Bologna (2012)

7. September (Freitag)

Bologna ist die Stadt, in der, einer Umfrage zufolge, die meisten Italiener gerne leben würden. Sie wissen, was gut ist. Im Ausland ist der Stellenwert Bolognas viel geringer: Rom, Florenz, Venedig stehen ganz oben, und auch Mailand, Neapel, Verona, Rimini sind beliebter oder zumindest bekannter als Bologna.

Spaghetti Bolognese gibt es Bologna nicht. Aber sonst fast alles, was das Herz begehrt. Na gut, es gibt auch kein Meer.

Es ist sonnig und warm, als ich in Köln abfliege. Als ich in Bologna ankomme, ist es sonnig und heiß.

Für mich ist dies eine Nostalgiereise, zurück zu den Wurzeln, sozusagen. Hier, in Bologna, habe ich vor vielen Jahren meinen ersten Italienisch-Kurs gemacht. Ich habe mich sogar an derselben Schule wieder angemeldet, die allerdings jetzt eine andere Lokalität und wohl auch einen anderen Namen hat. Wie lange das alles her ist, merke ich zu meinem Entsetzen noch am selben Abend, als ich in einem Reiseführer ein altes Zugticket entdecke, für eine Fahrt von Bologna nach Modena. Der Preis: 5400 Lire. Es war vor der Einführung des Euro, und zwar weit davor: 1993!

Erinnern kann ich mich noch an die drei Attribute, die sich Bologna verliehen hat: la dotta, la rossa, la grassa. Anspielungen auf Gelehrsamkeit, Architektur, Küche.

Der Flughafen von Bologna ist nach Marconi benannt, dem „Erfinder des Telefons“. So lese ich es in einem (italienischen) Reiseführer. Letztes Jahr in Stockholm war Ericsson der „Erfinder des Telefons“, einem schwedischen Reiseführer zufolge. In Deutschland ist es Philipp Reis, in Amerika Graham Bell.

Zu den anderen bekannten Bolognesen gehören Correggio und Guido Reni, Carracci und Papst Gregor XIII und Galvani (galvanisieren) und Cardano (Kardanwelle).

Am Flughafen geht es etwas unordentlich und hektisch zu, so, als wolle man uns demonstrieren, dass wir in Italien sind.

Mit einem vollgestopften Bus, der schon bessere Tage gesehen hat, kommt man für stolze sechs Euro ins Zentrum. Der Weg führt durch nichtssagende Gegend und über einen Fluss. Einen Fluss? Liegt Bologna an einem Fluss?

Es gibt mehrere Haltestellen im Zentrum, und ich versuche mich auf Italienisch an dem neben mir stehenden jungen Mann. Es geht alles wie geschmiert, so als hätte ich nie etwas anderes gesprochen. Später, auf dem Weg durch die Stadt, kommt dann die große Unsicherheit. Ich verwechsle alles, sogar dritto und destra, und gebe offensichtlich Anlass, dass man mir auf Englisch antwortet! Eine neue italienische Erfahrung. Als ich mich bei dem Mann im Bus bedanke, antwortet er: Ma di chè? Beim Aussteigen, bei dem man über Taschen klettern und sich zwischen Passagieren durchzwängen muss, habe ich das Gefühl, dass jemand nach meinem Portemonnaie greift, aber es geht gut. Vielleicht habe ich mir das alles nur eingebildet.

Es ist das erste Mal überhaupt, dass ich eine Stadt zum zweiten Mal länger besuche. Aber es ist wie das erste Mal: Ich erkenne nichts wieder. In meiner Erinnerung hat sich Bologna auf ein halbes Dutzend Straßenszenen oder Sehenswürdigkeiten reduziert, und nichts davon hat etwas mit dem zu tun, was ich jetzt sehe. Dass man in Bologna ist, kann man dennoch nicht übersehen. Das liegt einmal an den Kolonnaden und dann an den vielen Vespas und Fahrrädern.

Es ist nicht weit bis zum Hotel, aber ich tue mich schwer damit, die richtige Straße zu finden, San Vitale, eine unendlich lange Straße, mit dem Hotel fast an ihrem Endpunkt, dem östlichen Ausgang aus der Stadt.

Das Hotel ist sehr, sehr einfach, hat aber einen schönen, kleinen Innenhof für seine Gäste. Frühstück gibt es nicht, hier wird nur geschlafen. Dass das Zimmer nach innen liegt und nicht zu der lauten, vielbefahrenen Straße hin, stelle ich sofort zufrieden fest, auch, dass es immerhin einen Schreibtisch hat. Dass es auch einen Ventilator hat, merke ich erst am nächsten Morgen, nach einer Nacht, in der ich ins Schwitzen komme.

Für einen kurzen Spaziergang ins Zentrum ist es noch früh genug. Bologna kommt mir anders vor, als ich es in Erinnerung hatte: lauter, voller, schmuddeliger. Risse und Spalten in den eigentlich sehr schönen Bürgersteigen, die nur notdürftig ausgebessert sind, bemalte, beschmierte und mit Parolen versehene Briefkästen, Stromkästen, Ladengitter, Haustüren, vergilbte Plakate und halb abgerissene Aufkleber überall, verrußte Säulen, schmutzige Fassaden. Dabei ist es ausgesprochen sauber: kein Papierschnitzelchen auf dem Boden, geschweige denn Hundekot. Und zwischen den etwas heruntergekommenen Häusern dann plötzlich zwischendurch ein Palazzo wie aus dem Bilderbuch.

Am Ende der Via San Vitale stehen die beiden bekannten Wohntürme von Bologna, Asinelli und Garisenda, die ersten Sehenswürdigkeiten überhaupt, die ich wiedererkenne, aber dann bin ich wieder wie in einer unbekannten Stadt.

Dann aber kommt die Piazza Maggiore, mit dem Neptun-Brunnen, San Petronio und den vielen repräsentativen Gebäuden. Die Fassade von San Petronio ist eingerüstet. Gut so. Sie hat mir noch nie gefallen, mit der Marmorverkleidung, die auf halber Höhe aufhört und dann den nackten Ziegelsteinen Platz macht. Damals war schlicht das Geld ausgegangen. Ob man die Marmorverkleidung jetzt tatsächlich komplettieren will?

Irgendwie werde ich in die richtige Richtung gezogen und stehe plötzlich in einer Gasse, die mir bekannt vorkommt. War hier nicht früher die Schule? Der Name der Gasse stimmt aber irgendwie nicht. Ich biege um die Ecke und komme an einer Enothek vorbei, die ich ganz sicher wiedererkenne und dann an einem Café, das ich meine, wiederzuerkennen, und dann stehe ich auf einmal vor dem richtigen Straßenschild: Via Caduti de Cefalonia. Das war’s! Warum ich mich darüber so freue, den Ort wiedergefunden zu haben, weiß ich selbst nicht genau. Was ich aber noch weiß, ist die Verwirrung, die die zusätzlichen Angaben zu den Straßennamen in diesem Viertel bei mir ausgelöst haben. Unter Via Caduti de Cefalonia steht: già Via Venezia. Da ergibt überhaupt keinen Sinn: già heißt ‚schon‘, hier ist aber doch wohl genau das Gegenteil gemeint, ‚nicht mehr‘, nämlich ‚früher‘. Und genauso ist es: già gehört, wie ich damals entdeckte, zu den sog. Kontronymen, Wörtern, die (mehr oder weniger) das Gegenteil von sich selbst bedeuten (können), wie span. salir, engl. cleave oder dt. aufheben.

Auf dem Rückweg gehe ich in eine kleine Bar in der Nähe des Hotels. Für ein Sandwich und ein kleines Bier muss ich sieben Euro bezahlen.

Am Abend mache ich dann noch eine Erfahrung, die ich, mit etwas schlechtem Gewissen, als typisch italienisch einordne. Es geht darum, den Internetanschluss des Hotels zu nutzen. Man kann sich da selbst einwählen. Nur hat die Sache einen Haken: Die Erkennung ist WPA-PSK: pgkGkc8X9HbqWp9MH5FKfpjs. Das ist kein Scherz. Um die Sache etwas zu erschweren, hat man die Liste mit dem Code an der Heizung festgehängt. Die Liste muss man, jedes Mal, wenn man die andere Hand für einen Großbuchstaben braucht, loslassen. Wenn man sich dann wieder ans Werk macht, muss man in der Broschüre erst die richtige Seite finden, bevor man weiterschreiben kann. Und als ich endlich fertig bin, werde ich aufgefordert, die Eingabe zu wiederholen! Als auch das vollbracht ist, bin ich froh, dass es zumindest mit der Zahl der Stellen hat: Beide Eingaben sind gleich lang. Als ich mich dann einwählen will, bekomme ich aber eine Absage: Die erste Eingabe stimmt mit der zweiten nicht überein. Ich suche Zuflucht an der Rezeption. Der nicht sonderlich freundliche, aber sehr hilfsbereite Mann bietet an, selbst die Eingabe zu machen. Ich solle meinen Laptop einfach zur Rezeption bringen. Das mache ich gerne. Jetzt gibt er die Daten ein, aber als er am Ende der Wiederholung ankommt, fehlt ihm eine Stelle. Er lässt sich aber nicht einschüchtern und versucht es noch einmal. Und diesmal klappt’s! Ich überschütte ihn mit Dank und Lob und ziehe aufs Zimmer. Aber hier funktioniert die Verbindung nicht. Ich gehe wieder zur Rezeption. Der Mann sagt mir, na ja, die Verbindung zu den Zimmern sei nicht allzu gut. Ich solle es im Innenhof versuchen. Da sei die Verbindung gut.

8. September (Samstag)

Als ich am Morgen an der Rezeption nach dem Archiginnasio frage, versteht man mich nicht. Als es dann doch irgendwie klappt, merke ich, dass ich vier Aussprachefehler in einem einzigen Wort gemacht habe!

San Petronio gilt als die größte Pfarrkirche der Welt. Sie ist 132 Meter lang, aber das merkt man gar nicht, wenn man drinnen ist, weil sie auch sehr breit ist. Außerdem ist der Chorumgang geschlossen, sodass innen wohl etwas „fehlt“. Wenn man außen an der Kirche entlang geht, werden die Dimensionen deutlicher.

Da die Fassade eingerüstet ist, geht es gleich hinein. Man betritt einen hellen, großen Raum, der gar nicht mittelalterlich wirkt, eher barock. Er ist aber unverkennbar mittelalterlich. Das Gewölbe und die Spitzbogenfenster belegen das. Der riesige Raum ruht auf gerade mal sechs Säulen. Das prägt den Raumeindruck. Wie viele italienische Kirchen, hat auch San Petronio keinen Turm. Es ist eine ganz andere Gotik als die in Frankreich und Deutschland.

Auffällig eine riesengroße, ganz einfache, rechteckige Kanzel aus dunklem Holz, ohne jeden Dekor, eine Kanzel, wie ich sie noch nie gesehen habe.

Auf den ersten Blick ist die Ausstattung nicht sehr reichlich, aber das täuscht. Viel ist in den Seitenkapellen versteckt, über zwanzig an der Zahl!

Zuerst sehe ich ganz am Ende des nördlichen Seitenschiffs zwei Holztafeln, die früher zum Verschluss der Orgel dienten. Sie hängen jetzt einfach dekorativ an der Wand, als Kunstwerke, sind aber wegen ihrer Position nicht sonderlich gut zu sehen. Es werden vier Szenen aus dem Leben Petronios dargestellt: die Bischofweihe, der Einzug in Bologna, die wundersame Rettung eines Handwerkers, eine Predigt. Es ist das spätmittelalterliche, aber gar nicht mittelalterlich aussehende Werk eines Amico Aspertini, einem Künstler, der, wie auch von Vasari notiert, für seine schnelle Arbeitsweise bekannt war, direkt, ohne Vorzeichnung und, wenn ich das richtig verstehe, mit den Fingern auf das Holz. Beim Einzug in Bologna sieht man dicht gedrängtes Volk. Hier könnte Aspertini seine Erfahrung bei der Kaiserkrönung Karls V. (mehr als tausend Jahre später) verwandt haben, bei der einen Auftrag hatte. Die Kaiserkrönung fand hier, in San Petronio, statt.

Petronio war kein Märtyrer. Das macht ihn durchaus sympathisch. Eher war ein „Kümmerer“, der sich durch Selbstverleugnung und Nächstenliebe auszeichnete. Wie stark die Wirklichkeit dem Bild entspricht, mag dahingestellt sein, aber er war zur Stelle, wenn es um etwas ging: Frieden stiften zwischen den Bürgern, sich um die Stadtmauer kümmern, mit marodierenden Horden verhandeln usw. Und, wenn es um persönliche Seelsorge ging.

Es gibt einen zweiten Bezug der Ausstattung zu Petronio: An den Seitenwänden stehen Feldkreuze, antike, von einem Kreuz bekrönte Säulen, die angeblich von Petronio selbst als Wegmarkierung errichtet wurden.

Quer durch das nördliche Seitenschiff verläuft eine Linie mit Tierkreiszeichen, Zahlen und Emblemen. Das ist der Meridian von Bologna. Genau um zwölf Uhr mittags fällt ein Strahl der Sonne durch eine Öffnung im Gewölbe genau auf eine Stelle des Meridians und zeigt an, wo die Sonne an diesem Tag steht. Der Meridian wurde bereits im 16. Jahrhundert angelegt. Das wissenschaftliche Bemühen um eine exakte Erfassung der Zeit hat in Bologna Tradition. Der bekannteste Name in diesem Zusammenhang ist Gregor XIII., der Begründer des Gregorianischen Kalenders. Er stammte aus Bologna.

Der künstlerische Höhepunkt von San Petronio ist vermutlich die Kapelle der Heiligen Drei Könige, auch Capella Bolognini benannt, nach dem Stifter, dessen Grabmonument auf dem Boden der Kapelle zu sehen ist. Die Kapelle ist ein Gesamtkunstwerk aus Glasfenstern, Schnitzaltar und Fresken und einer sehr schönen Marmorbalustrade mit gedrechselten Säulen, die allerdings auch den Zugang versperrt und die Sicht erheblich erschwert. Oben abgeschlossen wird die Kapelle von einer Decke mit einem sternenübersäten Himmel. Schöner geht’s nimmer.

Die Glasfenster zeigen die Apostel mit ihren Symbolen: Petrus mit Schlüssel, Paulus mit Schwert, Simon mit Säge, Thomas mit Winkelmaß, Jakobus mit Wanderstab, Johannes mit Schriftenrolle („In Principio“).

