Chalkidiki (2003)

17. September (Mittwoch)

Von Frankfurt (250 Kilometer von Trier) nach Saloniki. Späte Ankunft, im Dunkeln Fahrt (ca. eine Stunde) nach Dionysos Beach, eine aus dem Nichts entstandene Urlaubssiedlung mit Apartmenthäusern. Schwierigkeiten mit der griechischen Gewohnheit, den Seitenstreifen mitzubenutzen, auch wenn er nicht ganz breit genug ist für eine komplette Fahrspur und jederzeit ein unerwartetes Hindernis auftauchen kann. Jedenfalls wird man von hinten angeblinkt, wenn man, nicht Böses ahnend, auf der normalen Spur fährt.

 

In Frankfurt kurz vor dem Abflug ein Stück eines Zahns verloren – keine großartigen Aussichten für die nächste Woche.

 

18. September (Donnerstag)

Gang zum Strand und dann Fahrt nach Nea Moudania, der nächsten Kleinstadt. Erstaunlicherweise überall noch blühende Sträucher, auch am Rand der sonst wenig einladenden Straße. Am Haus Bäume mit harten, rötlichen Früchten, vielleicht Granatäpfeln. Frühstück in einem Café unmittelbar am Meer, mit Blick auf das sich in ganz kleinen Wellen kräuselnde Wasser, auf dem sich die Sonnenstrahlen brechen. Im Café und am Strand fast nur Griechen.

 

Anschließend Fahrt über die Halbinsel Kassandra. Die Kassandra ist eine von drei parallel zueinander liegenden Halbinseln, die wie Finger ins Meer ragen. Die zweite ist Sithonia, die dritte wird fast ausschließlich von der Mönchsrepublik des Bergs Athos eingenommen. Betreten verboten. Der Name Kassandra ist nicht von der mythologischen Gestalt abgeleitet, sondern von Kassandros, dem König von Mazedonien und Gemahl Salonikas, der Schwester Alexander des Großen, nach der Saloniki benannt ist.

 

Keine spektakuläre Landschaft, aber immer schöner Blick, wenn von der Höhe Blick aufs Meer frei wird. Halt in Nea Fokea und dort vergebliche Suche nach einer Höhlenkapelle, in der sich angeblich der Apostel Paulus versteckt gehalten hat. Sogar im Ort selbst mehrmals vergeblich gefragt. Ort liegt rechts der Landstraße, durch diese vom Meer getrennt. Eher nichtssagend, wohl aber ein schöner Brunnen und eine neobyzantinische Kirche auf einer kleinen Anhöhe. Schönerer Teil des Ortes direkt am Meer, mit altem Wehrturm, kleiner byzantinischer Kirche und weiterem Gebäude unbekannter Funktion, alle aus demselben, unregelmäßigen Stein und mit wenigen, winzigen Fensteröffnungen. An der Kirche, wie oft, zwei Fahnen, die griechische, deren Farben angeblich für Himmel und Meer stehen, tatsächlich aber bayerisch sind, und die viel typischere gelbe Fahne von Byzanz mit schwarzem Doppeladler. Nur kleine Anlegstelle für Fischerboote, klein und in vielen Farben, die deshalb im seichten Wasser liegen und im Wasser hin und her schaukeln. Ganz klares Wasser, man kann den Grund bestens erkennen: mal Kies, mal Sand, mal Algen, mal Steine. Die Wasseroberfläche in verschiedenen Farben, von dunkelblau bis türkis. Kuriose, niedrige Palmen mit kürbisförmigen Stämmen.  Andere Bäume, vielleicht Espen, deren Blätter von Wind bewegt werden, zeigen abwechselnd die dunkle Oberseite und die helle Unterseite, die silbrig in der Sonne glänzt.

 

Kaffeepause in Skioni, direkt am Meer. Neben uns Engländer, die ersten ausländischen Touristen, die wir sehen.

