Uppsala (2012)

1. Januar (Sonntag)
Lautes Vogelgezwitscher von allen Seiten, als ich am frühen Morgen das Haus verlasse. Die glauben sich schon im Frühling, die Optimisten, so mild ist es.

Im Bus ist außer mir nur eine alte Dame. Der Busfahrer grüßt freundlich, wünscht ein frohes neues Jahr und entschuldigt sich für den gestiegenen Preis: 5 Cent mehr. Als die Dame aussteigt, fragt er mich nach meinem Reiseziel. Schweden? Das wundert ihn. Er hat vermutlich mit den Kanarischen Inseln gerechnet. Aber so ein schöner Winterurlaub sei auch nicht zu verachten. Er denkt vermutlich an Schnee und Skifahren. Ich lasse ihn in dem Glauben. Warum sollte er sich auch vorstellen, dass ich in einen Ort reise, wo das Wetter auch nicht viel anders als hier ist, nur, um mir ein paar verstaubte Bücher anzusehen?

Als ich aussteige, treffe ich auf einen Haufen junger Leute, trinkend und rauchend, auf dem Heimweg von der Silvesterfeier. Am Bahnhof ist alles geschlossen, Zeitungskiosk und Bäckerei. Das hatte ich nicht auf der Rechnung.
Nur ein Häuflein Passagiere im Zug. Im dem anderen, der Regionalbahn auf dem Nebengleis, sind nur zwei.

Statt Zeitung lese ich im Zug Gedichte von Tomas Tranströmer, dem Nobelpreisträger. Sonderbar. Rätselhaft. Verwirrend. Meilensteine begeben sich auf Wanderschaft, Ziegen fressen Feuer, Schatten falten die Erde. Der Titel scheint Programm zu sein: Den stora gåtan – Das große Rätsel. Schatten kommen häufig vor, und Wand und Wind. Aber auch Fliegen, Welse, Frösche, Ziegen. Einige der Gedichte sind Haikus, und einige hat er passenderweise einem Freund zum Beginn der Neujahrs geschickt. Der Freund war Direktor eines Jugendgefängnisses, und viele der Haikus „spielen“ dort. Erst als ich das gelesen habe, kommt zumindest ein Schimmer von Verständnis auf.

In Koblenz bekomme ich Zeitung und Kaffee und stelle mich dann so blöd an, dass ich den Zug verpasse. Gegen Aufpreis und mit dem Bus ab Bonn gibt es eine Alternative, und in dem übersichtlichen Flughafen von Köln geht alles so schnell, dass noch Zeit für Zeitungslektüre bleibt. Als Entdeckung des Jahres bezeichnet ein Redakteur eine im British Medical Journal publizierte Studie zu der Behauptung, man müsse viel Wasser trinken, mindestens 1,5 Liter pro Tag. Das sei gut für Niere und Gehirn. Dummes Zeug, sagt die Studie, dahinter stecke eine Kampagne eines französischen Nahrungsmittelkonzerns, der mehrere Wassersorten vertreibt.

Im Kongress und im Senat der USA ist jeder zweite Abgeordnete Millionär. Kann man ein politisches System in einer noch kürzeren Nachricht zusammenfassen?

Uli Hoeneß, so heißt es, habe im Oberhausener Centro nur deshalb einen Bayern-Fanshop installiert – und trotz roter Zahlen aufrechterhalten – um Rudi Assauer einen solchen vor die Nase zu setzen.

„Wir prüfen gerade, wie viele von ihnen noch leben.“ – „Im Traum bin ich Fußgänger.“ – „Sie ist ein Auslaufmodell.“ Drei Zitate des vergangenen Jahres, die sich nicht aufgrund ihres Inhalts erklären, sondern nur, wenn der Kontext bekannt ist: Sie erschienen mit Bezug auf die über 9000 über Hundertjährigen, die in Griechenland weiterhin Rente vom Staat erhielten, gesagt von Wolfgang Schäuble, gesagt über die Atomkraft.

In der Tora gibt es in jedem fünfzigsten Jahr einen vollkommenen Schuldenerlass und in jedem siebtem Jahr einen kleinen Schuldenerlass. Das ist eine gute Idee, hat aber nicht funktioniert. Die Schuldner haben die Verträge so gedeichselt, dass die Tilgung genau im dem Jahr fällig geworden wäre, in dem der Schuldenerlass gewährt wurde. Das wiederum haben die Gläubiger durchschaut und Kredite verweigert. Weil es keine Kredite gab, sind die Bauern pleite gegangen und konnten ihr Saatgut nicht mehr vorfinanzieren. Die gesamte Wirtschaft kam zum Erliegen. Die gerechte Idee hatte ungerechte Verhältnisse hervorgebracht.

Im Flugzeug mache ich eine ernüchternde Entdeckung: In Uppsala sind viele Sehenswürdigkeiten den gesamten Winter über geschlossen. Das hätte ich mir vorher überlegen sollen.

In Arlanda, am Flughafen, mache ich eine weitere Entdeckung, die ich nicht auf der Rechnung hatte: kurze Tage. Es ist halb vier und schon dunkel. Später will ich es genauer wissen und suche die astronomischen Daten heraus, für den 1. Januar. Sonnenaufgang: Trier: 8.28, Uppsala: 8.46; Sonnenuntergang: Trier: 16.44, Uppsala: 14.55!
Am Flughafen wird man auf großen, bunten Plakaten von Stockholmer Größen in ihrer Heimatstadt begrüßt: von Carl Milles, dem Bildhauer, Lena Philipsson, einer Sängerin, Margareta van den Bosch, einer Designerin von H&M, Thomas Brolin, dem Fußballspieler, Dag Hammarskjöld (von dem ich immer dachte, er wäre Norweger), einem gewissen Povel Ramel, der als „Wortzauberer“ vorgestellt wird, und Abba, mit einem Bild aus den goldenen Tagen, auf dem die Frauen noch ganz passabel aussehen, aber die Kleidung der Männer im Nachhinein erst in ihrer ganzen Lächerlichkeit erscheint.

Von hier aus geht es mit dem Zug weiter. Ich sitze kaum und schon sind wir da. Uppsala ist näher am Flughafen als Stockholm. Ich hatte mit einer Stunde gerechnet, auch weil die Karte stolze 14 € gekostet hat.

In Uppsala ist es kalt und es schneit. Auf einem Stadtplan finde ich die Straße des Hotels und mache mich zu Fuß auf den Weg. Scheint nicht so weit zu sein. Es geht die breite Kungsgatan entlang. Man hat das Gefühl, in einer Großstadt zu sein. Tatsächlich ist Uppsala die viertgrößte Stadt Schwedens. Es gibt keine richtige Möglichkeit, abzubiegen, und allmählich komme ich in ein Industriegebiet. Es wird immer kälter, oder mir wird immer kälter, der Schnee bläst mir ins Gesicht, es ist stockdunkel, und kaum jemand auf der Straße. Die Räder des Koffers rollen nicht mehr, dafür komme ich ins Schliddern. An einer Bushaltestelle steht jemand, den ich nach dem Weg frage. Keine Ahnung. Noch nie gehört. Dann kann mir jemand aber wenigstens die grobe Richtung sagen. Ich komme in ein Wohngebiet. Hohe, breite Häuser mit breiten Balkonen, fast alle mit Weihnachtsbeleuchtung: sehr dezent, keine Farben, keine Rentiere. Auch in den Fenstern schöner, einfacher Schmuck in Form von Sternen oder stilisierten Bäumen. Das hat eine geradezu beruhigende Wirkung auf mich. Und außerdem schützen die Häuser vor der Kälte. Dann stehe ich plötzlich doch auf der Straße, die ich gesucht habe. Ich nehme die Reservierung heraus, um die Hausnummer des Hotels zu suchen und merke, dass ich auf der falschen Straße bin. Ich habe Kungsängsgatan mit Kungsängtorg verwechselt. Weiter geht’s. Dann kommt mir ein Mann mit rundem Kopf entgegen, der mir in klarster Diktion und mit hilfreichen Gesten ganz genau den Weg beschreibt. Als ich ihn anspreche und um Entschuldigung bitte, sagt er „Absolut“, als ich mich bedanke, sagt er „Så lite.“

Das Hotel sieht gemütlich aus, weiß, zweistöckig, mit erleuchteten Fenstern, und gar nicht wie ein Hotel, eher wie ein Wohnhaus. Und das war es wohl auch, ein Wohnhaus der Oberschicht aus dem 19. Jahrhundert. Der Eingang ist hinten. An der Tür ist ein Zettel für mich, mit dem Code, den ich brauche, um mir Zugang zu dem Haus zu verschaffen, und der Zimmernummer. Das Zimmer ist winzig klein, wie ein Schlauch. Es gibt keinen Schrank, aber es gibt Internetzugang! Und Informationen darüber, wie man sich in der Küche das Frühstück zubereiten kann.