Alle Wände der Kapelle sind komplett mit großflächigen Fresken ausgemalt. An der rechten Seite Szenen aus der Legende der Hl. Drei Könige, darunter ihre Rückkehr über das Wasser in einem eleganten Schiff! An der Stirnseite Szenen aus dem Leben Petronios. Er wird nach Konstantinopel geschickt, um eine Botschaft des römischen Papstes zu übergeben, und er entfernt einen Stein aus dem Mund eines Sünders, den dieser als Strafe für ein Vergehen im Mund tragen musste.

Links die fantastische Darstellung von Paradies, Fegefeuer und Hölle. Eine Szene sieht aus wie ein Konzil, aber es ist wohl ein himmlisches Konzil, auch wenn die Männer in dichten Reihen sitzen und Bischofsmützen tragen.

Unten die Darstellung der Hölle mit genau unterschiedenen Abteilungen, in denen, Dante folgend, jeder seine „gerechte“ Strafe bekommt. Im Zentrum ein monströser Luzifer, eine Mischung aus Bär und Mensch, der sich durch seine Größe und seine graue Haut von den Sündern abhebt, die er mit seinen zwei Mündern, oben und unten, verschlingt. Wunderbar!

Zum Archiginnasio laufe ich einfach einer Schweizer Lehrerin hinterher, die gerade auf der Piazza Maggiore ankündigt, dass sie ihre Schüler jetzt dahin führen werde.

Das Archiginnasio ist der älteste erhaltene Teil einer der ältesten Universitäten Europas oder, wie es hier heißt, der ältesten Universität der Welt. Es sieht wie geplant aus, ist aber Zufall: In diesem Jahr bin ich schon in Uppsala, in Cambridge und in Krakau gewesen. Da fügt sich Bologna perfekt ein.

Der Bau des Archiginnasio wurden gleich mehrere Fliegen mit einer Klappe getroffen: Erstens wurde der Universität ein würdiger Rahmen gegeben; zweitens konnten die alten, sich nicht mehr im besten Zustand befindlichen Gebäude aufgegeben werden; drittens stoppte man dadurch den Ausbreitungsdrang von San Petronio und stellte sich Plänen in den Weg, ein Querhaus anzufügen (womit die Kirche vielleicht Sankt Peter in Rom übertroffen hätte); viertens konnte man so alles einfach unter päpstliche Kontrolle bringen: Der Name weist auf den Einfluss des Erzbischofs hin! Wir befinden uns im 16. Jahrhundert und damit in der Zeit, als die Stadt ihre Selbstständigkeit gerade verloren hatte und zum Kirchenstaat gekommen war.

Das Archiginnasio ist ein wundervolles Gebäude. Man betritt einen schönen, quadratischen Innenhof mit Arkaden im Untergeschoss und großen, runden Fenstern im Obergeschoss. Hunderte von Wappen von Studenten und Professoren schmücken Gänge und Wände, besonders schön an der Decke einer der Treppen, die ins Obergeschoss führen. Dazwischen allerhand Fresken, deren Bedeutung sich aber nicht ohne weiteres erschließt. Jeder Student hatte sein eigenes Wappen und ist namentlich, in latinisierter Form, mit seinem Ursprungsort genannt. Bologna war wahrhaft international. Schon früh wurden Immatrikulationslisten geführt, und die zeigen, dass in den ersten Jahrhunderten alleine fast 5.000 Studenten aus Deutschland hier waren.

Im Obergeschoss befindet sich der berühmteste Saal des Archiginnasio, der Anatomische Saal, ein ganz aus Holz geschnitzter Saal. Hier wurde gelehrt, aber hier wurden auch die umstrittenen Autopsien durchgeführt, wie der von einem Gitter eingezäunte Tisch im Zentrum zeigt.

Man vergleicht unwillkürlich mit Uppsala. Dessen Besonderheit, die hoch ansteigenden Ränge, fehlen hier; dort fehlen die Schnitzarbeiten, die diesen Raum so besonders machen. An den Seiten stehen die Statuen berühmter Mediziner der Antike – Hippokrates und Galen und anderen – aber auch von Medizinern, die hier lehrten.

An der Stirnwand ist die Kathedra des Professors, unter einem geschnitzten Baldachin, der gestützt wird von den Statuen zweier enthäuteter Männer, einer zum Publikum gewandt, der andere abgewandt, so dass alle Partien der männlichen Anatomie sichtbar waren. Die weibliche Anatomie war offensichtlich nicht von Interesse.

Gegenüber der Kathedra befindet sich eine Geheimtür. Hinter der saß ein Vertreter der Kirche und hörte zu, was der Professor zu erzählen hatte.

Die weiteren Säle scheinen geschlossen. Über dem Eingang zu einem Saal steht S.P.Q.B. Eine ähnliche Inschrift habe ich auch schon mal in Bremen gesehen. Man kann das lesen als eine Behauptung städtischen Stolzes, städtischer Unabhängigkeit. Vielleicht hat man hier der Kirche getrotzt.

Da die mittelalterlichen Wohntürme ohnehin auf dem Weg liegen, nehme ich die Besteigung in Angriff. Es ist der größere der Türme, die Torre Asinelli, den man besteigen kann. Der andere ist doch arg schief dazu. Goethe vermutete, er sei mit Absicht so gebaut worden. Angesichts der vielen geraden Türme hätten sich die Eigentümer der Garisenda entschlossen, schief zu bauen, um sich von den anderen zu unterscheiden. Da irrte der Meister. Man hatte einfach zu schnell gebaut und sich verkalkuliert, den weichen Grund nicht genügend berücksichtigt. Die oberen Etagen mussten schon bald nach der Fertigstellung abgetragen werden.

Der Aufstieg kostet drei Euro. Die Frage, wie viele Stufen es sind, die ich mich nicht zu stellen traue, nimmt mir eine Spanierin ab. Es sind 498. Einspurig und mit Gegenverkehr geht es nach oben.

Oben angekommen, weiß man, warum Bologna La rossa heißt: Man blickt auf ein Meer von roten Ziegeln. Diese Attribuierung bezieht sich tatsächlich auf die Bebauung, nicht auf die Politik, was auch manchmal vermutet wird und was gar nicht so weit hergeholt ist.

Der Ausblick ist wirklich schön, vor allem wegen der roten Dächer, die einheitlich, aber dann doch wieder ganz anders sind.

Gut erkennen kann man San Petronio, ganz in der Nähe, und eine schnurgerade verlaufende Straße. Die Anlage der Stadt ist römisch, auch wenn die heutige Innenstadt eher ein unregelmäßiges Fünfeck oder Sechseck bildet. Der Kern aber ist rechteckig und schachbrettartig, typisch römisch eben.

Man sieht auch ein paar andere Türme, nur die Garisenda sieht man nicht. Das liegt daran, dass sie so dicht an der Asinelli liegt. Erst beim dritten Rundgang sehe ich sie, wobei ich mich aber mächtig nach unten beugen muss.

In der Ferne sieht man meist flaches Land, mit der Ausnahme des Hügels, auf dem San Luca liegt, die Wallfahrtskirche, die mit der Stadt durch einen auf ganzer Länge von einem Portikus flankierten Weg verbunden ist, mit 666 Bögen. Ich bin damals den Weg zweimal gegangen.

Wenn der Aufstieg mühsam war, ist der Abstieg regelrecht schwierig, bei den ungleichen und oft sehr kurzen Stufen.

Unten angekommen, sehe ich mir die auf einem erhöhten Sockel stehende Statue des Hl. Petronius an, mit Stab und Hut und fliehenden, weiten Gewändern, mit einer Hand die Stadt segnend. Ganz egal, wie gut das ist, über eins kann man sich sicher sein: So ausgesehen hat er nicht.

Ich gehe kurz bei der Touristeninformation vorbei und dann zu Santa Maria della Vita. Dort steht eine Skulpturengruppe, die zu dem wenigen gehört, an das ich mich noch erinnern kann.

Auf dem Weg sehe ich Aufschriften wie diese an den Geschäften: Back to school; New collection; Take your time. Italien ist amerikanischer geworden.

Santa Maria della Vita ist eine, im Vergleich zu dem, was ich in den nächsten Tagen zu sehen bekomme, kleine Barockkirche. Der Name ist halb trotzig, halb tröstlich, denn die Kirche war eigentlich Teil eines Hospizes für Sterbenskranke. Auch wenn man sich Mühe gibt, den Rest nicht zu ignorieren: Die Hauptattraktion ist die Beweinung Christi von Niccolò dell’Arca. Sie steht in einer Nische im Seitenschiff. Als ich davor stehe, wendet sich eine Italienerin an mich mit der Frage, ob das aus Ton sei. Ja, ist es, kann ich ihr versichern.

Um den nur leicht toten, nur leicht bekleideten Christus herum, dessen Kopf auf einem feinen Kissen mit Bordüre ruht, stehen sechs Figuren, zwei Männer und vier Frauen. Die Männer sind Joseph von Arimathäa und Johannes. Man fragt sich, wo Josef ist. Vielleicht ist der zu der Zeit von Jesus‘ Tod selbst schon tot. Die Frauen heißen vermutlich alle Maria. Eine von ihnen ist die Muttergottes. Alle Frauen haben den Mund offen, beide Männer haben den Mund geschlossen. Die Figuren sind groß und vollrund und sehr expressiv und erinnern mich an die von Veit Stoß in der Krakauer Marienkirche. Das kommt auch zeitlich hin. Der Vorteil hier ist, dass man viel näher ran kann. Alle Figuren tragen zeitgenössische Kleidung und sind auch in dieser Hinsicht das Gegenprogramm zu Christus. Die Frauen zeigen sehr unterschiedliche Formen von Trauer, nach innen gekehrt, still bis zu laut und emphatisch. Dabei scheint sich eine auf den Leichnam stürzen zu wollen, während die andere entsetzt zurückweicht, mit der entsprechenden Handbewegung, so als wolle sie sagen: Damit will ich nichts zu tun haben. Aber auch die Männer sind in ihrer Gegensätzlichkeit interessant. Johannes ist schlank, Joseph von Arimathäa vollschlank, Johannes steht, Joseph von Arimathäa kniet, Johannes blickt auf den Leichnam, Joseph von Arimathäa blickt in die Ferne, Johannes ist hutlos, Joseph von Arimathäa trägt eine Kappe, Johannes hat keine weiteren Zeichen, Joseph von Arimathäa hat einen Zange und einen Hammer umgebunden. Er sieht aus wie ein Handwerksmeister aus der Zeit Niccolòs.

Die akademische und die klassische Kritik haben dieses Kunstwerk als unangemessen, überzogen, unschön abgelehnt, aber beim Volk ist es immer beliebt gewesen. Die Kunstkritik hat später ihre Wertungen revidiert.

Es ist ganz merkwürdig: Gestern habe ich in San Petronio eine ganz ähnliche, etwas versteckt in einer Nische stehende Skulpturengruppe gesehen, ebenfalls eine Beweinung von Christus, ebenfalls mit sechs um ihn stehenden Figuren, mit ganz ähnlichem Ausdruck. Ich hatte einen Moment gedacht, die Skulptur von Niccolò dell’Arca vor mir zu haben, aber sie war von einem gewissen Vicenzo Onofri. In welcher Beziehung stehen wohl die beiden zueinander? Und warum ist die eine so viel berühmter als die andere?

Später komme ich auf der Suche nach dem genauen Standort der Sprachschule durch eine Straße, in der ein Art Stadtteilfest stattfindet. Die Leute sitzen an langen Tischen draußen und essen. Es herrscht ein sehr internationales Flair. Dann gehe ich noch nach Santo Stefano, wo es morgen mit der Besichtigung weitergehen soll. Auf dem Platz vor der Kirche findet ein Flohmarkt statt.

9. September (Sonntag)

Auf dem Weg nach Santo Stefano komme ich an dem Reisebüro Felsina vorbei. Das ist der alte, etruskische Name Bolognas. Die Kultur davor nennt man nach dem Fundort Villanova. Danach kamen noch die keltischen Bojer. Die haben die wenigsten Spuren hinterlassen, dafür aber der Stadt ihren Namen gegeben: Das keltische Wort bona bezeichnete eine befestigte Stadt. Daraus wurde im Laufe der Zeit Bologna.

Santo Stefano ist einer der merkwürdigsten Kirchenbauten, die es überhaupt gibt, ein Konglomerat aus Kirchen, Kapellen, Krypten und Kreuzgängen. Es ist typisch, dass keiner der Einzelteile Stephanus gewidmet ist oder auch nur etwas mit ihm zu tun hat und das Ensemble doch so heißt.

Santo Stefano schließt einen schönen dreieckigen Platz ab. Von außen erkennt man drei Gebäude: in der Mitte Santo Sepolcro, einen Zentralbau, rechts Santo Crocifisso, links San Vitale e Agricola. Drinnen gibt es aber noch mehr. Als ich wieder herauskomme, bin ich nicht sicher, alles gesehen zu haben.

Der Ausgangspunkt ist das Jahr 393, ein wichtiger Punkt in der Kirchengeschichte Bolognas. Damals fand Bischof Eusebius auf einem jüdischen Friedhof, an dieser Stelle, die Gebeine der Märtyrer Vitale und Agricola und ließ sie ausgraben und in einfacher Form ausstellen. Später veranlasste Petronius dann die Erweiterung des Baus. Das war eine politische Maßnahme, die Bologna die Unabhängigkeit von Mailand und Ravenna geben sollte.

Santo Crocifisso, durch das man den Komplex betritt, hat außen einen runden Erker. Das hat seinen Grund. Von hier aus wurden dem Volk die Reliquien gezeigt.

Innen beherrscht ein großes, breites Kreuz aus dunklem Holz die Szenerie. Es hängt zwischen dem Hauptschiff und dem Chor. In diesem Chor liegen, in einem Doppelschrein unter dem Altar, die Gebeine der Heiligen Vitale und Agricola.

Die Besonderheit der Konstruktion besteht darin, dass der Chor ganz hoch und deshalb die Krypta darunter fast auf dem Niveau des Hauptschiffs liegt. Man geht in die Krypta hinein statt hinunter.

Links führt eine Tür nach Santo Sepolcro, einem höchst wunderlichen Raum mit zwölf Säulen und Doppelsäulen, die einen Kreis bilden. In dem Kreis steht ein hoher Aufbau, eine Mischung aus Altar und Kanzel. Eine Treppe führt nach oben, obwohl man sich nicht vorstellen kann, was jemand hier machen sollte. Abseits des Säulenkreises steht isoliert eine weitere Säule. Sie steht nach populärer Vorstellung für Judas. Es ist aber wahrscheinlicher, dass sie für die Säule steht, an der die Geißelung stattfand. In dem Sinne ist wohl auch der Aufbau als eine imaginäre Nachbildung der Grabeskirche von Jerusalem zu sehen. Unten in dem Aufbau – man muss sich bücken, um hineinsehen zu können – ist eine leere Kammer. Die sollte, nach Petronius‘ Wille, leer bleiben. Später aber, so heißt es, wurde er selbst darin bestattet. Ich kann jedoch nichts erkennen. Die Kammer scheint leer zu sein und damit an die leere Grabeskirche zu erinnern. Der Aufbau hat schöne, große Reliefs, unter anderem Evangelistensymbole.