 

Bei der Rückfahrt Halt in Nea Potidea, wo ein Kanal die Kassandra vom Kontinent trennt, eigentlich zu einer Insel macht. Kanal in der heutigen Form von 1930, aber schon in der Antike, von Strabo, erwähnt. Im Freiheitskampf von Griechen ausgebaut, um Türken Durchgang auf die Kassandra zu verwehren, aber von Türken mit Schafswolle aufgefüllt, um Überquerung zu ermöglichen!

 

Am Rand verschienene Reste einer mächtigen Stadtmauer, besonders schön an einer Stelle, wo Stadtmauer zerfallen und ein riesiger Brocken spitz auf einem anderen steht und zu balancieren scheint, sich tatsächlich aber an einen anderen, von vorne unsichtbaren Brocken anlehnt.

 

An jeder Ecke eine Tankstelle, auffällig viele, fast verdächtig viele – entweder ist es das Geschäft des Jahrhunderts oder Geldwäsche.

 

Der Namensbestandteil Nea wie in Nea Fokea und Nea Potidea und Nea Moudania sind Neugründungen griechischer Flüchtlinge aus Kleinasien (1922).

 

Warum haben Frauen mehr Behaarung verloren als Männer? Und warum ist das Schamhaar nicht verschwunden? Warum hat der Mensch überhaupt die Behaarung verloren? Kann doch wohl kein evolutionärer Vorteil gewesen sein – bei der Kälte und ohne Kleidung (erst eine Million Jahre später eingeführt!). Sind wir zwischendurch Amphibien gewesen (Schwimmhäute zwischen den Fingern!) und haben, wie die Robben und Delphine, das Haar verloren, um schneller schwimmen zu können?

 

19. September (Freitag)

Mörderisch anstrengende Fahrt nach Meteora. Die als Autobahn ausgewiesene Straße wird plötzlich zu einer einspurigen Landstraße mit viel Lastwagenverkehr.  Grässliche Ortsdurchfahrt durch Saloniki und Larissa, wo ein Traktor an einer Ampel, ganz rechts, plötzlich entschied, links abbiegen zu wollen und uns fast auf die Schüppe nahm.

 

Keine spektakuläre Strecke, außer einer kurzen Strecke zwischen Saloniki und Larissa, wo es durch eine Schlucht ging. Strecke führt vorbei am in Wolken gehüllten Olymp und an einem von einer prächtigen, gut erhaltenen, weißen Burg überragten Ort, Platamonos. Von Zurückgezogenheit und Einsamkeit keine Rede, auch nicht in Meteora, das gleich bei einer lebendigen Stadt, Kalabaka, liegt, wo es laut und chaotisch zugeht, mit zweispurig parkenden Autos und Touristenbussen in beiden Richtungen und Schülergruppen, Touristengruppen und Einheimischen, die sich lärmend durch die Straßen drängeln.

 

Erstaunlicherweise auch kaum ein Anstieg des Geländes, die gesamte Gebirgslandschaft steigt wie aus dem Nichts auf, die einzelnen Felsen steil in die Höhe wachsend, isoliert von den anderen, oft mit ganz glatten Wänden, wie überdimensionale Backenzähne. Die (einleuchtende) geologische Erklärung: Die gesamte Ebene war einst Meer, und die Leerstellen zwischen den Felsen sind die Lücken, die sich ein Fluss auf dem Weg ins Meer geschaffen hat. Hoch oben auf den Felsen die Klöster, eine rätselhafte Erscheinung, man fragt sich, wie sie dahin gekommen sind, da sie ohne jede Verbindung nach unten sind. Die Erklärung: Die ersten Mönche sind mit Hilfe von Gerüsten hinaufgekommen (die Löcher in den Felsen zur Anbringung der Gerüste sind noch sichtbar), die dann durch Tretleitern ersetzt wurden und haben dann den Kontakt mit der Welt durch einen Korb, eigentlich ein großes, grobmaschiges Netz, aufrechterhalten. Mit dem Netz wurde mit einem Flaschenzug der Nachschub nach oben gezogen. Auch Neuankömmlinge, denen die Tretleitern zu unheimlich waren, wurden im Netz nach oben gezogen, mit einem sich um sich selbst drehenden und jederzeit gegen die Felswand zu schlagen drohenden Korb, mit dem Knirschen der Winde und bei der schwindelerregenden Höhe keine weise Entscheidung.