2. Januar
Regen, Wolken, grauer Himmel, fast menschenleere Straßen. Keine Umstände, unter denen sich eine Stadt von ihrer besten Seite zeigt.

Uppsala liegt an einem Fluss, dem Fyrisån, und in der Provinz Uppland. Das heißt vermutlich ‚Oberland‘, und Uppsala bezeichnet ursprünglich die Säle der Könige oben, im alten Uppsala, dem Vorgänger der heutigen Stadt. Der Fluss trennt die Stadt in zwei Teile, einen westlichen und einen östlichen. Im westlichen herrschen traditionell Geist, Macht, Adel, im östlichen Handwerk und Handel. Das merkt man auch heute noch. Die Einkaufsstraßen und Galerien befinden sich fast ausschließlich hier, auf „meiner“ Seite, im östlichen Teil. Hier sind die Straßen gerade, eben, breit, ganz anders als auf der anderen Seite. Der Fluss ist klein, aber wild. Aber das liegt nur daran, dass er an dieser Stelle gestaut ist.

Zuerst geht es in den Dom, einen Backsteinbau mit zwei mächtigen, quadratischen, oben spitz zulaufenden Türmen. Er liegt schön, etwas erhöht, entfernt an Erfurt erinnernd.
Im Narthex gibt es eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Doms. Man sieht den Dom von außen auf vier Abbildungen aus vier Perioden: 1600, 1700, 1800, 2000. Man glaubt, vier verschieden Kirchen vor sich zu haben. Sehr fremd sieht der Dom auf dem Bild von 1800 aus, mit durchbrochenem Turmhelm, Fialen und Strebepfeilern, die keinen Zweck zu haben scheinen, als den, den Dom gotisch aussehen zu lassen. Auf dem Bild von 1700 ist davon nichts zu sehen, und die beiden Türme haben über den Quadraten einen stumpfen, barocken Turmaufsatz. Der Dachreiter im Osten, sonst überall präsent, fehlt hier ganz.

Die Kirche ist groß und dunkel. Es ist noch früh, und ich bin der einzige außer zwei professionellen Photographen, die Bilder vom Chor machen. Später, als ich in den Chorumgang komme, sehe ich dann noch eine Frau, in der Dunkelheit nicht so gut zu erkennen, aber sie scheint in Gebet oder Meditation versunken, und ich gehe in einigem Abstand an ihr vorbei. Ich sehe mir die Fenster im Osten an und das moderne Kreuz über dem Altar. Dann fällt mein Blick auf ein Schild, auf dem steht, man solle die Skulptur nicht berühren. Welche Skulptur? Das Kreuz kann kaum gemeint sein, es hängt zu hoch, und sonst ist hier nichts zu sehen. Ich drehe mich um, und erschrecke: Die Skulptur ist die Frau! Warum erschrickt man? Keine Ahnung. Die Frau trägt ein Kopftuch und ein langes, graues, einfaches Gewand, fast bis zu den Knöcheln. Sie stellt die Mutter Gottes dar, nach ihrer Wiederkunft auf die Erde. Sie steht unter dem Kreuz, in diesem Falle hinter dem Kreuz, wendet den Kopf aber zum Chor hin, Richtung Osten. Standort und Haltung sind Programm.

Als ich mich von dem Schrecken erholt habe, sehe ich mir den Rest an. Es gibt drei große Fenster, davon zwei als Rosetten, die die drei Aspekte Gottes darstellen, im Westen Gott als Schöpfer (mit einem gelben Kreis umgeben von blauen Kreisen, für Sonne und Himmel), im Süden Gott als Mensch (mit Szenen aus dem Leben Jesu), im Norden Gott als Geist (mit farbigen Kreisen um die Taube im Zentrum herum).
Die ganze Kirche hat einen Kapellenkranz, von denen die erste links vom Eingang bunte Teppiche hat, die die Geschichte des Doms darstellen. Darüber eine Wand von hellen Steinen mit einem dunklen, fast schwarzen Stein. Er hat noch die Farbe, die alle Wände der Kirche vor der Restaurierung hatten.

Gleich vor dieser Kapelle befindet das Grabmal von Linné. Das ist bemerkenswert. Die Kirche verbeugt sich hier, wie mit Darwins Grab in der Westminster Abbey, vor der Wissenschaft. Über seinem Grab eine einfache, schwere Steinplatte, auf der nicht viel mehr als sein Name steht, in der latinisierten Form.
In einer Kapelle im Chorumgang ein schöner Schnitzaltar, der, wie man liest, Szenen aus dem Leben von Anna und Joachim darstellt, spätmittelalterlich, aber mit sehr bewegten Figuren, geradezu dramatisch.

In anderen Seitenkapellen befinden sich die Grabmäler dreier wichtiger Schweden aus ganz unterschiedlichen Zeiten: S:t Erik, der Nationalheilige, von dem man streng genommen nicht einmal weiß, ob er gelebt hat, Gustav Vasa, der „Vater der Nation“ und Swedenborg, der umstrittene Philosoph und Wissenschaftler. Gustav Vasa nimmt den zentralen Platz ein, mit einem großen Grabmal, liegend, zwischen zwei Frauen, in der Kapelle gleich hinter dem Altar. In einer benachbarten Kapelle ein silbernes Reliquienkästchen mit den Überresten von S:t Erik, dessen Überführung hier nach Uppsala, wie ich später erfahre, der Stadt ihre eigentliche Bedeutung gab. Der Sarkophag Swedenborgs, aus erdfarbenem Porphyr, ohne Figuren, mit einer einfachen Inschrift, ist ganz im Westen.

Ich gehe danach auch noch in die Schatzkammer. Da bin ich dann wirklich ganz alleine. Sie ist schön in einem der Türme untergebracht, auf mehreren Etagen. Es gibt viele Messgeräte und Messgewänder, darunter die an langen Stöcken befestigten Klingelbeutel, wie man sie noch von früher kennt, aber interessanter ist ein mittelalterliches Reliquienkästchen, mit bemalten Emailplatten und fein ziselierten Flächen dazwischen. Dargestellt werden die Kreuzigung und darüber ein auf einem Regenbogen thronender Christus. Die Köpfe der Figuren sind aufgesetzt, als Miniaturskulpturen, nicht größer als eine Erdnuss, mit allen Gesichtszügen und mit Bärten unterschiedlicher Art. Ein Kopf fehlt, ein anderer ist wohl abgefallen und neu, aber schief, wieder aufgesetzt. Neben den Christusfiguren stehen zwei bekannte Abkürzungen, beide mit einem in die „falsche“ Richtung weisenden S, vermutlich einer alten Variante des Buchstabens: IHS und XPS. An der Seite befindet sich ein Loch für den Schlüssel zum Öffnen des Reliquiars. Daneben steht Petrus und hält in einer Hand einen Schlüssel, aber nur den Griff. Der Schlüssel wird vervollständigt, wenn der eigentliche Schlüssel in das Reliquiar gesteckt wird.