Von hier aus geht es in den „Hof des Pilatus“, so im Volksmund wegen der Brunnenschale im Zentrum genannt, die daran erinnern soll, wie Pilatus sich die Hände in Unschuld wusch. An einer Seite die Skulptur eines Hahns, der an Petrus Verrat erinnert. Die Säulen dieses Hofs haben Kapitelle, die als typisch langobardisch gelten. Die Langobarden machten Santo Stefano zu ihrem wichtigsten Heiligtum.

In die Wände sind Grabplatten eingelassen, einige davon mit Emblemen, die für den Beruf des Toten stehen, darunter eine Schere für einen Schneider.

Am oberen Ende wird dieser Innenhof abgeschlossen von einer merkwürdigen Kirche, die fünf Schiffe, aber nur zwei Joche hat, als „quer“ steht. Im „Chor“ steht ganz im Norden eine geschnitzte, farbige Gruppe der Heiligen Drei Könige.

Dieser Innenhof grenzt an einen Kreuzgang. Der stammt aus der Zeit der Benediktiner, denen die meisten der Bauten zu verdanken sind. Der Kreuzgang ist zweistöckig und sieht oben, wo es feine Doppelsäulen und, an einer Seite, fantastische Kapitelle gibt, ganz anders aus als unten.

Am Ende geht es in Santo Vitale und Agricola. Die heißt weiterhin so, obwohl die Reliquien der Märtyrer gar nicht mehr hier sind. Es ist der vielleicht suggestivste Raum von allen, obwohl sich in meiner Erinnerung eher Santo Sepolcro festgesetzt hat. Es ist eine einfache Kirche praktisch ohne Ausstattung, in die durch kleine, farbige Alabasterfenster Licht fällt. Unter Glas sieht man Reste römischer Mosaiken. Eine Säule trägt ein schön gearbeitetes antikes Kapitell, ein korinthisches Kapitell, aus der vorchristlichen Zeit. Und nicht nur das: Es gibt sogar, dem Reiseführer zufolge, eine Steinplatte mit einer Widmung an Isis, der Herrin und Siegerin. Der Isis-Kult verbreitete sich in der Kaiserzeit im ganzen Römischen Reich. Und wurde später von den Christen geschickt adaptiert: Aus Isis wurde die Unbefleckte Jungfrau Maria. Diese Steinplatte suche ich in den nächsten Tagen immer wieder. Erfolglos.

Als ich wieder nach draußen komme, stoße ich auf dem Platz vor Santo Stefano stoße auf die Corte Isolani, einer Reihe von Gängen und Innenhöfen, die diese Straße, Via Santo Stefano, mit der Strada Maggiore verbindet. Am Ausgang auf der Strada Maggiore befindet sich ein riesiges, neun Meter hohes Portikus aus dunklem Holz, durch das man die Corte Isolani betritt. Mit dem Haus ist eine Legende verbunden: Ein gehörnter Ehemann beauftragte drei Männer, seine Frau als Rache für den Ehebruch zu töten. Sie hatten ihre Pfeile schon in Stellung gebracht, als die Ehefrau erschien. Und zwar nackt, in all ihrer Schönheit. Die Männer waren so verwirrt, dass sie danebenschossen und die Pfeile in der Decke landeten. Diese Pfeile sind angeblich noch zu sehen, aber ich kann sie nicht entdecken.

Von da aus geht es nach einem Kaffee zum Archäologischen Museum, nur ein paar Schritte vom Archiginnasio entfernt. Hier bin ich allerdings überfordert, nicht nur aufgrund der Fülle der Exponate, selbst wenn man die bedeutende ägyptische Sammlung im Untergeschoss weglässt. Auch die Orientierung ist schwierig. Was ist Import aus Rom oder Griechenland, was ist einheimisch, was ist Villanova, was ist etruskisch? Die Informationen sind entweder zu dürftig oder zu detailliert, und außerdem nur auf Italienisch. Jedenfalls verstehe ich die Ausstellung als Plädoyer dafür, keinen Unterschied zwischen Villanova und Etruskern zu machen.

Die meisten Exponate stammen aus Gräbern. Die Toten wurden zuerst eingeäschert, später gab es Ganzkörperbestattungen. Auffällig sind die Formen der Urnen, die aus zwei Teilen bestehen, der eigentlichen Urne und einem Verschluss, der wie ein umgedrehter Napf aussieht. Zusammen sehen die beiden Teile wie ein Pilz aus. Davon gibt es Dutzende. Ganz anders sehen runde, grüne Gefäße mit zwei Henkeln aus, die man in vielen Gräbern sieht. Man glaubt, einen modernen Eimer zum Zementanrühren vor sich zu haben.

Wieder ganz anders, aber ebenfalls auffällig sind die Trinkgefäße in Tiergestalt, Askos genannt. Das Maul des Tiers, das auf vier winzigen, gedrungenen Füßen steht, dient als Ausguss. Das Tier könnte ein Pferd sein, obwohl es eher wie ein Lama aussieht. Der eigentliche Clou ist aber der Handgriff. Der hat die Form eines Reiters, der wiederum auf einem Pferd sitzt, das auf dem Pferd steht. Dass es sich um reine Trinkgefäße handelt, ist unwahrscheinlich. Wohl eher handelt es sich um Ritualgefäße.

Ebenfalls von besonderem Wert, obwohl man daran vorbei laufen könnte, wenn man es nicht wüsste, ist eine sog. Situla, ein Bronzegefäß, das sich nach oben hin vergrößert und in vier Ringe unterteilt ist, von denen jeder eine Dekoration mit einem bestimmten Motiv hat: Wappen, eine Prozession, ein Bankett, Tiere. Diese Gefäße waren wohl besonders hochgestellten Toten vorbehalten.

Ebenfalls leicht zu übersehen ist eine winzige Vase, auf der eine längere Inschrift in etruskischer Schrift angebracht ist. Die Vase spricht über sich selbst: Ich bin die kleine Vase aus Sowieso, von der Familie der Sowieso, Sowieso hat mich Sowieso geschenkt und Sowieso hat mich gemacht. Es gibt viele Leerstellen, aber immerhin hat man einen längeren Text, den man grob entschlüsselt hat. Die Etrusker übernahmen ihre Buchstaben von den Griechen, adaptierten sie aber und fügten eigene hinzu. Aber selbst die griechischen  Buchstaben sind vielfach fremd und entsprechen nicht dem klassischen griechischen Alphabet. Nur A, M, T, X und Y sind gleich, viele sind spiegelverkehrt und H ist wie das chinesische Zeichen 日.Es scheint nur Großbuchstaben zu geben.

 

Eine ganze Seite eines langgezogenen Saals wird eingenommen von riesigen Grabstelen mit Reliefs, viele etwas verwittert, aber doch grob zu erkennen. Es erscheinen Fabeltiere, Wettkämpfe, Schlachtszenen, aber auch stillende Kühe und Bestien.

Ich erinnere mich, wie ich hier im Museum zum ersten Mal überhaupt eine Führung auf Italienisch gehört und überraschend viel verstanden habe. Damals ging es unter anderem um die griechischen Vasen, die hier in Fülle und Qualität vertreten sind, und den Übergang von den schwarzfigurigen zu den rotfigurigen Vasen, die viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten zuließen. Das kann ich auch jetzt wieder bestätigen, obwohl ich den Grund immer noch nicht genau verstanden habe.

Jedenfalls lasse ich es erst einmal dabei bewenden und gehe über eine große Treppe an der Neptun-Statue vorbei – Ob es sich um das Original handelt? – in den Innenhof hinunter und dann auf die sonnenbeschienene Straße hinaus.

Ich komme an den Türmen vorbei und entdecke erst jetzt, dass die Torre Asinelli einen mit vielen Emblemen geschmückten Torbogen hat: Helm, Adler, Köcher, Fass und zwei Hände, eine nach innen, die andere nach außen gekehrt. Darüber befindet sich eine Balustrade, und ganz oben am Turm befinden sich Schießscharten. Nur: Wer will von da aus, aus 97 Meter Höhe, auf wen oder was schießen? Hier ist der einstige militärische Zweck der Wohntürme wohl längst von dem Zweck abgelöst worden, seine Konkurrenten zu übertreffen.

Am Nachmittag verschaffe ich mir einen Überblick über die Piazza Maggiore und ihre Gebäude. Wenn man mit dem Rücken zur Kirche vor San Petronio steht, hat man gleich zur linken das einfachste und dem Aussehen nach älteste Gebäude des Platzes, ein gotischer Quadratbau, mit Zinnen auf dem Dach, größeren Spitzbogenfenstern im Obergeschoss und kleineren Fenstern unten. Es ist der Palazzo dei Notai. Südlich der Alpen gab es schon länger eine Notariatskultur als bei uns.

An der rechten Seite des Platzes hat man das Gegenstück dazu, einen langgestreckten Renaissancebau auf Arkaden mit zwei riesigen Durchgängen, dem vermutlich jüngsten Bau des Platzes. Er heißt so, weil hier die ganz frühen Banker ihre Bänke aufgestellt hatten, an denen sie Geldhandel betrieben.

Er wurde errichtet, um diese Seite des Platzes, an der sich bis dahin einfache Verkaufsstände, Buden, Läden und Lokale befanden, architektonisch aufzuwerten. Heute befinden sich in den Arkaden elegante Geschäfte, meistens Juweliere. Die beiden Durchgänge verbinden den Platz mit dem Gewirr von Gassen im Osten der Innenstadt, in dem es auch heute noch von Straßencafés und Restaurants wimmelt. Durch dieses Viertel komme ich auch, wie ich jetzt entdeckt habe, auf verkürztem Weg in die Stadt und zum Hotel zurück.

Besonders schön ist das zweistöckige, direkt der Basilika gegenüberliegende Renaissancegebäude, der Palazzo del Podestà, dessen neun große, runde Fenster im Obergeschoss neun Arkaden im Erdgeschoss entsprechen, die das Gebäude zum Platz hin offen machen. Durch die mittlere Arkade kommt man auf die andere Seite des Platzes. In der Mitte, wo sich dieser überdachte Weg mit einem anderen kreuzt, stehen erhöht auf einem Sockel zu vier Seiten vier Patrone Bolognas. Darunter wurde Wache geschoben. Das Gebäude lieferte den Wachthabenden einen besonderen Service: Es überträgt mittels des Gewölbes auch leise gesprochene Worte bestens von einem Wachposten zum nächsten, ohne dass sie von anderen verstanden wurden. Zwei Touristen probieren es gerade aus, als ich dort ankomme. Anscheinend fällt die Probe zu ihrer Zufriedenheit aus.

Eigentlich ist der Palazzo del Podestà älter, als es seine Fassade erwarten lässt. Darauf weist schon der einfache Turm hin, dessen oberen Teil man über dem Dach sehen kann und der gar nicht zu der Fassade passen will.

Auf der linken Platzseite liegt der Palazzo Comunale, ein riesiges, langgestrecktes spätgotisches Gebäude mit einem späteren Uhrenturm an der linken Seite. Schon der Name verrät, dass das Gebäude eine kommunale Funktion hat, aber das scheint auch der Palazzo del Podestà zu haben. Wie die beiden miteinander in Beziehung stehen, verstehe ich nicht. An der unregelmäßigen Fassade befindet sich eine Riesenstatue Gregors XIII., des Kalenderreformers. Er stammte aus Bologna. Die Präsenz der Statue ist aber wohl nicht aus Nostalgie zu erklären, sondern als Zeichen des Siegs des Papsttums über die Stadt. Die Statue ist so beherrschend, dass man die anderen Details der Fassade leicht übersieht: eine Madonna, ein großes, vergittertes Fenster mit zwei schönen Adlerfiguren und die alten Maße Bolognas, die unten in die Fassade eingelassen sind. Das ohnehin schon große Gebäude verlängert sich zur Hauptstraße hin und beherbergt hier die Börse. An deren Fassade hängen Bilder von gefallenen Soldaten.

Vor der Börse steht der Brunnen mit der gewaltigen Neptun-Statue, dem Zentrum der Aufmerksamkeit, aber nicht dem Zentrum des Platzes. Sie stammt von Giambologna. Der Name hat allerdings mit Bologna nichts zu tun, sondern bezeichnet Boulogne, die Heimat des flämischen Künstlers. Neptun hat einen Fuß auf einem Delphin und hält in einer Hand den Dreizack. Dieses Symbol wurde von Maserati als Firmenlogo übernommen. Maserati stammt aus Bologna. Unter Neptun vier füllige Putten und darunter vier füllige Meerjungfrauen, aus deren Brüsten kein Wasser quillt, obwohl sie die Vorrichtungen dafür haben.

Warum ausgerechnet Neptun in einer Stadt, die nicht am Meer liegt? Die Antwort findet sich in den Wangen des Brunnens: das Papstwappen. Neptun ist der Papst! Er ist groß, stark und bewaffnet und beruhigt die Wasser unter sich, d.h. die aufständischen Bolognesen. Der Brunnen stammt nicht umsonst genau aus der Zeit, als die städtische Selbständigkeit zu Ende gegangen war und der Papst die Oberherrschaft über Bologna gewonnen hatte.

Verkürzt gesagt, hat Bologna den Kampf gegen den Kaiser gewonnen und den Kampf gegen den Papst verloren und in der Zeit dazwischen städtische Autonomie genossen. Vom gewonnen Kampf gegen den Kaiser zeugt der letzte Palast des Platzes, der Palazzo del Re Enzo. Hier wurde Enzo (etwa ‘Heinz‘), der Sohn Friedrichs II., festgehalten. Immerhin warf man ihn nicht in ein dunkles Verlies, sondern stellte ihm einen eigenen Palast zur Verfügung. Hier residierte er 23 Jahre lang, bis zu seinem Tod 1272. Man bestattete ihn mit allen Ehren in San Domenico.

Auf der Piazza Maggiore ist richtig viel los. Ebenso auf der Via dell‘ Indipendenza, die ich jetzt entlang gehe, eine breite, schnurgerade Straße, die zum Bahnhof führt, nicht etwa von den Römern, sondern im 19. Jahrhundert angelegt.