 

Die Klöster waren ursprünglich Ableger der Klöster auf dem Athos, die Angriffen von Piraten ausgesetzt waren. Von den einst über zwanzig Klöstern bestehen heute noch sechs. Bereits vorher gab es einzelne Einsiedler, die sich in Felsenhöhlen zurückzogen, sich aber zur Verrichtung des sonntäglichen Gottesdienstes zusammenschlossen und eine erste keine Kirche, Doupiani, noch am Fuß eines Felsens, bauten, die  Vorform des späteren monastischen Lebens. Die erste richtige Klostergründung durch Athanasius (XIV), der heute im höchsten, ranghöchsten und wichtigsten Kloster, dem Megalo Meteora begraben ist, und zwar im Narthex der Klosterkirche. Diese bis auf den letzten Winkel ausgemalt, mit biblischen Figuren und Figuren aus der Kirchengeschichte, fast alle mit Heiligenschein, in Medaillons, in Mannschaften, in szenischen Darstellungen. Allein in einer Apsis 49 gezählt. An einigen Figuren kuriose Darstellung primitiver Sandalen, die eigentlich nur aus Sohlen bestehen und mit ganz dünnen Bändern am Knöchel befestigt sind. Im Zentrum eine riesige, achteckige Votivkrone mit acht byzantinischen Doppeladlern als Verbindungslied zwischen den acht Gliedern. In der Mitte der Krone ein schwerer, vielgliedriger Leuchter. Licht kommt nur spärlich aus den länglichen Öffnungen der Kuppel und aus den kleinen Fenstern an einer Seite (die andere Seite grenzt ans Kloster, ohne natürliches Licht). Im Gegensatz zu den bedeckten Farben der Freskos der Kirche ganz grelle Farben im Narthex. Hier wird das Leiden der Märtyrer (der Ostkirche) dargestellt, phantasievoll, genüsslich und mit Freude am Detail: Hier wird jemand über zinnoberroten Flammen auf einem Lattenrost geröstet, dort wird jemand geviertelt, hier wird jemand mit den Füssen nach unten, dort jemand mit dem Kopf nach unten gekreuzigt. Ein Soldat, der einem Märtyrer bereits die Beine auf Knielänge verkürzt hat, bohrt noch mal kräftig eine Lanze in den Oberschenkel. Köpfe werden abgeschlagen, dass das Blut nur so spritzt, Märtyrer werden mit Wonne und Energie gesteinigt oder in Bottichen gar gekocht – Hollywood ohne Sex.

 

Daneben die Klosterkirche mit einer riesigen rußgeschwärzten Abzugshaube und aller Art von Küchengeschirr aus Holz. Sehr schönes Refektorium mit Apsis mit monolithischem Stein als Tisch für Abt und zwei Beisitzern, an den Wänden Holztische, davon einer original (XVII), mit ausgedunkeltem, verzogenem Holz.

 

Auch ein Knochenhaus, in dem Schädel und Knochen sorgfältig aufeinandergestapelt und aufgereiht sind.

 

Beim Eintritt ins Kloster müssen Frauen in Hosen einen bereit gestellten Rock überziehen, während kurze Röcke und Ausschnitte offensichtlich geduldet werden. Welches kleinliche Hirn hat sich das ausgedacht?

 

Alle Ortsschilder und Wegweiser in zwei Alphabeten, und manche Verkehrsschilder sogar zweisprachig, griechisch und englisch. Das reicht aber immer noch nicht: Was bedeutet nur das immer wieder auftauchende  Schild „Interchange“?

 

Gibt es einen logischen Unterschied zwischen Austausch und Umtausch?