Auf dem Weg zur Touristeninformation komme ich an dem Platz vorbei, an dem, der Legende nach, S:t Erik enthauptet wurde. Daneben steht eine große, gusseiserne Pumpe. Das hat seinen Sinn. Nach der Enthauptung soll an dieser Stelle eine Quelle entsprungen sein, die Grundlage für die Wasserversorgung Uppsalas. Die Pumpe wurde dann installiert und mit der Quelle verbunden und später in das Wasserversorgungssystem der Stadt integriert. Kein Wunder, dass man eine solch gute Gabe einem Heiligen zuschrieb.
Bei der Touristeninformation bekomme ich eine Karte, die auch die Straße des Hotels verzeichnet. Ich lag gestern gar nicht so schlecht. Ich hätte nur die Parallelstraße nehmen müssen. Die Kungsgatan hat tatsächlich keine Verbindung zu dem Wohnviertel, in dem das Hotel liegt. Die Informationen hier sind ansonsten sehr dürftig, aber ich muss einsehen, dass noch mehr geschlossen ist, als ich befürchtet habe.

In einem kleinen, gemütlichen Café mit niedriger Decke und kaum zehn Tischen bekomme ich eine heiße und scharfe Gulaschsuppe, genau das Richtige. Das Café ist voll mit altem Krempel, einer Uhr, einem Radio, einer Waage, Bildern, Vasen, getrockneten Blumen, dazu Weihnachtsschmuck und an der Wand ein Fischnetz.

Von hier sind es nur ein paar Schritte bis zur Universität, einem quadratischen, klassizistischen Gebäude mit mehreren Kuppeln, dem ich wenig abgewinnen kann. In der Halle steht man etwas verloren herum, und der Zugang zu den Sälen ist geschlossen. Über dem Eingang zu dem zentralen Saal steht in goldenen Lettern: Tänka fritt är stort, man tänka rätt är större.

Hier befindet sich aber nicht, wie ich glaubte, die Bibliothek, die Carolina Rediviva. Die ist in einem anderen Gebäude ganz in der Nähe untergebracht.

Als Tourist bekommt man nur Zugang zu dem Ausstellungsräumen rund um den berühmten Codex Argentus, die Silberbibel. Die Silberbibel ist Schwedens wertvollstes Buch und der älteste erhaltene Text in einer germanischen Sprache überhaupt, ausgerechnet in einer inzwischen ausgestorbenen Sprache. Die Silberbibel ist eine Übersetzung der vier Evangelien, eine Übersetzung aus dem Griechischen ins Gotische. Das erhaltene Exemplar ist eine Abschrift, aus dem 6. Jahrhundert, das Original aus dem 4. Jahrhundert ist nicht erhalten.

Im Vorraum gibt es Informationen und Exponate rund um die Silberbibel und andere Schriftdokumente. Dazu gehören Gustav Adolfs Bibel, die erste vollständige Bibel auf Schwedisch, und das älteste überhaupt erhaltene Dokument auf Schwedisch, kein religiöser Text, sondern eine Pfandverschreibung, ein Hypothekenbrief (1338)!
Außerdem gibt es Abschriften, Faksimiles, Poster, Einbände und Übersetzungen der Silberbibel, darunter die japanische Ausgabe und die Kamera, mit der das erste Faksimile erzeugt wurde.

In einer Vitrine gibt es Bücher (sogar Comics) und Karten zu den Goten sowie die Nachbildung eines Runensteins, auf dem von Theoderich von Verona die Rede ist (der als Vorbild von Dietrich von Bern gilt). Zu dessen Zeit entstand die Abschrift.
Von Wulfila selbst ist wenig bekannt. Es gibt kaum Dokumente aus seiner Zeit, und die älteste Abbildung entstand 1300 Jahre nach seinem Tod! Gesichert ist, dass er von Eusebius zum „Bischof der Christen im gotischen Land“ ernannt wurde, im Herrschaftsbereich der Westgoten zur Zeit des Römischen Reichs. Von dort flüchtete er vor religiöser Verfolgung in ein Gebiet im heutigen Bulgarien, Moesia. Dort, im Exil, übersetzte er die Bibel.

Sein Bild in der Nachwelt ist starken Schwankungen unterworfen. Das hat teils ideologische Gründe: Augustinus und Athanasius polemisierten gegen ihn als Anhänger des Arianismus. Der Name Wulfila bedeutet offensichtlich ‚kleiner Wolf‘, und es wird hier eine Verbindung zu einem Walt-Disney-Charakter hergestellt, dem Kleinen Bösen Wolf, der aber gar nicht böse ist, sondern nur einen schlechten Ruf hat. Es gibt die schwedische Ausgabe des Comics mit diesem Titel: Lilla Styga Vargen.

Wie ist das Buch nach Uppsala gekommen? Man weiß, dass es im 16. Jahrhundert in Werden, in der Abtei, war. Es kam dann mit Rudolf II. nach Prag. Als Prag im Dreißigjährigen Krieg von den Schweden erobert wurde, vermachte man es Königin Christina, die es wiederum, nach ihrer Abdankung und Konvertierung, ihrem Kaplan vermachte, einem Holländer. Der nahm es mit nach Holland, und dort wurde es von dem schwedischen Kanzler Magnus Gabriel de la Gordie für 500 Reichstaler, ganz rechtmäßig, erworben und der Universität Uppsala vermacht. Seit 1669 ist es hier.

Die Bibel selbst wird in einem gesonderten, abgedunkelten Raum präsentiert, auf einem altarähnlichen Podest, in drei Teilen: dem Buch selbst, dem davon abgetrennten Deckel und einer einzelnen Seite, die darüber hängt und von beiden Seiten aus gesehen werden kann. Das Buch umfasst 187 (von ursprünglich 326) Seiten. Eine weitere befindet sich ausgerechnet in Speyer!

Lesen kann man nichts. Wulfila übersetzte nicht nur, sondern schuf auch eine eigene Schrift, ein auf dem Griechischen basierendes Alphabet mit lateinischen Buchstaben und Runen! Der Text erscheint in sehr gleichmäßiger, säuberlicher Schrift, bei der alle Buchstaben die gleiche Höhe haben. Es werden, soweit man das sehen kann, nur Großbuchstaben verwendet, und der Abstand zwischen den Wörtern ist kaum auszumachen. Das Papier, angeblich violett, ist eher bräunlich, die Buchstaben silbern. Daher der Name.

Auch der Buchdeckel, bestimmt sehr viel später entstanden, ist silbern, und hat auf der Vorderseite ein Relief mit einer nackten Frau. Ich verlasse die Carolina mit der Überlegung, welchen Bezug das wohl zu den Evangelien haben kann.

Den Nachmittag verbringe ich in einer sehr gut ausgestatteten Buchhandlung. Sie ist einer der modernen Galerien untergebracht, die auch in jeder anderen europäischen Stadt stehen könnten, und heißt auch sogar Galleria. Der Eingang ist gleich bei McDonalds.
Am Ende komme ich mit zwei Büchern heraus, obwohl ich zwanzig in der Hand gehabt, aber, zum Teil von der Sprache, zum Teil vom Preis abgeschreckt, wieder zurückgelegt habe. Es bleiben übrig Michel aus Lönneberga von Astrid Lindgren und ein populärwissenschaftliches Buch zu Alltagsfragen. Astrid Lindgrens Held heißt im Schwedischen aber gar nicht Michel, sondern Emil. Die deutschen Verleger entschieden sich für eine Namensänderung, weil Emil bei uns schon durch Emil und die Detektive „besetzt“ war. Das populärwissenschaftliche Buch heißt Får hackspettar huvudvärk? Das Titelbild hilft bei der Entzifferung: Kriegen Spechte Kopfschmerzen? Das ist zwar nicht, wie der Einband verheißt, „eine Frage, die ich mir schon immer gestellt habe“, genauso wenig wie die meisten anderen, aber interessant ist es allemal. Man lernt, dass Spinnen, obwohl sie, je nach Art, 2, 3 oder 4 Paar Augen haben, kaum sehen können, dass Kängurus schwimmen können (auch mit dem Jungen im Beutel), dass Fingernägel im Winter langsamer wachsen als im Sommer, dass man von Sekt schneller betrunken wird als von „stillem“ Wein – eine Versuchsgruppe hatte nach einer gewissen Zeit doppelt so viel Alkohol im Blut als die Kontrollgruppe – und dass heißer Kaffee, wenn man ihn ins Gefrierfach stellt, schneller gefriert als warmer Kaffee. Das wusste, erfährt man mit Bewunderung, schon Aristoteles, obwohl er noch kein Gefrierfach hatte. Später merke ich, dass das Buch eine Übersetzung aus dem Englischen ist. Der Titel des Originals fragt, ob eine Kuh treppauf, aber nicht treppab gehen kann. Ja, ist die Antwort. So ist es. Spechte bekommen übrigens keine Kopfschmerzen.

Auf dem Rückweg durch die dunklen Straßen kaufe ich in einem Antiquariat noch für einen Spottpreis ein Buch über berühmte Mordfälle der Geschichte, darunter Marylin Monroe, Dag Hammarskjöld, Sacco und Vanzetti. Der Titel ist Programm, denn dass es sich um „Mordfälle“ handelt, ist ja erst zu beweisen.

3. Januar (Dienstag)
In der Küche des Hotels, wo man sich selbst versorgen kann, sind alle Schranktüren zweisprachig beschriftet: kniv ist verwandt mit Englisch knife, gaffel mit Deutsch Gabel, sked mit keinem von beiden. Das ist ein schönes Beispiel für die „Zwischenstellung“ des Schwedischen. Das gilt auch für honung, mit dem gleichen Stamm, aber einer anderen Endung als im Deutschen.

Für Selbstversorger – man kann das Hotel auch als Jugendherberge buchen – ist alles vorhanden, Gerätschaften aller Art. Man vertraut dabei auf die Ehrlichkeit der Gäste. Hier könnte man sich eine komplette Küchenausstattung zusammenklauen.
Es gibt Stuten, aber keine Marmelade. Das kommt mir ein bisschen merkwürdig vor, bis ich merke, dass es doch Marmelade gibt. Sie ist im Kühlschrank. In Tuben.

Besseres Wetter: trocken, klarer Himmel, und sogar etwas Sonne. Aber man muss aufpassen, es ist glatt, besonders auf dem Kopfsteinpflaster am Fluss.
Erwartungsvoll gehe ich zum Gustavianum, das von vielen Reisenden, auch solchen, die es zufällig entdeckt haben, als einer der Höhepunkte ihres Besuchs in Uppsala bezeichnet wird. Es liegt ganz in der Nähe der Kathedrale, in einem großen Gebäude mit einer Kugel auf dem Dach. Alles sehr schön, aber: geschlossen! Davon wusste weder das Faltblatt des Museums noch die Touristeninformation etwas. Vielleicht habe ich Glück: Am Donnerstag soll wieder geöffnet werden.

Ich gehe in die gleich in der Nähe liegende Dreifaltigkeitskirche, noch ein Backsteinbau, außen ziemlich stämmig. Innen hat sie drei ganz schmale Schiffe und schön bemalte Gewölbe.

Das steinerne Altarbild zeigt eine ungewöhnliche Abendmahlszene, mit einem stehenden Jesus und Aposteln, die wechselweise stehen und sitzen. Johannes trägt langes, wallendes Haar und ist in sich versunken. Sein Gegenpart auf der anderen Seite von Jesus hat, im Gegensatz zu allen anderen, kurzgeschorenes Haar und scheint eher kritisch zuzuhören. Er sieht aus wie ein Gelehrter aus der Zeit der Entstehung des Altarbildes, Anfang des 20. Jahrhunderts. Jesus hält den Wein in der Hand. Das Brot liegt auf einem Teller auf dem Tisch. Es sieht aus wie Knäckebrot. Oder bilde ich mir das nur ein? Ich zähle elf Apostel, aber dann stellt sich heraus, dass der zwölfte, im Gegensatz zu allen anderen Figuren, die im Vollrelief erscheinen, nur schemenhaft erscheint und sich von der Szene abwendet. Zu den zwei Seiten des Abendmahls zwei Figuren, ein Professor und eine unbekannte Frau aus dem Volk. Sie stehen stellvertretend für die zwei Funktionen der Kirche, Universitätskirche und Gemeindekirche.

Im nördlichen Querschiff eine Marienkapelle mit mittelalterlichen Fresken, von denen die untere Reihe noch ganz gut zu erkennen ist. Man sieht Maria und Josef mit dem Kind bei Anna und Joachim, den Kindermord in Bethlehem (mit einer Frau, die sich schützend über ein Kind beug, aber nicht wie die Mutter, sondern wie die Oma aussieht), die Flucht auf einem Esel, der etwas zu lang geraten ist und dann eine Szene mit Jesus und zwei Männern an einem gedeckten Tisch. Es scheint Fisch zu geben. Ist es die Szene mit den Jüngern in Emmaus? Aber waren dann nicht drei Jünger? Dann sehe ich, dass einer unter dem Tisch liegt und Jesus die Füße küsst. Oder ist es der ungläubige Thomas, der die Wundmale prüfen will?

Da es heute heller ist, gehe ich noch einmal kurz in den Dom. Die Fenster kommen heute besser zur Geltung, und die ganze Atmosphäre ist freundlicher. Als ich im Chorumgang bin, spricht mich eine Frau, die hier wohl „dazugehört“, auf Schwedisch an, aber ich verstehe nichts, und es geht auf Englisch weiter. Sie beklagt, wie die Statue im Chorumgang, die mich gestern erschreckt hat, von den Besuchern behandelt wird. Sie schieben ihre Kopfbedeckung zur Seite, nehmen sie in den Arm, um sich mit ihr photographieren zu lassen, und zweimal ist ihr sogar ein Schnurrbart angemalt worden. Die Frau weist mich außerdem auf einen kleinen Vogel hin, der auch zu der Skulptur gehört. Er sitzt auf dem Gitter der Kapelle, in deren Richtung Maria blickt.

Ich muss immer noch Zeit schinden, da das Upplandsmuseum erst um 12 Uhr öffnet. Es ist ziemlich kalt und auch nicht mehr so klar. An der Stelle des Museums, dort wo das Wasser des Fyrisån gestaut ist, macht ein Schild darauf aufmerksam, dass es nicht nur eine Fischtreppe, sondern auch eine Bibertreppe gibt, hölzerne Stufen, über die die Biber den Wasserfall überwinden können.  Die kann ich aber nicht finden. Während ich noch überlege, ob es so eine gute Idee ist, den Bibern ausgerechnet Stufen aus Holz anzubieten, öffnet das Museum.

Hier sind fast nur Kinder, aber man fragt sich, warum. Sowohl das Thema als auch die Präsentation ist etwas für Erwachsene. Der Name des Museums ist etwas irreführend. Es handelt sich eher um ein Stadtmuseum.

In einem Seitenflügel gibt es eine Ausstellung zur Universität. Man sieht ein Bild, wie Studenten im Mittelalter nach Paris ziehen, um dort zu studieren. Das war aufwendig und kostspielig, und viele verzichteten darauf, wodurch das Bildungsniveau in Schweden niedrig war. Also wurde eine Universität gegründet (1447), die älteste Skandinaviens. Die Vorlesungen wurden im Haus des Domkapitels abgehalten, und die Studenten wohnten in Studentenholmen, genau dort, wo jetzt das Museum ist.

Der Unibetrieb kam im 16. Jahrhundert ganz zum Erliegen, wurde dann aber wiederbelebt, und 1595 gab es wieder 70 Studenten. Überschaubar.
Bücher gab es zu Anfang nicht. Alles basierte auf Mitschriften. Auf einem Bild aus der Zeit sieht das allerdings anders aus. Da sitzen die Studenten (mit Zylindern!) auf Stühlen und hören zu. Bänke oder Tische gibt es nicht.

Neue Impulse für die Universität gab es nach der Reformation. 1630 gab es schon 1000 Studenten! Im 18. Jahrhundert hatte Uppsala 10% Adelige und 20% Bauernsöhne, eine international hohe Zahl. 1970 hatte Uppsala 20000 Studenten, heute 40000.
In der Zeit nach der Reformation gab es auch eine Erneuerung beim Erwerb des Bachelor-Titels. Die Arbeit musste eine neue Erkenntnis enthalten. Sie wurde von dem Professor geschrieben, und der Student musste sie in einer Befragung verteidigen!

Als Ausweis des Studentenlebens außerhalb der Uni sind Spielkarten ausgestellt (mit Wildschwein, Clown und Kuckuck), Studentenmützen, Bilder von Streichen, die man mit Frischlingen spielte, und ein Originalrezept für Punsch, mit genauen Angaben, nebst Gläsern und einer Schüssel: 6,5 dl Arrak, 1,95 l Wasser, 3,3 dl Zitronensaft, 640 g Zucker.
Dann gibt es ein Bild von einem Studentenaufmarsch 1850, bei dem die Fahnen verschiedener skandinavischer Länder mitgeführt werden. Was das bedeutet, verstehe ich nicht.

Eine Wachspuppe stellt eine ganz besondere Person dar: Betty Pettersson, die erste Studentin Uppsalas. Sie trägt lange, graue Kleider. Sie schloss ihr Studium ab und wurde dann Lehrerin.

Strindberg studierte auch in Uppsala und attackierte das Studentenleben mit seinen Ritualen und die romantischen Vorstellungen. Zu dieser Zeit gab es auch radikalere Studentenorganisationen, die sich vor allem gegen die Ungewissheit wehrten, die die Studenten im Abschlussexamen erwartete.

Gleichzeitig bildeten sich die für Uppsala charakteristischen Nationen heraus, Studentenclubs, die zum Teil eigene Häuser zur Unterbringung der Mitglieder hatten.
Dann sind zwei Studentenbuden ausgestellt, eine von 1840, eine von 1930. Der Unterschied ist verblüffend, wenn auch beide klein sind und eine ähnliche Einrichtung haben. Aber der Fortschritt ist unübersehbar, vor allem die Qualität der Möbel und des Lichts ist ungleich besser in der neueren Studentenbude. Zu den Ausstattungsstücken der alten Studentenbude gehören eine Waschschüssel (später gab es dafür vermutlich getrennte Badezimmer), eine Pfeife, Streusalz für die Tinte, eine Kerze und ein Henkelmann. Man wurde nicht, wie in Deutschland, von der Wirtin bekocht, sondern holte sich das Essen von auswärts. Einen Schrank gibt es in beiden Buden nicht. In der alten gibt es eine Truhe, die sowohl für die Aufbewahrung als auch für den Transport diente.

Dann gibt es eine Ausstellung zur Geschichte der Stadt selbst. Für die Entstehung der Stadt an dieser Stelle scheint es zwei Gründe zu geben, die sich allerdings widersprechen (aber vielleicht für verschiedene Epochen gelten). Erstens befand sich hier der königliche Hafen, und zwar schon im frühen Mittelalter. Das lockte die Bauern aus der Umgebung an, und das wiederum Handwerker und Kaufleute. Das Umland hat sehr fruchtbaren Boden, und die Bauern produzierten mehr, als sie selbst verbrauchen konnten. Der zweite Grund ist die Landhebung. Als Folge davon bildete sich hier eine Furt, und man konnte den Fluss zu Fuß durchqueren. Das wiederum lockte viele an, vor allem Reisende.

Dieser Ort hieß nicht Uppsala, sondern Aros, ein altschwedisches Wort für ämynning, ‚Flussmündung‘. Welche Mündung gemeint ist, wird mir aber nicht klar.
Dann kommt das entscheidende Ereignis in der Geschichte Uppsalas. Der Dom brannte ab (1245). Das geschah nicht in Uppsala, sondern in Uppsala, also nicht in dem Ort, der Aros hieß, sondern in dem Ort, der damals schon Uppsala hieß und wo sich die Königsgräber befanden. Man beschloss, den neuen Dom in Aros, dem größeren, dynamischeren Ort zu bauen. Man sandte eine Delegation zum Papst, und der gab die Erlaubnis, aber unter der Bedingung, dass der Name der alten Bischofsstadt auf die neue übertragen werden musste. In einer feierlichen Prozession werden die Gebeine des Hl. Erik überführt, und Uppsala wird zur geistigen Mitte Schwedens.

Der Dombau lockt noch mehr Handwerker an, und Uppsala wird zu einer „richtigen“ Stadt. Davon zeugen auch hier geprägte Münzen (XIII).

Der Dom hatte jahrhundertelang einen Türmer. Hier wird sein wichtigstes Instrument ausgestellt, ein Horn, ein riesiges, längliches Instrument. Nachts blies der Türmer, um anzuzeigen, dass er wach ist. Tagsüber rief er die Stundenzahl aus. Wenn es irgendwo brannte, hielt er ein Licht aus dem Turm, das in die Richtung zeigte, wo der Brand war.
Gustav Vasa studierte auch in Uppsala, aber es wird von ihm gesagt, dass er dem Studium nicht viel abgewinnen konnte. Man sieht ein Bild – viel später entstanden – auf dem er das Lateinbuch mit einem Dolch durchbohrt und ein paar unflätige Ausdrücke von sich gibt.
Wie das einfache Volk lebte, zeigt eine niedrige Blockhütte, aus einem Zimmer bestehend. Die Feuerstelle ist in der Mitte, auf das Bett oben gelangt man über eine niedrige Leiter, und an der Seite steht ein Brett, das man zur Nahrungsaufnahme auf die Knie legte. Tische gab es nicht.

Geradezu luxuriös sehen dagegen einige Gesellenstücke aus, die in einer Vitrine präsentiert werden: ein großformatiges Buch mit dekorativem Einband, eine bauchige Laterne, aus Glas, mit Bleiverglasungen, eine geschnitzte Truhe.

Dann kommen ein paar Dokumente zu Linné, unter anderem das Faksimile einer Doppelseite seiner berühmten Schrift, einer Systematik, die alles, vom Mensch bis zum Weichtier erfasste. Linné war als Lehrer sehr beliebt. Er unterrichtete nicht nur im Hörsaal, sondern auch in freier Natur. Er sammelte alles. Nicht nur er selbst sammelte, sondern auch „Apostel“, die er aussandte und die ihm Pflanzen und Samen aus aller Herren Länder zukommen ließen. Seine Einteilung der lebenden Welt, heute nicht unumstritten, beruht auf sexuellen Kriterien. Von Staubblättern und Stempel ist die Rede.

Auf dem Rückweg werde ich von jemandem nach etwas gefragt und will schon sagen, dass ich mich nicht auskenne, als er seine Frage wiederholt: Systembolaget. Das verstehe ich sogar und kann es auch beantworten: Gleich gegenüber!
Am Abend treffe ich im Frühstücksraum auf einen netten Schweden. Nachdem wir zwei Sätze auf Schwedisch gewechselt haben und er erfährt, dass ich aus Deutschland komme, geht die Konversation auf Deutsch weiter.

4. Januar (Mittwoch)
Heute wache ich später auf und teile den Frühstücksraum mit einem mächtigen Hund und Schweden, die sich abgesprochen haben müssen, um mir zu beweisen, dass Schlürfen in Schweden kein Tabu ist.

In der Carolina habe ich Abbildungen von Photographien gesehen, die Ingmar Bergman in Uppsala gemacht hat, sieben Photos von den sieben Brücken Uppsalas. Ich lasse mich dadurch anstecken und gehe auch gleich vom Hotel zum Fyrisån runter und dann den Fluss bis hinter das Zentrum entlang. Das lohnt sich. Ich komme an ein paar schönen Ecken vorbei. Hier sieht Uppsala ein bisschen wie Gent aus.

Hin und wieder begegnet man Radfahrern, obwohl es glatt ist. An den gusseisernen Geländern am Fluss entlang reiht sich ein Fahrradständer an den anderen. Während des Semesters muss es hier wie in Münster zugehen.

Das Wetter könnte schlechter gar nicht sein. Aber Klagen nutzt nichts. Wie Bergman mache ich Photos von den Brücken, obwohl Bergman sicher eine bessere Kamera und besseres Wetter hatte. Aber es lohnt sich dennoch. Die Brücken sind, wenn auch alle klein, sehr unterschiedlich, manche mit hohen Aufbauten, andere flach, manche farbig, andere farblos (Bergmans Photos sind schwarz-weiß), einige nur für Fußgänger, andere auch für Autos. Sie sind so nah beieinander, dass man eine von der anderen aus photographieren kann. Am Ende habe ich etwas die Orientierung verloren und habe das Gefühl, dass es schon mehr als sieben Brücken sind. Die letzte Brücke, die Eddaspången, wurde 1889 gebaut, erwies sich aber bald als zu klein, wurde durch eine andere Brücke ersetzt und selbst nach hinten versetzt. Dann folgt eine rote Brücke, dann eine rostfarbene. Sie wurde 1845 erbaut, nach einer Missernte, um den Leuten Arbeit zu geben. Sie ist die älteste Hängebrücke Schwedens.

Ich gehe rauf zum Biotopia, bin aber zu früh. Ich habe aber Glück, denn das Museumscafé, Hugos Café, öffnet eine Stunde vor dem Museum. Ich werde von einem unaufhörlich auf Schwedisch auf mich einredenden Mann, vermutlich Hugo selbst, durch das Museum ins Café mitgeschleift. Er lässt sich durch mein verwirrtes Gesicht und meine einsilbigen Antworten nicht beeindrucken und bedient mich, indem er ständig weiter redet und gleichzeitig, unermüdlich in Bewegung, das Café öffnet und alles ein-, an- und bereitstellt. Wenn er nicht spricht, pfeift er. Ich bekomme schwarzen Tee und die obligate kanelbulle.

Dann macht das Museum auf. Es ist in erster Linie für Kinder gedacht und gemacht. Es riecht auch nach Kind. In Diaramen, die unterschiedliche Tages- und Jahreszeiten durchspielen, sieht man verschiedene schwedische Landschaften mit den entsprechenden Tieren, deren Stimmen man aktivieren kann.

Mein Blick fällt auf etwas anderes, ein Plakat zum letzten Nobelpreisträger in Chemie, einem israelischen Forscher namens Shechtman. Es wird ein Tagebucheintrag von ihm präsentiert, in dem er drei Fragezeichen hinter eine Beobachtung gemacht hat. Die Tagebucheintragung stammt aus dem Jahre 1982. Shechtman hatte etwas entdeckt, was es gar nicht geben durfte. Es geht um Folgendes: Alle festen Materialien bestehen aus Kristallen und diese wiederum aus Atomen. Diese Atome bilden periodische Muster. Ein Atom ist immer von 4 oder von 6 Atomen umgeben. Shechtman fand Atome, die von 5 Atomen umgeben sind. Dabei ist die Distanz zu den einzelnen Atomen nicht die gleiche, und das konnte, der geltenden Lehre zufolge, gar nicht sein. Die müssten eigentlich ineinander zusammenfallen. Jetzt gab es sie auf einmal doch. Eine Erklärung für die aperiodischen Muster fand man in mathematischen Spielen mit Mosaiken, in denen es darum ging, unterschiedliche Formen zu finden, mit denen immer neue Muster entstehen konnten. Und in der Geschichte zurückgehend fand man einen verblüffenden Vorläufer: In arabischen Mosaiken des Mittelalters gibt es bereits solche unendlichen Mosaiken, die auf fünf immer wieder verwendeten, unterschiedlichen Grundformen beruhen.
Dann geht es zum Schloss. Es macht seinem Namen alle Ehre. Es ist geschlossen. Aber in dem Schloss befindet sich das Kunstmuseum, und das ist geöffnet.

Das Schloss liegt erhöht und blickt auf die Stadt hinunter. Es ist in blassrosa und langgestreckt und unregelmäßig, mit einem breiten Rundturm zur Stadtseite. Die unregelmäßige Form erklärt sich dadurch, dass nach verschiedenen Umbauphasen das Geld ausging und ein ursprünglich geplanter Flügel nicht gebaut wurde.

Unten gibt es moderne Werke. Alle bestehen aus Serien von Einzelbildern, von einer Handvoll bis zu über vierzig. Das wird von den verschiedenen Künstlern unterschiedlich gedeutet. Ganz zu Anfang gibt es eine Reihe von Gravierungen, die wie Photos aussehen (1998), von einem finnischen Künstler namens Marko Lampiuso. Die Bilder zeigen immer die gleiche Szene, einen Wald. Auf den ersten Blick sieht man gar keinen Unterschied. Es ist so, als hänge man ein Bild zehnmal hintereinander an die Wand. Auf den zweiten Blick sieht man die Unterschiede. Aus dem saftig grünen Wald ganz links wird allmählich ein nur noch mattgrüner Wald, der dann gräulich wird und am Ende geradezu verkohlt aussieht. Nur die Baumstämme, immer noch an der gleichen Stelle, ragen aus dem schwarzen Boden in den Himmel.

Thema der nächsten Bilderserie, von Jacob Dahlgren (2004), ist der Baum. Mit ganz einfachen Mitteln – Strichen, Ovalen, Kreisen – stellt er 16 Bäume dar, oder, besser besagt, 16 Mal den Baum. Jeder Baum ist anders, immer in einer bestimmten Farbe – nicht nur grün und braun, auch violett und rosa und blau – und jedes Bild hat ein anderes Format, aber alle Bäume sind auf derselben waagerechten Achse. Man ist verblüfft, dass eine Darstellung nichts mit der nächsten gemeinsam haben kann und doch, genauso wie diese, eindeutig (jedenfalls in den meisten Fällen eindeutig) ‚Baum‘ bedeutet.
Dann kommt eine ganz andere ‚Geschichte‘, im wahrsten Sinne des Wortes: 42 Radierungen von Sten Eklund (1970). Die einzelnen Bilder haben an sich nichts mit einander gemeinsam, aber gehören zu einer Geschichte, der von einem erfundenen Forscher namens Paléen, der auf einer Expedition einen unbekannten Ort und die Spuren einer unbekannten Zivilisation, aber ohne jeden Hinweis auf Menschen, findet. Das stellen die Bilder dar: einen Schuppen, eine Laube, ein Gemüsebeet, bearbeitete Felsbrocken, Stehwände in der Landschaft, einen Steinbruch usw. Der Forscher nimmt Proben, zeichnet Karten und dokumentiert alles und kehrt nach Hause zurück. Später kann er aber nie wieder den Weg zurück zu diesem geheimnisvollen Ort finden.

Im nächsten Raum gibt es Ausstellungsstücke aus einer ehemaligen Keramikfabrik in Uppsala, Upsala-Ekeby. Die Fabrik hatte Ambitionen und stellte Künstler für das Design ihrer Waren ein, war aber wirtschaftlich am Ende gegen die Konkurrenz der Fabriken mit Massenware nicht überlebensfähig und wurde geschlossen. Man sieht ein paar grässliche Einzelstücke, aber die sind die Ausnahme. Das meiste ist von einer schlichten Eleganz: schlanke, unregelmäßige, ‚fließende‘ Formen, einfache, gedeckte Farben, mit weißen, schmalen Streifen als Verzierung, die sich gegen den Untergrund, grün, schwarz-braun, abheben.

Oben befindet sich die Kunstsammlung der Universität. An einer Seite des Saals ein Teil einer einst riesigen, 400 m2 großen Altarwand aus Stuck aus einem der Vorgängerbauten des heutigen Schlosses.

Die Sammlung entstammt dem Wunsch des Zeichenlehrers der Universität, richtiges Anschauungsmaterial zu haben, und das merkt man. Es gibt von allem etwas: Portraits, religiöse Malerei, Landschaften, Genremalerei. Es sind besonders viele Holländer vertreten. Mir gefallen zwei kleinere Bilde am besten, ein Doppelportrait von Petrus und Paulus von einem unbekannten deutschen Maler (XVI) und das Portrait eines Kapuzinermönchs eines, so vermute ich, schwedischen Malers (XVII). Das Bild von Petrus und Paulus ist eine Charakterstudie. Ihre Köpfe sind ganz nahe beieinander, und die nur angedeuteten Heiligenscheine überkreuzen sich. Sie sind ähnlich und doch verschieden. Beide haben einen Bart, beide haben schütteres Haar, beide blicken ernst in die gleiche Richtung, ein Blick voller Intensität, etwas herausfordernd, intellektuell. Es liegt so etwas wie Spannung in der Luft. Das Bild wirkt modern.

Der Kapuzinermönch in seiner Zelle, in Meditation versunken, ist das Gegenstück dazu. Die Atmosphäre ist nicht gerade heiter, aber gelassen, entspannt. Es dominiert das Braun, in allen möglichen Schattierungen: die Kutte, die dicke, gestopfte Jacke, die Sandalen, die Fußbodenfliesen, die Tür, das Schloss, der Rosenkranz, das Buch. Nur ganz vereinzelt gibt es rote Farbtupfer: die Ziegel hinter dem abblätternden Putz, die Blumen vor dem Marienaltar, das Tuch unter dem Marienaltar.

Auf dem Rückweg komme ich an einer gemütlichen, kleinen Buchhandlung vorbei. Sie besteht nur aus einem Raum. An drei Seiten hohe, dicht bestückte Regale, mit der Kasse und einigen Tische mit aktuellen Angeboten im Zentrum. Ich sehe in verschiedene Bücher rein und entscheide mich am Ende für einen Roman von Hakan Nesser und gegen Lisa Marklund und Jan Gillou. Für den Roman von Nesser sprechen drei Dinge: Er ist kurz, es ist ein Briefroman, und Nesser ist aus Uppsala. Außerdem finde ich ein Buch über große Philosophen, die in Einzelkapiteln dargestellt werden.

Am Abend kommt mir eine kuriose Parallele zwischen Uppsala und Budapest in den Sinn. Auch dort teilt der Fluss die Stadt in zwei sehr verschiedene Teile. Auch dort ist einer der beiden Teile hügelig, der andere flach. Auch dort hatte die Stadt ursprünglich einen anderen Standort. Auch dort wurde der Name des alten Orts auf den neuen übertragen. Auch dort gibt es die Reliquien des Nationalheiligen.

5. Januar (Donnerstag)
Zu den Alltagphänomenen, für die es weiterhin keine vernünftige Erklärung gibt, gehört das Gähnen, jedenfalls meinem populärwissenschaftlichen Buch zufolge. Erklärungsversuche gibt es genug, darunter den Sauerstoffmangel, aber eine Reihe von Experimenten hat das nicht bestätigen können. Wodurch wird das Gähnen ausgelöst? Einer der Faktoren ist, dem Buch zufolge, Tristesse. Kommt mir komisch vor. Warum soll das Gähnen auslösen? Als ich das Wörterbuch zur Hilfe nehme, stellt sich heraus, dass tristesse im Schwedischen ‚Langeweile‘ bedeutet.

Ich mache mich auf den Weg zum Botanischen Garten, schon deshalb, weil es nicht viele Alternativen gibt, aber auch der Tradition gehorchend. Auch in Göteborg und Stockholm war ich im Botanischen Garten. Der von Uppsala liegt oben, noch hinter dem Schloss, und ist durch eine Straße in zwei Teile geteilt. Der Garten ist tatsächlich geöffnet, aber jetzt im Winter, ohne Laub, nicht sehr ansehnlich. Also gehe ich direkt zu der Orangerie. Geschlossen. Dann über die Straße zum Gewächshaus. Auch geschlossen. Davon wussten Touristeninformation, Faltblatt und Internetseite nichts.

Da ich Zeit bis zur Öffnung des Gustavianums schinden muss, besorge ich Briefmarken. Postämter gibt es in Schweden überhaupt nicht mehr. An einem Kiosk gibt es nur Briefmarken für Schweden, aber gleich in der Nähe werde ich fündig im Pressburån, einer gute Einrichtung, die sich immer wieder bewährt. Die Marken sind sehr groß und haben ungewöhnliche Motive: Wollsachen. Von Handschuhen bis Socken. Eine Postkarte nach Deutschland kostet 120 Kronen, ca. 1,30 €, ein stolzer Preis.

Auf dem Weg komme ich zufällig an dem Gebäude in der S:t Persgatan vorbei, in dem, der Inschrift zufolge, der Stadtbrand von 1702 ausgebrochen ist. Die Ursache ist bis heute unbekannt. Das Feuer breitete sich von diesem Gebäude, nahe am Fluss, gleich am Eingang zum Geschäftsviertel gelegen, in Windeseile aus. Windeseile im wahrsten Sinne des Wortes, denn der langanhaltende und dann in nördliche Richtung wechselnde Wind war verantwortlich für die Zerstörung, die der Brand anrichtete. Das Feuer brach um Mitternacht aus, und am frühen Morgen lag die ganze Stadt in Schutt und Asche, mit Ausnahme des heutigen Upplandmuseums, des Gustavianums und des dahinter liegenden Viertels. Der Brand war über die Dombron und die Nyabrun, die beide aus Holz waren, auf die andere Flussseite übergegangen und hatte auch den Dom, Schloss und Liebfrauenkirche in Mitleidenschaft gezogen. Die Türme des Doms und das Dach fielen in sich zusammen.

In einer Buchhandlung sehe ich ein Buch über die 100 wichtigsten Schweden. Da will man doch wissen, wer das ist. Die Anordnung ist von unten nach oben, beginnend mit Königin Christina, die Nr. 100 ist, „nur“ Nr.100, noch hinter Sven-Göran Erikkson, dem Fußballtrainer. Der Name Erikkson ist, wenn auch in unterschiedlicher Schreibweise, gleich viermal vertreten. Am höchsten von ihnen rangiert der Erfinder des Telefons, unter den ersten zehn. Von denen kenne ich alle außer einem Bankier. Die ersten fünf, in aufsteigender Reihenfolge, sind: Olof Palme, Alfred Nobel, Axel Oxenstierna, Astrid Lindgren und, der „strenge Papa der Nation“, Gustav Vasa.

Auch die beiden Männer von Abba haben es unter die ersten Hundert geschafft, auf 69 und 68. Bei der Namensfindung für die Gruppe stießen sie auf ein Problem: Der Name Abba war bereits vergeben, für eine Fischkonservenfabrik. Die Verantwortlichen der Fabrik zeigten sich aber großzügig und gestatteten der Gruppe, den Namen zu behalten. Man glaubte, es mit einer vorübergehenden Erscheinung zu tun zu haben, die sich in ein paar Monaten ohnehin erledigt haben würde.

Dann ist es Zeit für das Gustavianum, einem der besten Dinge, die Uppsala zu bieten hat. Das Gustavianum ist das Universitätsmuseum. Es ist untergebracht in einem riesigen Gebäude mit einer achteckigen, flachen Kuppel, auf der ein Globus thront, und liegt zwischen Universität und Dom. Diese Lage, so der Prospekt, drücke perfekt die Position der Wissenschaft aus: zwischen Wissen und Glauben. Das stimmt. Wenn ich mich über Schwarze Löchern und Hirnströme und Meerestiefen auslasse, dann muss ich an ihre Existenz glauben. Von Wissen kann keine Rede sein.

Der berühmteste Raum des Gustavianum ist das Anatomische Theater, ganz oben im Gebäude. Mich zieht es direkt dorthin. Es wurde initiiert und auch gleich entworfen von Olaus Rudbeck, einem schwedischen Universalgenie, der gleichzeitig Mediziner, Botaniker, Archäologe, Mathematiker und Musiker war. Er komponierte selbst und war Dirigent des königlichen Orchesters, unterwies Bergleute ebenso wie Instrumentenbauer, er entdeckte die Lymphgefäße im menschlichen Körper und machte wichtige Beiträge zur Archäologie. Er schuf auch den Botanischen Garten, für den später Linné bekannt wurde. Alfred Nobel ist einer seiner Nachfahren. Ich kannte seinen Namen aus der Sprachwissenschaft, wo er allerdings keinen guten Ruf genießt und meistens nur für seine abenteuerliche These zitiert wird, dass im Paradies Flämisch gesprochen wurde.

Das Anatomische Theater (1662) ist ein klug konzipierter Saal mit Vorbildern in Padua und Leiden. Der runde Saal weitet sich nach oben hin in immer größer werdenden und steil aufsteigenden Reihen aus, die nicht, wie in den meisten Hörsälen, nur eine Seite einnehmen, sondern den ganzen Raum, so ungefähr wie in einem antiken Amphitheater. Das ermöglichte, dass man von jeder Stelle aus das Geschehen unten im Saal, im Zentrum beobachten konnte. Hier wurden, völlig revolutionär in dieser Zeit, Leichen seziert. Die Leiche wurde auf einen durch ein achteckiges Gitter abgesperrten Holztisch unten im Raum positioniert. Die Studenten sollten den menschlichen Körper aus eigener Anschauung kennen lernen. Das war alles andere als unumstritten, und als Studienobjekte kamen nur die Leichen verurteilter und hingerichteter Verbrecher in Frage. Zuschauer dieser Vorführungen waren einerseits Studenten der Medizin, andererseits zahlende Besucher, die die akademische Veranstaltung als Spektakel erlebten.

Die Besonderheit dieses Raums liegt darin, dass er direkt unter der Kuppel lag, so dass genug Licht eindrang, um alles gut sehen zu können.
Der schmucklose Raum ist beeindruckend, sowohl von unten, wo man ihn betritt, als auch von oben gesehen, und man verbeugt sich vor der Entschlossenheit, mit der sich hier fortschrittliches Denken Bahn bricht.

Das Gustavianum hat ein zweites Schatzkästchen, im ganz wörtlichen Sinne, das Augsburger Kabinett. Es handelt sich um einen kunstvollen Schrank, der zum Aufbewahren und Vorzeigen aller möglichen Kuriositäten diente, ein Art Museum im Schrank, ein bewegliches Kuriositätenkabinett. Der Schrank wurde in Augsburg hergestellt und den heranrückenden schwedischen Truppen im Dreißigjährigen Krieg „geschenkt“.
Der Schrank hat einen Unterbau und einen Aufbau, der wiederum von einer Art Muschelberg bekrönt ist. Er ist aus Eiche, hat aber andere äußere Schichten, vor allem aus Ebenholz. Überall gibt es Fächer, Schubladen, Türen, und dazwischen Mosaike, Bilder, Einlegearbeiten, Edelsteine, Muscheln. Ein versteckter Ausklapptisch diente zur Präsentation der Objekte.

In mehreren Vitrinen ist ausgestellt, was der Schrank ursprünglich alles enthielt: ein Schachspiel, ein selbstspielendes Musikinstrument, eine Art Klavier, mitsamt heimlichem Auslöser, wissenschaftliche Messgeräte aus Messing, ein Apothekerschränkchen, die zusammengerollte Haut einer Boa Konstriktor, kunstvolle Kämme, ein Schreibpult, bestickte Kissen, ein russisches Holzkreuz, eine ägyptische Bestattungsstatue, chinesische Weintässchen, eine türkische Lederflasche, ein Miniaturbuch, gerade mal so groß wie zwei Fingerkuppen, mit kunstvollem Buchdeckel, ein Diarama mit der Darstellung einer klassischen Liebesszene, eine Art Peep-Show für die Oberschicht, ein winziger Ring, innen und außen bemalt mit Szenen von Golgota. Es übersteigt schlichtweg das Fassungsvermögen.

Es gibt aber noch mehr sehenswertes als das Augsburger Kabinett. Dazu gehört ein Thermometer (aus Holz!) von Celsius. Auf dem hat er selbst die von ihm erfundene Skala eingeritzt. Er stammte aus Uppsala und hatte hier eine Professur inne. Den weltweiten Erfolg seiner Skala erlebte er nicht mehr. Er warb für sie mit dem einleuchtenden Argument, dass sie universal gültig war und der Kommunikation zwischen Wissenschaftlern unterschiedlicher Länder erleichterte.
Auch Linné ist vertreten, und zwar mit einer Systematik der Krankheiten. Er muss ein Ordnungsfanatiker gewesen sein. Man kennt ihn als Botaniker, aber er hatte offensichtlich auch eine Professur für Medizin.

Schön ein alter Doktorhut, grün, aus Leder, eine Mischung aus klassischem Doktorhut und Cowboyhut. Und eine auf wundersame Weise erhalten gebliebene Vorlesungsmitschrift aus der Zeit, als die Universität gerade gegründet worden war. Man kennt sogar den Verfasser, einen Studenten aus Gotland. Es handelt sich um ein dickes, großes Buch, mit einzeiligen Notizen, natürlich auf Latein, und Zeichnungen.
Man erfährt, dass in Schweden auch während der Großmachtzeit der universitäre Unterricht der mittelalterlichen Tradition folgte. Vorlesungen gab es viermal täglich viermal pro Woche. Bücher gab es nicht. Der Professor las langsam vor, so dass die Studenten mitschreiben konnten, und zwar Wort für Wort. Jedes Semester stand ein großer Autor im Mittelpunkt, und die Vorlesung war im Grunde eine kommentierte Zusammenfassung von dessen Werk. Gut, dass es mit dem Besuch des Gustavianums doch noch geklappt hat!

Auf dem Rückweg komme ich durch Lindormen, ein Viertel direkt am Fluss, in dem es noch Holzhäuser der traditionellen Art gibt, in verschiedenen Farben. Auf einem Schild wird erklärt, die Häuser seien früher alle rot gewesen, bis ein Verwaltungsakt im 19. Jahrhundert den Gebrauch von Rot für Fassaden zum Fluss oder zum Platz hin verbot. Man solle dezentere Farben benutzen.

Als ich mich am nächsten Morgen auf die Rückreise mache, geschieht das mit dem festen Vorsatz, dass eventuelle weitere Reisen nach Schweden nur noch im Sommer stattfinden.

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