Auf dem Weg sehe ich eine Unterschriftensammlung gegen die staatliche Unterstützung von Privatschulen. Man verlässt die Innenstadt hinter der Porta Galliera, einem der Stadttore, die erhalten geblieben sind. Die Porta hat eine freundlicher aussehende Stadtseite und eine bedrohlicher aussehende Landseite, um den defensiven Charakter des Tors deutlich zu machen. Das heutige Tor ersetzte ein älteres, mittelalterliches, das ziemlich verfallen war. Später wurde dann, wie bei allen anderen Stadttoren, die Zugbrücke durch eine Steinbrücke ersetzt. Die Porta Galliera war dann (1848) der Ort der Rebellion Bolognas gegen die Österreicher und wurde zu einem Zeichen patriotischer Gesinnung. Deshalb ist sie auch erhalten geblieben. Dieser Aufstand gibt auch der Via dell’Independenza ihren Namen. Aus der gegenüberliegenden Straßenseite sieht man Ruinen, aber ob die was mit der Achtundvierziger-Revolution zu tun hat, ist nicht zu ersehen.

Am Bahnhof von Bologna bin ich vor vielen Jahren bei meiner ersten Reise nach Italien angekommen, an einem verschlafenen Sonntagmorgen, als kein Mensch auf der Straße war. Heute ist alles anders. Es ist viel Betrieb, vor allem in den Vorhallen und vor dem Gebäude.

Der ältere Teil des Bahnhofs ist ein Sackbahnhof, der neuere nicht. Beides ist offensichtlich miteinander zu verbinden. Es gehen Züge nach Venedig, Ancona, Mailand, Rom, Piacenza, Ravenna und Turin und gleich mehrere nach Neapel, alle direkt und alle innerhalb von einer Stunde!

Als ich über einen Bahnsteig gehe, kommt aus dem Lautsprecher der Hinweis, dass es verboten ist, die gelbe Linie zu übertreten, die den Abstand zu den Gleisen markiert. In dem Moment merke ich, dass ich es bin, der die gelbe Linie übertreten und die Durchsage ausgelöst hat.

Vergeblich suche ich nach einer Gedenktafel für den Bombenanschlag der Roten Brigaden. Ich meine, so etwas hätte es damals gegeben. Allerdings ist der Bahnhof und groß und vielteilig und befindet sich gegenwärtig in Renovierung, und ich kann das einfach übersehen haben. Ich habe ja noch fast zwei Wochen, das herauszufinden.

10. September (Montag)

Heute ist der erste Tag des Sprachkurses. Wir sind nur zu viert in dem Fortgeschrittenenkurs, lauter Alte: ein belgischer Apotheker, ein holländische Geschäftsfrau, die Nahrungsmittel aus Fernost einführt, eine israelische Linguistin, die in Tel Aviv Hebräisch lehrt, und ich. Alle anderen sind sehr auf Italien fokussiert und ständig hier. Die Lehrerin ist eine junge Frau aus Florenz, die die Liebe nach Bologna verschlagen hat. Sie hat ihre Examensarbeit über das Englische in Trinidad und Tobago geschrieben.

Im Unterricht machen wir alle möglichen Einsatz- und Umformungsübungen, die mehr oder weniger sinnlos sind, aber keinen Schaden anrichten. Besser ist das, was so nebenher in den Gesprächen und in der Pause aufkommt. Am meisten gefällt mir, dass die Lehrerin früher immer gedacht hat, Israel wäre eine Stadt. Das hat seinen Grund in der Sprache. Im Italienischen haben alle Länder einen Artikel, außer Israel. Die Schlussfolgerung war also ganz logisch.

Die Frau aus Israel erzählt auch von Besonderheiten des florentinischen Italienisch: Der Anfangslaut von gente wird zu /sch/, /k/ wird aspiriert, und /t/ wird dental, wie im Englischen! Lauter Phänomene, die es irgendwann in der Entwicklung anderer Sprachen auch schon gegeben hat.

Die anderen, die teilweise schon länger hier sind, erzählen, dass sowohl in Modena als auch in Ferrara wichtige Monumente nicht zu sehen sind, entweder wegen des Erdbebens oder um sie vor der Erdbebengefahr zu schonen. Das erklärt wohl auch das Eisengerüst, das in Santa Maria della Vita die Decke über der Beweinungsgruppe abstützt.

Schon in der Pause sagt mir die Lehrerin auf die Nase zu, dass ich Spanisch können muss. Die leidigen Interferenzen. Ich habe natürlich nichts davon gemerkt.

Am Nachmittag gehe ich nach San Domenico. Als ich das Hotel verlasse, sagt der Mann an der Rezeption Buona sera. Es ist halb vier!

Auf dem Weg dahin fällt mir unter den Wappen in den schönen Mosaiken unter den Arkaden wieder das Malteserkreuz auf. Warum es hier erscheint, weiß ich nicht.

In der Nähe des Gerichtsgebäudes, das in einem prächtigen Palast untergebrach ist, treffen die Via Garibaldi und die Piazza Cavour aufeinander. Die beiden Helden der italienischen Straßennamen in unmittelbarer Nachbarschaft.

Der Vorplatz von San Domenico ist noch mit Kieselsteinen aus dem Fluss belegt, nach mittelalterlicher Tradition. Auf dem Platz stehen zwei hohe Säulen mit Statuen, eine davon, nach Plänen von Guido Reni errichtet als Dank für das Ende der Pest. Außerdem stehen auf dem Vorplatz, erhöht in einem altarartigen Aufbau, die Sarkophage zweier Rechtsgelehrter, Zeichen der langen und noblen Rechtstradition Bolognas.

Der Hl. Dominikus, Santo Domingo, ist in Bologna gestorben und liegt hier, in San Domenico, begraben! Wer hatte das gedacht? Er war in Bologna vorbeigekommen und war von der Vitalität der Stadt und von den vielen Jurastudenten begeistert! Und schon hatte er einen neuen Standort für seinen soeben gegründeten Orden. So kann’s gehen.

Dominikus hatte sich und seinem Orden zwei Dinge auf die Fahne geschrieben: Armut und Wissen. Beide waren dazu da, der Kirche, die sich in einer Krise befand, zu helfen: Die Armut sollte sie glaubwürdiger machen, das Wissen sollte die Abtrünnigen überzeugen. Dass aus den engagierten Glaubensverfechtern dann fanatische Verfolger aller Abweichler wurden, steht auf einem anderen Blatt. Ob Dominikus das gewollt hat? Oder zumindest zugelassen oder in die Wege geleitet hat?

Hier in Bologna wurde das erste Generalkapitel der Dominikaner abgehalten (1220), hier starb Dominikus ein Jahr später. Dreizehn Jahre nach seinem Tod wurde er heiliggesprochen, siebzehn Jahre später wurde die Kirche geweiht, und nochmal  sechzehn Jahre später wurde er hier beigesetzt.

Mit dem Mittelalter hat die heutige Kirche allerdings wenig zu tun. Der Bau wurde im Barock völlig umgebaut. Das hat seinen Grund.

Die Kirche ist riesengroß. Sie wirkt noch länger als San Petronio. Die Dominikaner hatten unglaublichen Zulauf, vor allem von Seiten der Rechtsstudenten. Deshalb baute man eine solch große Kirche, bei der die beiden Teile für Klerus und Volk durch eine Querwand getrennt waren. Als man die dann abriss, wirkte die Kirche einfach zu lang. Deshalb beauftragte man den Umbau. Die Kuppel in der Mitte, die die Kuppel im Chor ergänzt, erinnert noch an die alte Schnittstelle. Im Laufe der Zeit wurden immer mehr Seitenkapellen eingebaut, von denen einige so groß wie eigene Kirchen sind.

In einer dieser prachtvoll ausgemalten Seitenkapellen, auf halber Höhe des südlichen Seitenschiffs, befindet sich das Grab des Dominikus. Das zieht alle Aufmerksamkeit auf sich. Die Besucherzahlen hier sind allerdings relativ gering.

Der Sarkophag steht etwas erhöht unter einem Gemälde von Guido Reni, das die Apotheose des Heiligen zeigt und flankiert wird von vier weiteren riesigen Gemälden, die Szenen aus dem Leben Dominikus darstellen.

Der vierstöckige Marmorsarkophag ist im Laufe mehrerer Jahrhunderte entstanden. Das hat einen etwas paradoxen Grund: Erst war die Kapelle, in der der Sarkophag stand, zu klein, wegen der vielen Pilger, dann baute man eine größere Kapelle, und da war der Sarg zu klein für die Kapelle!

Die genaue Chronologie verstehe ich bis zum Schluss nicht. Das Faltblättchen, das man hier erwerben kann, ist eher eine Propagandaschrift zur Verherrlichung des Heiligen.

Der älteste Teil stammt von Nicolà Pisano oder aus seiner Werkstatt. Gut zu erkennen ist er an den dichtgedrängten Figuren, meist Zuschauer bei den Szenen aus dem Leben des Dominikus: Im Kloster soll gegessen werden und Dominikus lässt das Essen auftragen, aber es gibt nichts. Da sendet er ein Gebet zum Himmel und es erscheinen zwei Engel mit zwei Körben: Brot und Feigen! Diese Szene spielt sich der Legende zufolge in Bologna ab. Eine andere spielt sich in Rom ab: Der Sohn eines befreundeten Adeligen, der sich auf einen gewagten Reiterwettkampf eingelassen hat, stürzt und fällt unter das Pferd. Dominikus zieht den tot Geglaubten lebendig unter dem Pferd hervor! Sehr plastisch dargestellt: der geschwungene Pferdekörper und der halb unter dem Pferdekörper zum Vorschein kommende Körper des Jungen, zwei über dem Jungen kniende Gestalten und eine, die sich über ihn beugt. Die im Sinne der Ordensphilosophie wichtigste Szene, auch Gegenstand eines der Bilder, ist die, in der nach einem religiösen Disput, zur Wahrheitsfindung, ein Buch der Albigenser und die Bibel ins Feuer geworfen werden. Das Buch der Albigenser verbrennt. Die Bibel verbrennt nicht nur nicht, sondern wird von dem Feuer zurückgeworfen, auch bei wiederholten Versuchen. Man sieht das Buch fröhlich in die Hände des Ordensgründers zurückspringen.

Andere Szenen in dem Fries darunter, wegen der Größe viel schlechter zu erkennen, stellen Visionen der Mutter und der Amme des Dominikus dar, die beide schon wussten, dass er eine große Karriere vor sich hatte. Bei der Mutter manifestiert sich das komischerweise in der Vorstellung, sie habe ein Hündchen zur Welt gebracht, das der Welt das Feuer bringt!

Die künstlerisch die meiste Aufmerksamkeit beanspruchenden Teile sind die in der Renaissance von einem Künstler aus Bari hinzugefügten, Niccolò da Bari, der wegen seiner Arbeiten an dem Sarkophag so berühmt wurde, dass er später Niccolò dell’Arca genannt wurde. Er fügte unter  anderem die Figuren verschiedener Stadtpatrone hinzu sowie die der Evangelisten (in orientalischen Gewändern) und kerzenhaltende Engel. Er entschied sich aber, nicht alles selbst zu machen, sondern einen Teil der Arbeit einem jungen, unbekannten Künstler zu übertragen, der gerade auf der Flucht aus Florenz war: Michelangelo Buonarotti. Die Figuren Michelangelos an dem Sarkophag werden in Hinsicht auf seine spätere Größe interpretiert, aber wenn man unbefangen urteilt, würde man den Engel Niccolòs vermutlich besser finden als den Michelangelos. Der ist eher Athlet als Engel, während der Engel Niccolòs ganz durchgeistigt wirkt. Der Vergleich bietet sich an, da beide die beiden Enden des Sarkophags zieren.

Niccolò muss aber gewusst haben, was er an Michelangelos hatte, denn er beauftragte ihn auch mit der Statue eines der Patrone von Bologna, einer wichtigen Arbeit. Die ist auf der Rückseite des Sarkophags.

Der Sarkophag hat dort unten eine Auslassung, in der ein Reliquiar in Form eines spitz zulaufenden gotischen Türmchens steht. Ob die ‚eigentlichen‘ Gebeine des Dominikus zusätzlich noch im Sarkophag liegen, bekomme ich nicht heraus, und die Wärter werden auch schon bald ungeduldig, denn um fünf wird geschlossen.

Nach der Besichtigung gehe ich noch einmal ins Archiginnasio. Ich habe das Gefühl, am Sonntag wichtige Säle nicht gesehen zu haben.

Auf dem Weg komme ich an einem tabaccaio vorbei. Dass man da nicht nur Tabakwaren bekommt, weiß jeder Anfänger. Ursprünglich kaufte man dort auch Salz, und zwar nur dort. Noch heute steht auf vielen Schildern Sali e Tabacchi. Mir geht es aber um Briefmarken. Auch die bekommt man hier. Aber die Frau, die diesen Laden betreibt, scheint es mit dem Tabak sehr ernst zu nehmen. Erst versteckt sie sich hinter den hoch aufgeschichteten Feuerzeugen auf der Theke des kleinen Ladens, dann macht sie sich durch Hüsteln bemerkbar und schließlich kommt sie grußlos, aber rauchend zum Vorschein. Von meiner Absicht, Briefmarken zu kaufen, scheint sie überhaupt nicht angetan. Dann macht sie sich doch ans Werk, aber die Zahl 10 macht ihr das Leben schwer. 10 x 75 ist ein keine leichte Aufgabe, und dann muss man die Briefmarken auch noch zählen. Am Ende geht das Geschäft dann aber doch noch über die Bühne. Beim Hinausgehen begleite ich meinen Gruß aus Solidarität auch mit einem Hüsteln.

Das Archiginnasio ist immer noch geöffnet, aber es ist kaum ein Besucher mehr da. Eine Frau im Anatomischen Theater erteilt freundliche Auskunft: nachmittags geschlossen, bis 14 Uhr geöffnet. Ich mache ein paar Photos von den Wappen an den Wänden. Jeder einzelne Student scheint mit eigenem Namen und Wappen verzeichnet zu sein. Zwischen einem Gaspar Lizzard Brixiensis und einem D.I. Gregorius à Bolan Alemanus (damit ist vermutlich alemannisch, vielleicht schweizerisch gemeint, nicht deutsch) finde ich einen D. Petrus Claren Treviren. Das könnte Trier sein!