 

20. September (Samstag)

Fahrt ins Binnenland, mit Besichtigung der Ausgrabungen von Olynthos. Auf zwei Hügeln Siedlungen, eine systematisch angelegte, schachbrettartige Siedlung auf dem Nordhügel, eine unregelmäßige, den natürlichen Gegebenheiten angepasste, ältere Siedlung auf dem Südhügel. Von beiden nicht viel mehr als die Grundmauern erhalten. Die planierte, regelmäßige Siedlung des Nordhügels dennoch in ihrer Systematik beeindruckend, mit geraden Wegen zwischen den Häusern, Kanalisation und Mosaiken, die zu den ältesten überhaupt erhaltenen der Antike gehören,  in den wichtigsten Räumen, nicht aus geschnittenen Mosaiksteinchen wie später, sondern aus natürlichen Kieselsteinchen, meist weiß oder grau, die in den Lehmboden gedrückt sind und geometrische Muster bilden, aber auch Darstellungen von geflügelten Fabelwesen, die wilde Tiere attackieren. Die gesamte Anlage durch einen regelmäßigen, ganz gerade verlaufenden Damm von gleicher Höhe in der Ferne geschützt, durch Erosion gebildet, aber wie von Menschenhand gemacht aussehend. Siedlung war das Resultat des Versuchs Philipps, Mazedonien, das mit Athen verbündet war, durch Neuansiedlungen auf seine Seite zu ziehen, Daher die Erweiterung auf dem Nordhügel, als mehr und mehr Menschen seiner Aufforderung folgten.

 

Dann nach Polygyros, der Hauptstadt der Region, in dessen Museum (schwer zu finden) die Funde der Ausgrabungen ausgestellt sind, u.a. ein riesiger, gusseiserner (?) Kochtopf, mehrere Statuen unterschiedlicher Größe, die alle eins gemeinsam haben: Die Figuren raffen mit der einen Hand das Gewand in die Höhe, so dass der Faltenwurf und das Untergewand zum Vorschein kommen, und mit der anderen, erhobenen Hand, das Gewand unter dem Hals zur Seite, so dass noch mehr „Bewegung“ in die Darstellung kommt. Daneben ein Steinblock mit einer Inschrift, einem Vertrag zwischen Philipp und den Bewohnern der Region zur Schaffung einer Allianz. Beide verpflichten sich, zur Sanktionierung der Allianz eine Stele in einem ihrer Heiligtümer und eine weitere, gemeinsame Stele in Delphi zu errichten. Viele kleine Schmuckstückchen mit winzigen Abbildungen von Vögeln, auch kleine Hände (Bedeutung rätselhaft) kommen als Schmuckelemente an Halsketten vor.

 

Dann Weiterfahrt nach Taxiarchis (auf 1100 Meter Höhe gelegen), keine Spur von Zivilisation weit und breit, kein Auto, kein Haus, kein Mensch, keine Elektroleitungen, nur die Straße selbst. In Taxiarchis, Städtchen in Mittagsruhe (die bis sechs Uhr dauert) mit winzigen, steil abfallenden Straßen, Schwierigkeit, wieder hinaus zu kommen, immer wieder am selben Platz gelandet. Am Ende rausgekommen, weil ich endlich einen Griechen, der mich am Arm packte und mir den Weg wies, verstanden habe: Er war stumm!

 

Dann nach Arnea, voller schön restaurierter Häuser mit Holzbalkonen und farbig gestrichenen Fassaden, alle verschieden. Auf dem fast ausgestorbenen Platz einen Kaffee getrunken. Auf griechisch gegrüßt, auf griechisch bestellt, auf griechisch nach Betrag gefragt und zur Antwort bekommen: „Two-fifty“. Ist das Freundlichkeit oder ist es Herablassung, nach dem Muster: Griechisch ist schwer, ihr Ausländer schafft es nie, gebt euch erst gar keine Mühe? Überall Werbung für Honig, die lokale Spezialität, sogar Ouzo mit Honig gibt es. Lieber nicht probiert.

 

Weiterfahrt mit Blick auf die dicht bewachsenen Berge, durch Stagira (500 Einwohner), das lange glaubte, die Heimat Aristoteles zu sein, dann aber erkennen musste (sich aber immer noch dagegen wehrt), dass das alte Stagira in Olympiada liegt, ein paar Kilometer weiter an der Küste. Dort auf zwei benachbarten Hügeln auf einer Halbinsel zwei Siedlungen mit spektakulärem Blick auf die Buchten an der einen und auf den Strand mit dem dahinterliegenden Ort auf der anderen Seite. Man wundert sich, wie Aristoteles Naturwissenschaftler werden konnte und  nicht Lyriker.

 

Auf dem Rückweg aus unbekannten Gründen von der Polizei angehalten und sofort wieder „freigelassen“ worden, ohne Kontrolle.

 

Bei der Rückfahrt bietet das aus dem Mittagschlaf erwachte Arnea ein völlig anderes Bild, es wimmelt von Leuten auf den Straßen, auf den Plätzen, vor der Kirche und in den Lokalen.

 

Auf der Rückfahrt immer auf die blutrote Sonne zu, mit scharfen Konturen vom Abendhimmel abgesetzt.

 

Das Wort für Wahrheit, aleithia, kommt vom Lethe, ist also die Aktion wider das Vergessen, die Wiederentdeckung dessen, was man schon immer wusste.

 

21. September (Sonntag)

Ruhetag mit Kurzausflug nach Aphytos auf Kassandra, einem schönen, aber eindimensional touristischen Ort, hoch über dem Meer auf einem zum Meer hin steil abfallenden Felsplateau gelegen. Dort Kaffee in einem Lokal mit Blick auf den tief liegenden, breiten Strand, mit schmalem Sandstreifen, der Rest bewachsen. Unten, durch zwei Heiniken zur Notlösung veranlasst, Zuflucht in den Büschen gesucht und dabei gleich beim ersten Schritt im Sumpf eingesunken.

 

Überall merkwürdige Abneigung, Kleingeld herauszurücken, vielleicht noch ein Erbe der chronischen Münzenknappheit aus der Zeit der Drachmen. Wenn man einen Betrag von sechs Euro mit zehn bezahlt, wird man unweigerlich um einen Euro gebeten und bekommt dann einen Schein zurück.

 

Meer noch erstaunlich warm, jedenfalls wenn einmal der erste Kälteschock überwunden ist. Sandstrand, aber der Einstieg ins Wasser (und der Ausstieg) über eine Schwelle mit ziemlich großen Steinen, was einen ganz schön tollpatschig aussehen lässt. Auch weiter raus ist es sehr flach, man muss aufpassen, nicht mit dem Bauch aufzulaufen. Wenn man sich auf den Rücken legt, geht man merkwürdigerweise nicht unter, kippt aber zur Seite. Erinnerung an ein witzigen Ausspruch stürzt mich dennoch fast ins Verderben.

 

Am Abend Spaziergang am Strand nach Nea Moudania, zurück im Dunkel.  Diesmal ein ganz feiner, unendlicher, horizontaler Streifen in sanftem Rot am Abendhimmel.

 

Hesiods Theogonie ist gleichzeitig Theologie und Theodizee, und auch, durch ihre Systematik, fast schon ein Schritt auf dem Weg zur rationalen Erklärung der Welt.

 

Wenn Thales das Wasser zum Ursprung allen Lebens erklärt, ist das eine Absage an die Mythologie und eine geradezu revolutionäre Wende, die den Beginn der rationalen Erklärung der Welt bedeutet.

 

Der Mythos von Pythagoras wird von drei Autoren auf drei verschiedene Weisen gedeutet: Bei Hesiod ist es die Rebellion gegen die göttliche Ordnung und Vernunft, bei Äschylos ist es die Rebellion gegen die göttliche Tyrannei, bei Platon ist es das Symbol des technischen Fortschritts, der das Wohl des Menschen aus den Augen verloren hat.

 

In der Nacht von Mücke im Zimmer und Grille vor dem Fenster unterhalten.

 

22. September (Montag)

Fahrt nach Saloniki. Lange, breite aber nicht sonderlich schöne Promenade am Meer mit Blick auf die Hafenkräne in der Distanz. Stadt selbst von Meer und Promenade durch vielbefahrene Schnellstraße getrennt. Auf der Meerseite monumentale Statue Alexander des Großen und, etwas weiter, der Weiße Turm, das Wahrzeichen der Stadt, dessen Schönheit sich einem erst auf den zweiten Blick erschließt, auch in dieser Hinsicht ganz wie Torre de Oro in Sevilla. Weißer Turm hat ein Pendant in der befestigten Oberstadt, die man von hier aus in beträchtlicher Entfernung sehen kann. Paradoxerweise ist Weißer Turm, Stolz des Griechentums, vielleicht in der türkischen Zeit gebaut worden (Die Griechen ziehen die venezianische Zeit vor).

 

Auf der Stadtseite eine unendliche Reihe von teuren Cafés, bevölkert von Schülern und Studenten. Am Aristoteles-Platz (auch die Universität ist nach ihm benannt), von dem aus ein breiter Boulevard nach oben führt, noch mehr Cafés. Quer dazu verläuft die Egantia (hat nur den Namen gemeinsam mit einer berühmten antiken Handelsstraße, die nördlich von Saloniki verläuft). Hier die Kathedrale St. Demetrius, dem lokalen Schutzpatron geweiht, eine für orthodoxe Kirchen untypisch große, fünfschiffige Basilika (wiederaufgebaut nach einem Brand am Beginn des 20. Jh.), mit dem Charme einer Wartehalle, aber einer riesigen antiken Krypta.

 

In der Nähe riesiges römisches Ausgrabungsgelände, genau am Schnittpunkt zweier wichtiger Straßen. Unterschiedliches Bodenniveau, mit Bögen, die zu einer unterirdischen Passage zu gehören scheinen. Öffnungszeiten, wie immer in Griechenland, völlig unberechenbar: hier  täglich von 8.00-20.00! Die Rotunde ist dagegen montags geschlossen, das archäologische Museum vormittags und das byzantinische nachmittags auf.

 

Auf dem Weg zur Kathedrale Halt am Türkischen Bad (1444). Saloniki wurde noch vor Konstantinopel türkisch und, wie ganz Mazedonien, erst 1912 griechisch! Trotzdem kurios zu lesen, dass Atatürk hier geboren wurde! Saloniki auch die Stadt, in der Cicero im Exil war und in der der Apostel Paulus weilte, bevor er nach Korinth ging und von dort seine Thessalonicherbriefe schrieb. Auch Cyrill und Methodius stammen aus Saloniki!

 

Türkisches Bad mit drei verschiedenen Wärmestufen, wohl nach römischem Vorbild, wie auch hypokaustische Heizung, mit deren Dampf nicht nur das Wasser erhitzt, sondern auch durch den Austritt des Dampfes durch die hohlen Außenmauern das Gebäude geheizt wurde! Getrennte Teile mit getrennten Eingängen für Männer und Frauen.

 

Mittagessen in einem einfachen Lokal abseits der großen Terrassen. Gutes, preiswertes, wenig raffiniertes Essen mit der typischen Abwesenheit jeder Art von Soßen.

 

Im Byzantinischen Museum, sehr modern, sehr gute Präsentation, sehr unfreundliches Personal, Frauenschmuck aus der christlichen Antike, getragen trotz des Einspruchs Johannes Chrysostomus, der dagegen wetterte und darin ein Hindernis auf dem Weg zur Rettung der Seele sah.

 

Unter den Gebrauchsgegenständen ein antikes Brettspiel, das wie Dame aussieht.

 

Sehr schöne, gut erhaltene Grabmäler aus der christlichen Antike, tonnengewölbte Decken, fast wie ein Mausoleum, bunt bemalt mit Früchten, Fischen, Huhn usw. in der Tradition der Elysischen Felder, damit der Tote auf keine materiellen Genüsse im Jenseits verzichten musste.   Friedhöfe lagen ursprünglich außerhalb der Städte, und Christen und Heiden wurden ursprünglich nicht getrennt begraben. Nach Edikt Christen gestattet, bei den Märtyrern, ad santos, bestattet zu werden. In der mittelbyzantinischen Periode dann Erlaubnis, Tote innerhalb der Stadt zu begraben.

 

Exponate zur Geschichte des Ikonoklasmus, für den es nicht nur religiöse, sondern auch politische Gründe gab und der sich gegen den Besitz der Klöster wandte.

 

Burgen lagen meist entlang der Straße Saloniki-Konstantinopel, darunter auch Platamonos, an der wir auf dem Weg nach Meteora vorbeigekommen waren. Wichtigste Phase des Burgenbaus (IX/X) zur Sicherung des Reichs nach Niedergang durch Invasionen, Pest, Wirtschaftskrise. Danach Konsolidierung.

 

Dann noch an der (geschlossenen) Rotunde vorbei und am Galeriusbogen, der jetzt isoliert an einem großen Platz steht. Auf alten Postkarten aber noch zu sehen, wie der Bogen in die nebenstehenden Häuser integriert war und die Straßenbahn unten durchfuhr. Reliefs, teilweise sehr verwittert, die die Großtaten des Kaisers würdigen.

 

Bei Verlassen der Stadt, wieder über die Promenade am Meer, ein dichter Vogelschwarm über einem kleinen Park, wild durcheinander fliegend, wild schreiend, ohne erkennbares Ziel oder erkennbare Absicht.

 

Mineralwasser heißt Metallwasser, und da die Natur Physik heißt, heißt natürliches Mineralwasser physisches Metallwasser!

 

23. September (Dienstag)

Nach einiger Überlegung wegen der neuerlichen Autofahrt (150 Kilometer, zwei Stunden) doch Entschluss zur Fahrt nach Vergina, zwischen Saloniki und Athen, seit nicht allzu langer Zeit als das antike Aegae identifiziert, der Hauptstadt des antiken Mazedonien.

 

Außerhalb des Ortes auf einer Anhöhe in den Ausläufern eines Gebirges die Überreste eines weitläufigen Palastes, Grundriss und Abwasserkanäle gut zu erkennen, sonst aber nur einzelne graue Steinquader und die heruntergefallenen Säulentrommeln. Am Fuße der Anhöhe das antike Theater, ohne architektonische Verbindung zum Palast, man nimmt an, dass man von einer Terrasse des Palastes aus das Geschehen im Theater verfolgen konnte! Vom Theater nur die Konturen zu erkennen. Struktur an die natürlichen Gegebenheiten angepasst, in einen Hügel hineingebaut, mit höheren Zuschauerrängen an der Seite, an der Hügel höher ist. Hier im Theater geschah der aufsehenerregende Mord an Philipp, der sich selbst zum 13. Gott neben den olympischen Göttern erhob und sich als solcher verehren lassen wollte. Diese Hybris soll das Motiv zu dem Anschlag gewesen sein.

 

Philipps Grab in einem Tumulus am Rande des heutigen Ortes. Sowohl die Gesamtanlage als auch die Fundstücke, der Qualität, der Bedeutung und dem Erhaltungszustand nach, atemberaubend. Zwei goldene Truhen, auf der Oberseite mit dem eingravierten mazedonischen Stern dekoriert, enthielten die Knochen des eingeäscherten Körpers Philipps und einer jungen Frau, die ihm (angeblich) freiwillig in den Tod folgte und sich, mit einem goldenen Diadem geschmückt, als Ausweis ehelicher Treue, den Flammen übergab, um ihm in den Hades zu folgen. Die Truhen wiederum wurden in Marmorschreinen  aufgebahrt, die in der Hauptkammer bzw. der Vorkammer des Grabs aufgestellt wurden, das mit einer großen, weißen, mit Säulen flankierten Doppeltür geschlossen wurde und zu der eine Rampe hinunterführte. Das kann man noch heute in situ besichtigen und im Dämmerlicht des Grabs die Aura der antiken Königsgräber spüren.

 

Zu den Grabbeigaben  gehörten immer Becher, Krüge und andere Trinkgefäße – die Toten waren immer durstig. Die Trinkgefäße (hier in verblüffender Fülle ausgestellt) sehr stilvoll, mit glatten Oberflächen, erstaunlich modern.

 

Für die Männer gab es zusätzlich Waffen und Rüstung (ein schöner dunkler Brustpanzer ausgestellt), für die Frauen (man wollte Hades in schöner Aufmachung entgegentreten) Schmuck und Schminkutensilien, für Kinder Spielzeug (hölzerne Pferde, Puppen aus Elfenbein usw.) und für Priester Statuszeichen – nichts Neues unter der Sonne. Außerdem alle bei der Trauerzeremonie verwandten Utensilien (Die Knochen wurden gewaschen!) dem Grab beigegeben – sie waren gleichzeitig unsauber und heilig. Es war wichtig, alles vor den Augen der Welt zu verbergen, sonst konnte die Seele den Weg nicht finden. Den Toten wurde auch ein hölzernes, mit Elfenbeinfiguren geschmücktes Sofa mitgegeben – man sollte es im Jenseits bequem haben. Holz verfallen, aber Elfenbein (musste importiert werden und ist Zeugnis der weitreichenden Handelsbeziehungen) erhalten, darunter ein Männerkopf, den man für ein Portrait Philipps hält und der die Grundlage der meistverbreiteten Abbildung ist. Höhepunkt der Kunstfertigkeit zwei goldene, ganz fein ziselierte  Kränze, einer  mit unzähligen, kleinen Eichenblättern und Eicheln, der andere mit feinen Blüten, bei denen sogar die Staubfäden als hauchdünne Drähte aus der Blüte hervorwachsen. Ebenfalls bemerkenswert bemalte Grabstelen aus Marmor (?), deren Inschriften (griechische Namen) als Beleg dafür angesehen werden, dass die Makedonier Griechen waren und keine Hellenisierung stattgefunden hat, wie subversive ausländische Gelehrte manchmal behaupten.

 

 

24. September (Mittwoch)

Am Morgen nach Saloniki, um Rotunde und ihre berühmten Mosaike zu sehen, doch welch trügerische Hoffnung: Rotunde wird renoviert, Mosaike sind (bis auf ganz wenige) ausgelagert, und innen verdecken überall Gerüste die Sicht.

 

Rotunde unter Galerius gebaut, entweder als Tempel oder als sein Mausoleum, dann Umbau zu christlicher Kirche unter Verlängerung nach Osten, um eine Apsis für den Chor zu schaffen. Dadurch Statik beeinflusst, und bei Erbeben Einsturz eines Teils der Rotunde. Wiederaufbau mit Erweiterung, Außenmauer wird durchbrochen und in acht Arkaden aufgelöst und durch neue Außenmauer mit größerem Durchmesser ersetzt. Dadurch entstehen acht Joche und eine Art Ambulatorium. Später (XVI) Umwandlung in Moschee, heute Museum. Hat sehr breite Mauern und breite Rundbogenfenster, beides an Trierer Basilika erinnernd. In einem Joch Mosaike schon wieder eingefügt, zeigen abwechselnd Blüten und einen Vogel, vielleicht Pelikan (sieht aber aus wie Gans mit Entenfedern). Vor dem Eingang ein unabhängiger Turm, auch eingerüstet, vielleicht Glockenturm, vielleicht Minarett. Davor, unter einem Dach, das auf acht Säulen ruht, achteckiger Brunnen (nicht eingerüstet!) mit konkaven Beckenwänden, vielleicht Taufbecken, vielleicht aber auch Brunnen zur rituellen Waschung aus der Zeit der Moschee.

 

Auf dem Markt neben der Rotunde an einem Stand nicht identifizierbare, große, gelbe Früchte, die wir vorher schon einmal an einem Baum gesehen hatten, wie eine Kreuzung aus Pampelmusen, Zitronen und Apfelsinen.

 

Dann Fahrt zum Flughafen. Ein wie ein Malocher aussehender Grieche zieht, um sein Essen in einem Selbstbedienungsrestaurant zu bezahlen, ein dickes, zusammengerolltes Bündel von Geldscheinen aus der Hosentasche, darunter einen Fünfhunderter.

 

 

 

 

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