21. Dezember (Mittwoch)
Drei Wecker auf vier Uhr gestellt, Uhr, Radio, Handy. Wären alle nicht nötig gewesen, wurde eine halbe Stunde vorher von selbst wach. Am Bahnhof steht der neu eingeweihte ICE schon parat und verhindert, dass ich im winterlichen Trier in sommerlicher Kleidung frieren muss. In Koblenz wird es mit dem Umsteigen ganz knapp, trotz der optimistischen Prognose des Schaffers, aber es klappt, mit dem Ergebnis, dass ich viel zu früh am Flughafen bin.
Nach der Aufgabe des Gepäcks habe ich noch Zeit, bei einem Kaffee das Kreuzworträtsel der gerade erschienene Zeit zu machen. Am Kaffeestand gibt es in bestem Pseudo-Italienisch Ciabatti. Komisch, dass alle auf einmal so italienisch wie möglich sein wollen, während man früher nur von Itakern sprach und Italien einzig für Maffia stand.
In der Abflughalle deutsche Touristen und eine ganze Reihe deutsch-kubanischer Paare, ausnahmslos mit deutschem Mann und kubanischer Frau, ausnahmslos Mulattinnen oder Negerinnen. Eine Kubanerin erzählt einer anderen mit sichtlichem Stolz, dass sie aus Santiago stamme, dass sie santiaguera sei. Ihr Akzent ist viel prononcierter als der der anderen. Ihrem Mann gefalle Santiago aber nicht so gut. Für die Deutschen müsse es immer ein Strand mit ganz feinem, weißen Sand sein.
Auf den unendlich langen 11 Stunden Flug mit Kopfschmerzen in der völlig überheizten Kabine habe ich statt einer hübschen Mulattin einen Bayern mit schwarzen Fingernägeln neben mir, der mich ungefragt duzt. Er muss während des gesamten Flugs nicht einmal aufstehen. Im Flugzeug eine ganze Reihe kleiner Kinder, Kinder im Vorschulalter, von denen eins in regelmäßigen Intervallen schreit wie am Spieß, ohne offensichtlichen Grund. Wieder erlebt man das merkwürdige Phänomen, dass auf Flügen auf einmal alle, auch ohne offensichtlichen Grund, Tomatensaft trinken. Wenn man sie fragte, würden sie wahrscheinlich eine Erklärung bereit haben, die diese merkwürdige Sitte irgendwie logisch unterstützt. Es gibt aber keine.
Über die Normandie und die Kanarischen Inseln und die Azoren geht es Richtung Amerika. Das erste Festland, das in Sicht kommt, ist ausgerechnet die Gegend um Miami, der Festung der regimefeindlichen Exilkubaner.
Auf dem Flug Gelegenheit, etwas über Kuba zu lesen. Havanna und Santiago beäugen sich gegenseitig mit Argwohn und sehen sich als Konkurrenten. Die habaneros gelten als arrogant, sehen sich selbst als entwickelt und geschäftstüchtig, die santiagueros werden als palestinos bezeichnet und gelten als rückständig und provinziell, sehen sich selbst aber als natürlich und vital. Die Spanier werden wegen des großen Anteils von Galiciern unter den Einwanderern, pauschal als gallegos bezeichnet. Die Konkurrenz zwischen Havanna und Santiago treibt kuriose Blüten: Die Landepiste des später gebauten Flughafens von Santiago ist fünf Meter länger als die Havannas, das später gebaute Theater Havannas hat einen Platz mehr als das von Santiago!
Die kühlen Nordwinde können, besonders im Norden, im Winter die Temperatur plötzlich um 10° fallen lassen. Das hält dann tagelang an. Vielleicht war mein Kofferpacken von zuviel Optimismus getragen.
Kuba ist von Martí als bärtiger Kaiman, als caimán barbudo, bezeichnet worden. Auch als lachendes Krokodil ist es bezeichnet worden. Tatsächlich braucht man nicht allzu viel Vorstellungsvermögen, diese Formen auf der Landkarte zu identifizieren. Das erinnert mich an Irland als Terrier.
Die meisten Säugetiere, Pferde, Katzen, Hunde, Schweine, Rinder, wurden erst von den Europäern mitgebracht. Vorher gab es eigentlich nur Fledermäuse.
Nach zwei Einwanderungswellen von Nomaden kamen die Arawaken, ein sesshaftes Volk, nach Kuba (XII). Sie kamen auf der Flucht vor den Kariben aus Brasilien. Sie waren geschickte Bootsbauer und stellten kunstvolles Handwerk und Schmuck her und bedachten ihre Häuser mit Material aus Palmenwedeln. Die Köpfe der Kinder wurden durch Bandagen verformt. Sie sollten möglichst länglich sein. Das galt als chic.
Kuba war bis zum 15. Jahrhundert ein geschlossener Wald. Der musste dann den sich immer mehr ausbreitenden Zuckerrohrpantagen weichen. Und Holz wurde für den Schiffsbau und den Export gefällt.
Kuba hat eine geringere Säuglingssterblichkeit, eine höhere Lebenserwartung und eine geringere Analphabetenrate als die USA! Wegen des guten Gesundheitssystems gibt es einen regelrechten Gesundheitstourismus; viele Touristen verbinden ihren Aufenthalt mit einer Zahnbehandlung. Und Maradona kam nach Kuba, um sich wegen seiner Drogenabhängigkeit behandeln zu lassen.
Jedes Jahr wird die unglaubliche Menge von 100 Millionen Zigarren exportiert, die meisten nach Frankreich und Spanien.
Das Kunstmuseum von Havanna enthält Werke aus dem Privateigentum des nach der Revolution enteigneten Bacardí-Clans und des von Castro gestürzten Diktators Batista, der nach der Revolution das Weite suchte – und die Staatskasse gleich mitnahm.
Bei einer Umfrage unter jungen Kubanern war der am häufigsten genannte Berufswunsch: Tourist!
Ich nehme mir vor, den Tipp des Reiseführers für den Umgang mit Kubanern zu beherzigen: Versuchen Sie nie, von sich aus einen Kubaner zu bestechen!
Vor der Ankunft sind aus den beim Start angekündigten 28° schon 21° geworden, und auch danach fühlt es sich nicht an. Der Himmel ist wolkenverhangen, und es ist düster, obwohl die Sonne noch nicht untergegangen ist.
Der Flughafen heißt – wie sollte es auch anders sein – José Martí. Kein anderer ist so präsent wie er, keiner der anderen Helden kann es mit ihm aufnehmen. Seine Biographie hat alles, was man sich wünschen kann, um zur Glorifizierung geeignet zu sein: der Kampf für die „Freiheit“, die Aura des Dichters, und der Tod im Kampf für die Freiheit – mit jungen Jahren.
Die Passkontrolle ist lähmend langsam, und es geht alles andere als freundlich zu. Man steht in einer Kabine und wird von einer Frau in einer ausgesucht hässlichen grünen Uniform und dünnem grünen Lidstrich streng befragt und gemustert. Als es überhaupt nicht weitergehen will, sage ich in dem paternalistischstem Ton, dessen ich fähig bin: „Hör mal, Mädchen, die Sache ist so …“. Plötzlich huscht ein Lächeln über ihr Gesicht und sie lässt mich durch.
Bei der Gepäckausgabe geht es noch langsamer zu, und als ich durch bin und von dem Reiseleiter empfangen werde, bin ich sogar der erste. Ich muss schon wieder die Uhr umstellen, denn der Unterschied ist nicht sechs Stunden, wie man im Flugzeug gesagt hat, sondern fünf. Kuba hat die Sommerzeit nicht zurückgestellt! Sollten wir auch machen.
Von den 300 Passagieren sind nur ungefähr 30 hier ausgestiegen, alle anderen fliegen weiter nach Holguín an den Strand, und von denen, die hier aussteigen, sind es, von ein paar Individualtouristen abgesehen, nur fünf, die hier in Alt-Havanna bleiben, außer mir zwei Paare. Die machen erst eine paar Tage Havanna, um dann an den Strand zu fahren. Die Erkenntnis, einen Außenseiterurlaub gebucht zu haben, gibt mir das Gefühl, etwas richtig gemacht zu haben.
Vom Flughafen geht es eine lange Strecke Richtung Altstadt. Allmählich kommt eine Stadtlandschaft in Sicht. Auf der Straße ist noch ziemlich viel los, obwohl es inzwischen stockdunkel ist. Die Straßenbeleuchtung ist schummrig, und überall huschen Fußgänger erstaunlich gelassen vor dem Taxi über die Straße.
Ich bin überrascht, wie groß Alt-Havanna ist. Ich hatte mir eine Sache wie den Trierer Marktplatz vorgestellt, aber es ist bestimmt so groß wie die ganze Trierer Innenstadt. Ein Straßenzug nach dem anderen, lauter zwei- bis dreistöckige Häuser aus der Kolonialzeit, teils ziemlich heruntergekommen, aber nicht baufällig. Ich finde das ganz beeindruckend. Einer der Männer scheint meine Meinung nicht zu teilen. Ihn erinnert das alles an die DDR. Sein Urteil scheint gefallen, bevor er richtig angekommen ist. Seine Frau macht ganz vorsichtige Einwände.
Die Paare werden an zwei sehr nobel wirkenden, frisch restaurierten Hotels herausgelassen. Ich bin als letzter dran und lande in einem etwas weniger nobel wirkenden Hotel. An der Rezeption erwartet man mich nicht. Ich sei auf keiner Liste. Das hat schon Tradition. Ich zeige meine Unterlagen, und nach einem Anruf ist plötzlich alles in Ordnung. Der Mann an der Rezeption tut aber jetzt auf meine Frage hin so, als habe es gar kein Problem gegeben. Ich bin sowieso zu müde zum Diskutieren. Es ist ungefähr 1 Uhr europäischer Zeit, und ich bin seit über 20 Stunden wach. Das Zimmer hat zu meiner Überraschung zwei Etagen, unten einen Aufenthaltsraum, oben, durch eine enge Wendeltreppe aus schwarzem Holz zu erreichen, die Schlafstätte mit Bad. Das hat was.
Einen kleinen Kühlschrank gibt es auch, und ich leiste mir eine Flasche Wasser zu 1,50, obwohl ich nicht die geringste Ahnung habe, wie viel das ist.
Auf beiden Etagen steht ein Fernseher. Hier gibt es zu meiner Überraschung Satellitenempfang. Man bekommt DW, CNN, TVE usw., aber keine kubanischen Sender außer einem Bildungsprogramm. Nach einer Runde Zapping mache ich den Fernseher aus, und das bleibt er auch bis zur Abreise.
22. Dezember (Donnerstag)
Das Frühstück fällt beschieden aus: Es werden ein paar Scheiben Ananas und Apfelsinen serviert, dann ein paar Brocken geröstetes Brot mit einem winzigen Stück Butter und zwei kleine Stücke Gebäck. Eins von denen schmeckt gut, alles andere nicht.
Erst als ein englisches Kind nach draußen zeigt und etwas von einem Schiff sagt, merke ich, dass wir aufs Meer, genauer gesagt auf den Hafen blicken. Es ist noch stockdunkel, und die wenigen Schiffe zeichnen sich nur in Konturen ab.
Als ich rausgehe, ist es hell. Ich nehme mir vor, kein Programm zu bestreiten, sondern mich erst einmal treiben zu lassen. Wieder bin ich beeindruckt von der Fülle von historischen Bauten. Eine Straße nach der anderen, kleinere und größere, mit und ohne Verkehr, lauter Häuser im Kolonial- und Neokolonialstil, alle anders und doch passend, einige bestens renoviert, z.T. in erstaunlich gut passenden bunten Farben, dazwischen immer wieder ein kleiner Platz, ein kleiner Park, ein Innenhof. Am Nachmittag stelle ich dann erst fest, dass ich, obwohl das schon alle meine Erwartungen sprengt, den Altstadtplatz und den Domplatz noch gar nicht gesehen habe.
Ich komme am Kapitol vorbei, einem getreuen Nachbau des Kapitols in Washington, Ausdruck der Machtverhältnisse in Kuba zwischen Kolonialzeit und Revolution. Gegenüber herrscht unter einem der vielen Arkaden reger Betrieb. Jetzt merke ich erst, wie früh es noch ist. Die Leute gehen zur Arbeit. Und ich sehe ihnen dabei zu. Jetzt sehe ich zum ersten Mal bei helllichtem Tage das camello, das Ungeheuer, das einen wichtigen Teil des Nahverkehrs erledigt, ein von einem schnaufenden, schwarzen Dampf ausstoßenden Sattelschlepper gezogenes Gefährt mit einer Vertiefung in der Mitte zwischen den beiden „Höckern“, ein einzelner Wagen, der bis zu 300 Passagiere aufnehmen kann – und auch aufnimmt. Dicht gedrängt sitzt man, teilweise übereinander, will mir scheinen, und man steht bis auf die letzte Treppenstufe, so dass die Türen kaum schließen. An der Haltestelle bilden sich zwei Schlangen, eine für Sitzplätze, eine für Stehplätze, aber alle steigen in der Mitte ein. Dort bezahlt man beim Schaffner. Wie man den oder einen Sitzplatz überhaupt erreichen kann, ist mir ein Rätsel. Mein Wunsch, einmal mit dem camello zu fahren, bleibt bis zum Ende der Reise unerfüllt, da ich mich von der Warnungen der Kubaner, die mich für verrückt erklären, abschrecken lasse.
Vor dem Kapitol der Parque Central, eigentlich kein Park, sondern ein Platz mit ein paar Bäumen. Hier soll man sich vor Taschendieben in Acht nehmen, sagt der Reiseführer, aber selbst für die ist es jetzt noch zu früh. Im Zentrum die Statue José Martís. Natürlich muss er, der überall präsent ist, auch hier, im Zentrum Havannas, vertreten sein.
Von diesem Platz geht es an La Floridita vorbei, einer Bar, die ihren Ruf der Tatsache verdankt, dass Hemingway hier seine Cocktails trank, über eine belebte, enge Fußgängerstraße, die Calle Obispo, auf die ich in den nächsten Tagen immer wieder stoße. Am anderen Ende der Straße ist die Plaza de Armas, der älteste Platz Havannas, ein schöner Platz mit üppiger Vegetation in der Platzmitte und schönen alten Bauten zu allen Seiten. Um das parkartige Viereck in der Mitte herum stellen an allen Seiten Verkäufer gebrauchter Bücher ihre Stände auf, eine Frau sitzt auf einer niedrigen Steinmauer, unterhält sich mit einem Verkäufer und füttert Tauben. Im Zentrum, auf einem Sockel, die Marmorstatue des Nationalhelden Manuel de Céspedes. Er war Großrundbesitzer und löste den ersten Unabhängigkeitskrieg aus, als er einen Sklaven befreite. Der erste Unabhängigkeitskrieg ging verloren, der zweite wurde nach der Intervention der USA gewonnen. Die Unabhängigkeit wurde teuer erkauft: Es gab 200.000 Tote, mehr als in allen lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriegen zusammen, und enorme Sachschäden.
In der Calle Obispo gibt es an einer Ecke eine Art Touristeninforation. Eine freundliche Frau informiert mich über Ausflüge und Stadtführungen. Morgen früh gibt es eine, die ich bei ihr buchen kann, aber wenn ich heute noch eine will, muss ich in einem Hotel buchen. Also beschließe ich entgegen meiner ursprünglichen Absicht doch von der Gelegenheit Gebrauch zu machen, die Reiseleiterin im Hotel Florida zu treffen. Das erweist sich als schwieriger als gedacht, denn immer wieder schickt man mich in eine Richtung und dann wieder zurück, weil einige Leute Florida mit Floridita verwechseln und ich nicht sicher bin, ob es dasselbe ist, und weil ich blöderweise mehrmals an dem Hotel vorbeilaufe, ohne es zu sehen. Dann schaffe ich es noch gerade vor 10, nur um zu erfahren, dass die Reiseleiterin erst um 11 kommt. Ich habe mir die falsche Zeit gemerkt.
Das gibt mir aber Gelegenheit, eine Wechselstube, eine Cadeca aufzusuchen, die ich ganz in der Nähe gesehen habe. Hier geht es sehr ordentlich zu. Es gibt einen Türwärter draußen, der die Kunden einzeln eintreten lässt, und einen drinnen, der den Kunden den Schalter zuweist. Es gibt zwei Währungen, den peso convertible (CUC), eine Art künstlicher Dollarersatz, und den peso cubano (PC), die reguläre Landeswährung. Der peso convertible wird von den Leuten ganz einfach weiterhin Dollar genannt. Die beiden Währungen werden im Alltagsleben auch weiterhin mit $ gekennzeichnet, aber die Pesos zur Unterscheidung mit einem doppelten Längsstrich. Ein Dollar ist weniger als ein Euro, aber mehr als ein amerikanischer Dollar. Ich habe mich also gestern bei dem Wasser im Hotel nicht ins Unglück gestürzt. Es hat gut einen Euro gekostet.
Statt um 11 kommt die Reiseleiterin dann um 12, aber sie entschuldigt sich wortreich und mit dem einleuchtenden Argument, dass es Missverständnisse mit der Uhrzeit gegeben habe. Es gibt ein Durcheinander wegen der nicht aufgehobenen Sommerzeit. Wie dem auch sei, sie organisiert per Handy auf der Stelle eine private Stadtführung für mich, die schon in zwei Stunden beginnen kann. Mit Dollars lässt sich hier einiges bewegen.
Ich werde vom Hotel abgeholt, von Führer und Fahrer. Der Führer spricht ausgezeichnetes Deutsch, flüssig, variationsreich, idiomatisch und so gut wie fehlerfrei. Er hat ein Jahr lang an der Humboldt-Universität studiert, die einen Austausch mit der Universität Havanna unterhält und jedes Jahr zwei Studenten austauscht.
Wir fahren durchs Zentrum über den Prado, Havannas berühmtesten Boulevard (von dem ich in den nächsten Tagen so gut wie nichts zu sehen bekomme, da Althavanna genug bietet) nach Miramar, dem Vorzeigeviertel Havannas und nach Vedado, dem modernen Einkaufsviertel Havannas. Der Name Vedado, wörtlich ‚Verboten’, bezieht sich auf das ehemalige Jagdrevier, in dem man keine Häuser errichten durfte.
Wir fahren zur Universität, zur Plaza de la Revolución, zum Cementerio Cristobal Colón und zum Hotel Nacional und machen dann einen Spaziergang durchs Zentrum. Wir kommen an einer riesigen Eisdiele vorbei, in der ein dem Vernehmen nach berühmter kubanischer Film spielt, Erdbeer und Schokolade, sowie an einem zu einem Kino umfunktionierten historischen Theater, dem Teatro Payret.
Im Hotel Nacional, das eine schöne Terrasse mit Aussicht auf die Bucht hat, sehen wir eine Photowand mit berühmten Gästen, darunter Musiker der Vieja Trova und Baseballspieler, die der durchschnittliche Europäer nicht unbedingt kennt. Bei der Gelegenheit lerne ich, dass Baseball der Nationalsport Kubas und Kuba die führende Nation im Baseball und Weltmeister ist. Baseball wird hier aber pelota genannt, und das macht die Behauptungen irgendwie einleuchtender und weist auf die Verwandtschaft mit der spanischen pelota hinweist, aus der sich Baseball vermutlich entwickelt hat. An den Türen des Hotels steht da, wo bei uns Ziehen steht, Hale, ein Wort, das ich noch nie gehört habe, aber ich erfahre, dass es hier ganz normal sei.
Auf dem riesigen Friedhof sehen wir allerhand Grabdenkmäler mit eigenen Geschichten, unter anderem eins für die Feuerwehrmänner eines Großbrands, auf dem in Symbolen und Inschriften auf ihre Tat verwiesen wird, die sie das Leben kostete und anderen das Leben rettete. Das meist besuchte Grab ist das der Milagrosa, um das sich eine Reihe von Legenden rankt. Es ist das Grab einer jungen Frau, die zusammen mit dem Kind bei der Geburt starb und nach der damaligen Sitte zusammen mit dem Kind begraben wurde. Der Ehemann soll das Grab jeden Tag besucht haben, ohne ihm jemals den Rücken zuzukehren. Als man das Grab später öffnete, sollen die Körper unversehrt gewesen sein und das Kind, ursprünglich zu Füßen der Mutter begraben, in ihrem Armen gelegen haben.
Auf der riesigen Plaza de la Revolución, auf der man sich angesichts der Weite ziemlich verlassen vorkommt, ist an einem der Gebäude, die Ministerien beheimaten, eine gigantische Stahlreproduktion des berühmten Photos Che Guevaras von Alberto Korda angebracht. An einem weiteren Gebäude ein riesiges Plakat mir der Aufschrift Feliz Nuevo Aňo, unorthodox mit vorangestelltem Adjektiv. An diesem Platz befindet sich auch der Sitz Fidels, aber ob und wann er da tatsächlich ist, weiß niemand. Aus Sicherheitsgründen ist sein Aufenthaltsort geheim und wechselt ständig. Auf diesem Platz hält Fidel am Jahresanfang, dem Jahrestag der Revolution, seine berühmten stundenlangen Reden. Mein Begleiter berichtet nicht ohne Stolz, wie viele Menschen an diesem Tag hierher kommen, bis zu einer Million. Er ist ganz offensichtlich einer davon. Trotzdem erlaubt er sich, der vermutlich eher linientreu ist, ein paar sarkastische Bemerkungen zu der Ämterhäufung Fidels – er ist Generalsekretär der Partei, Vorsitzender des Ministerrats, Vorsitzender des Staatsrats und Oberbefehlshaber der Streitkräfte –und der Verteilung wichtiger Posten unter dem Castro-Clan. Ob er das macht, weil er sich in der Weite des Platzes sicher fühlt?
Unterwegs sehen wir mehrere Exemplare eines kuriosen Baums, einer Feige, die im Spanischen Jagüey heißt (der wissenschaftliche Name ist Orasia Ficus) und die keine eigenen Wurzel hat, sondern sich parasitär auf einen anderen Baum setzt, ihn von oben mit ihren Ästen umarmt, bis er abgestorben ist und dann selbst ihre Wurzeln in den Boden treibt.
Zurück geht es über den Malecón, die kilometerlange Uferpromenade, zuerst am offenen Meer entlang, dann, nach einer Abbiegung, am Hafen entlang. Am Ende des Malecón liegt die Altstadt. Links sehen wir ein schwer beschädigtes riesiges Baseballstadion, Folge der letzten Hurrikans.
Im Zentrum kommen wir an einer wunderbaren Apotheke alten Stils vorbei, die ganz in dunklem Holz gehalten ist, mit einheitlich, schön beschrifteten weißen Keramikgefäßen auf den Regalen hinter der Theke.
Das zentrale Gebäude an der Plaza de Armas ist der Palacio de los Capitanes Generales, das heutige Stadtmuseum. Hier residierten die spanischen Gouverneure auf Kuba. Der Platz vor dem Gebäude ist gepflastert, aber das Pflaster ist, obwohl es „echt“ aussieht, aus Holz. Die Ehefrau eines der Gouverneure fühlte sich durch das laute Rattern der vorbeifahrenden Kutschen gestört, und der Gouverneur ließ die Steine durch Holz austauschen.
Auf dem Platz vor der Kathedrale trinken wir am Ende noch einen Kaffee. Ich erfahre, dass es sich bei den ganz in Weiß gekleideten und Zigarre rauchenden Frauen, die sich mit Touristen photographieren lassen, um santeras handelt, „Priesterinnen“ der einheimischen Voodoo-Religion. Und ich erfahre auch, was sie und andere Frauen da verkaufen, was in den wie eine Eiswaffel gedrehten weißen Tüten ist. Es ist maní, eine Art Popcorn, das sie selbst zu Hause herstellen. In anderen Tüten sind Erdnüsse.
Ich frage nach einem Geschäft von Benetton, das ich in der Altstadt gesehen habe, ausgerechnet in einem historischen Gebäude an der Plaza de San Francisco. Das ist ein Joint Venture. Der kubanische Staat sucht die Angestellten aus und bezahlt sie, das Unternehmen zahlt den kubanischen Staat. Der Staat zahlt in einheimischer Währung, das Unternehmen in Devisen. Mein Begleiter hält gar nichts davon. In Benetton sehe man nie Kunden, jedenfalls keine Kubaner.
Weil ich müde bin, nehme ich das Angebot, am Abend zusammen in ein Lokal zu gehen, um kubanische Musik zu hören, nicht an. Das bereue ich später, es wäre vermutlich eine gute Gelegenheit gewesen, Dinge zu sehen, die man als Normaltourist nicht sieht. Ich gebe ihm zwar die Adresse meines Hotels und sage ihm, er könne mich an einem anderen Tag anrufen. Daraus wird dann aber nichts. Zu diesem Zeitpunkt ist mir noch nicht klar, wie sehr die Einheimischen vom Kontakt mit Touristen abgehalten werden und wie streng die Überwachung ist.
Bei der Suche nach dem Hotel habe ich heute morgen eine schöne sprachliche Erfahrung gemacht. Ein Mann, der mir erklären will, wie weit ich noch gehen muss und dabei laut die Häuserblocks abzählt, sagt uno … dos .. tres mit der typisch karibischen Aussprache. Das am Silbenende fehlt, verändert aber ein bisschen den Vokal.
23. Dezember (Freitag)
Beim Frühstück bin ich ganz alleine, jedenfalls der einzige Gast. Außer mir ist aber auch ein Geiger zugegen, der sich gemüßigt fühlt, für mich alleine aufzuspielen. Peinlich. Ich weiß nicht, ob ich ihn ansehen oder absichtlich wegsehen soll. Beides ist gleich schlimm.
Ich gehe Richtung Capitolio Nacional und muss feststellen, dass es noch gar nicht geöffnet ist. Meine innere Uhr hat sich noch nicht auf die neue Zeit eingestellt.
Der Weg dorthin ist mir schon irgendwie vertraut, und ich komme wieder an einem am Rande einer kleinen Straße stehenden Eisenbahnwaggon vorbei, dessen Präsenz mir ein Rätsel ist.
Das Capitolio ist ein monumentales, irgendwie furchteinflößendes Gebäude mit einer großen Freitreppe, alles ganz in Weiß. Am Fuße der Treppe stehen Photographen mit uralten Kameras, wie man sie nur noch aus Filmen kennt, und machen Photos für Touristen.
Als das Capitolio aufmacht, gibt es Probleme mit dem Wechselgeld. Man kommt nur rein, wenn man die drei Dollars klein hat. Irgendwie geht es am Ende dann doch.
Gleich unter der Kuppel befinden sich ein Diamant, der eine symbolische Bedeutung hat, und eine gewaltige Bronzestatue, die Statue der Republik. Über einen überwölbten Gang mit Marmorboden, den Gang der pasos perdidos, der verlorenen Schritte, wohl weil man aufgrund der Dimensionen die Schritte am anderen Ende nicht hört, geht es ans Ende des Flügels, wo es eine Reihe von kleineren Sälen mit unterschiedlichen Funktionen und Einrichtungen gibt. Das meiste, was die überall herumstehenden Aufpasserinnen erzählen, ist für den Fremden eher belanglos. Mit besonderem Nachdruck wird auf die Wappen der unterschiedlichen Provinzen Kubas hingewiesen, Habana, Pinar del Río, Matanzas, Camagüey usw. Im oberen Stockwerk wiederholt sich die Struktur. Die Aufteilung des Gebäudes in zwei Flügel entspricht der Aufteilung des Parlaments in zwei Kammern.
In der Nähe des Kapitols ist der Parque de la Fraternidad, mit dem Arbol de la Fraternidad. Es ist ein von einem niedrigen, runden Gitter eingefasster, etwas erhöht liegender Baum, der auf Erde steht, die aus allen lateinamerikanischen Ländern zusammengetragen worden ist. Ich setzte mich auf eine der Bänke an dem Baum. Das ist in Havanna eine kommunikative Erfahrung. Kaum jemand geht kommentarlos vorüber. „Havanna, like?“ hat fast jeder drauf. Das kommunikative Bedürfnis ist allerdings nicht von bloßer Freundlichkeit motiviert. Die meisten wollen etwas. Ob ich nicht vielleicht eine Uhr übrig hätte oder ein Hemd? Der eine hat kaputte Schuhe, der andere muss sich am Herzen operieren lassen, und ein junges Paar will mich ins barrio chino abschleppen, wobei schwer zu sagen ist, wozu. Am Ende gibt sich aber jeder ohne weiteres Beharren mit ein paar Pesos zufrieden. Das barrio chino ist ein Chinatown ohne Chinesen, denn die, ganz Kapitalisten, suchten nach der Revolution das Weite.
Das ganz in der Nähe gelegene Theater wurde 1835 von gallegos gegründet, wobei in diesem Falle wohl wirklich Galicier gemeint sind. Wie zum Trotz ist gegenüber das Centro Asturiano, ein Kulturzentrum.
Das Theater wirkt nicht groß, aber der Saal hat aber fünf Ränge und fasst 2.000 Zuschauer. Es wird im regelmäßigen Wechsel Schauspiel, Ballet und Flamenco gegeben. Das Theater wurde 1905 erweitert und besteht praktisch aus zwei Gebäuden, was man aber nicht merkt, da sich beide Teile hinter einer einheitlichen Fassade verbergen.
Dann geht es in die Fábrica Partagás, die Tabaksfabrik, auch ganz in der Nähe des Capitolio gelegen. Benannt ist sie nach dem Gründer (XIX). Es werden 25.000 Zigarren am Tag produziert. Hier wird überall gearbeitet, bei aus Lautsprechern plärrender Musik. Drei Mal am Tag wird aus bedeutenden literarischen Werken vorgelesen, den Rest des Tages gibt es Musik. Jeder Arbeiter ist den ganzen Tag mit ein und demselben Arbeitsgang beschäftigt. Die meisten Arbeiter sind junge Leute. Man sieht, wie die Tabaksblätter ausgewählt, geglättet gepresst und gerollt werden, wie die Zigarren etikettiert werden, wie die Qualitätskontrolle durchgeführt wird, wie die Zigarren, nach Farbe sortiert, verpackt und dann in der Kiste immer wieder gewendet werden. Bei der Qualitätskontrolle wird vor allem auf die Luftdurchlässigkeit geachtet.
Zu essen finde ich etwas in einem schönen Lokal mitten in der Altstadt, der Zanja Real, einem mit einem bepflanzten Holzgitter überdachten, säulenbestandenen Hof mit blauen Kacheln an den weißen Händen. Außer der schönen Lage reizt auch der Preis, 3 Dollar für ein Menu, aus denen am Ende allerdings auf wundersame Weise 11 Dollar geworden sind. Hunde streichen um das Lokal herum, immer in Lauerstellung, ob vielleicht mal ein Gast was fallen lässt und die Kellner nicht auspassen.
Später gehe ich noch in die in ein Museum umfunktionierte Kirche San Francisco an dem gleichnamigen Platz, einem der schönsten und gleichzeitig belebtesten Plätze der Altstadt gelegen, an dessen Rand und in Blickweite des Hafens. Vor zwei kleinen Cafés stehen hier ein paar Stühle. Man kauft drinnen und setzt sich dann raus. Es ist ein sehr kommunikativer Platz. Schon gestern bin ich hier mit einem Mann ins Gespräch gekommen, der schon einmal in Deutschland war, und zwar in Halle. Was hat er da gemacht? Geboxt. Er war mit der kubanischen Nationalmannschaft zu einem Wettkampf dort. Deutschland sei schön, aber kalt, sehr kalt. Heute setzen sich drei Frauen zu mir. Wir unterhalten uns ein paar Minuten, dann breche ich zur nächsten Besichtigung auf. Eine von ihnen spricht mich in den nächsten Tagen einmal auf der Straße an, so als wären wir alte Bekannte.
Dort, wo es von dem Platz aus in die eigentliche Altstadt geht, sind Eisenkugeln angebracht, so dass Autos nicht passieren können, wohl aber Pferdekutschen. Einer der Kutscher fordert mich auf einzusteigen und bietet eine Fahrt an zu „precios socialistas“.
Vor der Kathedrale werden am Abend villancicos, Weihnachtslieder gesungen. Sie heißen nicht nur so wie in Spanien, es sind auch meist dieselben Lieder, und die ganze Veranstaltung könnte ebenso in Spanien spielen, einschließlich der Art und Weise, wie die zwei jungen Leute, eine Frau und ein Mann, durch das Programm führen und der Ansprache des Bischofs. Es treten Singgruppen aus verschiedenen Provinzen Kubas auf. Ich gebe einer der Verkäuferinnen etwas Geld, um maní an die vor der Bühne stehenden Kinder zu verteilen, anonym. Viel später, als ich die Sache längst vergessen habe, komme ich Kindern entgegen, die schüchtern gracias sagen. Offensichtlich hat sich die Verkäuferin nicht an die Abmachung gehalten.
24. Dezember (Samstag)
Heute gibt es zur Feier des Tages ein Frühstücksbüfett, allerdings eins der bescheidenen Art. Jeden Morgen gibt es etwas anderen zum Frühstück. Vermutlich richtet sich das Angebot einfach danach, was man an dem jeweiligen Tag an Land ziehen konnte.
Eine verrückte Hörverständniserfahrung: Einer der unzähligen Hotelangestellten, die meist nichtstuend zwischen Vorhalle, Bar und Rezeption herumstehen, fragt mich, wie es mir geht. Dann folgen ein paar Trivialitäten, und ich muss die Ohren spitzen, um ihn zu verstehen, aber dann nützt alles nichts, ich weiß nicht, was er von mir will. Er fragt mich, wie mir etwas gefällt, aber was das ist, verstehe ich einfach nicht. Als es dann rauskommt, möchte ich am liebsten im Erdboden verschwinden. Er hat mir die leichteste und naheliegendste Frage gestellt, die man sich vorstellen kann: Wie mir Kuba gefalle. Ich verstehe auf Kuba Kuba nicht.
Was grundsätzlich alle wissen wollen, die einen ansprechen, ist, in welchem Hotel man wohnt, möglicherweise, um die deine finanziellen Ressourcen einschätzen zu können. Auch nach der Uhrzeit wird man häufig gefragt. Laut Reiseführer dient das dazu, um festzustellen, ob der Tourist eine wertvolle Uhr hat. Trotz allen Argwohns, ich habe das Gefühl, dass manche wirklich nur wissen wollen, wie spät es ist. Bestimmt kann sich nicht jeder eine Armbanduhr leisten.
Heute sehe ich mir zuerst das Stadtmuseum an, an der Plaza de Armas. Es bietet einen Mix aus sakraler Kunst, profaner Kunst und Stadtgeschichte. Da sieht man einerseits einen Holztabernakel mit geschnitzten Säulen und einem Guten Hirten mit feinsten Gliedmaßen und genau skulptierten, langen Fingernägeln, andererseits eine profane Marmorbüste, die eine Frau darstellt, bei der sogar der gepunktete Schleier in Stein gemeißelt ist, und dann wiederum persönliche Gegenstände von Máximo Gómez, dem Helden des Freiheitskampfs von 1898, alles vom Stiefel bis zur Brille. In einem Schreiben an den Capitán General, das hier ausliegt, versichert er, er sehe keine Veranlassung zu glauben, dass, wenn die Spanier besiegt und die Kolonialherrschaft beseitigt sei, die USA die Vorherrschaft über Kuba erlangen würden. So kann man sich täuschen.
Gegenüber dem Stadtmuseum liegt das Templete, ein rundes, weißes Tempelchen, das keins ist. Es steht der Legende nach an der Stelle, an der Havanna gegründet worden sein soll. Drinnen sieht man Wandmalereien, die in romantisierender Weise das Ereignis und eine Jahrhundertfeier seiner Wiederholung darstellen. Eine Besonderheit der Wandmalerei besteht darin, dass Schwarze zum ersten Mal gleichberechtigt neben Weißen dargestellt werden – so jedenfalls stellt es die ältere Dame dar, die hier als Auspasserin, Kassiererin und Führerin gleichzeitig fungiert – für die wenigen Gäste, die kommen. Nachdem ich bereits gegrüßt und bezahlt habe und einige Trivialitäten mit ihr ausgetauscht habe, fragt sie mich, bevor sie mit den Erklärungen beginnt „Pero, ¿habla espaňol?“, so als ob man das nur für die Erklärungen zu lernen bräuchte, nicht für die Alltagssprache. Sie zeigt mir auch den Baum, der dem Templete erst seine Daseinsberechtigung gibt, denn es war dieser Baum, an dem die Gründung vollzogen wurde. Der Baum ist eine Ceiba. Dieser Baum ist allen drei Völkern, die in Kuba zusammentreffen, heilig, den Amerikanern, den Europäern und den Afrikanern. Die Ureinwohner, die Arawaken, verehrten ihn in ihren Mythen, für die christliche Überlieferung ist es der Baum, der Maria und das Kind auf ihrer Flucht beschützte, indem er sich mit Dornen überzog, als sie sich in ihm verbargen, und die Afrikaner glauben, dass in seinen Ästen die Götter, die orishas zu Hause sind. Zum Schluss empfiehlt sie mir, drei Mal um den Baum herum zu gehen, wie es die Tradition gebietet. Das bringt Glück oder garantiert die Rückkehr nach Havanna. Oder beides.
Die Granma, das Schiff auf dem die Revolutionäre 1959 in Kuba landeten, ist ein Muss für Havannabesucher. Leder muss man dazu in das Revolutionsmuseum. Die hohen, kalten Räume sind schlimm genug, und dazu muss man die militante Sprache der Beschriftungen ertragen, die von der „Kamarilla der Anführer der Reaktion“ und von der „reinsten Essenz der kubanischen Jugend“ und von den Amerikanern ausschließlich als yankis sprechen. Zu sehen gibt es alle möglichen Devotionalien, darunter die Nähmaschine, mit der die Uniform Fidels genäht wurde.
Man ist froh, wenn man in den Innenhof betreten kann. Dort gibt es einen selbstgebastelten Panzer, aus einem Traktor gemacht, einen Lieferwagen mit Einschusslöchern und einen sowjetischen Panzer aus dem 2. Weltkrieg. Die Granma steht, hinter verschmutztem Glas, in einem eigenen Gebäude, das man nicht betreten kann. Viel zu sehen ist nicht.
Der grüne Eisenbahnwaggon, an dem ich schon mehrmals vorbeigekommen bin, auch ganz in der Nähe meines Hotels, ist der Tren Mambí. Trotz des Namens, dessen Entstehung ich auch nach Erklärungen nicht verstehe, ist er nicht kubanisch, sondern amerikanisch. In Zügen dieser Art reisten Staatpräsidenten und andere hochrangige Politiker, aber ursprünglich war er für die Direktoren von Bahnunternehmen gedacht. Über den Präsidenten von Mexiko kam er als Geschenk nach Kuba. Er wirkt ebenso gemütlich wie komfortabel und erinnert an die Züge, die man aus Filmen kennt, die zwischen den Weltkriegen spielen.
Irgendwo in der Stadt sehe ich eine Straßenpizza. Als Verkaufsstand dient eine kleine Luke in einem Haus. Die Pizza ist klein und rund, hat nur Käse als Belag, schmeckt hervorragend und kostet das Vermögen von 6 Pesos.
Am Abend habe ich Zeit für Lektüre und entdecke einige kubanische Kuriositäten, zum Beispiel das Paradox, dass Fidel, der sich zuerst gegen den Sozialismus sträubte, jetzt dessen Hüter ist und sich von Gorbatschow als rückständig bezeichnen lassen musste.
Ich lese von einer alten, kultivierten Dame, die, obwohl Regimegegnerin, nach der Revolution nicht ausgewandert ist, obwohl sie es gekonnt hätte. Sie hat sich aber ganz in ihre vier Wände, einen palastartigen Kolonialbau Havannas, zurückgezogen. Sie kritisiert das Regime, aber respektiert die Revolutionäre.
Ich lese über Martha Lorenz, die Tochter eines deutschen Kapitäns, die Fidels Geliebte wurde, sich dann aber von der CIA abwerben ließ und mit falschem Namen, falschem Pass und alter Uniform zurückkehrte, um Fidel zu töten. Sie schaffte es wirklich, in die Nähe Fidels zu kommen, aber ihr Anschlag scheiterte: Die Giftampullen hatten sich aufgelöst. Jetzt arbeitet sie für eine Anti-CIA-Gruppe. Nicht unbedingt eine Frau, die sich dem Prinzip verschrieben sich, sich ein ganzes Leben lang treu zu bleiben.
Zu den bizarren Versuchen der CIA, Fidel Castro zu stürzen, gehörte dieser: Eine geheime, auf die Schuhe gepinselte chemische Enthaarungssubstanz sollte ihn um seinen Bart und damit um sein Charisma bringen.
Es gibt keinen Personenkult um Fidel. Man sieht kaum mal ein Photo oder auch nur ein Zitat von ihm. Dennoch sind einige der Zitate Fidels allseits bekannt: „Wer Reformen fordert, gehört zur fünften Kolonne der Kapitalismus“, „Ein Revolutionär geht nicht in Rente“, „Die Geschichte wird mich freisprechen“. Bekannte Zitate Che Guevaras: „Lasst uns ein, zwei, drei, viele Vietnams schaffen“ und „Auf dieser Insel ist nur Platz für einen Individualisten. Der andere bin ich“. Und ein weniger bekanntes Detail über Fidel: 1940 war er Kubas Sportler des Jahres!
Sogar das Viehfutter wurde früher aus der Sowjetunion importiert. Die einseitige Abhängigkeit von der Sowjetunion wurde deutlich, als diese unterging und die Hilfe eingestellt wurde. Jetzt sind Kubas Kühe unterversorgt, da man es versäumt hat, selbst Viehfutter anzupflanzen.
Ches wilde Enkel unterschieden sich ideologisch, aber auch äußerlich von den gestriegelten Parteisoldaten: Sie tragen Bart und lange Haare.
Es gibt in Kuba Dutzende von Palmen, aber eine, die Palma Real, ist der árbol nacional. Ausgerechnet sie ist aber nicht einheimisch. Sie stammt aus Mexiko. Die Palma Real ist ein wirklich nützlicher Baum: Aus den Blättern macht man Dächer, aus dem Stamm (außen) Möbel, aus dem Stamm (innen) Suppen und Salat, aus den Blatthülsen Knöpfe und Schuhe, und die Früchte verfüttert man an die Schweine.
In der Zeit des Wettbewerbs zwischen Spanien und England in der Karibik (XVIII) wurde Havanna von den Engländern belagert und erobert und gehörte, wie der ganze Westen Kubas, zu England, wurde dann aber gegen Florida ausgetauscht. Man kann schön darüber spekulieren, was alles anders gewesen wäre, hätte der Tausch nicht stattgefunden.
Die Kindersterblichkeit und der Analphabetismus sind in Kuba niedriger als in den USA! Es gibt keine Slums, eine hohe Lebenserwartung, wenig Gewalt, wenig Kriminalität, die Ausbildung ist gratis und gut, das Gesundheitssystem ist gratis und gut, trotz langer Wartezeiten, es gibt so gut wie keinen Rassismus und keinen Hunger. Auf der anderen Seite sind die Leute arm, die Nahrung ist rationiert, es gibt Stromsperren, man kann nicht ins Ausland reisen, ausländische Zeitungen und Fernsehsender dürfen nicht empfangen werden, Kellner verdienen mehr als Lehrer, was oft zur Flucht aus den akademischen Berufen führt, und es gibt eine Zweitwährung, an die man kaum kommt, die aber Zugang zu allen Annehmlichkeiten des Lebens gewährt.
Für das vielleicht berühmteste Portrait aller Zeiten, das des Che mit Baskenmütze und Stern, 1960 aufgenommen bei einer Kundgebung in Havanna, bekam Korda, der Photograph, keine Tantiemen!
Alexander von Humboldt nutzte die Überfahrt nach Amerika auch, um die Frage der Himmelsbläue methodisch exakt zu untersuchen. Er benutzte dazu das Cyanometer mit einer 51stufigen Skala für Blautöne. Er gab das Cyanometer auch Personen in die Hand, die mit dem Instrument nicht vertraut waren, um zu sehen, ob ihr Urteil von seinem und untereinander abwich. Man maß sowohl das Blau des Horizonts als auch das des Zeniths. Das Ergebnis war, dass das Urteil nie um mehr als zwei Grade voneinander abwich und dass die Bläue des Himmels von Spanien über Afrika bis zur Karibik von 13 auf 23 Grad zunimmt.
In Kuba gibt es coleros, Schlangesteher, die ihr Geld damit verdienen, dass sie für andere Schlange stehen. Der Fortschritt der Wirtschaft wird ironisch mit den Worten „Ein Schritt vor, zwei Schritte zurück“ bezeichnet.
Dass Guantánamo, der Stützpunkt der USA auf Kuba und Sitz des berühmten Gefängnisses, identisch ist mit dem Ort, aus dem die guantanamera des Liedes kommt, ist mir überhaupt nicht klar gewesen.
25. Dezember (Sonntag)
Heute geht es mit einer organisierten Exkursion in den Westen Kubas, nach Viňales. Wir werden 200 km zurücklegen und dabei drei (von sechszehn) Provinzen Kubas durchqueren. Der erste Halt wird in Trinidad sein, wo wir eine Tabakfabrik besichtigen werden. Der Bus ist Made in Brazil.
In den Außenbezirken Havannas geht es an dem ehemaligen Kasino vorbei, aus dem ein Erholungszentrum für Arbeiter geworden ist, dann an Labors, die der medizinischen Forschung dienen, vor allem der Untersuchung des Cholesterin, dann an Siedlungen „de época socialista“, wie unser Reiseführer sagt, so dass man sich fragt, ob wir uns nun in der época capitalista befinden.
Dann geht es auf die 1983 entstandene Autobahn, nichts anderes als eine breite Landstraße, die durch einen Grasstreifen in der Mitte getrennt ist. Am Straßenrand stehen, in kleinen Gruppen, überall wartende Menschen. Worauf warten die nur? Sie warten darauf, von jemandem mitgenommen zu werden. Der Führer spricht unverblümt von „Transportschwierigkeiten“.
Links ein Stausee, der gleichzeitig Trainingsstrecke für Ruderer und Kanuten ist. Kuba hat, wie stolz vermerkt wird, bei den Olympischen Spielen zwei Goldmedaillen in diesen Disziplinen geholt. Im Zusammenhang mit dem Staussee wird die Zahl 180.000 Liter pro Tag genannt. Das hört sich beeindruckend an, aber ob das wirklich viel ist oder nicht, weiß ich nicht.
Dann ändert sich die Landschaft. Wir sehen Palmenwälder, Eukalyptuswälder, Bananenplantagen und Zuckerrohrplantagen. Der Eukalyptus wird auch zu medizinischen Zwecken verwendet. Bei den Bananen gibt es zwei Typen: Essbananen und Kochbananen. Der Zuckerrohranbau war 400 Jahre lang der wichtigste Wirtschaftszweig Kubas, bis die Preise fielen. Heute ist es der Tourismus. Aus Zuckerrohr wird nicht nur Zucker gemacht, sondern auch Rum, Papier und Medizin. Die Hauptarbeit bei der Ernte wird weiterhin von macheteros geleistet, einem der geachtetsten und bestbezahlten Berufe Kubas, weil Maschinen bei dem hügeligen Gelände meist nicht einsetzbar sind. Sie tragen in einer Hand die machete, in der anderen einen speziellen Handschuh, nicht um sich vor ihren eigenen Hieben zu schützen, sondern vor den scharfen Blättern des Zuckerrohrs.
Die Landschaft ist nicht sonderlich spektakulär, aber die Erklärungen machen die Fahrt kurzweilig. Dass die Kühe links Holsteiner sind, hätte ich nicht gewusst, und erst recht nicht, wozu die jetzt regelmäßig auftauchenden Hütten auf den Feldern dienen. In ihnen wird der Tabak getrocknet. Es geht dabei darum, dass er weder zu trocken wird – dann lässt er sich nicht rollen – noch zu feucht bleibt – dann entwickelt er kein Aroma. Deshalb muss täglich kontrolliert und die Lage der Blätter verändert werden. Einige der Hütten haben Metalldächer. Dadurch wird die Hitze erhöht und der Prozess beschleunigt.
Die Hütten sind schon die ersten Vorboten von Pinar del Río, das wir dann bald erreichen. Es hat 300.000 Einwohner und eine Universität. Es geht heute sehr ruhig zu. Ein paar Menschen grüßen uns beim Aussteigen und fragen nach Kulis. Die habe ich eigens zu Dutzenden aus Deutschland mitgebracht, aber jetzt in Havanna gelassen. Ich hatte das Gefühl, dass sie gar nicht mehr so begehrt seien, mache aber in den nächsten Tagen auch in Havanna die Erfahrung, dass das nicht stimmt. Zur Not tut es ein Geldschein auch. Eine junge Frau mit einem Baby auf dem Arm, die wirklich ärmlich aussieht, ist richtig bewegt.
In der Tabakfabrik geht es heute, am Feiertag, sehr ruhig zu. Es sind nur wenige Arbeiter da, meist Frauen. Durch die Überstunden kann man sich seine Prämie erhöhen. Man verdient 200 bis 400 Pesos im Monat und eine Zulage von 15-20 Dollar. Man sieht, wie die Tabakblätter geschickt mit einem grifflosen Messer bearbeitet werden, das zum Rollen wie zum Schneiden dient. Eine der Frauen schafft es sogar, dabei zu rauchen. Die Zigarren kommen in eine Schachtel aus Zedernholz. Es ist wichtig, dass sie atmen können. Kurz vor dem Ausgang kauft ein Mitreisender, ein Italiener, eine Schachtel Zigarren. Er zahlt 30 Dollar, und erst, als ihm gezeigt wird, wie er die Schachtel unter seiner Weste verstecken soll, geht mir ein Licht auf: Hier wird schwarz verkauft. In dem sehr edlen Verkaufsraum der Fabrik auf der anderen Seite der Straße sind die Zigarren teurer, aber das bessere Geschäft hat der Verkäufer gemacht, vermutlich Reingewinn.
Dann geht es wieder in den Bus. Die Landschaft verändert sich, es wird gebirgiger und waldreicher. Hier gibt es Forstwirtschaft, hauptsächlich Pinie, aber auch Eiche und Mahagoni. Am Waldrand sieht man wild lebende, rostfarbene Schweine.
In Pinar besichtigen wir die Cueva del Indio, eine Höhle, die früher einmal als Zufluchtsort diente. Vor der Höhle sehen wir, wie Zuckerrohrblätter durch eine Vorrichtung gedreht werden, um sie auszupressen, und es gibt ein Glas guarapo, Zuckerrohrsaft.
Wir gehen erst ein ganzes Stück zu Fuß über einen leicht abschüssigen Gang tief in die Höhle, bis wir an einen Fluss kommen. Dort werden wir in Boote verfrachtet und durch die Höhle gefahren. So kann man in aller Ruhe Gesteinsbildungen ansehen und das bekannte Spiel mitmachen, ob man die Figuren erkennt: Krokodilsköpfe, Totenköpfe, Seepferdchen und einen rauchenden Indio. Dann kommt man am anderen Ende der Höhle wieder hinaus.
Dann geht es weiter zu einem Ort mit einer riesigen, modernen Felszeichnung in bunten Farben, die symbolisch die Entwicklung der Welt darstellt.
Beim Mittagessen gibt es viele unzufriedene Gesichter. Mir schmeckt’s. Das Schweinefleisch und der Reis sind schmackhafter als alles, was ich bisher gegessen habe. Aber alle anderen haben etwas zu meckern: das Essen ist nicht gut, es dauert zu lange, man sitzt nicht nebeneinander, es sind keine Aschenbecher da. Ich fühle mich etwas unwohl angesichts der vielen Kritik, bin aber froh, dass es keine Deutschen sind, die sich da beschweren. Ich bin der einzige Deutsche.
Auf der Rückfahrt führe ich ein langes Gespräch mit einem spanischen Ehepaar. Sie erzählen, dass es in Spanien jetzt kostenlose Zeitungen gebe, und dass der Absatz der anderen Zeitungen dadurch gestiegen sei! Die beiden haben ihre eigene, makabre Erklärung für das allgemein als Wunder verklärte Phänomen auf dem Friedhof, für das Kind, das nach Jahren im Grab in den Armen der Mutter gefunden wurde: Die Mutter war tot, aber das Kind lebte noch und ist zur Mutter gekrochen und hat sich an ihre Brust gelegt.
Als wir am Abend zurückkommen, liegt im Hafen ein riesiges, weißes Kreuzfahrtschiff, das einzige, das Havanna noch anläuft und sich nicht am Boykott beteiligt. Mit den vielen Kreuzfahrern im Zentrum ist die Atmosphäre schlagartig anders.
26. Dezember (Montag)
Als ich das Humboldtmuseum endlich finde, mache ich zwei Entdeckungen: Es ist ganz in der Nähe meines Hotels, auf der Calle Oficios, und es ist heute geschlossen. Also gehe ich zur Kathedrale, aber die ist noch zu. Also gehe ich zum Automobilmuseum, aber das ist heute auch zu. Also gehe ich wieder zur Kathedrale, aber die ist immer noch zu.
Auf dem Weg biete ich einer alten, gebeugt gehenden Frau ein Stück Seife an, das sie ohne Zögern annimmt: „Como no, que no tengo.“
An der Calle Mercaderes komme ich an einem kleinen, fast privat aussehenden, sehr stimmungsvollen Park vorbei, den ich bisher immer übersehen habe. Das alte Havanna hat immer wieder etwas Neues. Im Park steht eine Andersen-Büste und ein alter Brunnen mit einer modernen Aufstockung.
Auf dem Platz vor der Kathedrale trinke ich einen Kaffee und muss vor der Sonne in den Schatten flüchten. Aufs Bezahlen warte ich 15 Minuten. Der Chefkellner, der breitbeinig und Zigarre rauchend am Rand steht, übersieht meine Geste erst und macht dann auch keine Anstalten, sich zu bewegen, sondern beschränkt sich darauf, „Lázaro“ zu rufen. Als das keinen Erfolg hat, unternimmt er erst mal nichts.
Da die Kathedrale immer noch geschlossen ist, geht es jetzt ins Museo de Arte Colonial, am anderen Ende des Platzes. Man betritt einen schönen zweistöckigen, blau-gelben patio mit Arkaden. In der Mitte Pflanzen, die bis zum zweiten Stockwerk reichen. Um den patio herum gesellen sich die kleinen Ausstellungsräume auf beiden Stockwerken.
Hier gibt es zuerst Porzellan zu sehen, aus europäischer Produktion, aber mit der Stadtansicht von Havanna, das von Männern im Zylinder und Frauen im Reifrock bevölkert ist! Der ursprüngliche Besitzer des Porzellans ist oft namentlich bekannt – die Namen sind eingraviert.
Auf Gemälden verschiedenster Stilrichtungen, impressionistisch, expressionistisch, kubistisch und photographisch, sieht man das moderne Havanna in allen Variationen, Fassaden, Parks, Straßen, Statuen. Sehr schön.
Woanders gibt es Reitzubehör, Sporen, Steigbügel (mit herzförmiger Auslassung am Boden), Zaumzeug, Stiefelspitzenverstärker.
Dann allen möglichen Rokokokitsch, Porzellanfiguren in Lila, Lindgrün und Blassrosa. Schrecklich. Dennoch beeindruckend in den Details, z. B. der genau herausgearbeiteten Schnalle am Schuh eines Mannes und dem aus der Weste herausschauenden Hemd.
Dann eine unglaublich gut gearbeitete Bronzefigur, ausdrucksvoll und detailliert: Ein Jäger, mit Backenbart, trägt einen Schottenrock mit Schnalle und eine Mütze mit Plümmel und Besatz. Die Knöpfung der Weste ist genau erkennbar. Er ist begleitet von einem Hund, der ihn, Schwanz auf dem Boden, sehnsuchtsvoll ansieht, denn der Jäger trägt in einer Jagstasche einen Fuchs, der den Schwanz traurig hängen lässt, verständlich angesichts der Tatsache, dass er tot ist.
Unter den anderen Exponaten noch erwähnenswert eine aufziehbare Zigarrenschachtel mit Schubfächern, die von unten
gekühlt wird, um die Zigarren in gutem Zustand zu erhalten.
Vom oberen Geschoss aus hat man einen bilderbuchmäßigen Blick auf den sonnenüberfluteten Platz der Kathedrale, deren Häuser schräge Schatten werfen.
Von den reichlich vorhandenen, nicht überbeschäftigten und, wenn sie einmal angesprochen werden, plötzlich sehr freundlich werdenden Aufpasserinnen bekomme ich noch zwei Erklärungen. Worum handelt es sich bei einem auf dem Boden stehenden blauen Topf in dem Herrenzimmer da hinten? Um einen Spucknapf! Darin wanderten die Reste des gekauten Tabaks. Und warum hat eine Kaffeetasse so einen merkwürdigen Einsatz? Sieht aus wie die Schnabeltassen, die wir als Kinder benutzten. Das ist ein Bartschutz! Er verhindert, dass der Bart beim trinken in Berührung mit dem Kaffee kommt!
Dann ist die Kathedrale tatsächlich offen. Das Warten war zwar nicht umsonst, aber auch nicht sonderlich lohnend. Der Innenraum, ein breiter, einheitlicher Barockraum mit mächtigen Pfeilern und grässlicher Ausstattung, ist nicht unbedingt etwas, das man gesehen haben muss. Aber dennoch hat der Raum eine schöne Atmosphäre, und das ist einzig dem Licht zu verdanken. Es fällt durch kleine Fenster, die hinten bunt und vorne ocker sind, in den Raum und macht ihn hell und dunkel gleichzeitig.
Danach gehe ich auf den bunten, eng mit Ständen bestellten Markt in der Nähe des Malecón. Dort wird allerhand Trödel verkauft, aber auch selbstgemachter Schmuck. Ich brauche eine Mütze, und an Auswahl mangelt es da nun wirklich nicht, aber die meisten haben zu bunte oder auffallende Verzierungen, Embleme oder Aufschriften. Da sie im Vergleich zu den anderen geradezu dezent ist, kaufe ich eine schwarze Baskenmütze mit einem Stern. Die junge Frau, die sie verkauft, setzt sie mir vorschriftsmäßig auf. Dabei drückt sie ihren Körper gegen meine, mehr als nötig wäre, um mir die Mütze aufzusetzen.
Ein paar Meter weiter sagt ein alter Mann, der plötzlich hinter einem Stand auftaucht, als ich ihm einen kleinen Obolus gebe, „Es usted una buena persona“ und deutet dabei auf die Mütze. Das ist alles etwas rätselhaft. Ein paar Stände weiter taucht er dann schon wieder auf und bittet wieder um Geld. Jetzt beginne ich die Strategie zu verstehen.
Eine Frau grüßt mich freundlich, als ob sie mich kenne. Ja, ich hätte ihr heute morgen am Kapitol 20 Pesos für eine Tüte maní gegeben. Sie ist jetzt in Begleitung ihrer Tochter. Jetzt muss ich wohl oder über noch mal Popcorn kaufen. Sie will aber auch noch einen Kuli. Und dann soll ich ihrer Tochter einen Anhänger kaufen. Und dann sagt sie, sie habe noch eine kleine Tochter zuhause und hätte so gerne etwas Trockenmilch. Zähneknirschend stimme ich zu. Sie schickt mich mit ihrer Tochter in einen Laden, und die macht eine Bestellung, die es in sich hat. Es bleibt nicht bei Trockenmilch, und am Ende muss ich sie energisch stoppen. Ich ärgere mich, dass ich mich darauf eingelassen habe, aber noch mehr ärgere ich mich, als ich erfahre, dass ich auf einen billigen Trick reingefallen bin: Es geht gar nicht um Trockenmilch. Man gibt die gekaufte Ware nachher wieder der Ladenbesitzein zurück und teilt sich das Geld mit ihr.
Dann geht es in den Havanna Club und sein Museo del Ron, ganz in der Nähe des Hotels. Hier gibt es sogar Führungen auf Deutsch. Man erfährt, dass weißer Rum gemischt, dunkler pur ist. Der Alkoholgehalt ist gleich, 40-45%. Man sieht die Fässer, in denen der Rum reift, Weißholzfässer aus Kanada. Man erfährt, dass in den Fässern vorher Whisky gebrannt wurde. Das ist kurios, denn in den Brennereien in Irland benutzt man für den Whisky Fässer, in denen vorher Sherry gelagert wurde. Welche Fässer benutzen wohl die Sherrymacher? Man erfährt auch, dass das Zuckerrohr keineswegs eine einheimische Pflanze ist. Sie kommt ursprünglich aus Asien und wurde von den Spaniern nach Kuba gebracht! Hier gedeiht sie gut, aber nicht im Westen der Insel. Dort wird dafür Tabak angebaut. Die Melasse wird extrahiert und dann mit Wasser vermischt und zum Gären gebracht. Am Ende der Führung gibt es noch einen Hinweis auf einen Streit des Havanna Club mit der ursprünglich aus Havanna stammenden Familie Bacardí, bei dem es sozusagen um das Copyright für den genuinen Rum ging. Der Streit wurde gerichtlich ausgetragen, und der Havanna Club bekam recht: Nur er stelle den echten Havanna-Rum her. Der Familie Bacardí wurde aber erlaubt, für ihr Gesöff, das den Namen Rum nicht verdiene, den Namen Bacardí zu verwenden.
Beim Geldwechsel sieht mich die junge Frau hinter dem Schalter erst ernst an und fragt mich streng, wozu ich denn überhaupt kubanische Pesos bräuchte. Ich sollte nur die Ausländerwährung nehmen. Ich erkläre etwas verlegen, die Leute in der Straße bäten manchmal um eine kleine Hilfe, und dazu wären die Pesos gut. Sie erwidert nichts und sieht reglos nach unten, als sie die Scheine zählt. Als sie mir das Geld in beiden Währungen dann in die Hand drückt, zwinkert sie mir zu, und ein leichtes Lächeln spielt sich auf ihrem Gesicht.
In der Nähe des Capitolio werde ich von einer jungen Frau angesprochen, die an einem Stand etwas verkauft. Bald sitze ich an einem Tisch, der zu dem daneben gelegenen Lokal gehört, trinke Bier und daikirí und werde von ihrem Cousin in Beschlag genommen, mit Gesprächen über Kuba und Europa und Reisen und Fidel. Bald werde ich auch noch seiner Schwester vorgestellt und trinke noch ein Bier und gebe eine Runde aus. Beim Kassieren ist man nicht zu kleinlich, aber: Was soll’s?
Wenn ich gefragt werde, woher ich komme, mache ich mir manchmal einen Spaß damit, es nicht gleich zu sagen, sondern raten zu lassen: „¡Adivina!“ Einmal bekomme ich darauf die unschlagbare Antwort: „¿Y dónde está esto? – Und wo ist das?“
Um etwas in den Bauch zu bekommen, stelle ich mich wieder an einem der kleinen Pizzastände an. Diesmal kostet die Pizza sogar 10 Pesos. Immer noch geschenkt. Und schmeckt hervorragend.
Am Hafen hält ein Auto neben mir und will nach dem Weg fragen. Ich mache schon Anstalten zu sagen, sie hätten den unvermeidlichen Fremden getroffen, als ich die Frage höre: „¿El Museo del Automóvil?“ Das weiß ich! Leider habe ich Grund zu der Annahme, dass es heute zu ist.
Am Abend gehe ich in ein Lokal mit Live-Musik in der Altstadt. Ich habe es schon mehrmals gesehen und bin drauf aufmerksam geworden durch ein Traube Menschen, die davor stand. Man kann von draußen zusehen und zuhören. Es ist sozusagen öffentlich. Trotzdem ist das Lokal gut besetzt. Hier gelten allerdings Touristenpreise. Die Gruppe spielt absolut mitreißende Salsa. Das bedeutet wörtlich ‚Soße’, und die Salsa ist wirklich eine Mischung aus verschiedenen Musiktraditionen, mit dem kubanischen Son als Grundlage. Man kann sich dem Rhythmus nicht entziehen, auch wenn man kein aficionado ist. Ein besonders mitreißendes Lied hat den sympathischen Refrain „En La Habana hay una pila de locos.“ Alle Musiker sind Schwarze, mit einer Ausnahme: Ein Weißer, der wie ein Deutscher aussieht, blond und blasshäutig, der sich aber wie ein Schwarzer bewegt und wie ein Kubaner singt.
Danach lasse ich mich, nur so, ein Stück des Heimwegs in einer Rischka fahren, für einen Dollar. Es ist erstaunlich, wie der Fahrer über die unebenen, teilweise nicht asphaltierten Wege kommt, und ebenso erstaunlich, welch kleinen Wendekreis das Gerät hat. Als ich die Adresse nenne, dreht der auf der Stelle um und macht dabei praktisch eine Drehung um sich selbst ohne den Radius zu verlassen.
27. Dezember (Dienstag)
Heute gibt es zum Frühstück zur Abwechslung Crepes mit Honig und torrejas. Immer mal wieder was Neues.
Es ist verrückt: Ich bin in Althavanna inzwischen bekannt. Wildfremde Leute, oder solche, die ich dafür halte, sprechen mich an: „Adónde hoy, compaňero? – Wo geht’s heute hin?“
Endlich ist heute das Humboldtmuseum geöffnet. Das Museum ist bescheiden, es geht wohl mehr darum, die Verdienste Humboldts, der hier immer noch sehr bekannt ist, durch ein Museum zu würdigen, Es sind ein Astrolab, ein Quadrant und andere Instrumente ausgestellt, die Humboldt für seine Forschungen benutzte. Ihm gelang eine neue Bestimmung der genauen Position Havannas, und er erforschte die Flora und Fauna Kubas. Hier verbrachte er drei Monate. Da er Kritik an der Sklaverei übte, verbot ihm die spanische Krone später, nach Kuba zurückzukehren.
An der Wand hängen Stiche mit Stadtansichten aus Humboldts Zeit, u.a. von Berlin und Madrid. Bei Madrid sagt die Führerin „de su patria“, aber da muss ich sie korrigieren. Ich erfahre, dass man hier, im oberen Geschoss, auch wohnen kann. Das Museum vermietet Zimmer an Touristen. So etwas erfährt meistens erst vor Ort.
Dann geht es ins Automobilmuseum. Die Oldtimer, Autos und Motorräder, stehen, chronologisch geordnet, einzeln an der Wand, als erster ein Ford T, das Urmodell des serienmäßig fabrizierten Autos, robust und einfach. Als erstes Auto fuhr es über die Anden und durch die Wüste Gobi.
Sein größter Konkurrent war der Dodge. Er wurde von einem Bruderpaar entwickelt, das später bei einer Epidemie starb. Das Unternehmen wurde von Chrysler gekauft.
Der Chevrolet entstand, als ein Schweizer Rennfahrer von einem Unternehmer beauftragt wurde, ein Auto zu entwickeln. Es überschritt 1927 die Marke von einer Million Exemplaren und übertraf Ford.
Für den Cadillac wurden vier Jahre Entwicklungszeit benötigt. Es war das leiseste und zugleich leistungsstärkste Auto seiner Zeit.
Dann gibt es auch eine uralte Ampel der Marke Eagle, zuerst 1921 in Illinois eingesetzt. Diese Ampeln stehen heute noch in den Straßen Althavanna, perfekt funktionierend. Daneben eine fast ebenso alte Zapfsäule. Die Maßeinheit ist die Gallone.
Das große Modell von Havanna liegt in einem Stadtteil außerhalb des Zentrums, wohin es mich bisher noch nicht geführt hat. Das ist die Gelegenheit, mal mit dem cocotaxi zu fahren, einem der rundlichen offenen, knallgelben, motorisierten Dreiräder, mit Platz für den Fahrer vorne und zwei Fahrgästen hinten. Eine sinnliche Erfahrung ersten Ranges: Es geht mit hoher Geschwindigkeit – wenigstens fühlt sich das so an – mitten auf der mehrspurigen Straße am Meer entlang, links und rechts wird überholt, es riecht nach Abgasen und nach Meer, man hört das Knattern des eigenes Fahrzeugs und das Summen der anderen, der Fahrtwind und eine frische Brise vom Meer wehen ins Gesicht, und ab und zu bekommt man einen Spritzer der Gischt ins Gesicht.
Ich werde in einem sehr ruhigen Stadtviertel gleich vor dem Eingang des gesuchten Gebäudes abgesetzt. Das Modell nimmt den ganzen Raum ein. Es soll das zweitgrößte der Welt sein, 144 m2 groß. Das ist beeindruckend, aber nicht sehr hilfreich. Es erschlägt einen eher. Um einen Überblick zu bekommen, muss man auf eine Empore steigen, aber dann ist man weit weg. Trotzdem kann man zwei Dinge gut erkennen: Der Stadtteil Casablanca unterscheidet sich deutlich von den anderen. Die Siedlungen sind viel großräumiger angelegt. Und man kann die Stadtentwicklung erkennen, denn die einzelnen Viertel sind farblich unterschieden, nach Entstehungszeit. Man sieht, dass die Keimzelle Havannas im Norden liegt, dass es sich dann Richtung Süden erweitert hat, und sich dann Richtung Westen, aber nicht Richtung Osten ausgedehnt hat.
Um das Modell herum sind Photos von Plätzen Havannas mit Erklärungen angebracht. Hier erfährt man, dass die Plaza Vieja ursprünglich Plaza Nueva hieß. Sie entstand, als die Festung gebaut wurde und die Plaza de Armas, der alte Festplatz, zum Festungsplatz wurde. Naheliegenderweise nannte man sie also Plaza Nueva. Nach der Schaffung eines weiteren Platzes, der Plaza del Cristo, mutierte die Plaza Nueva dann zur Plaza Vieja. Als sie noch Plaza Nueva hieß, fanden auf dem repräsentativen, rechteckigen Platz mit Arkaden, Balkonen und Eingangsportalen, Märkte und Feste statt. Mir persönlich gefällt die Plaza de San Francisco, die unregelmäßiger ist und eine Fülle verschiedener Baustile hat, die dennoch einheitlich wirken, noch besser, aber auch die Plaza Vieja ist nicht zu verachten. Die Häuser sind zum Teil renoviert, zum Teil in altem Zustand.
Die Rückkehr ins Zentrum gestaltet sich schwer. Hier gibt es kein cocotaxi, das man einfach anhalten könnte. Ich gehe erst ein Stück zu Fuß Richtung Hauptstraße. In diesem Viertel herrscht eine ganz andere Atmosphäre. Es ist viel ruhiger. Man wird weder angesprochen noch angebettelt.
Einmal an der Hauptstraße angekommen, habe ich keinen richtigen Erfolg mit meinen Fragen nach dem Weg, und ich weiß nicht einmal so richtig, wie ich die Hauptstraße überqueren soll. Dann komme ich aber doch an eine Bushaltestelle, von der ich aber, nachdem mehrere Busse, die nicht nach Althavanna fahren, gehalten haben, zu einer anderen Bushaltestelle geschickt werde. Aber diese Busse sind alle überfüllt und halten nicht. Ich versuche es mit Taxis, aber auch das klappt nicht. Sie sind entweder voll oder halten nicht. Also gehe ich zu Fuß zurück, durch einen schrecklichen Tunnel und entlang einer vielbefahrenen Straße, in der Mittagshitze. Als ich an den Malecón komme, wird es etwas besser. Auf einer ins Meer hineinragenden Felsenplattform liegt ein wunderbar aussehendes Café, aber dort ist man völlig ungeschützt in der Sonne und ich lasse es sein. Also geht es weiter, mit müden Beinen und wunden Füssen, Richtung Stadt. Es ist das einzige Mal während des Aufenthalts, dass ich Havanna verfluche.
Als ich beim Kaffee auf der Plaza de San Francisco sitze, taucht wieder die Frau auf, die mich dieser Tag auf der Straße angesprochen hat, nachdem wir vorher hier einmal ein paar Worte gewechselt hatten. Diesmal ist sie in Begleitung zweier Mädchen. Ich werde aufgefordert, zu bestätigen, dass sie sehr schön sind, was ich auch pflichtschuldig tue. Die Frau sagt mir, sie habe mich schon oft gesehen, und immer sei ich alleine. Das scheint mir den kubanischen Vorstellungen von Urlaub nicht vereinbar zu sein. Mehr als einmal hat schon die Tatsache, dass ich alleine angereist bin, ungläubiges Staunen hervorgerufen. Offensichtlich bedarf das einer Erklärung und sie will, leicht entsetzt, wissen, ob ich vielleicht nicht auf Frauen stehe: „Pero, ¿no te gustan las chicas?“
Als ich mich wieder erholt habe, gehe ich dann doch noch in den Congreso de los Representantes, einem Gebäude, auch ganz in der Nähe des Hotels, an dem ich schon oft vorbeigekommen bin. Für die schmale Straße ist die Eingangsfront mit den hohen Säulen etwas zu bombastisch geraten.
Der Empfang hier ist äußerst freundlich. Ich werde durch das Gebäude geführt, das heute Sitz des Erziehungsministeriums ist, früher aber Sitz der Zweiten Kammer des Parlaments war. Daher der Name. Aus der Zeit stammt noch ein Raum mit Sitzen im Halbkreis, einer Empore und sehr eklektischer Ausstattung. Schön ist das nicht gerade. Ich erfahre aber etwas über die merkwürdig dekorierten Fensterscheiben, die ich schon an verschiedenen Stellen gesehen habe. An den Scheiben sind über Kreuz Bänder angebracht, in der Form eines Andreaskreuzes. Sie haben, wie ich jetzt erfahre, keine dekorative Funktion, sondern eine ganz praktische: Sie stärken die Fensterscheiben bei Sturm. In der Zeit, in der ich in Havanna bin, ist das Wetter immer gut, und man kann sich gar nicht vorstellen, dass in anderen Jahreszeiten Stürme und Regenfluten die Regel sind.
Im vorderen Teil des Gebäudes gibt es ein Museum zur Alphabetisierung. In Kartuschen wird der Weg der Ausbildung, vom Kindergarten bis zum Abschluss, dargestellt, und in Vitrinen gibt es Dokumente zur Alphabetisierungskampagne, die gleich nach der Revolution einsetzte und bereits 1961 abgeschlossen wurde, als die Analphabetenquote auf 3,5 % gesunken war und Kuba zur „analphabetenfreien Zone“ erklärt wurde. Heute soll die Quote bei 0,3% liegen, was wohl nicht ganz stimmen wird, aber den Erfolg kann niemand ernsthaft bestreiten. Das Motto lautet: „Saber leer es saber andar, saber escribir es saber ascender.“
In anderen Vitrinen sieht man Photos von der Kampagne, Fibeln, mit denen gelernt wurde, und eine chinesische Gaslampe. Was macht die hier? Lampen dieser Art kamen bei der Kampagne zum Einsatz, damit in ländlichen Gebieten auch abends unterrichtet werden konnte, nachdem die Bauern von der Arbeit zurückkehrten.
Auch hier gibt es Devotionalien, die Uniform des Sohns von José Martí und den nach Céspedes benannten Orden, der unter anderem dem Vater des nach Florida entführten Emiliano verliehen wurde, der dafür sorgte, dass sein Sohn nach Kuba zurückkam.
Beim Verlassen des Gebäudes sieht mich eine ältere, ärmlich aussehende Frau. Sie bleibt in sicherer Distanz, macht aber eine Geste, die besagt: „Ich brauche etwas zu essen“. Ich gehe auf sie zu und gebe ihr 20 Pesos, eine Kleinigkeit. Zu meinem Entsetzen nimmt sie meine Hand und küsst sie.
Am späten Nachmittag gehe ich mit der Kamera durch die Stadt und mache Photos von den Besonderheiten, die ich in den letzten Tagen gesehen habe, dem camello, dem cocotaxi, den santeras, von pelota spielenden Jungen aber auch von den wunderbaren Häuserfassaden und dem schönen Löwenbrunnen auf der Plaza de San Francisco.
In der Nähe des Platzes sieht ein Junge durch das vergitterte Fenster seines Hauses auf die Straße, melancholisch dreischauend, ein Motiv, wie man es in Genrebildern finden könnte. Ich frage ihn, ob ich ein Photo von ihm machen könne. Schüchtern stimmt er zu. Als ich ihm danach 20 Pesos in die Hand drücke, läuft er laut rufend in die hinteren Räume. Das Photo wird mein bestes aus Havanna.
An verschiedenen Ecken im Zentrum stehen Vögelhändler mit ihren Käfigen. Oder handelt es sich um etwas anderes? Auch davon will ich ein Photo machen. Ich bitte die Frau, die dabei steht, um Erlaubnis und nutze die Gelegenheit, etwas zu erfahren. Sie hat Wellensittiche, Kanarienvögel und Kakadus und erzählt mir etwas über deren Eigenarten. Die Vögel sind tatsächlich zum Verkauf. Wie denn die Käufer die Vögel nach Hause bekämen, will ich wissen. In den Käfigen, die werden gleich mitverkauft. Neben der Frau steht ein kleines Mädchen und ich werde gebeten, auch von ihr ein Photo zu machen. Ich tue es, und sage, wie hübsch das Mädchen ist. Und bekomme eine Reaktion, die mich umwirft: Die Frau fragt, nicht ganz ernst, aber wohl auch nicht nur zum Spaß: „¿Te la quieres llevar? -Willst du sie mitnehmen?“
28. Dezember (Mittwoch)
Die Abfahrt ist erst um 20.55. An der Rezeption begegne ich einem Asturianer, der aus Varadero vor den Touristen geflüchtet ist und sich in Havanna viel wohler fühlt. Er zieht jetzt ins Hotel, nachdem er zuerst in einer Casa Particular gewohnt hat. Das war doch wohl zu viel des Abenteuers. Als ich von der Schönheit der Natur in Asturien spreche, tut er diesen Kommentar mit ein paar Worten ab, die wohl sagen sollen: Brauchst du mir nicht zu sagen, ich weiß, dass Asturien schön ist und habe keinen Zweifel daran, dass das alle Welt denkt. Das kommt mir irgendwie spanisch vor.
Als ich an der Plaza de San Francisco auch noch die Granma kaufe, die Parteizeitung, bin ich mit meiner Che-Mütze komplett auf Linie gebracht.
Am Kapitol kommt ein junger Mann auf mich zu und bittet mit kaum verständlicher Stimme um etwa Geld. Er hat bei einem Autounfall eine Kehlkopfverletzung erlitten und zeigt mir seine gotterbärmlich entstellten Beine. Wir unterhalten uns ein bisschen. Als er sich verabschiedet, fragt er mich, ob ich einen Sohn hätte. Nein. Darauf gibt er mir einen Kuss und sagt: „Ya tiene – Jetzt haben sie einen.“ Ich bin verlegen, verwirrt und gerührt gleichzeitig.
Ich habe noch Zeit, mir das Museo de Artes Plásticas anzusehen, ein kleines, aber feines Museum, das zeitgenössische. minimalistische Werke junger Künstler ausstellt. Es ist in der zweiten Etage eines der Kolonialhäuser der Altstadt, wieder ganz in der Nähe des Hotels, untergebracht, in nicht viel mehr als einem größeren Raum. Eine riesige Kollage beherrscht eine Wand, Tumulto, ein Schwarz-Weiß-Bild aus lauter Gesichtern. An einer anderen Wand gibt es eine ganze Reihe von Bildern, bei denen ein gelbes Strichmännchen auf schwarzem Untergrund den Menschen in immer wieder neuen Variationen in seinem Verhältnis zur Sonne darstellt. Und dann ein Werk, das nach Bastelarbeit aussieht, aber mir in seiner Einfachheit sehr gefällt: Eine Holzfigur steht einer anderen gegenüber, die nur aus Draht gemacht ist, und die Drahtfigur legt der Holzfigur eine Hand auf die Schulter.
Dann schaffe ich es doch noch, die verrostete, alte, kaum noch fahrtüchtig erscheinende Fähre zu nehmen, um auf die andere Seite der Stadt hinüberzufahren. Ich habe es schon seit Tagen vor, aber alle fanden mein Ansinnen verrückt und warnten mich vor der Gefahr. Sie könnte jeden Moment sinken. Alles übertrieben. Die Anlegestelle ist gleich dem Hotel gegenüber. Es gibt zwei Verbindungen, nach Casablanca und nach Regla. Ich will nach Casablanca. Man muss durch einen Durchgang und sich in eine Schlange stellen Ich denke, das ist die Schlange für die Fahrkarten, aber nein, es ist eine Sicherheitskontrolle. Hier werden Taschen durchsucht, weiß der Himmel warum. Ich werde einfach durchgelassen, weiß der Himmel warum. Dann gibt es zwei Schlangen, aber ich weiß nicht, welche die für Casablanca ist. Also frage ich. Daraufhin dreht sich eine umwerfend schöne Frau vor mir um und sagt. „Casablanca? Warum? Komm mit mir nach Regla“. Ich fahre trotzdem nach Casablanca. Für den Fahrkartenverkauf gibt es keine Kasse. Ein Mann steht einfach an der Seite und sammelt das Geld der Passagiere in seiner Hand. Die meisten haben es passend, und wenn er wechseln muss, wühlt er in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Die Fahrt kostet 10 Centavos. Ich habe nur 20 Pesos, das Fünfhundertfache des Preises! Während der kurzen, lauten, aber sicheren Überfahrt, die man im Stehen hinter sich bringt, versuche ich auszurechnen, was die Fahrt umgerechnet kostet. Es muss zwischen ein und zwei Pfennigen liegen, weniger als ein Eurocent.
Auf der anderen Seite steht auf einem einsamen Gleis eine verrostete Lokomotive. Zwei Touristen fragen, warum die hier stehe. Es stellt sich heraus, dass es eine ganz normale Lokomotive für den Alltagsbetrieb ist, die keineswegs zum Alten Eisen gehört.
Auf einem erhöhten Platz Fußball spielende Jungen. Der Ball fällt hinunter, mir vor die Füße, und mit einem genialen Pass schicke ich ihn zurück, genau in die Hände des Jungen, der oben wartet.
Über eine einsame Straße – in der Ferne liegen Häuser, die wie Kasernen aussehen – geht es Richtung Christusstatue. Die große, weiße Statue beherrscht diese Seite Havannas und ist ein Blickfang, wenn man von der andern Seite hinüberblickt. Sie wurde unmittelbar vor der Revolution vollendet. Man muss Eintritt bezahlen, obwohl es nicht viel zu sehen gibt. Von einer runden Bank aus blickt man auf die andere Seite Havannas. Zwei Männer kommen und wollen die Eintrittskarten kontrollieren. Ich zeige sie allzu gehorsam vor, und sie nehmen sie mir ab und behalten sie. Erst dann merke ich, dass ich einem Trick aufgesessen bin. Die beiden verkaufen die Karten an die nächsten Touristen.
Dann geht es auf dem gleichen Weg, der verlassenen Landstraße, weiter. Hier treffe ich auf eine Frau mit ihren zwei Söhnen. Als ich sie überhole, werde ich sofort m Geld gebeten: „Dollar“. Ich mache das alte Spiel und verspreche demjenigen den Dollar, der errät, aus welchem Land ich komme. Fast kann ich den Dollar behalten. Die Alternativen sind wunderbar: Polen? Amerika? Chile? Nicht ganz.
Dann komme ich an mein letztes Ziel in Havanna, den Morro, die Festung auf dieser Seite Havannas. Von hier aus wurde der Zugang zum Hafen kontrolliert, zusammen mit der Festung auf der anderen Seite an der Plaza de Armas. Mit einer 250 Meter langen Kette aus schwimmenden Holz- und Bronzestangen wurde jeden Abend die Einfahrt in den Hafen blockiert. Von hier aus hat man durch Schießscharten einen interessanten Blick auf die andere Seite, mit der Skyline, die der Manhattans würdig ist, im Hintergrund und dem glitzernden Meer im Vordergrund. Nach rechts sieht man aufs offene Meer.
Danach gibt es aber noch ein Erlebnis erster Güte: Mit dem Taxi zurück in die Altstadt in einem der Chevrolets, die noch aus der Zeit vor der Revolution stammen und auf wundersame Weise am Laufen gehalten werden. Meiner hat 51 Jahre auf dem Buckel.
Wieder in der Altstadt bringe ich meine letzten Mitbringsel, etwas Seife, Tempos und ein paar Kulis unter die Leute, und meine letzten Pesos. Ich lade eine ältere Frau, die maní verkaufend auf der Plaza de San Francisco hin und her läuft, auf eine Cola ein. Erst ist sie argwöhnisch und hält nach Polizisten Ausschau, aber dann nimmt sie an. für mein restliches Geld bekomme ich Dutzende von cucuruchos und nochmals Dutzende von großen Tüten, Familienpackungen sozusagen. Ich ziehe damit los und gebe den ersten mir entgegenkommenden Kindern etwas, und ab dann brauche ich mich um nichts mehr zu kümmern. Die anderen kommen wie von selbst.
Am frühen Abend trinke ich ein Bier in einem kleinen Gartencafé ein ganz klein wenig abseits der Plaza de San Francisco. Ich erfahre, dass jetzt Ferien sind und dass die Kinder, die ich in Schuluniformen gesehen habe, keinen Unterricht haben, sondern die Schule als Hort während der Ferien besuchen. Die Leute, die Unterkunft in casas particulares, in Privatpensionen anbieten, sind Privatunternehmer. Sie zahlen dem Staat eine Gebühr für die Lizenz, die jedes Jahr erneuert werden muss. Das Geld wieder herauszuholen, ist ihre Sache, und den Staat interessiert es nicht, ob sie Gewinn oder Verlust machen. Touristen seien in Kuba absolut sicher, da härteste Strafen auf Übeltäter warten. Mann kann und will es sich offensichtlich nicht leisten, den Tourismus in Verruf zu bringen. Ich könne mein Portemonnaie offen auf den Tisch legen und auf die Toilette gehen, ohne jedes Risiko. Ich tue es trotzdem nicht, und bin sowieso kein uneingeschränkter Fan kubanischer Toiletten.
Dann ist es Zeit für die Fahrt zum Flughafen. Die Begrüßung im Flugzeug könnte nicht herzlicher sein. Mein Nachbar fragt mich: „Wollen Sie sich jetzt etwa hierhin setzen?“ Das Personal bei LTU tut auch alles, um mir das Ende einer schönen Reise zu vermiesen. Aber das lasse ich nicht zu. Außerdem gibt es eine gute Nachricht: Der Rückflug ist zwei Stunden kürzer als der Hinflug. Die Erklärung, warum das so ist, liefern gut informierte Familienmitglieder später nach: Es ist eine Folge des Jetstreams, eines starken, schmalen Windstroms, der sich horizontal wie ein Fliessband um die Erde windet. Aufgrund des Zusammenspiels verschiedener Faktoren, die mit der Erdrotation zusammenhängen, wirkt der Jetstream der Tropen immer von West nach Ost. Die Flugzeuge nutzen den Jetstream aus, um höhere Geschwindigkeiten und niedrigeren Treibstoffverbrauch erzielen können!