Im Hotel setze ich mich in den Innenhof. Wieder treffe ich auf eine englische Frau mit ihrer Tochter. Sie sind immer hier. Die Mutter macht immer nichts, die Tochter hat immer ihren Laptop auf dem Schoß, von dem sie nicht aufschaut. Die Mutter erwidert, wie immer, meinen Gruß mit einem Kopfnicken. Dann kommt eine ältere Spanierin in den Innenhof. Wortlos setzt sie sich an meinen Tisch und versucht, mit einem altertümlichen Feuerzeug eine Zigarette anzuzünden. Als das nicht funktioniert, fragt sie mich auf Spanisch, ob ich Feuer hätte und reagiert überhaupt nicht darauf, dass ich ihr aus Spanisch antworte. Sie glaubt wohl, das wäre Italienisch.

Am Abend gehe ich ins Regina Margherita, einem der von der Schule empfohlenen Lokale. Es ist zufällig eins, an dem ich schon mehrmals vorbeigekommen bin. Die Bedienung machen vier junge, uniformierte Inder, ihr Aufseher ist ein junger, nicht uniformierter Italiener. Der behandelt sie freundlich, aber die Arbeit machen sie.

Die Pizza ist, wie oft in Italien, dünn und groß. Sie schmeckt ganz passabel. Die Vorspeise ist dagegen erste Klasse: eine Platte mit verschiedenen eingelegten Gemüsen: Auberginen, Paprika und friarelli, eine Art Kohl.

Nach dem ersten Gang lasse ich das Besteck zurückgehen, nach deutscher Art. Das tun man hier nicht. Als ich die Rechnung bekomme, werde ich noch einmal daran erinnert: Ich muss zweimal für coperto zahlen.

11. September (Dienstag)

Am Morgen trinke ich meinen Cappuccino in der Bar Nuovo, einer Bar, die ganz mit alten Radioempfängern als Dekoration ausgestattet ist. Der Wirt rattert herunter, welche Formen von brioche es gibt, und als ich mich für eine mit Aprikosen entscheide, begrüßt er emphatisch meine Wahl. Ich würde jetzt eines der besten Aprikosenteilchen bekommen, die ich je gegessen habe.

Viele Italienerinnen sind geradezu schmächtig, und auch die meisten Männer sind schlank, und das in Bologna! Wie sie das machen, ist mir ein Rätsel. An jeder Ecke gibt es eine Bar, und an einigen Straßen reihen sie sich wie die Perlen einer Kette aneinander. Flankiert werden sie von Ständen und Läden mit Pasta, Schinken und Käse. Alles sieht qualitätsvoll aus und riecht verführerisch. Und dann kommen noch die Eisdielen dazu.

Im Unterricht machen wir wieder allerlei unnützes Zeug, alles viel zu kompliziert, viel zu subtil. Es ist aber trotzdem unterhaltsam, nicht wegen der Übungen, sondern weil wir immer wieder von ihnen abweichen. Eine Abweichung, ausgelöst durch das Wort elicottero, dauert fast eine halbe Stunde, in der wir von Hölzchen auf Stöckchen kommen. Ich habe meine helle Freude daran, dass die anderen elicottero nicht erkennen, weil es mir mit anderen Wörtern ähnlich gegangen ist. Das fehlende <h> im Italienischen verfremdet das Wort, ebenso wie in Amburgo.

Die Lehrerin macht sich große Mühe, Dinge zu Hause nachzuschlagen, nach denen gefragt wird. Dazu gehören so lebenswichtige Dinge wie die Frage, ob der Plural von Kirsche ciliegie oder ciliege ist, eine Feinheit, die in ein philologisches Seminar gehört, nicht in einen Sprachkurs.

Im Italienischen sind männliche Nomen manchmal weiblich im Plural. Manchmal haben aber diese Nomen dann doch noch eine männliche Pluralform neben der weiblichen, mit unterschiedlicher Bedeutung. Wir sehen es bei braccio und le braccie bzw. i bracci.

Der Name der Israeli, Ora, veranlasst die Lehrerin zu einem Kommentar zu einem Unterschied im Italienischen, den ich nie verstanden, geschweige denn beachtet habe: die unterschiedliche Aussprache von ora, ‚Stunde‘ und ora, ‚bete‘, ein offenes und ein geschlossenes /o/.

Ich entdecke zu meiner Überraschung, dass comunica auf der zweiten Silbe betont wird. Das habe ich noch nie richtig ausgesprochen.

Der Belgier ist von seinem Dasein als Pensionär ganz und gar begeistert, und nimmt mir alle Sorge angesichts der Vorstellung, im Rentenalter nichts mehr zu tun zu haben. Was zu tun gebe es immer. Er selbst macht das ganze Jahr über einen Italienisch-Kurs an der Universität Löwen, nur eine knappe halbe Stunde von Mechelen entfernt. Ansonsten kümmert er sich um seine Enkel und fährt alle Nase lang nach Italien, sei es auch nur für eine Woche, wie jetzt.

In der Pause bringe ich die Frage auf, ab wann man Buona sera sage. Der Belgier weiß sofort die Antwort: ab ein Uhr! Die Lehrerin bestätigt das im Grunde, sagt aber, dass es individuelle Unterschiede gebe. Sie sagt, viele entzögen sich heute der Problematik, indem sie Salve oder Salute sagten, die beide unabhängig von der Tageszeit sind. Darauf entspinnt sich ein Gespräch über die Standardbegrüßungen in verschiedenen Sprachen, das zeigt, wie kompliziert die Sache ist. Das schlägt sich u.a. darin nieder, dass man im Italienischen Buona Notte nicht als Begrüßung sagen kann, wohl aber Buenas Noches im Spanischen.

Als ich am Nachmittag ins Hotel zurückkomme, sagt die Frau an der Rezeption: Buon giorno. Es ist zwei Uhr. Als ich das Hotel am Nachmittag wieder verlasse, frage ich den Mann an der Rezeption, ab wann er Buona sera sage, und er sagt: So ab fünf!

Nach dem Unterricht laufen wir alle vier gemeinsam schnellen Schritts zum Zentrum. Es hat sich ergeben, dass wir alle den Saal des Archiginnasio sehen wollen, der nachmittags geschlossen ist. Wir kommen rechtzeitig an. Eine etwas unbeholfene junge Frau schließt den Saal für uns auf. Er ist eine wirkliche Pracht, über und über farbenfroh dekoriert mit Fresken, Wappen, Kartuschen und Tafeln.

Der Saal ist einer von insgesamt zehn ursprünglichen Vorlesungssälen. Hier wurde Rechtswissenschaft gelehrt. Wie das vor sich ging, ist nicht klar. Eigentlich dürfte der Saal für die relativ kleinen Studentenzahlen zu groß gewesen sein, und Katheder und Sitzplätze sind, wenn es sie je gab, nicht erhalten. Heute wird der Saal nur für feierliche Anläse genutzt.

Der Saal heißt inoffiziell Stabat Mater, weil hier das Stabat Mater für Rossini aufgeführt wurde, und zwar unter der Leitung von Donizetti.

An den Wänden hält der doppelköpfige Adler des alten Reichs Wappen von Akademikern in seinen Klauen und Fängen, an einer anderen Seite sind Wappen unter dem Emblem des Erzbischofs ausgestellt. An einer Stirnseite thront die Madonna in einem Fresko über den Saal.

Rundherum befinden sich Buchkästen mit Drahtgitter, lauter edel gebundene, meist vielbändige Werke aus Astronomie, Mathematik, Zoologie, Geologie, Hydraulik. Dazu eine ganze Reihe von Wörterbüchern.

In ganz italienisch salopper Weise hat man einige riesige Folianten übereinandergestapelt, die als Stützte für ein Mikrophon dienen.

Beim Verlassen des Gebäudes bemerken wir unten nahe dem Ausgang ein schönes Hinweisschild mit einer verzierten Kartusche, das sich vollendet in das Ensemble einfügt. Darauf steht in fein ziselierten Buchstaben: e‘ vietato introdvrre biciclette. Fahrräder mitbringen verboten.

Dann trennen wir uns und ich mache mich auf den Weg, den Kanal zu finden. Nach einigem Hin und Her gelingt es mir auch. Es ist keine große Sehenswürdigkeit. Von einer kleinen Passage aus sieht man zwischen zwei Straßenzügen einen Kanal fließen. Nicht gerade Venedig. Aber die städtebaugeschichtliche Bedeutung ist nicht zu verleugnen. Bologna hatte früher eine große Anzahl von Kanälen, die, wenn ich das richtig verstanden habe, auch der Energiegewinnung dienten. Die meisten sind zugeschüttet worden oder verlaufen jetzt unterirdisch. Die letzte große Aktion dieser Art ermöglichte die Errichtung der Via Riva de Reno, deren Namen noch an die Vergangenheit erinnert. Reno ist der Name des Flusses.

In einer Bar, in der ich unterwegs Halt mache, der Paninoteca, fällt mir ein Kalender auf, in dem die Wochentage Vener, Sadet, Mercuel oder Dmangda heißen. Ich frage den Mann hinter der Theke, welche Sprache das sei, und er antwortet, so als ob das jeder wüsste: Bolognese. Der Kalender hat auch alte Ansichten von Bologna, ein paar historische Reminiszenzen und ein paar Zitate, die aber übersetzt sind: Chi arriva prem al mulén, mèsma Wer zuerst kommt, mahlt zuerst. Als ich das am nächsten Tag im Unterricht zum besten gebe, fügt die Lehrerin ein Beispiel hinzu, das keiner von uns entschlüsseln kann, auch dann nicht, als sie sagt, dass man es oft in Eisdielen findet: Al zlè al fag me – Das Eis habe ich gemacht.

Dann genehmige ich mir auch noch ein Eis. Ich will nur eine Kugel, aber was für eine ich bekomme! Sie entspricht locker drei normalen Kugeln, und kostet stolze 2.50€!

Auf dem Rückweg mache ich Halt bei Feltrinelli. Es ist nicht so leicht, Bücher über Bologna zu finden, und man ist auch nicht sonderlich freundlich. Unter Turismo stehen sie jedenfalls nicht. Am Ende finde ich sie unter Scienze Umane. Ich kaufe einen Band, der, anders als die klassischen Reiseführer, nur Kleinigkeiten erzählt, die man leicht übersehen kann, geschrieben von einem Bologneser Architekten.

Die schönste Entdeckung des Tages mache ich aber erst, als ich in der Abteilung für Sprache eine italienische Sprachgeschichte kaufe. Gleich daneben entdecke ich ein Buch mit dem Titel Ciliegie o ciliege?

Der Laden, in dem ich mich auf dem Rückweg mit Obst und Wasser ausstatte, wird, wie viele Läden dieser Art, von einem Inder geführt. Sie scheinen dieses Segment schlicht übernommen zu haben.

Kurz darauf sehe ich ein modernes Geschäft, das nur ein einziges Produkt anbietet: elektronische Zigaretten. Der Laden ist leer.

Am frühen Abend mache ich dann noch einen Versuch, bei einem Schuhmachergeschäft zu landen, das bisher immer geschlossen war. Es ist im Reiseführer hoch gelobt worden und befindet sich in Via San Vitale, fünf Minuten vom Hotel entfernt. Hier werden Schuhe nach Maß gemacht. Ich lasse mich von einer jungen Dame aufklären. Die Zeit ist kein Problem. Man kann Maß nehmen, und dann alles andere per Post und Internet regeln. Die Sache hat allerdings drei Haken: Die Schuhe sind altmodisch, schwer und teuer. Das Modell, das sie mir zeigt, kostet über 500 €, und zusätzliche 100 €, wenn sie nach Maß angefertigt werden. Also lassen wir das lieber.

12. September (Mittwoch)

„Wenn in Italien etwas nicht läuft, liegt’s an der Maffia; wenn in Italien etwas läuft, liegt’s an Bologna.“ Zu den Dingen, die in Bologna laufen, gehört der Verkehr. Auch den hat man in den Griff bekommen. Als alles zusammenzubrechen drohte, hat man nicht nur die Alarmglocken geläutet, sondern etwas getan: Ein deutscher Stadtplaner wurde beauftragt, einen Entwurf vorzulegen. Der war radikal, für seine Zeit jedenfalls: Entlastung des Zentrums durch Reduzierung bzw. Verbannung des Autoverkehrs, Verbesserung des Busfahrplans, Modernisierung der Busse, Anlage von Trassen für Fahrräder und Vespas. Die Stadt nahm an. Und es funktioniert. Elegant gekleidete, geschminkte Frauen, die bei uns in einen schwarzen Polo einsteigen, steigen hier auf ihre Vespa.

Beim morgendlichen Joggen kann ich die Zweiteilung gut erkennen. Auf der Via San Vitale ist noch so gut wie nichts los, auf den vielspurigen Straßen um das Zentrum herum ist schon viel los.

Es geht ein ganzes Stück an der Hauptstraße entlang, bis zur Porta Santo Stefano, dem äußersten südöstlichen Teil der Innenstadt. Dort liegen die Giardini Margherita. Auf breiten Alleen geht es um den ganzen Park herum. Er ist ideal zum Joggen, und um diese Tageszeit begegnet man auch nur Joggern. Die Bäume verwelken schon, einige sind schon fast kahl, und die anderen habe nicht mehr das satte Grün des Frühsommers. Auf der anderen, vermutlich geschützteren Seite, sieht es etwas besser aus. An einem Ende des Parks liegt ein schön gestalteter Weiher mit kleinen, runden Fontänen in der Mitte.

Auf dem Rückweg laufe ich durch die Innenstadt und komme dabei fast an der Schule und direkt an dem Lokal von vorgestern vorbei. Klar, das hieß doch Reina Margherita. Als ich wieder auf der Via San Vitale bin, sehe ich vor der Clinica Odontoiatrica der Universität einen Mann in Anzug und Krawatte, den Herrn Professor persönlich vermutlich, den Bürgersteig fegen.

Als ich wieder ins Hotel komme, fragt der freundliche Mann an der Rezeption, wie es gewesen sei. Er ist selbst früher gelaufen und erkundigt sich genau nach Strecke und Zeit. Und ist nicht allzu traurig, als er feststellt, dass er früher schneller war als ich.

Auf dem Weg zur Schule sehe ich ein Plakat mit einem Esel in der Mitte, auf dem steht: Reserved Parking. Mules only.

Beim Frühstück in der Bar fällt mir die völlig gemischte Kleidung einer Gruppe von fünf Männern auf, die das Lokal betreten. Vom eleganten Anzug mit Krawatte bis ganz leger. In der Mitte einer, der zu einem strahlend weißen Hemd eine merkwürdig braune Cordhose und klobige Turnschuhe trägt. Im Allgemeinen habe ich den Eindruck, dass die Männer weniger Wert auf formale Kleidung legen als früher. Oder liegt es einfach an Bologna?

Mehrmals habe ich das Kommunikationsverhalten der Italiener beobachtet, und ich kann keinen besonderen Hang zum Unterbrechen feststellen, wie im Unterricht behauptet wurde.

Heute behandeln wir wieder Dinge, die sprachphilosophisch interessant, aber fremdsprachendidaktisch uninteressant sind. Dazu gehört der Gebrauch von non in Sätzen, die gar nicht negativ sind. In diesen Fällen bedeutet ein Satz mit non dasselbe wie derselbe Satz ohne non: Io resterò sveglio finchè (non) tornerà a casa.

Die Lehrerin heißt genauso wie eine bekannte italienische Modeschöpferin: Chiara Boni. Das gibt Anlass zu Kommentaren, und hat auch schon einmal Anlass zu einer Verwechslung gegeben.

In Florenz, lerne ich heute, gibt es rote und blaue Hausnummern, blaue für private, rote für geschäftlich genutzte Gebäude. Obwohl die Hausnummern eindeutig blau sind, sagt man: Io abito a 18 nero. Aus blau wird schwarz.

In Bologna sind alle Hausnummern blau. Es gibt manchmal den Zusatz A oder B, aber nur für Geschäfte, nicht für Privathäuser.

Im Zusammenhang mit populären Verwechslungen wie pallone di Achille für tallone di Achille erzählt die Holländerin von bagni termali, aus denen bagni terminali wurden.

Am Nachmittag gehe ich zum Museum der Stadt Bologna, das gerade dieses Jahr erst eröffnet wurde und von der Israeli sehr empfohlen wurde.

Auf dem Weg bleibe ich kurz vor dem Eingang von Feltrinelli stehen und sehe mir den schönen, mit Emblemen versehenen Renaissancebogen an. Da bin ich gestern achtlos vorbeigegangen, aber der kleine Führer mit den Spaziergängen durch Bologna hat mich darauf aufmerksam gemacht.

Ganz in der Nähe ist der Palazzo della Mercanzia. An dem bin ich schon mehrmals vorbeigekommen. Die Loggia erinnert vage an die Feldherrenhalle in München, die aber natürlich viel jünger ist. Hier handelt es sich um das mittelalterliche Zollhaus. Und deshalb hat es die Loggia. Hier wurden die Waren zur Schau gestellt. An der Fassade ein kleiner Balkon und, in Medaillons, die Justitia und die Stadtpatrone.

Wenn man an dem Städtischen Museum irgendetwas auszusetzen hat, dann ist es die unendliche Fülle von Sälen und Informationen. Am Ende bin ich nicht mehr aufnahmefähig.

Ganz besonders effektvoll ist die virtuelle Nachahmung des unterirdischen Kanalsystems. Man glaubt wirklich, unter der Erde zu sein, man glaubt, in dem Halbdunkel das sich bewegende Wasser zu sehen, man glaubt, in die Ferne zu sehen, man glaubt Arkaden zu sehen, man glaubt, andere Besucher zu sehen. Dabei ist der Raum kurz und schmal und enthält nichts.

Eine ganz besondere Entdeckung, die ich mache, ist die: Das Konzil von Trient fand zwei Jahre lang in Bologna statt. Aus Trient war man wegen einer Seuche abgezogen. Die Entscheidung für Bologna konnte als Teilerfolg des Papstes gegenüber dem Kaiser gelten: Bologna lag, im Gegensatz zu Trient, im Kirchenstaat und war dessen zweiwichtigste Stadt! Nach zwei Jahren kehrte das Konzil allerdings wieder nach Trient zurück.

Die zweite Entdeckung betrifft den Namen Werner, der in Italien natürlich völlig unbekannt ist. Hier erscheint er aber. Ein gewisser Wernerius Boniensis war einer der ganz frühen Rechtsgelehrten Bolognas und Begründer der Glossatorenschule von Bologna. Entweder von  Königin Mathilde oder von Heinrich V. hatte er den Auftrag erhalten, das Justinianische Recht wiederherzustellen und zu aktualisieren. In Bologna heißt er Irnerio.

Ausführlich berichtet wird von der Kaiserkrönung Karls V. Sie war ein ganz besonderes Ereignis der Stadtgeschichte. Auf einem Gemälde sieht man, wie eigens eine hölzerner Steg gebaut worden war, über den man vom Palazzo Comunale nach San Petronio zog. Damit wurde einerseits das Volk ferngehalten, andererseits wurde eine gute Sicht auf das Spektakel ermöglicht. Bologna war sich der Weltgeltung des Ereignisses bewusst, aber die böse Überraschung kam, als man die Rechnung begleiten musste: mehrere Monate Unterkunft und Verpflegung für zwei riesige Delegationen, Papst und Kaiser. Das ging ins Geld.

Auch gut dokumentiert ist die Wallfahrt der Madonna von San Luca in die Stadt. Der Anlass war sintflutartiger Regen, der gar nicht mehr aufhören wollte. Also beschloss man, dass Madonnenbild von der Wallfahrtskirche in einer feierlichen Prozession in die Stadt zu führen, und siehe da: Kaum war man am Stadttor angekommen, hörte es auf zu regnen. Damit war die Tradition begründet. Die Prozession findet jedes Jahr statt und markiert Anfang und Ende der Feierlichkeiten, denn die Madonna muss ja am Schluss in ihre Kirche zurückkehren.

Am Ende kann man Tonaufnahmen von bekannten Personen hören, die über Bologna sprechen. Ich höre Romano Prodi, Umberto Eco und Ettore Messina, einen Basketballtrainer, alle als Fremde nach Bologna gekommen. Prodi kann ich am besten verstehen, Eco am schlechtesten. Bei Messina fällt mir auf, dass er häufig mit den Fingerspitzen beider Hände gleichzeitig schnelle, kreisende Bewegungen macht. Ansonsten ist die Gestik bei allen spärlich. Eco berichtet, wie er morgens um fünf einen Anruf bekam mit einer Anfrage von der Universität Bologna und in aller Ruhe darum bat, man solle es um zehn Uhr nochmal versuchen. Er berichtet auch von einem fast kameradschaftlichen Verhältnis zu den Studenten am Anfang seiner Zeit als Professor, das im Laufe der Zeit distanzierter wurde, schon wegen des größer werdenden Altersunterschieds. Er erzählt auch, wie man angesichts der Streiks in andere Räume wie Hotelfoyers ausgewichen ist. Er erwähnt auch Schwierigkeiten, auf die er als „Ausländer“ bei der sehr homogenen Gruppe von Professoren stieß – die alle Nachnamen hatte, die sich wie Straßennamen von Bologna anhörten. Prodi erzählt, wie Bologna ihm anfangs wie die ganz große Metropole erschienen war. Er sagt, für ihn bedeute Bologna nicht Tortellini oder Torri, sondern Universität.

Viele andere Dinge sieht man nur im Vorbeigehen: den größten Stadtplan von Bologna, den es je gegeben hat, in Auftrag gegeben von Gregor XIII., ein Gemälde, auf dem noch im 19. Jahrhundert drei weitere Wohntürme gleich neben Asinelli und Garisenda sieht, Handwerkszeichen, unter denen sich wieder das Malteserkreuz befindet, einen über den modernen Stadtplan gelegten Stadtplan aus der Etruskerzeit, der zeigt, dass die Etruskerstadt genau zwischen Reno und Aposa lag und zur Hälfte mit dem mittelalterlichen Bologna übereinstimmte. Von der Universität heißt es, sie sei in Landsmannschaften eingeteilt gewesen, Nationes, und der Begriff Universitas war gerade der Gegenbegriff dazu und bezeichnete das, was die Nationes vereinte.

Man verlässt das Museum mit dem Gefühl, immer wieder hierher zurückkommen zu müssen.

Am Morgen hatte ich das Gefühl, dass es nicht mehr so heiß ist. Und in den letzten Tagen haben sich am Himmel einzelne schwache Wölkchen gezeigt, die immer dichter und dunkler geworden sind, und als ich aus dem Museum komme, fallen die ersten Tropfen. Dann wird es stärker, und in der Nacht regnet es ohne Unterbrechung.

Wieder bewähren sich die Arkaden Bolognas: Bisher haben sie gut gegen die Sonne geschützt, jetzt schützen sie gegen Regen. Bis zur Piazza della Mercanzia muss ich mich retten, dann komme ich praktisch trockenen Fußes bis zum Hotel. Es heißt, die Arkaden seien ursprünglich für die Pilger gebaut worden, die auf dem Weg nach Rom in Bologna Station machten. So hat es uns damals jedenfalls eine junge Kunstlehrerin erklärt. Das wäre ein sehr nobles Motiv. Was auch immer der Grund ist, bis heute profitiert man davon, und die Arkaden geben Bologna seine ganz besondere Charakteristik. Es sollen insgesamt über dreißig Kilometer sein.

Am Abend gehe ich in die Osteria dell’Orsa,  dem Belgier von der Lehrerin und mir von dem Belgier empfohlen. Wunderbar. Das ist genau das, was man als Fremder kennen lernen will – und wo man aus eigenen Stücken nicht gelandet wäre.

Auf dem Weg komme ich an der Piazza G. Verdi vorbei, nicht zum ersten Mal. Sie ist Teil und vielleicht Zentrum des Universitätsviertels. Es sind schon viele Studenten unterwegs. Ob das Semester schon begonnen hat? Es sieht so aus.

Die Osteria dell’Orsa ist ein ganz einfaches Lokal. Als ich ankomme, ist es noch fast leer. Als ich gehe, merke ich, dass es noch einen zweiten Raum gibt und auch draußen noch Plätze. Jetzt sind fast alle besetzt.

Es gibt es große Speisekarte, ganz ohne Pizza und Pasta. Die Speisekarte zu lesen, ist gar nicht so einfach. Ein Abschnitt heißt zum Beispiel Pietanze. Keine Ahnung, was sich dahinter verbirgt. Später finde ich heraus, dass es Kleinigkeiten sind, nicht richtige Vorspeisen, sondern eher Speisen aus der Kategorie „für den kleinen Hunger“. Auf der Speisekarte erscheinen auch Olive Ascolane. Die stammen aus Triers Partnerstadt Ascoli und haben einen besonders guten Ruf.

Es gibt Warsteiner vom Fass! Aus Flaschen gibt es deutsches Weizenbier, Ceres aus Polen (das es hier fast überall gibt) und Corona aus Mexiko, aber kein italienisches Bier. Auch das ist mir schon vorher mehrmals passiert.

Ich nehme Wein: Vino Sfuso. So nennt man hier den offenen Wein, Vino della Casa.

Ich esse Schweinefleisch mit Balsamico-Soße. Sieht wie Schokolade aus. Dazu gedünstete Bohnen, und zum Nachtisch hausgemachtes Tiramisù.

Dann merke ich, dass doch wohl Pasta auf der Speisekarte sein muss. Sie verbergen sich unter dem Namen fusilli, auf der Tageskarte. Am anderen Ende des Raumes sitzt eine Gruppe italienischer Studenten. Sie haben fast alle fusilli bestellt und essen sie so, wie man nach traditionellen Regeln der deutschen Mittelschicht nicht essen sollte: tief über den Teller gebeugt, mit der Gabel die Nudel stapelnd und dabei die Gabel unten am Griff haltend.

Auf dem Rückweg über die Piazza Maggiore mache ich Photos vom nächtlichen Bologna.

Am Abend lese ich zufällig in der Obdachlosenzeitung, Piazza Grande, von der Köchin der Osteria dell’Orsa. Sie hat im Juli bei einer Großveranstaltung den Obdachlosen beim Kochen geholfen und ihnen die Fertigung hausgemachter Nudeln beigebracht. Die Speisen wurden dann auf einem riesigen Tisch im Zentrum verkauft. Der Erlös ging in die Obdachlosenkasse.

13. September (Donnerstag)

Am Morgen hat es aufgehört, zu regnen, aber es ist deutlich kühler und außerdem wolkig und windig. Richtig herbstlich.

Zum Wetter passen die Umformungsübungen, die wir im Unterricht machen. Die Lehrerin erzählt in diesem Zusammenhang von einem Wortgefecht zwischen einem Deutschen und einer Schweizerin über die Frage, ob es im Deutschen einen Konjunktiv gebe. Die Schweizerin habe das bestritten. Natürlich, möchte man ihr entgegnen, „gibt“ es im Deutschen einen Konjunktiv. Das lässt sich doch wohl nicht bestreiten. Und man macht sich Gedanken darüber, wie jemand zu so einer Aussage kommen kann. Eine Antwort lautet: pure Unkenntnis. Eine andere Erklärung wäre, dass die Schweizerin dies im Zusammenhang mit dem italienischen Konjunktiv gesehen hat und sagen wollte, dass es im Deutschen nichts Vergleichbares gebe. Da hätte sie nicht völlig unrecht. Von der Funktion her unterscheiden sich die beiden Strukturen so sehr, dass man sagen könnte, das eine gebe es nicht.

Ganz nebenbei erfahre ich, dass man in Italien weiterhin Signorita sagen darf, dass eine neapolitanische Pizza dick ist im Gegensatz zur römischen und was eine Piadina ist.

Davon probiere ich dann gleich eine nach dem Unterricht. Es ist eine Spezialität der Region, eine Mischung aus Pizza und Döner, bei der die Zutaten auch bunt gemischt werden können. Schön, das mal probiert zu haben, aber kaum eine Wiederholung wert.

Am Nachmittag will ich San Franceso besichtigen, aber die Kirche ist weiterhin geschlossen wegen des Erdbebens vor drei Monaten. Ob Menschen oder Kunstwerke geschützt werden sollen oder ob es noch Aufräumarbeiten gibt, ist nicht zu erfahren.

Auch hier stehen, ganz ähnlich wie auf dem Vorplatz von San Domenico, zwei Steinsarkophage in altarähnlichen Aufbauten, ganz erhöht, vor der Kirche. Der Kirchenbau ist aber anders und erinnert mit seinen Strebepfeilern eher an unsere Gotik.

Ich laufe noch etwas in der Gegend herum, auf der Suche nach meiner ehemaligen Absteige, die ich hier in der Gegend vermute, aber weder die Gegend noch der Weg nach San Francesco kommen mir bekannt vor.

Auf dem Rückweg sehe ich an einem Geschäft die Aufschrift, dass durchgehend geöffnet ist. Das ist alles andere als selbstverständlich.

Es gibt immer noch viele kleine Geschäfte in Privatbesitz, und oft treten sie in ganzen Reihen auf, unterbrochen von dem einen oder anderen Hauseingang oder einer Kirche. Ganz oft sieht man Uhrengeschäfte und Schuhgeschäfte, aber auch Möbel und Ramsch, und am häufigsten Lebensmittelgeschäfte. Dazwischen immer wieder eine Bar und ein Tabakwarenladen. Ketten gibt es kaum, bis auf die eine oder andere Lebensmittelkette. In dem Zusammenhang erinnere ich mich daran, dass die Lehrerin von einer Studentin erzählt hat, die sich nach Starbucks erkundigt hat. Gibt es nicht. Glückliches Bologna!

Auf dem Rückweg gehe ich in die Börse an der Piazza Maggiore, einfach, um herauszufinden, was das eigentlich ist. Die Antwort ist banal und gleichzeitig einleuchtend: eine Sparkasse. Die hat vor einigen Jahren das Gebäude von der Börse gekauft. Im Zentrum sieht man noch einen Raum, der einer Markthallte ähnelt. Die Börse ist um 1880 entstanden und wenige Jahre später Ziel eines Bombenanschlags gewesen. Es wurden Anarchisten festgenommen, die des Attentats verdächtigt wurden. Es wurde auch auf Initiative eines lokalen Politikers ein Speiselokal eingerichtet, das für die Öffentlichkeit zugänglich war und Essen für einen Einheitspreis anbot: 3,50. Lire.

Unten kann man Ausgrabungen besichtigen, die die Geschichte des Platzes dokumentieren. Man sieht ein original römisches Straßenpflaster, das keine Fahrspuren aufweist und damit zeigt, dass es das Pflaster einer Fußgängerzone war. Daneben sieht man Reste einer Basilika, die durchaus keine religiösen, sondern rechtliche Funktionen hatte. Gleich daneben eine Zisterne aus einer viel späteren Epoche: Als die Basilika verfallen war, richtete man hier einen halb abgeschlossenen Obstgarten an, mitten in der Stadt. Und zu dessen Bewässerung diente die Zisterne. Damit geht der bisher am wenigsten unterhaltsame Tag in Bologna zu Ende.

14. September (Freitag)

Diesmal treffe ich beim morgendlichen Lauf sogar schon auf eine Gruppe von Jungen mit dem Fußball. Was machen die um diese Zeit schon hier?

Im Unterricht habe ich einen kleinen Triumph: Ich habe eine Wette gegen die Lehrerin gewonnen! Bei einer Einsatzübung, die auf einem Text von Umberto Eco basierte, gab es in einer Lücke zwei Möglichkeiten, eine einfache und eine komplizierte. Ich hatte gewettet, dass im Original die einfachere Version stünde. Die Lehrerin hat nachgesehen, und es stimmt! Das tröstet mich über die anderen Fehler hinweg. Heute gab es in einer der vermaledeiten Umformungsübungen drei richtige Möglichkeiten, und ich habe die einzige falsche gewählt!

Was mir fehlt, ist ganz einfaches Vokabular, aber das kommt so gut wie gar nicht vor. Dieser Tage bin ich beim Erzählen an Wörtern wie behalten und zurückgeben hängengeblieben, heute an vorbeigehen. Und wie sagt man eine dünne Pizza, weicher Boden oder von wann an?

Wir lesen einen Text über die Mafia, der einige interessante Einblicke in deren Geschichte gewährt: Den schwersten Stand hatte sie ausgerechnet unter den Faschisten. Die duldeten keinen anderen neben sich. Es gab eine radikale „Säuberungsaktion“, deren Radikalität aber alles andere als populär war und der Mafia paradoxerweise Sympathie einbrachte. Andererseits führte sie zur Auswanderung vieler Mafiamitglieder nach Amerika und zur Gründung der amerikanischen Mafia. Die Mafia profitierte dann von dem Einmarsch der Alliierten in Sizilien. Die Amerikaner waren viel „hilfreicher“ als die Faschisten und verhalfen Mafiamitgliedern zu hohen Ämtern. Der andere interessante Aspekt betrifft die relative Flexibilität der Mafia: Nach dem Ende des Kriegs und dem Niedergang der Landwirtschaft verschaffte sie sich neue Betätigungsfelder im Bauwesen, Handel und dem tertiären Sektor.

Der Text spricht auch über Erklärungen für den Ursprung des Wortes Mafia: Es sei, wird behauptet, ein Kurzwort, abgeleitet von Morte Alla Francia Italia Anela, dem Motto der Widerstandskämpfer, als es darum ging, die Franzosen im Hochmittelalter aus Sizilien zu vertreiben. Alle anderen Erklärungen sind wenigstens einleuchtender: eine arabischer Stamm, der sich in Sizilien niederließ, hieß ma-afir, ein toskanisches Wort für ‚Misere‘ ist maffia, und ein gleichlautendes Wort aus dem Argot der Gegend um Palermo bedeutet ‚Verfrorenheit‘. Nichts Genaues weiß man nicht. Kann durchaus sein, dass keins von allen stimmt.

Im Zusammenhang mit dem Wort dirotta, das ‚Entführung‘ heißt, erzählt die Lehrerin von einer italienischen Musikgruppe, die Dirotta su Cuba heißt.

Heute sehe ich mich zum ersten Mal ein wenig auf der Via San Vitale um, der Straße, an der das Hotel liegt. Sie hieß früher Via Salaria, ‚Salzstraße‘. Sie war Teil des Weges, auf dem Salz von Ravenna nach Bologna transportiert wurde.

Völlig aus der Reihe fällt in der Via San Vitale der Palazzo Fantuzzi, ein riesiger, sehr langgezogener Renaissancebau mit einer schönen Fassade mit halbrunden Säulen und Elefanten als Schmuckwerk. Die nehmen wohl Bezug auf das Wappen der Besitzer. Der Bau fällt gleich doppelt aus der Reihe: Er steht auf einer sehr engen Straße und kontrastiert mit den vielen kleinen Häusern auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Er nimmt so viel Platz ein wie zehn Einheiten auf der anderen Seite, Privathäuser, Geschäfte und eine Kirche.

Bei der Kirche handelt es sich um San Vitale e Agricola. Außen an der Kirche ist ein altes Relief in die Wand eingelassen, das an Lucio und Mondino de’Liuzzi erinnert, berühmte Mediziner der alten Universität, die hier, in dieser Kirche, begraben sind. Dargestellt ist eine Szene aus der universitären Lehre: Rechts sitzt der Lehrer auf seinem, von einem Baldachin bekrönten Lehrstuhl, links sitzen sechs Studenten, ein jeder an seinem eigenen Pult, über ein Buch gebeugt. Und siehe da: Einer passt nicht auf! Er dreht sich um und schwätzt mit seinem Nachbarn. Dies scheint eine der ersten Szenen zu sein, in denen die Medizin Gegenstand der Darstellung ist, statt der Rechtswissenschaft. Bedeutend ist in jedem Fall, dass hier zu einer Zeit, wo sonst Ritter, Heilige und Adelige Gegenstand der Kunst sind, bereits Akademiker zur Geltung kommen.

Unter dem Relief finden sich drei sehr verschiedene Inschriften, alle natürlich auf Latein. In einer werden in dichtgedrängten Buchstaben die Tugenden des Verstorbenen gewürdigt, der mit Hippokrates verglichen wird. Daneben, wie in ein aufgeschlagenes Buch gemeißelt, das alte Motto Vita brevis, ars vero longa. Und darunter, ganz bemerkenswert, die Autorenschaft des Reliefs: Maestro Roso da Parma scolpì questo sepolcro.

Wenn man die relativ kleine Kirche betritt, überrascht eine große Kapelle links des Eingangs. Sie fällt irgendwie aus dem Rahmen. Sie ist ein Überbleibsel aus der Zeit, als die Kirche längs der Straße verlief und geostet war. Das wurde später geändert. Jetzt ist der Altar an der dem Eingang gegenüberliegenden Seite, und die Kirche damit genordet. Ganz außergewöhnlich. Die Kapelle war ursprünglich der Chor.

Die Kirche hat eine schöne, niedrige, alte Krypta aus der Vorgängerkirche, in die nur durch ganz dünne Fensterschlitze Licht fällt. Für einen Euro kann man die Krypta kurz erhellen.

Zwischen vier breiten Bündelpfeilern stehen zehn oder zwölf schlanke Säulen, die das Gewölbe tragen und die Krypta in drei Schiffe einteilen. In jeder Apsis steht ein Altar. Sehr schön, und ein totaler Kontrast zu der Oberkirche.

Nach einem Kaffee in der Innenstadt komme ich auf dem Rückweg an der Piazza Santo Stefano vorbei. Hier ist es immer wohltuend ruhig. Das ist nicht überall so. Trotz der Einschränkung des Autoverkehrs im Zentrum ist es woanders meistens laut. Die Autos sind eben nicht aus der Stadt verbannt worden, jedenfalls nicht aus der ganzen Innenstadt, und die Vespas und Mopeds machen fast mehr Krach als Autos. Außerdem wird an vielen Stellen gebaut.

Was die Reform des Verkehrssystems auch mit sich bringt, ist, dass man höllisch aufpassen muss vor Fahrrädern. Die kommen hinter jeder Häuserecke plötzlich zum Vorschein.

Die Arkaden des Platzes vor Santo Stefano gehören zu den schönsten, ältesten und variationsreichsten der ganzen Stadt. So muss das alles einmal ausgesehen haben, stellt man sich vor. An einer langgestreckten Fassade blicken aus Medaillons über den Arkaden alle möglichen Köpfe hervor. Es sollen mythologische Gestalten sein, aber so aussehen tun sie nicht. Eher wie alte Bologneser. Außerdem ist da ein Türke mit Turban. Was das soll, ist schwer zu sagen, vielleicht ist es reine Phantasie. Zur Zeit der Erbauung des Hauses war Europa zwar von der Angst vor der Türkengefahr geprägt, aber mir sieht das alles eher nach Folklore aus.

Ganz in der Nähe stoße ich rein zufällig auf das Haus von Rossini. Er hat hier viele Jahre gelebt. Besichtigen kann man das Haus wohl nicht. An der Fassade sind Musikinstrumente und lateinische Inschriften, darunter: obloquitur numeris septem discrimina vocum odorantum lauri nemus. Als ich das im Internet nachsehe, bekomme ich einen Staubsaugerservice.

Am Abend gehe ich in die Pizzeria da Pino, auch in der Schule empfohlen. Nichts Besonderes. Die Pizza (obwohl napoletanisch, immer noch dünn) ist durchschnittlich, die Bedienung unfreundlich und das Bier, Staropramen, ein tschechisches Bier, zu herb für meinen Geschmack.

Kaum habe ich mich gesetzt, kommen drei Italienerinnen mit voll bepackten Tüten von H&M hinein. Auf dem Rückweg sehe ich dann das Geschäft, ganz in der Nähe, am Anfang der Via dell’Indepdenza. Immerhin hat sich die Firma in einem schönen Jugendstilhaus niedergelassen.

Erst dann fällt mir gegenüber eine Kirche von geradezu unmenschlichen Ausmaßen auf. Allein die riesigen, schmucklosen Türen sind geradezu erdrückend, wenn man davor steht. Der ganze Bau ist dazu angetan, dass man sich winzig klein fühlt. Hier lässt das 19. Jahrhundert, so vermute ich, seine Muskeln spielen. Weit gefehlt!  Die Kirche, mit einer klassizistischen Fassade, ist älter. Und es ist, wie ich erst jetzt durch eine Tafel an der Fassade erfahre, San Pietro, die Kathedrale von Bologna! Sie spielt im Ensemble der Kirchen Bolognas eher eine untergeordnete Rolle.

Am Abend lese ich in dem neu erworbenen Reiseführer, dass man in Bologna nicht von calcio, sondern von pallone spricht. Das liegt daran, dass die Italiener seit Jahrhunderten ein anderes Ballspiel, eben pallone, spielten, als im späten 19. Jahrhundert der Fußball aus England importiert wurde. Der neue Sport, der immer erfolgreicher wurde, nahm einfach den des alten Sport an, der langsam, in der Praxis wie in der Erinnerung, in Vergessenheit geriet, so sehr, dass heute kaum noch jemand weiß, worum es sich beim pallone handelte. Die Beschreibung erinnert ein bisschen an Baseball und ein bisschen mehr an die  baskische Pelota, bei der ein Ball gegen eine Wand geschleudert wird und dann zurückprallt. In dem alten Stadion von Bologna ist (oder war) noch eben diese Mauer erhalten, die natürlich längst ihre alte Funktion verloren hat.

15. September (Samstag)

Chemische Fabriken und Petroleumraffinerien, zwei leistungsfähige Industriehäfen, ein gewaltiges Elektrizitätswerk, eine doppelspurige Ringstraße, über die Tag und Nacht Laster rollen, das ist Ravenna.

Das ist die Realität Ravennas, die wenig zu tun hat mit dem Bild, das wir von Ravenna haben. Das ist bestimmt von antiker Kunst und ganz zuvorderst antiken Mosaiken. Die waren lange gar nicht so hoch angesehen, und viele Durchreisende machten eher abfällige Kommentare über den Wert der Mosaike, bei denen man allenfalls das Material lobte. Heute ist das anders, und wir alle pilgern wegen der Mosaike nach Ravenna.

Alles, was man heute in Ravenna ansieht, stammt aus der Spätantike, ungefähr aus der Zeit zwischen 400 und 600. Vorher und nachher: Fehlanzeige. Was es aus der Spätantike gibt, ist so viel und auf so viele Bauten verteilt, dass man leicht durcheinander kommt.

Ravenna lag, so unglaublich sich das anhört, ursprünglich am Meer. Das ist jetzt sieben Kilometer entfernt. Es lag jedenfalls, wenn ich das richtig verstanden habe, noch am Meer, als Honorius die Kaiserresidenz hierher verlegte, so wie andere vor ihm ihre Residenz nach Mailand oder Trier verlegt hatten – ohne dabei offiziell Rom den Anspruch als „Hauptstadt“ streitig zu machen. Von all den Bauten, die er errichten ließ, ist so gut wie nichts erhalten.

Diese Vormachtstellung bewahrte sich Ravenna auch nach dem Ende des Weströmischen Reiches. Als Odoaker 476 Romulus, den letzten Kaiser, in Rente schickte, machte er Ravenna zu seiner Residenz. Auch er scheint architektonisch keine Spuren hinterlassen zu haben. Das ändert sich mit seinem Nachfolger, Theoderich, dem Ostgotenkönig. Der kam auf ziemlich fiese Art an die Macht, hat aber hier aufgrund seiner späteren Herrschaft einen guten Ruf. Theoderich wird oft identifiziert mit Dietrich von Bern, wobei Bern im doppelten Sinne irreführend ist. Es ist gar nicht Bern, sondern Verona gemeint, und tatsächlich hätte er besser Dietrich von Ravenna geheißen. Theoderich war Arianer. Das ist für Ravenna und für die Kunstwerke, die wir besichtigen, von Bedeutung.

