und einer Finnin – erfahre ich, dass die Anglikanische Kathedrale von einem katholischen Architekten und die katholische Kathedrale von einem anglikanischen Architekten gebaut wurde.

 

Als die Rede auf Studentenzahlen kommt, macht mich ein Kollege auf ein Problem beim Ländervergleich aufmerksam: England hat zwar einen höheren Anteil an Studenten, aber es gibt auch Berufszweige, die eine universitäre Ausbildung erfordern nicht aber in Deutschland. Außerdem gebe es viele Studenten, die mehr oder weniger lustlos und nur mangels einer Alternative studierten. Das ist bei uns zwar auch nicht ganz unbekannt, aber sich nicht die Regel.

 

Meinem Lob für die britische Eisenbahn begegnet man mit Skepsis: Die Privatisierung habe dazu geführt, dass nur noch die attraktiven strecken angeboten würden, und die Preise richteten sich nach der Nachfrage und seien an den Wochenenden horrend.

 

Das Mittagessen findet in der Kellerbar eines gleich der Universität gegenüber liegenden Theaters statt, das man durch seinen Verzehr unterstützt. Am Abend habe ich dann noch Gelegenheit, durch Bierkonsum mit einer Kollegein aus der Anglistin reichlich für die Kultur zu tun. Mit guten Gewissen, wenn auch mit etwas unsicheren Füßen schaffe ich den Weg über die Straße zum Hotel.

 

In den Nachrichten wird der Tod von Gene Pitney gemeldet, und es gibt die bei solchen Gelegenheiten üblichen Reminiszenzen und Konzertausschnitte. Wie man mit einer solchen Stimme Erfolg haben kann, ist mir ein Rätsel, und ebenso, wie die Tontechnik es vermag, die quäkenden Stimme so auf Normalität zu trimmen, dass man sich regelrecht begeistern kann für „Something’s gotten hold of my heart“ – solange man es nicht live hören muss.

 

7. April (Freitag)

Am Bahnhof versuche ich noch einen Reiseführer über Liverpool zu bekommen, um zu erfahren, was ich alles nicht gesehen habe, aber in der Bahnhofsbuchhandlung gibt es keine Reiseführer über Liverpool, nur über London. Vielleicht gibt es ja in London etwas über Liverpool.

 

Auch hier fallen mir große Werbetafeln auf, mit denen ich zuerst nichts anzufangen weiß. Auf einer steht in großen Lettern „Cash stinks“, auf einer anderen „Cash is so last millennium.“ Sonst nichts außer dem Loge der Firma. Es handelt sich um eine Kreditkartenfirma.

 

Etwas verunsichert bin ich ob der privaten Bahnlinien: Kann ich mit einer in einem deutsche Reisebüro ausgestellten Fahrkarte mit der Virgin Line fahren? Auf der Hinfahrt bin ich mit der Northern Line gekommen, in er Annahme, das sei eine Unterabteilung von British Rail. Ich traue mich kaum zu fragen, aber es geht. Am Ende hätte ich mir die Gedanken sparen können: Wie auf dem Hinweg, werde ich auch diesmal überhaupt nicht kontrolliert. Die Rückfahrkarte hat gerade mal 71€ gekostet.

 

Der Bahnsteig ist für Virgin Line abgesperrt, und man muss an einer Tafel vorbei, in der die Gebote englischer Höflichkeit voll und ganz eingehalten werden: „Please have your tickets and railway passes ready for inspection please. Thanks“.

 

Als ich am Nachmittag in Luxemburg ankomme, sind es 16°. 15° mehr als vorgestern morgen!

 

 

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *