Istanbul (2005)

Samstag, 2. April

Trotz sattem Zeitbudget am Morgen doch wieder nervös geworden und schon zum erstem Mal durchgeschwitzt, bevor es überhaupt losgeht.

 

In Luxemburg am Zubringer zum Flughafen, wo an allen Ecken umgebaut wird – auch heute, am hochheiligen Samstag, wird gearbeitet – in die falsche Spur geraten und Richtung Bahnhof gekommen. Nervenkostüm weiter angegriffen. Dann aber unbeobachtet gewendet und einen guten Parkplatz bekommen.

 

Am Flughafen ist nichts los – man weiß es bei Luxemburg einfach nicht – entweder ist der Teufel los oder gar nichts. Das Gepäck wird gleich nach Istanbul weitergeleitet.

 

Nach dem Einchecken in die ganz neue, noch nach frischem Anstrich riechende Abflughalle gekommen, die sogar ein Laufband hat. Als ich das Band betrete, kommt es mir entgegen. Das linke Band geht in Laufrichtung. Ist das irgendwie international oder Zufall? Bis zum Abflug bleibt noch reichlich Zeit, ich kann sogar noch das Kreuzworträtsel aus der Zeit lösen.

 

Beim Einstieg wieder mulmiges Gefühl: Auf dem Ticket steht Air France, ich steige aber in eine Luxair Maschine ein. Bin ich falsch? Fragen ist mir zu doof, und das mulmige Gefühl legt sich erst, als der Pilot uns zu dem Flug nach Paris begrüßt.

 

In dem winzigen Flugzeug sitzt ein fülliger Araber auf meinem Platz. Ich gebe nach und setze mich auf seinen Platz, neben einen fülligen Italiener, der mir den ganzen Flug über seinen Ellbogen in die Rippen drückt. Glücklicherweise dauert der Flug nur 35 Minuten. Der Slogan im Flugmagazin von Luxair heißt “Travel in good company”.

 

In Paris in Panik geraten, als Istanbul auf den Bildschirmen überhaupt nicht erscheint und ich merke, dass ich zu einem anderen Terminal muss. Die Eincheckzeit hat schon begonnen. Dann aber ist der andere Terminal zu Fuß innerhalb desselben Gebäudes zu erreichen. Sofort erfolgt der Einstieg.

 

In der geräumigen, nur halb besetzten Air France Maschine nach Istanbul auf einem ruhigen Flug fast nur Zeitung gelesen. Zum Essen gibt es Fisch und ein Stück Käse, das ich nicht aus der Plastikhülle herausbekomme. Ich muss mich mit dem Nachtisch begnügen.

 

In der Türkei gibt es doch eine Sommerzeit, und der Flug dauert nur drei Stunden.

 

Auch in Istanbul gibt es eine ganz neue Flughalle. Bei der Passkontrolle gibt es lange Schlangen, und jede einzelne Überprüfung dauert lange. Wieder bekomme ich Panik, da alle einen Reisepass vorzeigen, während meiner zu Hause in der Schublade liegt. Panik wird größer, als der Mann vor mit trotz Reisepass nach einem Visum gefragt und zurückgeschickt wird. Dann geht aber bei mir alles schnell und problemlos.

 

Der Flughafen heißt Atatürk. Wer hätte das gedacht? Es ist stark bewölkt und kühl, gerade mal 7°. Zu Hause ist es sonnig und warm.

 

Draußen wartet Aishem, eine junge, gut aussehende Frau mit meinem Namensschild und einem kleinen, untersetzten, kahlköpfigen Mann, ihrem Ehemann, wie sich herausstellt. Sie sind mit dem Auto gekommen, einem brandneuen Honda, und bringen mich zum Hotel.

 

Unterwegs erfahre ich, dass sie gerade umziehen und deshalb in diesen Tagen sehr beschäftigt sind. Heute Abend aber könnte ich mit zu ihren Schwiegereltern zum Essen kommen. Sie hätten gehört, es käme jemand aus Deutschland und gleich gesagt, sie sollten ihn doch zum Essen mitbringen. Sie hätten mehrere Jahre in Deutschland gelebt und ihr Mann sei sogar dort geboren. Die Stadt, in der sie gelebt hätten, hieße … Wie hieß sie noch mal? Ach ja, Duisburg. Ob ich das kenne?

 

Sowohl ihre alte als auch ihre neue Wohnung sind nicht allzu weit vom Flughafen entfernt, und in diesem Stadtteil liegt auch die Universität, und auch ihre Schwiegereltern wohnen hier. Das Hotel ist mitten im Touristenviertel Sultanahmet. Trotzdem nehme ich das Angebot an, zuerst am Hotel vorbeizufahren. Zur allgemeinen Überraschung ist überhaupt kein Verkehr. Ich erfahre, dass Samstag und Sonntag arbeitsfrei sind, wie bei uns, trotz des Islam.

 

Aishem spricht hervorragendes, überkandideltes Englisch, so als wäre sie eine Figur der besseren Gesellschaft aus der Verfilmung eines Romans der Jahrhundertwende. Ihre Lieblingswörter sind actually und indeed, und ein Satz ohne die beiden ist für sie kein vollständiger englischer Satz. Sie ist ein Jahr in Bristol gewesen, wo sie ihren MA gemacht hat. Jetzt promoviert sie an ihrer Heimuniversität, der altehrwürdigen Bosporus-Universität, mit einer Arbeit über das Drama der Renaissance und lehrt gleichzeitig mit einem geringen Stundendeputat an einer neuen Universität, unserer Partneruniversität.

 

Der Ehemann ist Chirurg, spricht wenig, aber fährt mit schlafwandlerischer Sicherheit durch Istanbul. Nach ein paar Kilometern kommt das Meer in Sicht. Es ist das Marmarameer, und dort warten die Schiffe auf die Erlaubnis, durch den Bosporus zu fahren. Sie können nur in festgelegten Abständen fahren und brauchen einen Lotsen.

 

Wir kommen an mächtigen Ruinen vorbei und dann durch ein Stadttor, und Aishem entscheidet sich nach einigem Zögern dafür, dass sie doch nicht osmanisch sind, sondern noch aus byzantinischer Zeit stammen. Damit liegt sie, wie sich später herausstellt, nur ca. 1000 Jahre daneben.

 

Es gibt ein <i> mit und eine <i> ohne I-Punkt, und das <i> in Topkapi gehört zu der zweiten Kategorie, das wie ein englisches schwa klingt. Da Topkapi außerdem auf der ersten Silbe betont wird, hört es sich ganz anders an als in dem Filmtitel, praktisch nicht zu erkennen. In der Nähe des Hotels liegt Kumkapi, und ich erfahre dass kapi wo etwas wie „Tor“ heißt.

 

Unterwegs erfahre ich, wie es mit dem Geld steht. Die Inflation hat inzwischen so große Zahlen mit sich gebracht, dass man jetzt den Knoten durchgehauen und einfach sechs Nullen getilgt hat. Was früher 30.000.000 Lira gekostet hat, kostet jetzt 30 Lira. Das ist vernünftig und klar. Es gibt auch neue Scheine und Münzen, aber die alten gelten weiterhin, und die neuen ähneln den alten. Das ist auf den ersten Blick auch kein Problem, man braucht sich ja nur die Million wegzudenken, aber es hat seine Tücken, wie ich später merken werde. Nicht umsonst sind fast überall beide Preise ausgezeichnet. Bei 15 Millionen ist das vielleicht nicht nötig, aber bei 150.000 schon ganz hilfreich. Einmal bezahle ich im Bus mit 5 Lira und bekomme 3 x 1, 1 x 250, 2 x 25, 1 x 100 und 1 x 5 wieder. Ich weiß heute noch nicht, wie viel ich bezahlt habe. Jedenfalls weiß ich erst einmal Bescheid, weiß aber nicht, wie viel eine Lira wert ist. Das wissen sie auch nicht. Warum sollten sie auch?

 

Inzwischen geht es durch ein enges Viertel mit Kneipen, in das man aber besser nicht alleine gehen sollte, und kurz darauf kommt das Hotel. Es ist sehr einfach, bemüht sich aber nach Kräften, einen anderen Eindruck zum machen: Marmortreppen mit Teppichen, und im ersten Stock eine etwas großspurige Lounge mit ausgestopften Tieren. Ich gehe nur kurz aufs Zimmer, packe  noch nicht einmal den Koffer aus und komme zurück mit den Trierer Pralinen, die eigentlich für Aishem gedacht waren, jetzt aber der Schwiegermutter zufallen. Ich sage das ganz offen.

 

Als wir aus dem Hotel herauskommen, schneit es! Wieder im Auto sieht man dann ganz in der Nähe des Hotels eine Moschee, die Blaue Moschee, und zwei Obelisken. Für Besichtigungstouren also optimale Lage.

 

Die Wohnung der Schwiegereltern ist in einem Hochhaus in einem sehr volkstümlichen Viertel. Die Geschäfte sehen genauso aus wie die türkischen Geschäfte in Deutschland, mit vielen Waren draußen und mit Aufschriften auf der Schaufensterscheibe in großen, leuchtenden Buchstaben.

 

Die Eingangshalle des Wohnhauses sieht ziemlich heruntergekommen aus, die ganze Aufteilung und vor allem die Eingangstüren zu den Wohnungen sind ganz wie in Spanien. Schon im Aufzug riecht es auch ganz wie in Spanien. Die Schwiegermutter begrüßt mich in flüssigem, völlig angemessenen Deutsch mit all den Höflichkeitsfloskeln, die man in einer solchen Situation benutzt, aber ohne jede Steifheit. Alle ziehen sich die Schuhe am Eingang aus, und ich bin vernünftig genug, mich nicht auf das Angebot Aishems einzulassen, die Schuhe anzubehalten. Man findet ein Paar Pantoffeln, in das ich so gerade hineinpasse, aber auf dem dicken, weichen Teppichboden, auf dem wieder andere Teppiche liegen, bräuchte man auch gar keine Pantoffeln. Die Wohnung ist überhaupt sehr gemütlich, wenn auch etwas überladen und etwas kitschig. Dann erscheint der Mann des Hauses, klein wie alle und mit demselben Bauch ausgestattet wie der Sohn. Ich befinde mich also in guter Gesellschaft. Sie waren zwölf Jahre in Deutschland und sprechen dafür sehr gutes Deutsch. Sie hat sogar als Dolmetscherin gearbeitet, obwohl sie noch gar kein Deutsch konnte, als sie nach Deutschland kam. Er war im DM-Markt beschäftigt, und erzählt stolz, er habe die Zeit in Deutschland zu vielen Reisen genutzt: Barcelona, Tarragona, Amsterdam, Den Haag usw. Der Name Trier sagt ihnen dagegen nichts, wohl aber Koblenz! Und natürlich Oberhausen!

 

Auch Aishem versteht ein bisschen Deutsch, eine ganze Menge sogar, und auf Nachfrage stellt sich heraus, dass sie die Grundstufe des Goetheinstituts gemacht hat. Der in Duisburg geborene Ehemann kann dagegen kein Wort.

 

Der Vater erzählt, er sei später ein Jahr in Kairo gewesen und habe da eine Fabrik aufgebaut. In der Tat hängen an der Wand alle möglichen Reproduktionen von altägyptischen Kunstwerken. In meinen Stoßseufzer über die ägyptische Trägheit stimmen sie euphorisch und lachen: Ja, das sei ja wirklich eine Katastrophe. Seine Frau hätte es nicht ausgehalten und sei nach zwei Wochen wieder abgereist. Trotz allem, was er gesehen hat: Istanbul ist die schönste Stadt der Welt.

 

Passend zum Thema Ägypten haben sie auch eine Katze, die sich majestätisch und unbeweglich wie eine Statue in die Ecke hockt, wenn sie nicht beachtet wird. Sie heißt Sakız, und das bedeutet „Kaugummi“.

 

Dann erscheint auch noch die Tochter, das Nesthäkchen, 12 Jahre jünger als der Sohn und 20 Jahre jünger als der ältere Sohn, der noch in Deutschland aufgewachsen ist. Bald geht es schon zum Essen, also fast deutsche, jedenfalls keine spanischen Zeiten. Was ich trinken möchte? Die Frage habe ich befürchtet: Kann man in einem muslimischen Haus Alkohol trinken? Ich sage vorsichtig, ich schließe mich der Allgemeinheit an. Es stellt sich heraus, dass alle, ohne Ausnahme, Rotwein oder Bier trinken. Ich schließe mich dem Hausherrn an und trinke Bier, ein sehr gutes türkisches Bier der Marke Efes. Es gibt hervorragendes Essen –  gar nicht so schrecklich viel – bei dem nicht so recht zwischen den verschiedenen Gängen zu unterscheiden ist. Es gibt einen gemischten Salat mit Bohnen, die, wie ich erfahre, auf Englisch black-eyed beans heißen und die der Jahreszeit entsprechen, und zwei sehr verschiedene Auberginengerichte, einmal dunkel gedünstet mit einer Fleischfüllung, einmal in einer Art  Gemüsepfanne, der Miniaturausgabe eines spanischen pisto. Die mit der Fleischfüllung sind die scharfen, und die Schärfe stammt von einer Paprikapaste, selbstgemacht, eine Spezialität aus Ostanatolien, woher auch  die Ingredienzien der anderen Speisen kommen.

 

Beim Essen erfahre ich, dass die Affinität zu einem der Fußballvereine nur in der Familientradition begründet ist. Wechsel gilt als Verrat. Die Familie der Gastgeber hält zu Galatasaray, die Schwiegertochter zu Beşiktaş. Beide sind im westeuropäischen Teil, Fenerbahçe im asiatischen.

 

Nachher gibt es einen ganz starken türkischen Kaffee, bei dem man, wie in Griechenland, vorher sagen muss, wie man ihn haben will. Ich entscheide mich für „Mittel“, und dann stellt sich heraus, dass alle ihn „Mittel“ trinken. Nur die Schwiegertochter und die Tochter trinken Nescafé, weil ihnen der türkische Kaffee zu stark ist. Mir schmeckt er überraschenderweise, obwohl die halbe Tasse, kleiner als unsere, aber größer als eine Mokka-Tasse, wenn man den Kaffee auf hat, noch voll mit Kaffeesatz ist. Nach dem Essen genau das Richtige.

 

Der Hausherr beklagt, dass ich nur eine Woche bleibe. Man brauche viel länger, und ich müsse beim nächsten Mal auch unbedingt ans Mittelmeer. Auf Nachfrage empfiehlt er Antalya und zwei Orte, von denen ich noch nie gehört hatte, vor allem Marmaris.

 

Bei der Gelegenheit lerne ich den Ausdruck Inschala, den ich in den nächsten Tagen ein paar Mal anbringen kann.

 

Dann geht es zu einer sehr passablen Zeit zurück zum Hotel. Vorher müssen noch Sachen für den morgigen Anstrich in der neuen Wohnung von einem Auto zum anderen transferiert werden. Wir stehen unten, und der Hausherr öffnet und schließt, auf dem Balkon im fünften Stock stehend, seinen Kofferraum mit dem elektronischen Schlüssel. Staunend nehme ich zur Kenntnis, dass das geht. Das hätte noch vor zwanzig Jahren nach Zukunftsmusik geklungen, und zu unserer Kindheit wie ein Märchen. Auto heißt auf Türkisch araba, was man sich sehr gut merken kann.

 

Auf der Rückfahrt bekomme ich noch Instruktionen für das Programm von Montag bis Mittwoch: Treffen mit den Erasmus-Verantwortlichen, Treffen mit den Mitgliedern der Anglistik, Besprechung über das Lernprogramm der Austauschstudierenden, Teilnahme an Lehrveranstaltungen, Vorstellung der Universität Trier. Am Montag um 10 soll ich am Haupteingang sein. Zu der Uni komme ich entweder im Taxi oder mit einer Kombination aus Straßenbahn und U-Bahn.

 

Der Fernseher im Hotel hat mehrere Dutzend türkischer und einen französischen Kanal. Auch auf mehreren türkischen Sendern Sonderberichte aus Rom über den Papst. Der Prozess der Seligsprechung ist bereits eingeleitet. Erst später wird mir klar, dass ich auch im Ausland war, als der letzte und als der vorletzte Papst starb. Die Päpste sollten zittern, wenn ich ins Ausland fahre.

 

Sonntag, 3. April

Das Zimmer des Hotels hat einen an Hässlichkeit nicht zu überbietenden Ausblick, aber es gibt einen Vorhang, mit dem man ihn ausblenden kann. Es hat aber einen stabilen Schreibtisch.

 

Das Frühstück ist im Keller. Unter den Gästen sind keine Türken, selbst die, die so aussehen, sind keine. Zu dem sonst sehr bescheiden Frühstück gibt es eine große Menge von Oliven in verschiedenen Variationen.

 

Der Laptop funktioniert im Batteriebetrieb nicht, und eine Steckdose ist nicht zu finden. Dann entdecke ich doch noch eine, lose aus der Wand heraushängend. Immerhin erweckt sie den Laptop zum Leben. Ich kann jetzt aber nicht am Schreibtisch sitzen, sondern auf einem Sessel neben dem Bett.

 

Die Dusche ist eigentlich eine Badewanne, kleiner als unsere und in der Mitte geteilt, mit zwei Teilen auf unterschiedlichem Niveau. Man kann sich verschiedene Sitz- und Liegepositionen ausdenken, aber zum Duschen ist es eher unbequem.

 

Nach dem Frühstück geht es als erstes zum Geldautomaten. Da ich nicht weiß, wie viel eine Lira ist, nehme ich gleich den Höchstbetrag, 200 Lira. Im Laufe des Tages finde ich heraus, dass der Kurs etwa 1: 1,7 ist. Das ist schwer zu rechnen, und zur groben Orientierung halte ich mich an die gute alte Mark und rechne 1 Lira = 1 DM. Der Geldautomat gibt erst Geld und Quittung, und dann erst die Karte. Ich bin erleichtert, als sie wieder zum Vorschein kommt.

 

Der Geldautomat ist auf der Divan Yol, einer Straße mit einer Trasse für Busse und eine ganz moderne Straßenbahn. Sie führt auf einen Platz, an dem die Hagia Sofia liegt, ein paar Gehminuten vom Hotel entfernt, und hat alles, was das Touristenherz begehrt, und mehr als das. Es wimmelt hier nur so von fliegenden Händlern, die Kastanien, Sesamkringel, Maiskolben, Postkarten und Schuhputzdienste anbieten, und auf Schritt und Tritt wird man von Schleppern angesprochen, meist direkt auf Deutsch.  Alle haben einen Cousin in Frankfurt.

 

Überall sieht man Schilder mit den Wörtern Dikkat und Lütfen im Großformat, „Vorsicht“ und „Bitte“.

 

Lange bin ich unschlüssig, was ich machen soll, und entscheide mich am Ende doch für die Hagia Sofia. Sie ist von außen unglaublich verbaut. Überall Mauern, Pfeiler, Stützen, Streben, Türme, Kuppeln, alles sehr massiv, nirgendwo ist der Blick frei. Es gibt zwei unterschiedliche Minarette, einer aus Ziegelsteinen gemauert, der andere aus Granit. Im Westen, wo der Eingang ist, ähneln die Fenster denen einer deutschen Fabrikhalle aus der Gründerzeit.

 

Man betritt die Kirche nicht direkt, es gibt einen Narthex und einen Exonarthex, beide langgestreckt. Dann geht es durch die Kaiserpforte, durch die früher wirklich nur der Kaiser ging, in den Innenraum. Auch hier ist es etwas unübersichtlich, teilweise allerdings durch eine große Gitterkonstruktion im Zentrum, die der Renovierung dient. Sofort fallen die bekannten großen runden Holztafeln auf, mit arabischen Inschriften in Gold auf Grün. Im Osten gibt es leicht versetzt, eine Loge des Sultans, wie ein kleiner eigener Bau innerhalb der Kirche, mit den typisch arabischen Gittern, durch die man sehen kann ohne selbst gesehen zu werden, und die mimbar, das islamische Pendant zur Kanzel, die hier sehr erhöht ist und zu der eine hölzerne Treppe mit einem Tor führt. Davor lässt sich ein Tourist mit einer Harley Davidson Jacke photographieren. In der Nähe lassen sich Franzosen photographieren, die so tun, als hielten sie die wirklich sehr weit herabhängenden Lüster mit ihren Armen, schwere, geschwungene Konstruktionen aus Gusseisen mit einem sehr schönen, einfachen Lichterkranz aus Glühbirnen in glockenförmigen Gläsern.

 

Trotz der islamischen Ausstattung hat man nie das Gefühl, in einer Moschee zu sein. Nominell ist es auch keine, denn die Moschee wurde von Atatürk in ein Museum umgewandelt.

 

Die Fenster in den Seitenschiffen sind genauso wie die der Basilika in Trier, gleiches Format, gleiche Machart. Kein Wunder, beide sind spätrömisch, wahrscheinlich aus demselben Jahrhundert.

 

Im südlichen Seitenschiff ein durch Gitter abgetrennter Raum mit sehr unbequem aussehenden Holzschemeln, die sich als Buchstützen erweisen, auf denen man die schweren Folianten aufgeschlagen ausstellen konnte. Der Raum ist die Bibliothek Sultan Mahmuds (XVII).

 

Hinten im Mittelschiff ein riesiger Marmorkrug aus der hellenistischen Periode, der aus Pergamon hierher gebracht wurde (XVI).

 

Der ganze Bau befindet sich in einem erstaunlich schlechten Zustand: abblätternde Farbe, verzogene Bleiverglasungen, kaputte Fenster, durch die Tauben in den Innenraum fliegen, alles irgendwie staubig oder verdreckt.

 

An verschiedenen Stellen sitzen oder hocken Zeichner, die alle Motive ausgesucht haben, die man als Tourist kaum wahrnimmt.

 

Von der Galerie im ersten Stock kann man in den gesamten Raum hinunter blicken. Das hat was. Schon der Aufstieg über eine spärlich beleuchtete Rampe mit einem Boden aus schweren Steinquadern hat eine besondere Atmosphäre. Von oben erfasst man gut die Wirkung des Raumes. Das Licht ist der Star. Es tritt von allen Seiten durch die schlichten Fenster ein.

 

Unter den Mosaiken, die man oben sehen kann, fällt mir besonders eins auf: Ein strenger Jesus, mit zwei Fingern segnend, in der Mitte zwischen der Jungfrau Maria und Johannes. Jesus hat einen gepflegten, dünnen Bart und welliges Haar und sieht aus, als hätte er vor dem Phototermin noch einen Friseurtermin gehabt. Johannes, der grimmig blickt, hat einen dichten, struppigen Bart, der weder Kinn noch Backe noch Hals freilässt. Was man bei dem nur im oberen Teil erhaltenen Mosaik nicht sehen kann: Jesus sitzt auf einer Holzbank, die anderen stehen.

 

Unten gibt es ein paar Erklärungen zur Geschichte des Baus: Die erste Hagia Sofia (IV) ist abgebrannt,  die zweite Hagia Sofia (V) ist auch abgebrannt und dann in ganz kurzer Bauzeit unter Theodosius (VI) unter Einsatz von Materialien aus allen Teilen des Reichs wiederaufgebaut worden. Hagia Sofia heißt gar nicht, wie ich immer dachte, „Heilige Sophia“, sondern „Heilige Weisheit“, und damit ist eine der Gaben Gottes gemeint.

 

Man verlässt den Bau durch den Südeingang. Dort befindet sich eine schöne antike Bronzetür aus Tharsus (II). Sie ist verziert mit Mäandern, Hakenkreuzen und barock anmutenden floralen Dekorationen. Über der Tür hängt ein Spiegel, der ein auf der gegenüberliegenden Seite angebrachtes Mosaik spiegelt und so geschickt angebracht ist, dass man glaubt, das Mosaik hänge über der Tür. Das Mosaik ist Programm:  Konstantin und Theodosius knien vor der Jungfrau und bieten ihr das Modell von Stadt und Kirche dar.

 

Draußen steht ein kleines zweistöckiges Gebäude, die ehemalige Koranschule, ein Beweis dafür, dass Moscheen immer mehr waren als Bethäuser, nämlich Zentren eines Zentrums sozusagen.

 

Ganz in der Nähe ist die Zisterne: Man steigt eine Treppe hinunter und kommt in einen fast mystischen, halbdunklen Raum, in dem trotz der Besucher Stille herrscht, bis auf leise Musik, die aus unsichtbaren Lautsprechern kommt, und bis auf Wassertropfen, die ab und zu von der Decke ins Wasser fallen. Im Wasser, in dem sie sich spiegeln, stehen 9 m hohe Marmorsäulen, in 12 Reihen zu jeweils 28. Je nachdem, wo man steht, ändert sich die Perspektive. Dies ist die römische Zisterne, die zur Wasserversorgung der Stadt errichtet wurde. Das Wasser kommt aus dem 19 km nördlich der Stadt gelegenen Belgrader Wald und wurde mit Aquädukten hierher geleitet. In einer Ecke des Raumes stehen zwei Säulen auf Quadern mit riesigen Medusenköpfen, von denen einer auf dem Kopf, der andere quer steht. Warum ist unbekannt. Die Medusen sind mit ihren groben Gesichtszügen kaum als weibliche Wesen auszumachen. Vielleicht ist das beabsichtigt.

 

Dann wieder ans Tageslicht und zur Blauen Moschee, die genau auf einer Linie mit der Hagia Sofia liegt. Zwei bedeutende Bauten in unmittelbarer Nachbarschaft, die sich genau gegenüberstehen. Die Blaue Moschee, die die ranghöchste Moschee des Osmanischen Reiches war, ist mit ihrer Kuppel, die nach unten zu allen Seiten in Halbkuppel übergeht, die wiederum in Halbkuppel übergehen und von weiteren Kuppeln umstellt sind, der viel schönere Bau von den beiden, harmonisch, elegant, auch wegen der schlanken Minarette, sechs an der Zahl, was einen Affront bedeutet, denn mehr als vier Minarette hatte bis dahin nur die Moschee von Mekka. Sicher auch ein Ausdruck des Hegemonieanspruchs des Sultans.

Die Minarette haben teils zwei, teils drei der geschmückten, kreisförmigen Umbauten, von denen vermutlich vor der Zeit der Lautsprecher zum Gebet aufgerufen wurde. Ob die unterschiedliche Zahl irgendeine Bedeutung hat, war nicht herauszubekommen.

 

Die Blaue Moschee ist überhaupt nicht blau (wie der Weiße Turm von Saloniki nicht weiß ist) und heißt so wegen der blauen Kacheln im Inneren (die mir aber verborgen bleiben). Offiziell (und auf Türkisch sowieso) heißt sie Sultanahmet Moschee. Der ganze Bereich ist durch eine niedrige Mauer mit Gitterwerk begrenzt, und man kommt zuerst in den Innenhof, der noch einmal so groß wie die Moschee selbst ist. Der Innenhof hat Arkaden zu allen Seiten, sehr stilvoll.

 

Innen eine einzige Enttäuschung. Die Glasfenster sind nichtssagend, die Atmosphäre ist eher die eines Bahnhofs, die beiden unglaublich dicken Rundpfeiler, die die Kuppel tragen, wirken deplaziert.

 

Die islamischen Frauen tragen im Innenraum Kopfbedeckung, auch wenn sie außerhalb der Moschee keine Kopftuchträgerinnen sind, die anderen Frauen brauchen keine Kopfbedeckung.

 

Weil es noch früh ist, mache ich noch eine Stadtrundfahrt mit einem der typischen Touristenbusse. Warum ich mich immer wieder darauf einlasse, weiß ich nicht. Es ist teuer und uninteressant. Immerhin zeigt die Stadtrundfahrt, dass auch „die schönste Stadt der Welt“ hässliche Ecken hat.

 

Von Sultanahmet geht es Richtung Neustadt, an der Süleymanmoschee  und dem Ägyptischen Basar (dem Gewürzbasar) vorbei, dann über die Galatabrücke von der Altstadt in die Neustadt. Dann geht es vorbei an dem Hotel, das eigens für die Reisenden des Orientexpress gebaut wurde und in dem Agatha Christie zu Gast war, am Dolmabahçe Palast (der letzten Residenz der Sultane und dem späteren Amtssitz Atatürks) und am Stadion von Beşiktaş (wo wir nicht einmal informiert werden, um welches Stadion es sich handelt!), an der bulgarische Metallkirche (in Wien hergestellt, über die Donau hierher gebracht und in einer Nacht aufgebaut) und am griechisch-orthodoxen Patriarchat, und dann durch das ehemalige Judenviertel Balat und über den Taksim, den zentralen Platz der Neustadt. Dann geht es kilometerlang an der beeindruckenden, teils nur in Bruchstücken, teils, besonders an den Toren, sehr gut erhaltenen antiken Stadtmauer entlang, die schließlich am Meer endet. Jetzt sind wir wieder genau da, wo wir gestern auch mit dem PKW entlanggefahren sind.

 

Irgendwo gibt es eine größere Straße, die zu bestimmten Tageszeiten (13-23) nur in einer, zu anderen in der entgegensetzten Richtung und zu wieder anderen überhaupt nicht befahren werden darf.

 

In der Nähe der Galatabrücke gibt es ein Einkaufszentrum für Lederwaren, das in einem ehemaligen Frauengefängnis untergebracht ist. Auch eine Art von Kontinuität.

 

Trotz des lateinischen Alphabets sind die türkischen Wörter nicht so leicht zu lesen, wenn man die Konventionen nicht kennt. Es gibt einige Buchstaben, die wir nicht haben und andere, die einen anderen Lautwert haben und (mindestens) einen, <ğ>, der gar nicht gesprochen wird, sondern zur Dehnung des voraufgehenden Vokals dient. Die Sache scheint aber sehr regelmäßig zu sein.

 

Der Dolmabahçe Palast heißt auf Türkisch Dolmabahçe Sarayi. Das ist das Wort, das wir als Serail kennen.

 

In einer sehr modernen Buchhandlung für fremdsprachige Bücher frage ich nach Orhan Pamuk, einen jungen, sehr erfolgreichen türkischen Autor, dessen Romane im Reiseführer empfohlen werden, auch als Bücher über das moderne Istanbul. Die Verkäuferin zeigt auf das Regal, vor dem ich stehe, und das ganze Regal ist voll von Büchern von Pamuk. Sie empfiehlt ihn mit echtem Enthusiasmus („You’ll get the money back if you don’t like it“) und möchte mir gleich alle seine Bücher ans Herz legen, besonders ein neueres, das der Reiseführer nicht erwähnt. Es werde mein Leben verändern. Ob es ihr Leben verändert habe? Ja, sie sei jetzt hier. Ich bleibe dennoch bei dem im Reiseführer empfohlenen Band und kaufe dazu noch einen englischen Reiseführer von Istanbul, ohne ein einziges Photo, aber mit ausführlichen Beschreibungen (der sich im Nachhinein aber nicht als der ganz große Hit erweist). Ganz genau kenne ich den Umrechnungskurs noch nicht, aber auch jetzt scheint mir das schon ein stolzer Preis zu sein, aber als ich nachher feststelle, dass ich ca. 43 € bezahlt habe, kippe ich fast nachträglich noch um.

 

Ich begnüge mich mit einem Maiskolben und einer Portion Kastanien, die ich im Laufe des Nachmittags bei den fliegenden Händlern gekauft habe. Im Moment habe ich keinen Hunger. Das soll sich aber ändern. In der Nacht wache ich immer wieder auf mit Hunger und Rückenschmerzen. Die Rückenschmerzen führe ich auf die steinharte Matratze zurück. Kann ja heiter werden, und das am Anfang der Woche. Aber alle Befürchtungen erweisen sich in den nächsten Tagen als nichtig.

 

Montag, 4. April

Da ich nach dem Frühstück noch reichlich Zeit habe, entscheide ich mich gegen das Taxi und für die öffentlichen Verkehrsmittel. Ich habe zwar keine genauen Instruktionen, habe aber von Aishem erfahren, dass ich von der Straßenbahn in die Metro umsteigen muss, wie die Endstation heißt und dass es einen Einheitspreis gibt. An der Rezeption lasse ich mir noch die Haltestellen aufschreiben und bringe in Erfahrung, in welche Richtung ich fahren muss. Tatsächlich stehe ich um Punkt 10 Uhr, aber keine Minute eher, vor der Uni, aber das grenzt  an ein Wunder.

 

An einem Kiosk, an dem auch der Preis steht (1,10 Lira), bekomme ich den Jeton für die Fahrt. Diese Transaktion geschieht problemlos und wortlos. Fahrkarten gibt es nicht. Mit dem Jeton komme ich durchs Drehkreuz und warte darauf, dass er am anderen Ende wieder herauskommt. Tut er aber nicht. Das kommt mir suspekt vor und ich fühle mich unwohl bei dem Gedanken, ohne Fahrausweis in die Bahn zu steigen. Den aber, finde ich, braucht man, weil der Bereich, in den man einsteigt, zwar abgesperrt ist, nicht aber der Rest der Strecke und man ohne weiteres über die Trasse, ohne eine Sperre zu passieren, an die Haltestelle kommen kann. Aber davon wird kein Gebrauch gemacht. Ob das an der Ehrlichkeit der Türken liegt oder ob wirklich von den Kassenhäuschen  an der gegenüberliegenden Seite kontrolliert wird, weiß ich nicht, aber es scheint zu funktionieren.

 

Als ich in der Straßenbahn bin und mich gerade etwas umgesehen habe, sehe ich plötzlich ein großes M. Ist das schon die Haltestelle, an der ich aussteigen muss? Ich zögere einen Moment, aber da gehen schon die Türen zu. Ich sehe auf meinen Zettel, und da steht tatsächlich diese Haltestelle. Ich hätte aussteigen müssen. Ist aber kein Problem, die nächste Haltestelle ist nicht weit. Ich steige aus und gehe zu Fuß zurück. Jetzt beginnt die Suche nach der Metro. Hier, ein bisschen außerhalb der Touristenzone, ist es schon viel schwieriger mit dem Englischen. Einige schütteln den Kopf, andere gehen wortlos weiter, wieder andere weisen etwas unwirsch auf die Straßenbahn und sagen „Metro“. Schließlich spricht mich jemand an und erklärt mir, ich müsse weiterfahren, nach Aksaray. Ich kaufe einen Jeton und steige in. Jetzt wird mir klar, dass der Mann von der Rezeption diese Haltestelle nicht zum Umsteigen, sondern zum Einsteigen gemeint hat, und als nächste Haltestelle steht auf dem Zettel tatsächlich Aksaray. Dort angekommen, geht wieder die Suche nach der Metro los. Weit und breit nichts zu sehen. Ich gehe in verschiedene Richtungen, alles vergeblich. Dann treffe ich auf einen netten Mann, der es auf Englisch versucht, obwohl er noch nicht einmal rechts kann. Aber er kann 500 Meter und erledigt den Rest gestisch. Tatsächlich komme ich so zur Metro. Wieder muss ich erst das Jeton kaufen. Unten gibt es zwei Gleise, und auf beiden steht ein Zug. Welcher der richtige ist, weiß ich nicht, und als ich herausgefunden habe, dass beide richtig sind, sind beide weg. Also der nächste Zug. Hier merke ich, dass es 13 Stationen sind, und allmählich wird die Zeit knapp. Am Ziel angekommen, folgt man einfach der Masse über eine Fußgängerbrücke zum Ausgang. Dort ist von Uni weit und breit nichts zu sehen, und auch kein Schild. Ich befinde mich am Rande einer Schnellstraße und am Rande eines Stadtviertels mit vielen Geschäften und Ramschläden. Ich sehe mich nach Leuten um, die wie Studenten aussehen, aber vergeblich. Als ich die Einkaufsstraße schon ein ganzes Stück hinaufgegangen bin, fange ich an zu fragen, aber keiner scheint die Kultur Universität zu kennen. Dann habe ich doch noch Glück und ein freundlicher junger Mann zeigt mir, dass ich zurück muss. Er begleitet mich ein ganzes Stück die Straße hinunter, und da er kein Wort Englisch spricht, gehen wir wortlos nebeneinander her. Mir ist ganz komisch dabei. Am Ende der Straße schickt er mich nach rechts, an der Schnellstraße entlang. Ob das richtig sein kann? Bald kommt eine Abzweigung nach rechts, und die nehme ich, da mein Vertrauen in die Schnellstraße gering ist. Wieder nichts. Zurück und wieder die Schnellstraße entlang. Es ist 5 vor 10. Ich gehe ein bisschen schneller, und tatsächlich kommt nach ein paar Hundert Metern ein braunes modernes Gebäude in Sicht, an dem der Name der Uni steht. Geschafft!

 

Aishem wartet bereits, stellt mich gleich einer Kollegin vor, erzählt von dem Campus und von dem bevorstehenden Umzug auf den neuen Campus, wie man dorthin kommt, welche Abteilungen bereits ganz und welche halb und welche noch gar nicht umgezogen sind, und führt mich über Treppen und an uniformierten Wachhabenden vorbei aus dem Gebäude über die Straße in ein anderes Gebäude und in einen Aufzug und in die Anglistik. Ich weiß nicht mehr, ob wir hinten oder vorne oder unten oder oben sind.

 

Zuerst werde ich der Chefin vorgestellt, einer älteren Dame, die einen über die Brille ansieht. Sie hat ihren MA in Leeds gemacht und arbeitet über das Drama der Renaissance. Noch eine. Wir sprechen ein bisschen über dies und das und ich bekomme einen Tee. Dann kommen zwei junge Kollegen, ein Engländer und seine türkische Frau. Ich frage, worüber sie arbeiten: Sie über das Drama der Renaissance, er über das Drama der Renaissance und seinen Bezug zum Drama der Moderne. Ein Nest.

 

Hier höre ich zum ersten Mal den Namen, den ich den nächsten Tagen von jedem höre, der mit dem Austausch zu tun hat, den eines gewissen Prof. Kühnen von der Trierer Rechtswissenschaft, der die Sache initiiert hat. Den kennt hier jeder, nur ich nicht. Die Chefin sagt, auch einen Linguisten von der Partneruniversität könnten sie für ohne weiteres für einen Austausch unterbringen, auch wenn sie selbst noch keine Linguistik hätten, zumal wir am Anfang ohnehin nur eine Woche im Visier haben.

 

Dann geht es in Aishems Büro, das sie mit der Kollegin von vorhin teilt. Die ist 20 Jahre in Kanada gewesen, arbeitet auch als Regisseurin und schreibt selbst Dramen, auch zweisprachige. Woran sie arbeitet, wage ich erst gar nicht zu fragen.

 

Ich erfahre, dass es feste Anwesenheitszeiten für alle gibt (9-17 Uhr) und dass das Wintersemester von Anfang Oktober bis Mitte/Ende Januar, das Sommersemester Mitte Februar bis Mitte Juni geht. Weihnachts- und Osterferien gibt es nicht, aber der 1. Januar ist frei. Sich auch hier nach dem Mondkalender zu richten, wäre wegen der Schwankungen zu kompliziert.

 

Dann werde ich den Kolleginnen vom Auslandsamt vorgestellt, Mutlu und Simin, die mich zu meiner Überraschung in fließendem Deutsch begrüßen. Die eine, Simin, ist Deutsch-Türkin und gerade erst von sechs Monaten in die Türkei zurückgekehrt, die andere, Mutlu, hat an der deutschen Schule in Istanbul Abitur gemacht.

 

Mittagessen gibt es in einem eigenen Saal für die Dozenten an gedeckten Tischen und mit uniformierten Kellnern. Ganz wie zu Hause. Das Tischgespräch ist dreisprachig und sehr lebhaft.

 

Simin und Esin sollen mir den neuen Campus zeigen. Dahin fährt ein eigener Shuttlebus, aber es dauert eine Zeit, bis wir alle drei an derselben Stelle sind und es losgehen kann. Die kurze Strecke könnte man auch problemlos zu Fuß gehen.

 

Der neue Campus wird mit sichtlichem Stolz präsentiert. In die oberen Etagen geht es per Rolltreppe. Ursprünglich sollte aus dem Bau ein Hotel werden. Der Audimax wird gezeigt (nicht größer als ein besserer Seminarraum bei uns) und alle möglichen Räume mit Sonderfunktionen, wo Studenten töpfern, schauspielern und rezitieren. Für diese „electives“ werden Personen aus dem öffentlichen Leben als Dozenten rekrutiert. Dann geht es noch auf die Plattform, von der aus man einen Blick aufs Meer in der Distanz und einen hochmodernen Zeltbau in der Nähe hat, in dem Ausstellungen und Veranstaltungen stattfinden.

 

Zwischen den einzelnen Stationen wird immer wieder viel Türkisch gesprochen, und manchmal bin ich überrascht über die neuesten Entwicklungen, von denen man vermutlich annimmt, sie mir mitgeteilt zu haben. Irgendwann werde ich einem Nuklearphysiker vorgestellt, ohne zu wissen warum. Er kennt Wolfsburg, Braunschweig und Hannover (Deutschland aus der Sicht eines Technikers!).

 

 

Dann geht es in das Büro der stellvertretenden Rektorin. Da finden wir aber nur ihren Sohn vor. Sobald ich ihm vorgestellt werde, beginnt er mir ohne Vorrede einen Vortrag über die Vorzüge der deutschen Kultur zu halten. Zur Zeit arbeitet er an einem Artikel für die E.T.A.- Hoffmann-Gesellschaft und einen für die Johann-Strauß-Gesellschaft. Bei beiden ist er Mitglied. Selbstverständlich sind die Artikel auf Deutsch. Zum Korrekturlesen hat er eine Freundin in Wien. Ich schätze ihn auf höchstens 20. Er hat sich mehrmals erfolgreich für einen Studienplatz in Deutschland beworben, aber bisher mit Rücksicht auf seine Mutter, die er nicht alleine in Istanbul zurücklassen will, keinen angenommen. Er spricht flüssiges, aber auf die Dauer kaum erträgliches Schriftdeutsch in langen, gepflegten Sentenzen, in denen es von Partizipialkonstruktionen, Nebensätzen und Konjunktiven wimmelt. Umgangssprachliche Wörter oder kurze Sätze kommen nie vor.

 

Dann lassen wir ihn bei seinen Aufsätzen und es geht es auf einen Tee in die Cafeteria, die sehr modern ist und auch mit großem Stolz vorgezeigt wird. Man merkt, dass es sich um eine Uni in der Aufbauphase handelt. Es gibt auch Fast food, aber, wie betont wird, türkisches Fast food. Esin schlägt vor, sich heute zum Abendessen bei ihr zu treffen. Ob ich Lust hätte zu kommen? Ihre Wohnung ist auf der asiatischen Seite, im Stadtteil Kadıköy, und obwohl mir nicht gerade nach Leuten und noch weniger nach Reisen mit öffentlichen Verkehrsmitteln durch Istanbul ist, sage ich zu.

 

Meine Befürchtungen sind aber gegenstandslos. Es stellt sich heraus, dass wir drei zusammen fahren. Wie kommen wir denn dahin? Mit dem Schiff! Simin und Esin wohnen beide auf der asiatischen Seite und kommen jeden Tag mit dem Schnellschiff, einer Art Luftkissenboot, das unweit der Uni anlegt. Dahin kommen wir mit dem Shuttlebus, aber als wir dann an der Haltestelle sind, hat sich wieder eine neue Entwicklung ergeben und wir steigen in ein Taxi. Sie haben beschlossen, mit dem eigentlichen Schiff zu fahren. Das dauert länger, und die Anlegestelle ist auch weiter, aber es ist das ist „the real thing“, und sie wollen es mir nicht vorenthalten. Am Ende der langen Taxifahrt schaffe ich es zum ersten und einzigen Mal, das Bezahlen zu übernehmen. Der Taxifahrer lässt sich auch ohne weiteres darauf ein.

 

Die Anlegestelle heißt Eminönü. Das allein war schon die Reise wert. Hier herrscht reger Feierabendverkehr, und es riecht nach Meer und nach  gebratenem Fisch aus den kleinen Imbissständen. Esin weiß schon, dass ich keinen Fisch esse. Das überrascht mich. Für den Einstieg ins Schiff gibt es keine Fahrkarte, sondern einen Jeton. Das überrascht mich nicht. Ich bekomme gleich einen Jeton für die Rückfahrt und immer neue Instruktionen, wie ich nach Hause kommen kann.

 

Bei der Überfahrt wird Tee serviert, und es ist so grade warm genug,  um draußen zu sitzen. Ich genieße die frische Luft. Zwischendurch legen wir an einer Haltestelle an, und dort befindet sich ein von Deutschen gebauter Bahnhof, und der sieht wirklich so aus, als könnte er in Bielefeld oder Bonn stehen. Dann kommen wir an und betreten asiatischen Boden.

 

Zur Wohnung können wir zu Fuß gehen. Es geht durch ein an einem steilen Hang gelegenen Wohnvierteln mit vielen kleinen Geschäften. Überall wird Halt gemacht, es wird gekauft, erklärt, probiert, ich werde von Verkäufern mit Handschlag und zwei oder drei Wörtern auf Deutsch begrüßt und von den Kolleginnen gefragt, ob ich dies mag und ob ich das mag und sage immer Ja. Die Ware ist wunderbar präsentiert, in großen, offenen Säcken oder fein geordnet in durchsichtigen Schubladen oder hinten der hohen Theke, und alles wirkt sehr bunt und vielfältig, und überall riecht es verlockend. Das Bezahlen wird grundsätzlich nicht vom Mann oder der Frau hinter der Theke erledigt, sondern an einer Kasse, an der jemand sitzt, der nur hierfür zuständig ist.

 

Dann sind wir bald am Haus von Esin. Dort geht es, wie gewohnt, mit dem Fahrstuhl hoch, und man traut seinen Augen nicht, wenn man die Wohnung betritt: ein langer Flur zu einer Seite mit einer unendlichen Zahl von Zimmern, und ein riesiges Wohnzimmer mit einem ganzen Ensemble antiker Möbel und direktem Blick aufs Meer. Esin erklärt, die Wohnung habe früher einer Tante von ihr gehört, und sie sei als Kind zum Baden hierher gekommen. Das Meer sei damals direkt bis an den Weg vor dem Haus gegangen. Das kann man noch erahnen. Auf dem dem Meer abgerungenen Streifen hat man zum allgemeinen Entsetzen ausgerechnet eine Kläranlage gesetzt. Baden tut hier sowieso keiner mehr.

 

Zur Begrüßung werden Whisky und Brandy angeboten, aber ich begnüge mich mit einem Glas Wasser. Simin erzählt von ihrer Umsiedlung in die Türkei: Sie hat das Auto voll gepackt und ist von Hamburg nach Venedig gefahren. Dann hat sie die Nerven gehabt, das Auto drei Tage dort stehen zu lassen und sich die Stadt anzusehen! Dann ging es mit dem Schiff weiter und dann mit dem Auto nach Istanbul. Da sie nur einen deutschen Pass hat, muss sie die gesamten Einbürgerungsformalitäten über sich ergehen lassen. Am schlimmsten ist es mit dem Auto. Sie bekam kein türkisches Kennzeichen und durfte mit dem deutschen Kennzeichen nicht länger als ein halbes Jahr bleiben. Also fuhr sie kurzentschlossen die 250 km nach Norden, passierte die bulgarische Grenze und musste bei der Einreise feststellen, dass das nicht „gilt“. Jetzt liegt das Auto erst mal auf Eis.

 

Dann fällt der Gastgeberin ein, dass ich Deutscher bin, und sie fühlt sich verpflichtet, mir ein Bier anzubieten. Dann kann ich nicht wieder Nein sagen. Weil das bei Deutschen wohl so sein muss, bekomme ich einen riesigen Glaskrug mit Henkel. Sie stellt dann aber fest, dass nur eine Dose Bier im Haus ist. Der Inhalt dieser Dose wird dann mit Verve in den Glaskrug eingefüllt, so dass der Krug tatsächlich fast voll wird, mit etwa einem Zehntel Bier und dem Rest Schaum.

 

Dann kommt der Rest der Gesellschaft, darunter auch der Nuklearphysiker. Er ist Esins Ehemann. Jetzt weiß ich auch, warum ich ihm vorgestellt wurde. Zusammen mit ihm kommt die Vizerektorin, eine Ingenieurin, und ihr Sohn. Der verliert keine Zeit und kommt sofort auf die Überlegenheit der deutschen Kultur zu sprechen. Er kennt alles, vom Nibelungenlied über den Taugenichts und Goebbels Sportpalastrede bis zum Vorleser. Ich solle ihm eine Kultur auf der Welt nennen, die das hervorgebracht hat, und nur einen Menschen mit einer ähnlichen Universalbildung wie Goethe. Gar nicht so einfach, und ich versuche, mich damit herauszureden, dass Goethe sterbenslangweilig sein kann. Davon will er nichts wissen. Er selbst hat auch eine Mineralien- und Fossiliensammlung, nicht zusammengekauft, sondern selbst gesucht, und macht botanische Forschungen. Er scheint von all dem wirklich etwas zu verstehen, und von Geschichte ebenfalls. Auf das klassische Erbe der Türkei hält er auch große Stücke. Wir stünden hier, auf dem asiatischen Teil des alten Byzanz, auf historischem Boden, erklärt er, einer Stadt, die, der Mythologie zufolge, nach einer Weissagung „gegenüber den Blinden“ gegründet worden sei. Ob ich die Geschichte kenne. Zufällig habe ich das gerade gestern im Reiseführer gelesen, sage aber zur Sicherheit Nein. Mit den Blinden seien die auf der europäischen Seite gemeint gewesen, die die Vorzüge der asiatischen Seite nicht erkannt und sich dort niedergelassen hatten. Im Reiseführer steht es genau umgekehrt, aber wahrscheinlich gibt es beide Versionen.

 

Die Wohnung wird besonders gerühmt wegen der Sonnenuntergänge, und alle sprechen davon, aber als er dann kommt, bin ich der einzige, der hinsieht. Was daran wirklich beeindruckt, ist, wie schnell es geht.

 

Inzwischen hat die Hausfrau eine Art Kaltes Büffet im Kleinformat zusammengestellt, aus den Dingen, die wir unterwegs gekauft haben sowie einem Salat, den sie in der Zwischenzeit gemacht hat und türkischer Pizza, die wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Das ist eine Art Fladen mit einer dünnen Schicht Hackfleisch, den man einfach zusammenrollt und wie einen Pfannkuchen ist, aus der Hand, ganz formlos, wahlweise mit oder ohne eingerollten Salat. Der Sohn rät mir emphatisch zur Version „ohne Salat“, und natürlich befolge ich den Rat. Alles schmeckt ganz köstlich, vor allem wieder all die wunderbaren kleinen Vorspeisen, bei denen man trotz Erklärung kaum weiß, was man isst. Was auf jeden Fall immer wieder auftaucht, sind Auberginen.

 

Dass ausgerechnet Döner das Emblem für türkisches Essen im Ausland geworden ist, verstehen sie nicht. Es ist ihnen irgendwie zu gewöhnlich. Das Wort wird auf er zweiten Silbe betont und hat einganz offenes <e>, eher wie unser <ä>. Ich erfahre, dass Döner einfach „drehend“ heißt (also das gleiche wie Gyros) und Kebab eine Art Fleisch ist (laut Lexikon alles Fleisch, was weder roh noch gebraten ist, eine kuriose Kategorie, für die wir wohl kein Wort  haben). Beim Döner handelt es sich einfach um gepresste Fleischscheiben. Und ich habe mich immer gefragt, woher die so große Hammelschenkel haben, und sage das auch noch, zur allgemeinen Erheiterung. Döner war ursprünglich immer aus Hammelfleisch, bis findige Türken in Deutschland es durch das billigere Hähnchenfleisch ersetzten. Das war in der Türkei völlig undenkbar, ist aber inzwischen als Reimport auch in der Türkei heimisch geworden!

 

Der Nuklearphysiker erweist sich als ein ausgesprochen umgänglicher, gemütlicher Mann, der sich mit seiner Pfeife in die Ecke hockt, und die Diskussion zwischen dem Sohn und mir mal lachend in sich hinein glucksend, mal mit lauten Lachsalven verfolgt, besonders als ich am Ende resignierend sage, ganz unter uns hätte er natürlich recht mit „Deutschland über alles“, aber das könne ich in der Öffentlichkeit natürlich nicht sagen.

 

Ich erzähle von meiner Befürchtung, mit alkoholhaltigen Pralinen Anstoß zu erregen. Das finden sie ganz putzig. „In der Türkei trinkt fast jeder Alkohol.“ Wohl ein Fall von selektiver Wahrnehmung.

 

Langsam wird es Zeit aufzubrechen, und alle Sorgen über den Heimweg werden mir genommen, denn „sie möchten die Ehre haben, mich nach Hause zu begleiten“, versichert mir der Sohn. Auf diese Weise komme ich sogar in den Genuss der Fahrt über die Atatürk-Brücke, die als einer der Highlights gilt und die mir sonst wohl entgangen wäre. Vorher gibt es aber noch eine vielstimmige Diskussion darüber, wo das Hotel ist. Dann zeigt sich das nächtliche Istanbul wirklich von seiner Schokoladenseite, mit all den erleuchteten Türmen, Moscheen und Brücken.

 

Auf der Fahrt wird deutlich, dass die Vizerektorin den Austausch viel skeptischer sieht als die anderen. Die türkischen Studenten in Trier hätten echte Probleme, vor allem sprachliche. Das wundert mich nicht, und ich kann nur sagen, dass ich von vornherein überrascht war, dass es überhaupt zum Austausch zwischen diesen Fächer gekommen ist und dass das bei der Anglistik besser laufen kann.

 

Inzwischen haben wir Sultanahmet erreicht. Ich bin jetzt 14 Stunden unterwegs und wünsche nichts sehnlicher, als aussteigen zu können, aber man besteht darauf, mich bis vor das Hotel zu fahren. Das hat eine regelrechte Odyssee zur Folge. Manchmal drehen wir uns im Kreis, mal kommen wir in Gebiete, die mir bekannt vorkommen, mal in solche, wo ich noch nie war. Immer wieder fragen wir, kommen dann aber wieder dahin, wo wir vorher schon waren oder stoßen auf Einbahnstraßen oder Abbiegverbote. Von den Antworten verstehe ich natürlich nichts, bis auf ein Wort, das sich dutzendfach wiederholt und das ebenso schön wie nützlich ist: tamam, „in Ordnung“. Am Ende resigniert man und entlässt mich. In knapp fünf Minuten bin ich im Hotel.

 

Dienstag, 5. April

Als ich zum Frühstück runter gehe, habe ich das Gefühl, jemand pfeife mir hinterher. Auch schon lange nicht mehr passiert. Als ich wieder rauf komme, merke ich, dass es stimmt. Neben den ausgestopften Tieren steht, zu ihrer Gesellschaft, ein Käfig mit einem Kakadu, der den Leuten hinterher pfeift.

 

Das Frühstück ist wirklich kaum der Rede wert, fast nur kleine Plastiktöpfchen. Die einzige Variation gegenüber dem Vortag besteht darin, dass Kaffee und Tee die Position gewechselt haben. Egal. Ist sowieso kein Unterschied. Wenn man den Tee als thé au lait trinkt, ist er ganz genießbar, wenn das auch für Türken vermutlich ein Sakrileg ist. Immerhin verdünnen sie ihn auch, aber mit heißem Wasser.

 

Heute geht es auf dem kanonischen Weg zur Uni. Auch nicht viel schneller, aber dafür ohne jede Aufregung. Unterwegs sehe ich aus dem Fenster der U-Bahn ein Gebäude mit der Aufschrift „Bauhaus“, die mir so vertraut vorkommt, dass ich erst später merke, dass ich mich darüber wundern müsste.  Am Ende rausche ich am Eingang der Universität vorbei und merke das erst, als ich auf der Höhe des Campus auf der anderen Seite bin.

 

Ich sehe zwei Lehrveranstaltungen, eine zu Macbeth, eine zu Tom Jones, drittes bzw. zweites Jahr. In beiden Gruppen nicht mehr als 20 Studenten, darunter ein einziger Mann. Keine Kopftücher. Ganz nahe Textarbeit, gute Beteiligung der Studenten, aber nur durch Kurzantworten und Vorlesen gelegentlicher Textstellen. Sehr hilfreich fürs Textverständnis, aber kaum darüber hinaus gehend. Gutes Herausarbeiten intertextueller Bezüge, und die Studenten zeigen, dass sie die Tradition verstehen (höfische Liebe, Romanze, Konzept von Natur, Heldenepos usw.). Die Englischkenntnisse scheinen ganz gut zu sein. Die Überprüfung am Ende des Semesters erfolgt durch Klausur. Könnten bei uns doch etwas ins Schwimmen geraten.

 

Erstaunlich, wie Macbeth schon von der ersten Szene an mit Mehrdeutigkeiten spielt. Es ist ein linguistisches Drama. Bei Tom Jones wird mir wieder klar, wie witzig es ist, mit all der Ironisierung der Tradition und der Werte und vor allem im Spiel mit dem Erzählen und mit dem Leser. Muss ich unbedingt mal wieder lesen.

 

Anschließend werde ich zum Rektor geführt, der erst auf sich warten lässt und uns dann in sein riesiges Büro führt. Über dem Schreibtisch ein Portrait von Atatürk. Von den 20 Minuten, die wir in seinem Büro verbringen, telephoniert er mindestens 15. Er entschuldigt sich zwar brav, aber ich bin doch ziemlich verblüfft, als er, während ich spreche, ungerührt aufsteht, zum Telephon geht und spricht, auch wenn es zu dem Zweck ist, uns Pralinen kommen zu lassen. Auch er kennt Kühnen und hält offensichtlich große Stücke auf ihn. Auch er spricht fließend Englisch und wohl auch etwas Deutsch.

 

Dann gibt es wieder Mittagessen in dem Restaurant der Dozenten. Immer wieder gerät die Unterhaltung ins Stocken, und immer wieder ist es an mir, sie wieder in Gang zu bringen, mit den typischen, kleinen Anekdoten und mit braven Fragen und Erklärungen zum Austausch. Eine junge Kollegin, die ich bisher noch nicht kennen gelernt habe, heißt Özdemir, und ich frage, ob Cem Özdemir auch hier bekannt ist. Nein, nur Aishem kennt ihn. Seinen Vornamen können sie bei meiner Aussprache nicht identifizieren. Ich muss ihn buchstabieren, und dann rufen alle „Ah, Cem“ als hätte ich etwas anderes gesagt.

 

Der 23. April, Geburtstag Shakespeares und Todestag Cervantes, internationaler Tag des Buches und Namenstag des Hl. Georg, ist außerdem noch türkischer Nationalfeiertag.

 

Die Universität heißt Kulturuniversität, aber weil es Türkisch ist, Kültür Üniversite! Sie lieben das <ü>. Auf einer Werbung habe ich das Wort Büyügünü gesehen. Die Türken sagen, das zähle nicht, aber das lasse ich nicht als Entschuldigung gelten.

 

Auf einem Schild sehe ich Üniversitesi. Ich erfahre, dass das –si die Präposition ist und „von“ heißt. Die Präpositionen werden einfach hinten dran gehängt, typisches Kennzeichen der agglutinierenden Sprachen.

 

Im Aufzug fällt das Wort estavrula, und Frau Özdemir sagt, das solle ich auch lernen, aber als ich wissen will, was es bedeutet, findet keiner eine Entsprechung. Es ließe sich schwer übersetzten, es drückt Zustimmung aus, hinter der sich aber auch eine Ablehnung verbirgt. Als wir wieder in Aishems Büro sind, sucht sie nach einer Entsprechung im Internet. Ein Wörterbuch hat sie nicht in ihrem Büro.

 

Bei der Rückfahrt sehe ich an der Metrostation ein geschminktes Mädchen mit Freund an der Hand und Kopftuch, offenbar keine Gegensätze, aber auch eine Gruppe ganz in Schwarz gekleideter Frauen, deren Gewänder nur ein kleines Dreieck zwischen Stirn und Kinn freilässt, was sie nicht davon abhält, eifrig miteinander zu tuscheln, obwohl bei einigen sogar der Mund verdeckt ist. Manchmal ziehen sie das Tuch etwas nach unten, wenn sie sprechen, damit sie von ihren Mitschwestern verstanden werden.

 

Auf der Rückfahrt sitzt neben mir eine Studentin mit Kopien mit der Überschrift “How to be a good teacher”. Ich spreche sie an. Sie ist im ersten Semester Anglistik an der Istanbul University, aber kaum in der Lage, auf die einfachsten Fragen zu antworten. Das kommunikative Niveau entspricht etwa dem, was bei uns am Beginn der Mittelstufe erreicht ist. Im Ausland ist sie überhaupt noch nicht gewesen. Man sieht, dass sich unsere Partneruniversität ihre Studenten gezielt aussucht.

 

Überall hängt die türkische Fahne, ein weißer Halbmond (der keiner ist) und ein weißer Stern auf rotem Grund. Die Straßenbahn führt auch an einem großen Kubus vorbei mit demselben Motiv mit fünf Sternen, was noch sozialistischer aussieht.

 

Am Nachmittag genauere Inspektion des Hippodrom, eines länglichen Areals neben der Blauen Moschee, in dem, der Reihe nach und in gebührendem Abstand, ein preußisches Denkmal, ein altägyptischer Obelisk, eine Skulptur und eine römische Säule stehen.

 

Das preußische Denkmal ist ein Geschenk des Kaisers an den Sultan, in Erinnerung an einen Besuch in Istanbul, mit deutscher Inschrift, die genau das kundtut. Es ist ein kleiner, tempelartiger Rundbau, irgendetwas von der Art, wie man es in billigerer Ausführung in einem deutschen Kurort finden würde.

 

Der altägyptische Obelisk stammt aus der Zeit des Pharao Tuthmosis III. war schon 2000 Jahre alt, als er hier von Theodosius aufgestellt wurde! Man wundert sich, warum er überhaupt stehen bleibt. Er steht auf vier bronzenen Füßen, die wiederum stehen auf einem Marmorsockel, der wiederum auf  vier Steinquadern, die wiederum auf einem Marmorsockel stehen. Der Obelisk, aus bräunlichem Marmor, ist von oben bis unten mit den typischen altägyptischen Symbolen geschmückt, Ibis, Falke, Skarabäus, Auge usw., einige davon in einer Kartusche. Er stellt zwei Rätsel, die beide vom Reiseführer beantwortet werden: Warum steht Sockel nicht auf, sondern  unter der Straße, und warum sieht der untere Teil des eigentlichen Obelisk irgendwie abgeschnitten aus? Antwort: Das römische Bodenniveau war ein paar Meter tiefer, wir stehen jetzt auf mehreren Metern Kulturschutt, und der Obelisk ist beim Transport abgebrochen, und der untere Teil fehlt. Der Marmorblock stellt auf allen vier Seiten Szenen dar, in denen der Kaiser eine Rolle spielt: Der Kaiser sieht einem Rennen zu (schließlich befinden wir uns auf einem Rennplatz), er empfängt den Sieger des Rennens mit dem Lorbeerkranz in der Hand, er sieht der Errichtung des Obelisk zu, und er empfängt die Huldigung vor ihn kniender Gefangener.

 

Dann kommt eine Bronzestatue, die drei ineinander gewundene Schlangen darstellt. Dieses Monument stand ursprünglich in Delphi! Dass es sich um Schlangen handelt, muss man glauben, denn es fehlen die Köpfe. Für deren Fehlen gibt es verschiedene Erklärungen, darunter die, dass sie

 

Schließlich eine steinerne Säule, gemauert, die jetzt nur noch durch ihre Präsenz glänzt, ursprünglich wohl umfasst und verziert gewesen sein muss.

 

Als ich, in den Reiseführer vertieft, vor dem Obelisk stehe, spricht mich ein Mann an. Auch er hat einen Cousin in Frankfurt. Ich antworte höflich, aber knapp, und bewege mich weiter, aber bei der Säule ist er wieder neben mir. Er kommt aus dem türkischen Teil Zyperns. Ich erzähle kurz von unserem Besuch auf Zypern, mache ihm dann aber klar, dass ich nichts kaufen will und sowieso kein Geld habe und gehe entschlossen weiter. Etwas enttäuscht, aber gar nicht aggressiv sagt er, als ich mich schon umgewandt habe: „Schade, ich wollte gar kein Geld von dir, ich habe dich angesprochen, weil ich schwul bin.“ Ich sollte mich geschmeichelt fühlten: Er ist jung, athletisch und gutaussehend. Als ich das am nächsten Tag Aishem erzähle, ist sie echt entsetzt, dann aber, als ich ans Ende der Geschichte komme, regelrecht erleichtert: „Ach so, ich dachte schon, er wollte dir Frauen vermitteln.“

 

In der gesamten Gegend um die Blaue Moschee ist es heute viel ruhiger als am Sonntag. Ich kaufe wieder einen Maiskoben und Kastanien, in der Hoffnung, mir damit das Abendessen ersparen zu können. Beides ist viel schlechter in der Qualität als am Sonntag. Der Maiskolben ist durchweicht und geschmacklos, und als ich mich umsehe, merke ich das er mir 1,50 abgenommen hat statt 1,00,  wie es auf dem Schild steht. Ich muss einen momentanen Impuls unterdrücken, ihm den Maiskolben um die Ohren zu hauen. Der Kastanienverkäufer wendet denselben Trick wie alle an: Er nimmt, wenn man eine kleine Portion bestellt, die kleine Tüte, tut aber etwas mehr hinein, als man bestellt hat und sagt dann “Too much”, so, als wäre es jetzt zu spät, es wieder rückgängig zu machen, tut noch etwas hinzu und lässt sich dann die große Portion bezahlen. Am Ende hat man mehr Kastanien, als man wollte, und mehr Geld ausgegeben, als man wollte.

 

Dann kommt noch jemand mit Waren auf dem Arm auf mich zu. Er wolle gar nichts verkaufen, nur tauschen, Euromünzen gegen Euroscheine. Ich solle nur eben im Portemonnaie nachsehen, ob ich wechseln könne. Ja, denkste! Viele Grüße von Deinen tunesischen Brüdern im Geiste. Die haben den Trick schon so erfolgreich angewandt, dass ich kuriert bin.

 

Dann gehe ich noch in ein von einem Sultan um die Jahrhundertwende errichtete Mausoleum, eine oktogonale Halle, in der Sarkophage unterschiedlicher Größe, alle mit Samt verkleidet, stehen, von Sultanen und anderen hochrangigen Personen. Leider sind die Erklärungen auf Türkisch. Beim Eintritt muss man die Schuhe ausziehen und wird aufgefordert, ein freiwilliges Eintrittsgeld zu zahlen. Auf die Frage, wie viel, sagt der Aufpasser „Fünf“, ist aber mehr als zufrieden, als ich ihm dann das verbliebene Kleingeld gebe, 2,50. Draußen ein Friedhof mit weiteren Sultansgräbern mit weißen Grabsteinen aus Marmor. Die meisten haben florale Dekorationen, einige wenige aber auch gegenständliche, eine Streitaxt, ein Pfeil und, das schönste, ein aufgeschlagenes Buch auf einer Buchstütze. All das könnte westlich sein, nur die Schrift nicht: Die Grabsteine stammen noch aus der Zeit, als Türkisch noch mit arabischen Buchstaben geschrieben wurde.

 

Am Abend bin ich dann doch hungrig, kann mich aber nicht entscheiden, irgendwo hineinzugehen, da man überall aufdringlich angesprochen wird, und lande fast bei McDonalds. Dann verlaufe ich mich und gehe am Ende doch wieder in das Lokal von vorgestern. Das Essen ist teuer, das Bierglas versifft, und sämtliche andere Gäste, ausschließlich Männer, hocken wortlos und regungslos vor dem Fernseher und sehen erst eine Vergewaltigungsszene aus einem amerikanischen Spielfilm, dann Fußball.

 

Mittwoch, 6. April

Am Morgen an der Uni von Mutlu in Empfang genommen worden und mit ihr bei einem Tee über den Austausch gesprochen. Sie selbst ist von Bianca Kaiser, ihrer ehemaligen Dozentin, rekrutiert worden, als hier das Auslandsamt gegründet wurde. Sie hat eine Magisterarbeit über die Einwanderungspolitik in Deutschland geschrieben, auf Englisch, mit besonderer Berücksichtigung der Türkei und Griechenlands.

 

In der Türkei wird man ein Jahr später eingeschult, aber bis zum Abitur sind es nur elf Jahre. Als ich mich noch darüber wundere, warum das so ist, wird mir klar, dass es sich ja schließlich auch um eine finanzielle Frage handelt. Um in der Türkei studieren zu können, muss man nach dem Abitur an einer landesweiten Zulassungsprüfung teilnehmen, an der jedes Jahr ein sechsstellige Zahl von Bewerbern teilnimmt. Die Kulturuniversität als private Universität kann sich einen hohen Standard leisten und sich die Studenten selbst aussuchen. Noch höher ist der Standard für die Stipendiaten. Die anderen Studenten zahlen ca. 6.000 Dollar pro Jahr, und als dann Simin dazukommt, entspinnt sich eine Diskussion zwischen den beiden, ob das viel oder wenig sei.

 

Dann kommt die Vorstellung von Trier vor den Studenten. Ich sage erst etwas zur Stadt, dann zur Uni, dann zur Anglistik. Die Sache gut über die Bühne, und die Studenten stellen auch die richtigen Fragen.

 

Anschließend bietet Aishem mir an, nach Ortaköy an den Bosporus zu fahren. Sie hat eigens ihr Auto mitgebracht. Sie sagt, sie wolle eine Freundin mitnehmen. Ob ich etwas dagegen hätte? Nein, gar nichts, und als ich die Freundin zu sehen bekomme, erst recht nicht. Sie heißt Ahu. Das bedeutet ‚Gazelle’. Sie spricht ganz wenig Englisch. Immerhin gelingt es mir, meine Emergency-Frage zu platzieren: Beşiktaş, Galatasaray oder Fenerbahçe? Und zu meiner großen Freude sagt sie: Fenerbahçe. Jetzt habe ich von jedem wenigstens einen Anhänger kennen gelernt. Sie schafft es auch noch, die Farben des Vereins – Blau und Gelb – zu nennen.

 

Aishem hat angekündigt, sie sei eine schlechte Fahrerin, was sich als wahre Prophezeiung erweist. Sie ist vor allem unsicher, hält die Spur nicht, wechselt die Spur immer im falschen Moment, glaubt bei jedem Hupen, sie sei gemeint (was auch meistens stimmt) und bremst auf der Überholspur. Und das in Istanbul. Außerdem fühlt sie sich verpflichtet, mir Sehenswürdigkeiten am Rande zu zeigen und zu erklären, ihren eigenen Fahrstil zu kommentieren und hin und her zu übersetzen. Dramatisch wird es, als es auf einer vielbefahrenen Straße eine zusätzliche Mittelspur gibt, deren Funktion nicht ganz klar ist: Ist sie für Taxis und Busse? Darf sie nur in einer Richtung benutzt werden? Ist es eine Überholspur? Alle scheinen sie anders zu interpretieren. Jedenfalls fahren wir eine Zeitlang auf dieser Spur und erwecken damit einigen Unmut und ein paar brenzlige Situationen. Zu allem Unheil kommt jetzt noch ein verdächtiges Geräusch dazu, was Aishem noch mehr verunsichert. Ob wir das auch hören? Ahu hört nichts, ich höre ganz deutlich etwas, sage es aber nicht ganz so deutlich. Ich schlage vor, einfach so zu tun, als gebe es das Geräusch nicht, wir könnten hier ohnehin nichts machen. Aber das sagt sich leicht. Es wird allmählich klar, dass es etwas mit der Lenkradbewegung zu tun hat. Ich sage ins Blaue hinein, ohne rechte Überzeugung, vielleicht habe sich nur etwas an den Rädern verfangen. Das komme manchmal vor. Irgendwann hören wir auf, darüber zu sprechen, aber das Geräusch bleibt unser ständiger Begleiter.

Die Fahrt ist schier endlos, ohne dass ein Ende der Stadt in Sicht ist. Wir kommen aber wieder an einigen Sehenswürdigkeiten vorbei, die ich auch schon von den anderen Fahrten kenne, und sie präsentieren sich in der Nachmittagssonne von der besten Seite. Am Dolmabahçe Palast gibt es über viele hundert Meter große Schwarzweißphotos von Atatürk und seiner Zeit. Die beiden Frauen finden das wunderbar. Hier stünde man oft im Stau, und dann könne man sich doch wenigstens die Photos von Atatürk ansehen.

 

Obwohl die Frauen sich redlich bemühen, habe ich die Orientierung längst verloren. Schließlich kommen wir durch eine enge Straße mit Geschäften auf beiden Seiten, und zu meiner Überraschung wird angekündigt, wir seien gleich da. So habe ich mir den Bosporus nicht vorgestellt. Ich werde aber meine Meinung bald revidieren. Erst mal müssen wir aber noch auf den Parkplatz. Aishem kommt nicht an den Automaten heran und muss aussteigen, um an das Parkticket zu kommen. Als das geschafft und der Wagen irgendwo abgestellt ist, hocke ich mich, ohne dass jemand etwas merkt, auf den Boden und entferne ein paar Blätter, die sich an einem Rad verfangen haben.

 

Hinter dem Parkplatz kommen wir sofort in ein schönes kleines Viertel mit Ständen und Kneipen, und nach einer Kehre öffnet sich der Blick auf den Bosporus, der wirklich nicht zu verachten ist: Direkt am Meer stehend, sehen wir links ganz in der Nähe die berühmte Hängebrücke über den Bosporus, gegenüber das asiatische Ufer, und rechts, in der Ferne, in der Sonne glimmernd, das alte Istanbul mit den Silhouetten der großen Moscheen.

 

Wir setzen uns zum Essen in die Sonne mit Blick aufs Meer. Es gibt manti, winzige, mit winzigen Fleischbröckchen gefüllte Teigtaschen mit einer Jogurtsauce und ausgelassener Butter. Eine türkische Spezialität, und wirklich ein ungewöhnlicher Geschmack. Pflichtschuldig bemerken die Frauen, dies sei natürlich nicht der beste Ort für manti, aber eigentlich bedarf es keiner Entschuldigung, ich bin mit meinem Schicksal an diesem Tag nicht unzufrieden. Sie sind auch besorgt, dass es nicht genug sein könnte. Ihre Ehemänner wären mit diesem Gericht nie zufrieden, weil es nicht sättige. Aishems Ehemanns ansehnlichen Bauch habe ich ja schon kennen gelernt, aber der andere ist auch nicht von schlechten Eltern: 140 Kilo, wie sie freimütig bekennt. Die Frauen sind beide gertenschlank, und Ahu bestellt das Gericht ausdrücklich ohne Butter.

 

Ich sage, wie man Döner auf Deutsch ausspricht, und Aishem beantwortet meine Frage, bevor ich sie überhaupt stellen kann: Sie würde nicht wissen, was gemeint ist, wenn jemand das so sagt.

 

Aishem selbst stammt aus dieser Gegend. Sie ist ein „Bosporus-Girl“, und denkt noch oft nostalgisch an ihre früherer Heimat.

 

Der wunderbare und leicht zu merkende Ausdruck für „Auf Wiedersehen“, Güle güle, hat seine Tücken. Nur der, der bleibt, gebraucht ihn, der andere antwortet Allahaismarladick, was glücklicherweise in der Alltagssprache zu Allasmaldik verkürzt wird.

 

Ich trinke Bier, die anderen Wasser, nicht aus Prinzip. Viel wichtiger als der Alkohol sei für sie das Schweinefleisch. Daran hielten sich auch nichtreligiöse Türke wie sie, nicht aus Glauben, sondern einfach aus der Tradition heraus. Zum ersten Mal wird mir klar, dass das vielleicht keine Schwierigkeit, aber ein Punkt sein wird, den es bei Besuchen in Deutschland oder bei den Austauschstudenten zu berücksichtigen gilt. Natürlich gibt es Schweine in der Türkei, antwortet man mir auf meine blöde Frage ganz entgeistert, aber was mit denen passiert, wussten sie auch nicht. Export? Oder einfach nichtislamische Abnehmer in der Türkei?

 

Die meisten Vornamen bedeuten etwas, aber Aishem muss bei ihrem eigenen passen. Es ist eine Variation von Aisha, dem Namen der jungen Ehefrau des Propheten, aber was er bedeutet, ist nicht bekannt. Auf meine Nachfrage stellen sie selbst zum ersten Mal fest, dass ihre Ehemänner, Barış bzw. Özgür, ‚Frieden’ bzw. ‚Freiheit’ heißen. Ob Nomen gleich Omen ist, wird nicht weiter besprochen.

 

Istanbul wird im Türkischen auf der zweiten Silbe betont. Ich versuche, den exotischen Charakter Istanbuls in Verbindung zu bringen mit der Lektüre von Karl Mai in meiner Kindheit: Von Bagdad nach Stambul. Aber davon haben sie noch nie etwas gehört, auch nicht von Winnetou. In England war es genauso, aber in Spanien kannte man zumindest Winnetou und sogar Pierre Briece.

Meine Verwunderung über das völlige Fehlen von Kopftüchern in der Uni entbehrt jeder Grundlage: Es ist verboten. Aishem spricht von einer Studentin, die heute bei dem Vortrag war und Kopftuchträgerin ist. Sobald die Uni aus ist und sie das Gebäude verlässt, setzt sie das Kopftuch auf. Aishem beklagt, dass aus der Sache ein Politikum geworden ist und beschwert sich über den Fanatismus der Kopftuchträgerinnen und ihre ablehnende Haltung gegenüber Frauen wie ihr, die ihn nicht tragen.

 

Als es ans Bezahlen geht, bekomme ich schon böse Blicke, als ich auch nur Anstalten mache, die Rechnung zu übernehmen. Das gehöre sich nicht. Ein türkisches Sprichwort sagt: „Ihr Geld ist hier nichts wert.“ Sie tut sich schwer damit, Münzen als Trinkgeld zu geben. Die waren bisher so wenig wert, dass man immer Scheine gab. Nur ausgemachte Geizhälse gaben Münzen.

 

Nach dem Essen gehen wir noch ein bisschen herum, und mir wird ein Blick präsentiert, wie ihm auch dem Kollegen Bush bei seinem Besuch präsentiert wurde: Der Blick vom europäischen auf den asiatischen Teil mit der Brücke als Verbindung und im Vordergrund eine Moschee mit Motiven wie von einer barocken Kirche: Die perfekte Symbiose von Ost und West. Ob Bush das verstanden hat?

 

Auf dem Rückweg wird beschlossen, dass die Gazelle fährt. Eine weise Entscheidung. Sie fährt viel ruhiger und sicherer. Zu meiner heimlichen Freude stelle ich fast, dass das Geräusch verschwunden ist. Zum erstem Mal in meinem Leben ist es mir gelungen, ein Problem am Auto selbst zu beseitigen – im wahrsten Sinne des Wortes, und ausgerechnet in Istanbul!

 

Auf dem Rückweg machen wir noch Halt an einer Festung, die auf dem gegenüberliegenden Ufer ihr Pendant hat. Hier hätten sich die byzantinischen und osmanischen Truppen gegenübergelegen und beschossen, sagt Aishem, aber mein Vertrauen in ihre Geschichtskenntnisse ist eher gering. Zurecht, wie sich herausstellt: Es waren byzantinische Festungen auf beiden Seiten, von denen aus der Zugang zum Schwarzen Meer kontrolliert wurde.

 

Die Rückfahrt verläuft problemlos, und als es in Istanbul wieder an die obligatorische Suche nach dem Hotel geht, setzte ich mich durch und bestehe darauf, an der Blauen Moschee rausgelassen zu werden. Darauf lassen sie sich vernünftigerweise auch ein. Wir haben bis dahin schon dreimal nach dem Hotel Antea gefragt, ohne Erfolg. Nach einer vergeblichen Frage will ich wissen, was das Problem war und sie sagen: „Wir haben den überhaupt nicht verstanden.“ Das finde ich umwerfend komisch, was wiederum die Frauen sehr befremdlich finden. Das erleichtert den tränenreichen Abschied.

 

Am Abend mache ich diesmal alles richtig, im Gegensatz zum Vorabend: Ich gehe rechtzeitig los und gehe in die umgekehrte Richtung, von der Blauen Moschee weg. Schon nach kurzer Zeit sehe ich rechts ein kleines, gemütliches Lokal, das sich Café nennt, aber nicht so aussieht und auch ein paar vollwertige Gerichte auf der Speisekarte hat. Ich gehe kurz entschlossen rein, und die Wahl erweist sich als Volltreffer, auch wenn sich hinter den Roast Potatoes der Speisekarte nur „Pommes Rot-Weiß“ verbergen. Alles andere  ist hervorragend: Es gibt frisch gezapftes Efes, das beste, das ich bisher getrunken habe, frisches Brot, eine Suppe und menemen, eine türkische Spezialität, die man schon des Namens wegen probieren sollte, ein scharfes Gericht aus Paprika und Tomaten und Eiern. Das Lokal ist mit Kerzenlicht und dem aus der Hagia Sofia bekannten Kranz aus Glühbirnen in Glasfassungen erleuchtet, sehr stimmungsvoll.  Dazu gibt es sogar altersgemäße Musik: Stones, Beatles, Simon and Garfunkel und horribile dictu – Demis Roussos. Die jungen Männer, die den Laden schmeißen, sind eifrig bemüht, sehr aufmerksam und über jedes Lob hoch erfreut. Englisch gibt es nur in ganz wenigen Brocken, Ich bin der einzige Ausländer. Bei der Suppe muss erst nachgefragt werden, was es heute gibt: Jogurtsuppe. Sie ist grünlich und heiß, mit kleinen weißen Klumpen, und ich versuche festzustellen, woran mich der Geschmack erinnert, bis mir plötzlich ein Licht aufgeht: an Joghurt.

 

Ich frage einen der Männer, in einem schwarz-weißen Trikot: „Beşiktaş?“  „Nein“, antwortet er lachend und zeigt auf seinen Ärmel: „Juventus!“ Er hält zu Galatasaray und fragt mich, aus unersichtlichen Gründen, ob ich Spanier sei. Nein, Deutscher. Darauf entspinnt sich ein wunderbares Gespräch, in dem wir ständig aneinander vorbei reden, über deutschen und türkischen Fußball. Macht nichts. Jedenfalls haben wir ein paar Namen ausgetauscht, Bastürk und Altintop, und sind beide zufrieden mit der Tiefe des Gesprächs.

 

Als ich am Abend weinselig ins Hotel zurückkehre, grüßt mich der Kakadu noch lautstärker als sonst. Ich muss einfach hinsehen, und glaube einen Moment, er sitze auf dem Käfig statt drin. Dann sehe ich noch mal hin: Es stimmt. Er sitzt wirklich auf dem Käfig. Oder habe ich zuviel Bier getrunken? Und auch die ausgestopften Tiere kommen mir heute irgendwie lebendig vor …

 

Donnerstag, 7. April

Warum ich mich immer wieder auf den Orangensaft beim Frühstück einlasse, ist mir selbst ein Rätsel. Er schmeckt wirklich nicht gut, und alles andere ist auch nicht viel besser. Richtig gut ist nur der Tee, wenn entsprechend verdünnt getrunken.

 

Ich habe noch keinen Gast ein zweites Mal gesehen, beim Frühstück nicht und auch sonst nicht. Scheint kein Hotel für Dauergäste zu sein. Überhaupt ist es jetzt eher schwach besetzt, während es am Wochenende ziemlich voll war.

 

Als ich mich auf den Weg mache, bringe ich einen neuen Kniff für die Schlepper zur Anwendung: Auf die Frage „Where are you from?“ antworte ich „Abroad.“ Das kennen sie nicht, und tatsächlich, der Überraschungseffekt setzt einige außer Gefecht. Sie holen aber sofort zum Gegenschlag aus: „Sie haben etwas verloren.“ Ich tue zwar cool und gehe weiter, als wäre ich nicht gemeint, aber mir wird doch ganz schön mulmig. Ich taste nach Pass, Brille, Portemonnaie, Reiseführer, bin aber immer noch nicht beruhigt. Ich gehe noch ein paar Meter weiter und will dann heimlich umkehren, aber schon hat er mich im Griff. „Where you from? German?“ – „Abroad.“ – “But where? What country?“

 

Der Topkapi Palast ist wie eine Festung, mit hohen Mauern. Über dem Eingang Inschriften in arabischen Buchstaben. Auf dem Vorplatz ein schöner, viereckigen Brunnen, eher einen Brunnenhaus, das mit dem mächtigen Umfassungsmauern kontrastiert.

 

Wenn man das Tor durchschreitet, weiß man erst mal nicht, wo man hingehen soll. Man befindet sich in einem großem, parkähnlichen Areal, und das einzige Gebäude ist links die orthodoxe Hagia Irene. Aber man will ja den Palast besichtigen. Der Palast hatte ursprünglich eine Ausdehnung von 700.000 m2, und der jetzige Museumsbereich hat immer noch  90.000 m2. Weitgehen unbeachtet ist rechts ein Brunnen, eigentlich nur eine in die Umgebungsmauer eingefügte Marmorplatte mit Wasserzufuhr, dessen Besonderheit sich einem erst durch den Reiseführer erschließt. Hier pflegte sich der Henker nach getaner Arbeit die Hände zu waschen.

 

Um den engeren Palastbezirk zu kommen, muss man ein weiteres Tor durchschreiten, hinter das früher nur Amtspersonen kamen und das nur der nur der Kaiser (damit ist der Sultan gemeint!) reitend passieren durfte.

 

Der aktivste Ort des Hofs war die zentrale Küche. Es mussten bis zu 3.000 Personen versorgt werden, die hier ständig lebten, und bei Einladungen zwischen 5.000 und 15.000 Gästen. Die Küche ist ein einziges längliches Gebäude mit gleich großen Abschnitten, von denen jeder eine riesige bemauerte Abzugshaube hat.

 

Heute ist hier die Porzellansammlung untergebracht, die größte außerhalb Chinas mit 12.000 Stücken. Das Porzellan kam entweder per Schiff oder auf der Seidenstraße nach Europa. Die Seidenstraße gab es eigentlich nicht, sondern drei Straßen, die miteinander durch weitere Straßen verbunden waren. Der Transport des Porzellans über den Landweg ist belegt durch – Darstellungen des Transport von Porzellan auf Porzellan! Der Seeweg führte über das Südchinesische Meer und den Indischen Ozean, an Sri Lanka vorbei, und durch den Golf von Aden ins Rote Meer nach Kairo, dann über den Nil nach Alexandria, und von dort durch das Mittelmeer nach Istanbul und nach Europa. Man wundert sich, das überhaupt etwas seinen Empfänger erreicht hat und auch noch heil geblieben ist.

 

In der Ausstellung meistens große Exponate, Krüge und Schüsseln, meist blau-weiß, einige grün, die meisten aus der Ming-Zeit, einige aus der Yuan-Zeit. Einige Krüge haben bronzene Verzierungen mit islamischen Motiven, und es gibt auch eine Schüssel mit Inschrift in arabischer Schrift. Das waren Auftragsarbeiten oder Geschenke.

 

In dem gegenüberliegenden Gebäudetrakt die Silberausstellung mit vielen großen, eher beeindruckenden als schönen Stücken. Reizvoll die in unglaublicher Detailarbeit erstellten Modelle von Sehenswürdigkeiten, darunter der Obelisk des Hippodroms und der Brunnen, den ich auf dem Vorplatz gesehen habe. „Wiedersehen macht Freude“ stimmt hier in einem ganz eigenen Sinn. Auf dem Brunnen steht 1318, aber die frühesten Exponate stammen aus dem 16. Jahrhundert. Die Erklärung: islamische Zeitrechung – 1318 entspricht 1900.

 

Durch ein weiteres Tor geht es in einen weiteren Innenhof und zu einem Ensemble von Gebäuden, zu denen die ehemaligen Privatgemächer des Sultans gehören. Hier sind jetzt Reliquien ausgestellt, u.a. solche, die nach der vom Sultan veranlassten Renovierung der Heiligtümer aus Mekka hierher gebracht wurden. Im „Taschentuchraum“, einem überkuppelten Raum mit Fliesen aller Art und Farben, sieht man die Schwerter Davids und Omars, den Turban Josephs (irgendwie stellt man sich Joseph nicht als Turbanträger vor), die Kappe eines Begleiters des Propheten, den Kochtopf Abrahams sowie die „Tür der Reue“ der Kaaba, verschiedene Schlüssel zur Kaaba (die wie Schraubschlüssel aussehen) und Regenrinnen, große, vierkantige Regenrinnen aus Holz, vergoldet und verziert.

 

Vom nächsten Raum sieht man durch eine Glasscheibe in den Thronsaal, in dem, in einer goldenen Truhe, der Umhang des Propheten aufbewahrt wird und außerdem Schwert und Bogen und Fahne des Propheten. In diesem Raum wird, wie seit ewigen Zeiten, ununterbrochen der Koran gelesen, heute von einem in einer abgeschlossenen Glaskabine sitzenden bärtigen Muslim in religiösem Gewand, mikrophonverstärkt, um die Horden türkischer Kinder zu übertönen, die im Gegensatz zu den westlichen Besuchern die Aufforderung, in diesen heiligen Hallen Stillschweigen zu bewahren, einfach ignorieren.

 

Im Raum selbst in einer Vitrine verschiedene Reliquienschreine, mit dem Haar des Propheten in einem silbernen Schrein, einem Zahn des Propheten in einem vergoldeten und edelsteinbesetzten Schrein, ein von einer vergoldeten Metallplatte umfasster Fußabdruck des Propheten (mindestens Schuhgröße 48!) und – Höhepunkt einer jeden Reise nach Istanbul – das Barthaar des Propheten, auf einem kleinen Silberständer und einem roten Samtkissen in einer gläsernen Fiale. Man muss wegen der doppelten Verglasung schon genau hinsehen, um in den vollen Genuss zu kommen.

 

Dann geht es weiter zur Portraitgalerie. Hier gibt es einen Stammbaum mit Miniaturportraits aller Sultane sowie Einzelportraits. Die älteren Portraits zeigen die Büste des Sultans und zeigen den Sultan im Profil, die späteren ganz und sitzend, und die noch späteren stehend und den Betrachter ansehend. Alle haben einen Turban und einen Bart. Besonders schön das Portrait des Sultans Selim III. Er ist dickbäuchig, sitzt, an ein Kissen gelehnt, auf einem niedrigen Polster und hält einen Rosenkranz in der Hand.

 

Hier gibt es auch ein paar allgemeine Informationen: Das Osmanische Reich wurde 1299 gegründet und erlebte 36 Sultane bis 1922. Zur Zeit der größten Ausdehnung erstreckte es sich von Ungarn bis zum Jemen und von Nordafrika bis zum Iran. Bursa, Izmit und Edirne waren Hauptstadt, bevor Istanbul es wurde. Der Topkapi-Palast wurde 1478 fertiggestellt und später (ab XIX) vom Palast am Bosporus abgelöst.

 

Draußen eine primitive Sonnenuhr aus der Römerzeit (IV), nur ein eingeschnittenes Steinbecken, ohne Zeiger, ohne Markierungen.

 

Durch ein Tor geht es in einen weiteren Innenhof. Von dort hat man von der Terrasse einen Blick hinunter aufs Meer. Völlig unbeachtet steht in einer Ecke ein steinerner Thron, von dem aus der Sultan die Sportwettbewerbe verfolgte. Die vergoldete Rückenlehne hat Inschriften in Gold auf Blau, die die sportlichen Leistungen des Sultans preisen, z.B. im Holzknüppelweitwurf aus fahrendem Wagen: 120 m!

 

Ganz in der Nähe der Turm des Arztes. Hier wurde die Medizin für den Sultan gemischt, aus Kräutern aus dem angrenzenden Kräutergarten. Ursprünglich waren alle Mediziner Juden.

 

Dann zurück in den zweiten Innenhof. Hier befindet sich, gegenüber der Küche, der Diwan, eine Art Regierungssitz, in dem viermal pro Woche unter der Leitung des Großwesirs, aber ohne Teilnahme des Sultans, eine Versammlung stattfand. In dem überkuppelten Raum steht tatsächlich ein Diwan, eine Art gepolsterter Sitzbank, von der dann das Wort auf das Gebäude und dann auf die dort tagende Versammlung überging. Im Zentrum saß der Großwesir, neben ihm die Wesire, daneben die Schreiber, und daneben die Heerführer von Anatolien und Thrakien. Hier ist alles voller Symbole: Die Kuppel, die Kugel, die von der Decke hängt, die Kette, an der die Kugel hängt usw. Hinter dem Diwan ein Gitterfenster, hinter dem der Sultan mithören konnte, ohne dass man wusste, ob er es tat. Sobald der Vorhang zugezogen wurde, war die Versammlung beendet, und der Großwesir musste Bericht erstatten. Dieser Vorhang wurde von Atatürk endgültig beseitigt.

 

Ich verzichte auf  Harem und Schatzkammer und mache mich auf den Rückweg, um mir statt dessen Hagia Irene anzusehen. Vor der einzigen Tür, die von hier aus zu sehen ist, hängt ein schwerer Riegel. Daneben vor einer kleineren Tür ebenfalls. Der Eingang muss wohl woanders sein. Ich mache mich auf den Weg und komme außerhalb des Palasts auf eine kleine steile Gasse, die auf der einen Seite von den hohen Palastmauern begrenzt ist. Auf einer Terrasse liegt erhöht das Cafe Turing, und statt reinzugehen und das schöne Wetter zu genießen, sage ich mir: Hier musst du das nächste Mal hingehen. Am Ende der Gasse geht es rechts und jetzt kommt die Kirche wieder in Sicht. Immer noch kein Eingang weit und breit, und irgendwann komme ich wieder an die Stelle, von der ich ausgegangen bin. Jetzt muss ich einfach fragen und bekomme auch in einem Wort die Erklärung für meine vergebliche Liebesmüh: Renovation. Eine kleine Tafel an der Kirche hätte es auch getan.

 

Statt weiterer Besichtigungen beschließe ich, wieder zum dem kleinen Cafe von gestern Abend zu gehen, das praktischerweise auch gleich auf dem Weg zum Großen Basar liegt. Diesmal gibt es Kaffee und Kuchen, und zum Nachtisch einen türkischen Kaffee auf Kosten des Hauses. Der hat es in sich. Glücklicherweise habe ich noch ein paar Kuchenreste, mit denen ich den Effekt abmildern kann.

 

Dann geht es zum Großen Basar, der nur ein paar hundert Meter weiter ist. Der wird draußen sogar auf English in großen Lettern angekündigt: Grand Bazar. Das beantwortet auch meine Frage, ob es Big Bazar oder Great Bazar heißt. Man betritt ihn durch ein geschmücktes Eingangstor, aber dort nimmt mich gleich ein Schlepper in Empfang, ohne Umwege auf Deutsch, und er entlockt mir, dass ich aus Köln stamme: „Köln, das ist doch meine Stadt! Köln, Mülheim, Aachen…“ Na ja. Eine Zeitlang gelingt es mir, ihn mit meiner Fangfrage abzulenken: Beşiktaş, Galatasaray oder Fenerbahçe? Beşiktaş. Er strahlt vor Freude, als ich ihm sage, meine Freundin hier in Istanbul sei auch für Beşiktaş. Ich finde sogar zum ersten Mal eine Art soziologischer Begründung: Beşiktaş ist gut, weil es für normale Menschen ist, Fenerbahçe schlecht, weil kapitalistisch, Galatasaray geht so. Das Ablenkungsmanöver hält aber nicht lange, und jetzt kommt die unumgängliche Einladung zum Tee. Ich habe ihm aber vorher schon ganz klar gesagt: „Kein Geld, keine Kreditkarte.“ Dann komm dasselbe Lied wie immer: Um Geld gehe es doch gar nicht, um Freundschaft, ein altes türkisches Sprichwort heiße „Eine Tasse Tee, vierzig Jahre Freundschaft.“ Er merkt dann aber, dass er sich an mir die Zähne ausbeißt und sucht sich ein neues Opfer.

 

Der Basar ist eine dichte Ansammlung von Geschäften aller Art, nur unterbrochen von dem einen oder anderen Café, nichts anderes als eine Shopping Mall der Vormoderne, ein CentrO mit Geschichte. Die Geschäfte sind alle klein und nutzen jeden Quadratmeter, manchmal auch jeden Quadratzentimeter zur Ausstellung der Ware. Geschäfte desselben Typs folgen einander: ein Juweliergeschäft nach dem anderen, ein Teppichgeschäft nach dem anderen, eine Textilgeschäft nach dem anderen. Man verliert zwar trotzdem schnell die Orientierung, aber der Plan ist recht regelmäßig, und man findet immer wieder problemlos hinaus. Ursprünglich entstanden ist der Basar um das zentrale bedesten herum, einer überwölbten, verschließbaren Verkaufshalle, um die sich herum wieder andere Buden, Läden und Handwerksbetriebe ansiedelten, die im Laufe der Zeit fest verbunden und überdacht wurden und zu einem neuen Teil des Basars wurden. Das Erstaunliche: Die Geschichte wiederholt sich. Was findet man heute rund um den Basar? Buden, Läden, Verkaufsstände – als gäbe es nicht schon genug davon. Man hat sogar den Eindruck, dass die mehr zu tun haben. Sie haben billigere Ware und auch viel mehr einheimische Käufer. Drinnen herrscht zwar Betrieb, aber man fragt sich doch, wer das alles kaufen soll. Man wird zwar an jeder Ecke angesprochen, aber es gibt auch viele Ladenbesitzer, die in aller Ruhe Zeitung lesend und Tee trinkend herumsitzen und der Kunden harren, die da kommen werden – oder auch nicht.

 

Laut einer Zeitungsnotiz hat ein türkischer Minister gesagt, die Deutschen seien zwar brave Touristen, aber ließen nicht genug Geld im Land. Ich entschließe mich, ihn Lügen zu strafen. Zuerst kaufe ich ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Istanbul“. Da ich im Basar bin, glaube ich, feilschen zu müssen. Das wird ein grandioser Reinfall. Er sagt 10, ich sage 8 und hoffe, dass er 9 sagt. Tut er aber nicht. Er sagt 10 und bleibt bei 10. Ich druckse ein bisschen herum in der Hoffnung, dass er nachgibt, aber er bleibt bei 10. Dann sagt er, das sei ohnehin schon reduziert: „Normally 15.“ Bei so viel Chuzpe muss ich mich geschlagen geben. Als ich mich umdrehe, um das Geld aus dem Portemonnaie zu holen, lacht er. Das wirkt wohl wie eine unnötige Vorsichtsmaßnahme. Man zieht zwar die Leute über den Leisten, aber man klaut nicht. Dann fällt mir ein, dass ich ihn nach dem Weg zu einem anderen Teil des Basars fragen kann. Dazu hole ich den Reiseführer heraus. Das findet er umwerfend komisch: „Ha, ha, catalogue!“. Auf so was können wohl nur die bekloppten Touristen kommen. Mit seiner Hilfe komme ich zu einem kleinen, offenen, parkähnlichen Platz am Rande einer Moschee, um den herum sich die Stände für gebrauchte Bücher gruppieren. Hier herrscht eine ganz andere, irgendwie nichtkommerzielle Atmosphäre. Im Zentrum des Platzes die Büste eines Mannes mit Turban. Es handelt sich um einen Ungarn, der Gefangener der Türken wurde, zum Islam konvertierte und die Druckerkunst in der Türkei einführte. Er sieht sehr orientalisch aus und schaut herausfordernd, fast grimmig in die Gegend.

 

Dann gehe ich wieder in den Basar und kaufe eine Schachtel Turkish Delight mit drei Geschmacksvariationen. Ich bekomme eine zum Probieren, ausgerechnet mit Pistazien, aber zu meiner Überraschung schmeckt sie mir. Dann gehe ich zu den Verkaufständen außerhalb des Basars und mache noch einen Versuch zu feilschen. Ein Gürtel kostet 10 Lira, und als ich handeln will, bietet man mir drei für 25 an. Ich kann ihn wirklich auf 23 herunterhandeln und nehme dafür in Kauf, mehr Gürtel zu bekommen als ich brauche. Ich bezahle mit einem 50er, und sofort geht, wie jedes Mal, wenn man es nicht passend hat, die langwierige Suche nach Wechselgeld los. Das ist wie ein Ritual. Erst sieht man in die Kasse, dann durchkramt man seine Taschen, dann das eigene Portemonnaie und schließlich landet man beim Nachbarn. Als der Mann mir mit tieftraurigem Gesicht mein Wechselgeld gibt, bekomme ich ein schlechtes Gewissen und fühle mich ganz unwohl bei dem Gedanken, ihn um diese Schäbigkeit „betrogen“ zu haben.

 

Durch besondere Empfehlung in zwei Reiseführern lasse ich mich am Abend noch einmal auf die Divan Yol ein und gehe ins Sultanahmet Köftecisi. Hier sollen angeblich mehr Kunden pro Tag bedient werden als in jedem anderen Lokal in der Türkei. Das ganze entpuppt sich als eine ganz einfache Angelegenheit, eher eine bessere Pommesbude. Man isst an kleinen Tischen mit Marmorplatten ohne Tischdecken, und die Auswahl ist so knapp, dass alle Speisen bequem viersprachig auf die in Plastik eingeschweißte Speisekarte passen. Alkohol gibt es überhaupt nicht. Ich trinke Wasser, die meisten Buttermilch. Die wird gleich in dem Plastikbecher serviert, wie man ihn im Supermarkt findet. Die köfte werden mit meat balls übersetzt, aber mit einer Frikadelle haben sie wirklich kaum etwas gemeinsam, weder Form noch Geschmack. Es sind kleine, längliche höchstens fingerdicke Würste aus Hackfleisch, innen noch fast roh, außen fast knusprig. Sie schmecken gut, aber sind mir nicht völlig unbekannt. Bei uns bekommt man so etwas in jugoslawischen Restaurants auf einem Grillteller. Kein Wunder, wenn man sich die Ausdehnung des Osmanischen Reichs ansieht.

 

Zum Nachtisch gibt es Kemalpaşa Tatlisi, kleine Bällchen, wie ich sie jetzt schon mehrmals gegessen habe. Der Geschmack variiert etwas, aber sie sind immer sehr weich und werden mit einer Flüssigkeit serviert, in diesem Fall flüssigem Honig.

 

Alles geht sehr schnell: Viel Zeit zum Aussuchen braucht man nicht, alles wird umgehend serviert, sobald man bestellt hat, und ein Ort zum Verweilen ist es auch nicht. Das erklärt wohl die große Zahl an Kunden, denn dann Lokal ist zwar gut besetzt aber, zur besten Essenszeit, keineswegs überfüllt. Als ich, um ein paar Photos zu machen, die Divan Yol hinuntergehe, stoße ich auf noch ein Lokal, das heißt Sultanahmet Köftecisi heißt. Bin ich etwa im falschen gewesen? Erleichtert stelle ich fest, dass es doch das richtige war, nur an der Hausnummer des Lokals im Reiseführer zu erkennen. Das zweite ist größer und leerer und die Speisekarte fast eine Kopie des ersten.

 

Im Aufzug des Hotels steht „Lobi“, auf einer Speisekarte „Herzlich Wilcommen“, und auf einem Plakat „Nightclup“.

 

Freitag, 8. April

Heute doch zum ersten Mal Hotelgäste wiedergesehen, ein sehr langsames Schweizer Ehepaar, bei der die Frau dem Mann den Teller fertig macht, wie zu Hause.

 

Ich fahre zum Galataturm in der Neustadt, mit der Straßenbahn in umgekehrter Richtung. Laut Plan müsste sie zum anderen Ufer durchfahren, aber eine Station davor, in Eminönü, steigen plötzlich alle aus. Man muss umsteigen, aber das ist problemlos, und in Eminönü umzusteigen, lohnt sich schon des Namens wegen. Schwieriger wird es auf der anderen Seite, denn ich bleibe zu lange in der Straßenbahn, in der Hoffnung, sie werde den Berg zum Galataturm hochfahren. Den Gefallen tut sich mir aber nicht, sondern rauscht unaufhaltsam weiter. Ich muss zurück, bin aber direkt am Meer und riskiere einen Blick, da ich eine Kamera dabei habe. Aber es ist ziemlich diesig, und die Aussicht auf Hochhäuser, Ladekräne, Frachtschiffe ist auch nicht so toll. Ich fahre zurück und gehe zu Fuß durch das ziemlich heruntergekommene Viertel zum Galataturm rauf. Es geht an allen möglichen kleinen Werkstätten vorbei, die in Wohnhäusern untergebracht sind. Irgendwo sehe ich SKF, eine Firma, für die ich in einem anderen Leben mal Englischunterricht gegeben habe, mit dem Ergebnis, dass ich bis heute noch das englische Wort für „Kugellager“ kenne. Sehr nützlich für den Alltag.

 

Der Turm stammt aus der Befestigung der Genuesen, die diesen Teil Istanbuls beherrschten und hier Handel trieben. Er diente dann lange als  Aussichtsturm zur Feuerwarnung und wurde dann in einen Aussichtsturm für Touristen umgewandelt. Es ist ein mächtiger, praktisch schmuckloser Rundbau aus grauen Steinquadern, an den an der einen Seite die Wohnhäuser bis auf kurze Distanz heranreichen. Auf der anderen Seite ist ein kleiner Platz. Nur aus der Distanz sieht man, dass der Turm oben drei weitere Geschosse hat, die sich wie nach oben kleiner werdende Rettungsringe um ihn legen. Das nimmt dem Turm in der Distanz die Schwere.

 

Drinnen riecht es muffig, und es herrscht auch eine etwas muffige Atmosphäre. Die Fahrt mit dem Aufzug kostet immerhin 8 Lira. Statt auf den Knopf für die Fahrt nach oben drücke ich auf den Knopf fürs Telephon, und sofort ertönt ein schrilles, ohrenbetäubendes Signal. Davon nimmt aber keiner Notiz, und von dem Schrecken, den ich mir selbst eingejagt habe, sowieso nicht.

 

Oben befinden sich ein Restaurant, ein Nachtklub und die Aussichtsplattform. Der viel gerühmte Ausblick ist durch das diesige Wetter, aber auch durch den Blick auf das heruntergekommene Viertel arg getrübt: graue Straßen, kaputte Dächer, Dachterrassen, die als Abstellkammer benutzt werden oder sonst durch Wasserkanister, Kühlaggregate und Satellitenschüsseln glänzen. Blumen oder Pflanzen als Schmuck gibt es nirgendwo, und der einziges Stuhl, der irgendwo steht, ist kaputt. Lange hält es mich nicht. Immerhin kann ich jetzt ein paar wichtige Stadtteile erkennen und weiß, wo Europa und Asien sind.

 

Der Fahrstuhl kommt mit einem verdächtigen, sich in regelmäßigen Intervallen wiederholenden Geräusch, immer langsamer werdend, nach oben, und ich sehe mich nach Alternativen um, aber es gibt keine. Die Treppe ist gesperrt. Der Aufzug schafft es dann aber bis unten, wenn auch stöhnend und krächzend.

 

Nachher trinke ich einen Tee in einem schönen Café auf dem Platz neben dem Turm und sehe mir den schönen Brunnen aus der Tulpenzeit an. Ein kleiner Schuhputzer kommt auf mich zu und spricht mich in erstaunlich gutem Englisch an, und ich leiste mir, was ich mir in fünf Jahren Madrid immer wieder verkniffen habe: Ich lasse mir öffentlich die Schuhe putzen. Auf einen festen Preis will sich der Junge nicht einlassen. Er trägt viel Schuhcreme auf, bürstet aber nur ganz wenig, und trägt dann noch eine Art Vaseline auf, diesmal mit der Hand. Dann geht er noch kurz mit dem Lappen darüber, und ich stelle verblüfft fest, dass die Schuhe blitzsauber sind. Während der Arbeit frage ihn, warum er so gut Englisch spricht, und er sagt: „Good school“. Ich verkneife mir die Frage, warum er denn jetzt nicht in der Schule ist, wenn die so gut ist. Er ist unheimlich geschickt und verwickelt mich sofort in ein Gespräch und gibt auch das deutsche Wort Schuhputzer zum besten. Dann kommt ein weiterer Junge dazu, der als ein Cousin vorgestellt wird und die Frage des Bezahlens anspricht. Sie tuscheln miteinander, aber ich lasse mich auf gar nichts ein. Ob sie mir auf üblerer Weise als sonst ans Geld wollen? Jedenfalls gebe ich ihnen gar keine Gelegenheit. Ich drehe mich um, hole eine Lira aus dem Portemonnaie, den Preis, den ich vorher genannt hatte, und mache mich auf den Weg. Der Junge ist zufrieden, bietet sich aber als your friend an. Jetzt bin ich fast beschämt über mein Misstrauen. Einen Moment überlege ich, dass man so einen cleveren Jungen als Führer und Dolmetscher für den ganzen Tag buchen sollte, aber dann ist es zu spät und er hat schon einen neuen Kunden. Schade, denke ich, als ich nach halbstündiger Suche nach meinem neuen Ziel, Tünel, wieder genau da anlange, wo ich losgegangen bin.

 

Im zweiten Anlauf klappt es dann aber. Zuerst sehe ich mir das ehemalige Kloster der Derwische an. Hier zahlen Ausländer doppelt. Das Kloster wurde von einem Wesir auf eigenem Grund und Boden gegründet (XV). Der eigentliche Gründer des Ordens, Rŭmi, war Wissenschaftler und Dichter und erlangte besondere Bekanntheit durch seine Gedichte über seinen ermordeten Rivalen Şems.

 

Im Zentrum des Raumes eine achteckige, gebohnerte Tanzfläche unter einer schönen bemalten Holzdecke. Von oben kann man von einer Loge oder durch Gitterfenster zusehen. Unten in den Vitrinen sind Musikinstrumente ausgestellt: Flöten mit wenigen Löchern, die von der Seite gespielt werden, Trommeln aller Art, Lauten mit wenigen Saiten.

 

Auf dem Friedhof flache weiße Stelen aus Marmor mit  Abschlüssen in Form von Hüten oder dem, was so aussieht, wie ein Fez, wie ein Turban, wie eine Soldatenkappe, wie man sie aus der Napoleonischen Armee kennt. Das lässt die Stelen wie Männchen aussehen.

 

Dann nach Tünel, der ersten Haltestelle der alten Straßenbahn. Hier bekommt  man sogar eine „richtige  Fahrkarte. Die Straßenbahn hat nur einen Wagen mit zwölf Sitzplätzen, von denen ich einen ergattere. Die restlichen Fahrgäste stehen auf einer zusätzlichen Plattform. Der Wagen hat Holzpaneele, Ledergriffe, vergoldete Türgriffe und eine vorsintflutliche Bimmel. Gelenkt wird mit einem schwarzen Steuerrad aus Gusseisen und einer Kurbel. Dann geht es ratternd und schwankend und mit offener Tür die Haupteinkaufsstraße runter. Nostalgie pur, aber auch ein Zeichen für die Modernität des alten Osmanischen Reichs, das in Westeuropa nur noch als der „kranke Mann vom Bosporus“ galt. Die Endstation ist Taksim, das Zentrum der Altstadt, ein wenig ansehnlicher, großer, unübersichtlicher Platz mit einem Gebäude, das wie das Staatsratsgebäude der DDR aussieht und überhaupt einen sozialistischen Anstrich hat. Im Zentrum ein Denkmal für Atatürk, der in der Inschrift nur „Mustafa Kemal“ genannt wird. An der einen Seite zieht er mit Soldaten und Zivilisten in den Krieg, auf der anderen führt er die Politiker der neuen Türkischen Republik an.

 

Auf der Einkaufsstraße gibt es Benetton und Gloria Jeans, moderne Technologie und Hip Hopp. Nirgendwo ist Istanbul westlicher. Irgendwo ist sogar ein Sex Shop, aber diskret annonciert und im dritten Stock.

 

In all den Tagen ist mir aufgefallen, wie gut die Versorgung mit öffentlichen Toiletten ist. An jedem Platz ist eine, und sie sind außerdem sogar sauber. Jetzt, wo ich eine brauche, ist natürlich keine zu finden. Abhilfe bieten die Lokale, die es hier zu Dutzenden gibt. Die Auslagen der Speisen in den Schaufenstern sind vom feinsten. Man weiß zwar nicht, was es ist und wie es heißt, aber alles sieht so verlockend aus, das man am liebsten überall reingehen würde. Aber wie soll man bestellen? Befürchtung unberechtigt. Man bestellt an der Theke und der Koch erklärt, was was ist. Zum Bestellen zeigt man drauf. Drinnen ist es zwar nicht viel anders als bei McDonalds, aber das Essen ist besser.

 

Praktischerweise fährt von Taksim aus die Metro, eine ganz moderne. Ich kaufe den obligatorischen Jeton für 1100 Lira und gehe zielstrebig hinunter. Leider habe ich mich überhaupt nicht um die Richtung gekümmert, und von den Stationen auf den Tafeln kommt mir keine einzige auch nur annähernd bekannt vor. Diese Metro fährt in den Norden Istanbuls und ist für meine Belange völlig uninteressant. Oben fahren aber Busse ab, und davon fährt einer direkt nach Sultanahmet. Am Ende stellt sich heraus, dass es fast genau die Strecke von der teuren Stadtrundfahrt am Sonntag ist. Trotz des vielbeschworenen schrecklichen Verkehrs sind wir in einer halben Stunde da.

 

Am Nachmittag gehe ich noch mal zum Basar, um Photos zu machen. Sofort werde ich von einem gutgekleideten Hamburger angesprochen, der mich, natürlich ohne sich zu erinnern, gestern schon angesprochen hat. Als er sieht, dass nichts zu holen ist, bietet er an, ein Photo von mir zu machen. Ich nehme an. Das lässt er sich dann in Form einer Schachtel Marlboro bezahlen.

 

Samstag, 9. April

Um sechs Uhr morgens stehe ich Gewehr bei Fuß in der Halle de Hotels  und warte auf den Shuttlebus zum Flughafen. Der kommt auch bald. Als wir schon auf dem Zubringer zum Flughafen sind, kommt ein Anruf per Handy: Wir haben jemanden vergessen. Die anderen Fahrgäste, lauter Amerikaner, sind nicht angetan: Sie haben frühere Abflugzeiten. Ich habe den spätesten Flug.

 

Es geht zurück durch schmale Gassen mit Kopfsteinpflaster zu dem vergessenen Hotel. Immer wieder müssen wir dem Müllwagen ausweichen oder Platz machen. Der vergessene Fahrgast wird geholt, noch ein Ami, und es geht wieder zum Flughafen.

 

Da ist um diese Zeit schon der Teufel los. Bevor man überhaupt in die Halle selbst kommt, wird man schon durchleuchtet. Es gibt lange Schlagen, und es geht alles sehr, sehr langsam. Als ich dran bin, muss ich noch mal durch, ich habe vergessen, den Gürtel abzulegen. Ich nehme mir vor, demnächst ohne Gürtel zu reisen.

 

Dann geht es zum Einschecken. Ich bin sofort dran, aber es dauert verdächtig lange. Schließlich sagt mir die junge Frau, die offensichtlich noch eingearbeitet wird und eine ältere Kollegin hinter sich hat, es sei alles klar, ich sei auf der Liste, aber sie könne mir keinen Platz reservieren. Dann reden wir eine Zeitlang aneinander vorbei, bis sich herausstellt, dass sie nicht Istanbul, sondern Paris meint. Dort müsse ich erst zum Luxair-Schalter gehen und einchecken. Das Gepäck ginge aber gleich nach Luxemburg.

 

Dann kommt die Passkontrolle. Auch hier lange Schlangen, und auch hier dauert es lange. Jeder Name wird einzeln eingegeben. Ich habe sogar Zeit, die Kabinen zu zählen. 30! Und obwohl sie fast alle besetzt sind, sind die Schlagen so lang.

 

Als ich durchbin, will ich, da es im Hotel keinen gab, einen Kaffee trinken, muss aber feststellen, dass das Geld nicht reicht. Egal. Gleich ist es sowieso soweit. Der Flug wird auch bald aufgerufen, aber statt einzusteigen, werden wir erst einmal wieder durchleuchtet, nur mit dem Unterschied, dass es diesmal noch etwas strenger ist: Diesmal muss der Gürtel ab und raus, damit er getrennt von der Tasche und die Tasche getrennt von ihm durchleuchtet werden kann. Noch schlimmer geht es dem Mann nach mir. Bei ihm klappt es erst im vierten Anlauf.

 

Diesmal ist das Flugzeug bis auf den letzten Platz besetzt. Wir haben leichte Verspätung, um 9.15 geht es los. Ich sitze neben zwei schlecht gelaunten Türkinnen, die sich mit der nicht viel besser gelaunten Stewardess anlegen und nicht aufstehen, als ich zum WC muss, und natürlich auch nicht, als ich zurückkomme.

 

Dann gibt es endlich etwas zu essen. Ich bin inzwischen seit viereinhalb Stunden auf, und freue mich, etwas in den Magen zu bekommen.

 

In der Zeitung lese ich, dass es zuhause regnet und die Temperaturen bei 6° liegen, während in Istanbul die Temperaturen genau von diesem Tag an dramatisch steigen. Just my luck.

 

In Paris dauert es mit dem Ausstieg, und ich werde langsam nervös. Der Grund: Passkontrolle beim Ausstieg aus dem Flugzeug! Hab ich noch nie erlebt. Ich frage die Stewardess, was ich machen soll, und sie telephoniert und sagt, sie könne von hier aus nichts machen, ich müsste das Bodenpersonal fragen. Bodenpersonal? Ja, da vorne, gleich nach dem Ausstieg.  Genauer geht’s nicht. Sobald ich durch bin, laufe ich los, komme in die Halle und suche verzweifelt nach einem Schalter von Luxair oder wenigstens Air France. Schließlich finde ich einen. Wunderbar, das sitzt einer und hat nichts zu tun. Ich will gleich in seine Richtung stürzen, muss aber erst an dem Band entlang laufen, das sonst die Schlange regelt. Er sieht sich die Sache an und meint, ich müsste „da vorne“ raus. Was genau „da vorne“ bedeutet, weiß ich nicht, und auch nicht, warum ich „raus“ soll, aber es bleibt keine Zeit für Spekulationen. Muss wohl die Passkontrolle sein. Vor mir werden gerade ein paar spanische Passagiere, die auch aus Istanbul kommen, von dem Beamten in rüdem Ton an einen anderen Schalter geschickt. Ich versuche es trotzdem, denn erstens will ich ja nach Luxemburg und zweitens bin ich ja hierher geschickt worden. Der Mann schimpft und schreit und wütet, wie oft er das denn noch sagen solle, Istanbul sei nicht hier. Also renne ich nach rechts, kann aber nirgendwo „Istanbul“ finden. Irgendwann sehe ich wieder einen Air France Schalter. Die junge Frau zeigt auf die Passkontrolle, von der ich gerade zurückgewiesen worden bin. Sie begleitet mich, legt die Papiere vor, zufällig an dem zweiten Schalter. Dort sitzt eine Frau und lässt mich umstandslos durch. Ich nehme meine Sachen, laufe los und sage dem Mann ziemlich offen, was ich von ihm halte. Da kommt er aus seiner Kabine, bäumt sich vor mir auf und beschimpft mich wütend. Ich weiß noch nicht einmal, wo der Ausgang ist, denn vor mir befinden sich nur Laufbänder und eine Sperre. Am Rand sehe ich dann wieder einen Schalter. Der Mann dort beruhigt mich, sagt mir, zu welchem Schalter ich müsse, und dass noch Zeit genug bleibt. Ich laufe los und fluche auf die schwere Tasche und den Laptop. In der Hektik habe ich vergessen, welchen Schalter der Mann genannt hat. Ich weiß aber, dass Terminal D richtig ist, und da bin ich inzwischen. Viele Schalter in D sind unten, also versuche ich es dort. Warum ausgerechnet jetzt die Rolltreppe nicht funktioniert, weiß der Teufel. Unten gibt es eine lange Schlange zum Durchleuchten. Da muss ich hin, denn da ist ein Schild mit der Flugnummer. Aber ich muss doch erst einchecken! Da hier unten nirgendwo Luxemburg zu sehen ist, versuche ich es oben, dann wieder unten und werde nach oben geschickt: D 23. Ja, das war auch das, was der Mann gesagt hat. Als ich ankomme, sagt die Frau am Nachbarschalter: „Gerade geschlossen.“ Ich solle zum Schalter von Air France am anderen Ende der Halle gehen, vielleicht könnten die mir helfen. Ich laufe dorthin, und da ist eine sehr freundliche Dame. Ja, es sei zu spät, aber sie will einen Platz in der nächsten Maschine buchen. Dann telephoniert sie, legt auf und sagt „Kommen Sie!“, und dann geht es im Laufschritt durch die Hallen. Sie ist wirklich gut, schnell und ausdauernd, und sieht sich zwischendurch immer wieder besorgt nach mir um, um zu sehen, ob ich mithalte. Es geht nach unten, dort, wo ich gerade schon die Schlange vor dem Durchleuchten gesehen habe. Sie mogelt mich an der Schlange vorbei, was bei den anderen Passagieren energische Proteste auslöst: „Wir sind auch verspätet. Hier funktioniert ja nichts.“ Im dem Moment bleibt das Laufband stehen. Ein Uniformierter versucht, die Leute zurückzudrängen, ohne Erfolg. Er bleibt ganz ruhig und wiederholt immer wieder seine Anweisungen, allerdings nur auf Französisch. Ich bin inzwischen schweißgebadet vor Ärger und Aufregung. Die Frau von Air France ist immer noch neben mir und will mich an die Stewardess übergeben, aber es geht nicht weiter. Inzwischen bin ich auch nicht mehr der einzige, der an der Schlange vorbeigeschleust werden soll. Dann geht es endlich weiter. Ich will es besonders schnell machen und mache es besonders schlecht. Dreimal werde ich zurückgerufen. Am Ende weiß ich wirklich nicht mehr, warum es immer noch nicht klappt, und die Frau, die Aufsicht führt, rügt mich mit strenger Stimme. Dann ist es irgendwann doch so weit, und ich springe in den abfahrbereiten Bus, mit zwei Portemonnaies, Pass, Bordkarte, Gürtel, Kuli, Tasche und Mantel in der Hand, verschwitzt und alle Umstehenden unterschiedslos anstrahlend. Auf meiner Bordkarte steht noch gar kein Sitz, aber die Stewardess nennt mir einen. Da sitzt natürlich jemand, aber dadurch lasse ich mir die gute Laune nicht mehr verderben. Zum Glück weiß ich noch nicht, was mich bei der Ankunft in Luxemburg erwartet: Mein Gepäck ist nicht mitgekommen …

 

 

D TR
Glas cam
Moschee câmi
Zelt çadır
Tasche çanta
Paar çift
Brot ekmet
Fleisch et
Haus ev
Regen yaĝmus
Fisch balik
geöffnet ik
Teppich halı
Wasser su
Strasse sokak
Schloss saray
Flasche şişe
Wein şarap
Zucker şeker
Schiff vapur
Kasse vezne
Weg yol
Essen yemek
sieben yedi
Kette zincir
Zeit zaman
Olive zeytin

 

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