Der zweite wichtige Name im Zusammenhang mit Ravenna ist Justinian. Er verleibte, von Byzanz aus, Ravenna und Italien wieder in das Römische Reich ein. Theoderichs Nachfolger konnten seine Tradition nicht fortführen. Als Arianer waren sie bei den Romanen, die katholisch waren, nicht beliebt, und als Arianer hatte sie die römische Kirche nicht auf ihrer Seite und waren auf sich alleine gestellt. Ravenna wurde zu dem Ort, an dem der Exarch als Vertreter des byzantinischen Kaisers residierte. Das dauerte noch eine Zeit, bis dann schließlich die Langobarden kamen und ganz Oberitalien eroberten.

Ravenna war also Interimshauptstadt des Weströmischen Reichs, Hauptstadt des Ostgotenreichs, Residenz des Oströmischen Exarchen.

Jetzt aber erst mal auf nach Ravenna. Auf dem Weg zum Bahnhof gehe ich hinter einem Italiener mit einer losen Schuhsohle her. Es macht Klack bei jedem zweiten Schritt. Trotzdem, und obwohl er kleiner ist als ich, hält er dasselbe Tempo aufrecht.

Ich habe mich mit den beiden Frauen aus dem Kurs am Bahnhof verabredet. Meine Warnungen – sich eher treffen, einen genauen Treffpunkt ausmachen – werden in den Wind geschlagen. Aber alles geht gut. Ich finde durch das Gedränge, und irgendwie spuckt der Automat am Ende doch eine Fahrkarte aus. Einen normalen Fahrkartenschalter gibt es nicht. Die Fahrt ist ausgesprochen günstig: 6,80 €. Als dann die Israeli kommt, kauft sie die Karte einfach an dem Zeitungskiosk. Wieder was dazugelernt.

Die Fahrt dauert knapp anderthalb Stunden und führt durch flache, gesichtslose Gegend. Ab und zu Weinfelder, ab und zu Stoppelfelder, ab und zu frisch gepflügte Ecker mit schwarzer Erde, der man geradezu ansieht, dass sie fruchtbar sein muss. Als es auf Ravenna zugeht, kommen dann tatsächlich Industrieanlagen.

Der Zug hält oft. An den meisten Stationen steigt keiner ein und schon gar nicht aus. Die Stationen haben Namen wie Godo, Lugo und Russi. In Russi steht  auf dem Bahnstein, unbeweglich, ein pechschwarzer Mann in einer hellblauen Toga, die bis zu den Knöcheln geht. Es sieht wie ein Gemälde aus.

Der Zug ist sauber, bequem und pünktlich, und die Schaffner sind freundlich. Hinter uns sitzen amerikanische Oberschülerinnen. Sie sprechen unentwegt, meistens über andere. Alle Nase lang kommt awesome und in jedem zweiten Satz kommt like als Einführung einer direkten Rede vor: And she was like …

Kaum sind wir in Ravenna angekommen, fahren wir schon wieder weg. Nach Classe. Ich hätte mir das nicht angetan, denn in Ravenna gibt es genug im Zentrum zu sehen, aber die Israeli lässt sich nicht beirren: Sant’Appolinare in Classe muss sein.

Schon aus einiger Entfernung ist die Kirche zu sehen. Sie ist erstaunlich groß, ein langgestreckter Ziegelbau mit einem schönen Rundturm daneben, dessen Öffnungen nach oben hin immer mehr Bögen haben.

Innen fällt der Blick sofort auf das Mosaik in der Apsis. Im Zentrum einer grünen Landschaft steht ein Mann mit Bischofstalar und Heiligenschein, mit erhobenen Händen. Das ist Sankt Appolinaris, Erfinder des gleichnamigen Sprudels. Eine solch zentrale Stelle nimmt sonst nur Christus ein. Es ist an sich schon bedeutend, dass diese Stelle hier von dem Heiligen eingenommen wird. Es gibt wunderbare, etwas naive und in bester Ordnung aufgestellte Bäume und Sträucher und dazwischen weiße Blumen. Auf den Heiligen kommen von beiden Seiten je sechs Schafe zu. Darüber eine Sternenkugel und darüber in etwas zerkratztem Gold eine Szene, die die Verklärung Christi darstellen soll. Darunter drei Schafe, zwei nebeneinander, eins getrennt davon. Das sind die Apostel, Jakob und Johannes  einerseits, Petrus, ganz auf sich alleine gestellt, andererseits. In dem Bogen der Apsis Christus, umgeben von den Evangelisten, dargestellt durch ihre Symbole. Auch zu Christus steigen von beiden Seiten sechs Schafe hinauf.

An der Seite weitere Mosaike, die u.a. die Opfer des Abel (Lamm), des Abraham (Isaak) und des Melchisedech (Brot und Wein) zeigen.

Die Mosaike sind nicht aus Stein, sondern aus Glas gemacht. Die verschiedenen Farben erzielte man durch Beimischung von Metallen und Mineralien. Für braun benutzte man zum Beispiel Eisen.

Die Kirche ist wirklich schön, mit sehr schönen marmorierten Säulen mit großen Kapitellen, die die Seitenschiffe abtrennen, und einfachen, transparenten Rundfenstern im Obergaden, in den Seitenschiffen und in der Apsis, die das Mosaik ganz zur Geltung kommen lassen. Zwischen Säulen und Obergaden verläuft die ganze Länge des Mittelschiffs hinunter ein Fries, auf dem in Medaillons alle Bischöfe Ravennas dargestellt sind, eine spätere Hinzufügung.

Auf die ganze Kirche verteilt sind große antike Sarkophage, mit teils sehr unbeholfenen Darstellungen. Ein Lamm sieht wie ein Pferd aus. Die Deckel scheinen auch nicht immer zu den Sarkophagen zu passen. Da kann im Laufe der Jahrhunderte schon mal was durcheinander gekommen sein.

Hier soll früher Appolinaris bestattet gewesen sein, aber, da die Kirche außerhalb der Stadtmauern lag, musste man seine Gebeine später, als Gefahr von außen drohte, in die Stadt verlegen.

Als wir wieder nach draußen gehen und in der Mittagssonne auf den Bus warten, sehe ich in der Nähe der Haltestelle eine Pescheria ambulante, ein Wagen, aus dem heraus, wie auf dem Wochenmarkt, Fisch verkauft wird. Gegenüber macht sich die Pizzeria Santo sich die Lage zu eigen und schreibt ihren Namen in alten, antik anmutenden Lettern. Darunter steht dann, als Gegenprogramm, in ganz moderner Schrift Dinner and Drinks.  An der Bushaltestelle hängen an einem rostigen Ständer Plakate. Auf den ersten Blick nicht ganz klar, was das ist. Es sind Gedenkplakate für Verstorbene.

Jetzt geht es zurück in die Stadt, nach Sant’Appolinare Nuovo. Ravenna hatte früher auch einen antiken Dom, aber den hat man, mit etwas schlechtem Gewissen, in der Zeit des Barock abgebrochen. Er war aber stilbildend. Die meisten seiner Charakteristika finden sich auch in den späteren Gebäuden: flache Decke, Säulen statt Pfeiler, Ziegelsteine und, dort, wo es einen gibt, einen runden Campanile.

Man ist erstaunt, wie viel die beiden Bauten gemeinsam haben. Vor allem der Campanile sieht wie eine Kopie aus. Allerdings liegt Sant’Appolinare in Classe viel schöner, während Sant’Appolinare Nuovo zwischen Häuser eingezwängt ist.

Der Name Sant’Appolinare Nuovo ist irreführend. Der Bau ist nur „neu“ im Verhältnis zu einem älteren, nicht mehr existierenden Bau, ist aber älter als Sant’Appolinare in Classe.

Wenn man die Kirche betritt, ist man erst enttäuscht. Wegen der vielen barocken Umbauten hat sie nicht die Einheitlichkeit von Sant’Appolinare in Classe. Sie sieht etwas verbaut aus. Ist aber hochinteressant.

Im 16. Jahrhundert wurde hier eine erstaunliche Ingenieursleistung vollbracht: Die Säulen wurden angehoben. Man kann sich kaum vorstellen, wie die das geschafft haben. Zuerst musste der Obergaden gestützt und dann wieder auf die Säulen aufgesetzt werden, nachdem ein Teil des Mauerstreifens entfernt worden war! Unglaublich! Ob das aus ästhetischen Gründen geschah oder wegen des Absinken des Terrains – ein verbreitetes Problem in Ravenna – kann ich nicht herausbekommen.

Statt in der Apsis sind die Mosaiken hier im Obergaden, in drei Streifen auf beiden Seiten. In dem unteren und größten Streifen jeweils eine Prozession, auf der einen Seite eine Prozession von Jungfrauen, auf der anderen eine Prozession von Märtyrern. Die Jungfrauen kommen aus dem Palast in Classe, die Märtyrer aus dem Stadtpalast. In Classe sieht man die Stadtmauer und den Hafen, mit drei wunderbar „übereinander“ geschichteten Schiffen. Die Märtyrer gehen auf Christus zu, die Jungfrauen auf Maria. Die Märtyrer werden von Sankt Martin angeführt, der, im Unterschied zu allen anderen, rot gewandet ist. Die Jungfrauen werden angeführt von den Heiligen Drei Königen in fliehenden roten Gewändern und orientalischen roten Mützen. Sie trugen ursprünglich Kronen. Die wurden ihnen bei einer Renovierung abgenommen und durch die Mützen ersetzt. Der Künstler argumentierte, sie seien schließlich keine Könige gewesen. Richtig. Aber solche Mützen haben sie wohl auch nicht getragen.

Mit der Renovierung sind wir am zentralen Punkt angekommen. Die Kirche war ursprünglich die Kirche des Theoderich, des Königs der Ostgoten, und die waren Arianer. Der Unterschied zu den Katholiken lief im Grunde auf die Frage hinaus, ob Jesus göttlicher Natur oder nur gottähnlich sei. Die beiden Wörter, die das Wesen bezeichneten (homoousios, ‚wesensgleich‘ und homoiousios , ‚wesensähnlich‘), unterschieden sich nur durch ein Jota, und keine der beiden Seiten gab auch nur ein Jota nach. Als das Ostgotenreich nach dem Tode Theoderichs zusammenbrach, wurde damit auch der Arianismus zurückgedrängt, und in diesem Zusammenhang wurden die Mosaiken in Sant’Appolinare Nuovo „überarbeitet“. Dabei wurden unter anderem die Figuren des Ostgotenkönigs und seiner Gefolgschaft entfernt. Der Stadtpalast ist mit Tüchern verhangen, so dass man keine Personen mehr sehen kann. Irgendwie ist man dabei aber nachlässig vorgegangen: An den Pfeilern des Stadtpalasts in den Mosaiken sind noch Arme zu sehen!

Der Erneuerung der Mosaiken ist auch die Figur des St. Martin zu verdanken, der als konsequenter Gegner aller „Abtrünniger“ galt. Seine Figur gab es vorher hier gar nicht. Das erklärt auch, warum er durch sein rotes Gewand hervorgehoben ist. Und warum die Kirche nach der Niederlage der Arianer ihm gewidmet wurde! Eine höchst politische Entscheidung!

Auch kunsthistorisch ist die Renovierung von Bedeutung, aber ich kann die Mosaike teils schlecht erkennen, teils nicht so einordnen, wie es die gängige Meinung ist: Es heißt, die späten Mosaike ließen den byzantinischen Stil erkennen, einen verhaltenen, würdigeren Stil, während die älteren Mosaike eine lebendigere, lebensnähere Gestaltung erkennen ließen. Das gilt vor allem für den Kontrast zwischen den beiden anderen Mosaikstreifen, den Szenen aus dem Leben und der Passion Jesu (bei denen die Kreuzigung nicht vertreten ist!) oben und den geradeaus blickenden, wohl nicht identifizierbaren Figuren in der Mitte. Das müsste man sich noch mal zuhause im Detail ansehen.

Es ist schon relativ spät, als wir aus der Kirche kommen und uns auf die Suche nach einem Lokal für eine Pause machen. Die Israeli hat einen Tipp: Ca‘ de Vin. Hört sich venezianisch oder mallorquinisch an. Die Suche lohnt sich. Es ist ein wunderbarer, etwas an einen alten Weinkeller erinnernder Raum mit gefüllten Weinregalen an der Wand.

Es gibt nur piadine. Sie schmecken zwar besser als die in Bologna, aber sind auch nicht so, dass man zum Anhänger wird.

Erst als wir essen, macht uns die Israeli, die eine piadina mit Schinken und Käse bestellt hat, darauf aufmerksam, dass sie gleich zwei Gebote der jüdischen Esskultur gleichzeitig missachtet: Sie ist Schweinefleisch und sie vermischt Fleisch und Milch. Als Laizistin hält sie sich nicht an die religiösen Gebote. Ich frage nach, wie es ist, wenn man orthodoxe Juden zu Besuch habe. Das, erklärt sie mir, komme einfach nicht vor. Man habe als Laizistin laizistische Freunde. Sie habe kein Interesse an orthodoxen Juden, und die nicht an ihr. Wenn man sich das gut überlegt, ist das ganz einleuchtend. Wir haben auch kaum islamische Freunde.

Sie ereifert sich dann ordentlich und beklagt sich über die vielen Privilegien, die die orthodoxen Juden genießen: „Wir zahlen für sie mit“. Sie hat auch keine große Hoffnung, dass die Entscheidung des Obersten Gerichts, auch die orthodoxen Juden zum Militärdienst heranzuziehen, tatsächlich umgesetzt werde.

Wir haben reichlich Zeit für Gespräche, denn sie selbst, die spindeldürr ist, braucht für so eine piadina, die ich in zehn Minuten verdrücke, ihre Zeit. Danach ist sie satt, und lehnt sogar am Ende der Besichtigung, als wir auf den Zug warten, einen Kaffee dankend ab. Der passe jetzt nicht mehr rein.

Nach dem Mittagessen gehen wir zu Dantes Grab. Der Zugang dazu ist durch San Francesco, aber das Grab befindet sich nicht in der Kirche, obwohl sich da vor einer Grotte eine lange Schlange befindet.

Um zum Grab zu kommen, verlässt man die Kirche wieder durch den Haupteingang. In einem parkähnlichen Innenhof steht, an die Kirche angebaut, eine kleine, klassizistische Kapelle. Das ist das Denkmal. Es erscheint mir unpassend und nichtssagend. Man spürt förmlich, dass das Denkmal leer ist. Tatsächlich galten Dantes Gebeine zur Zeit der Errichtung des Denkmals als verschollen.

Man kann nur einen kurzen Blick hineinwerfen, da immer nur zwei oder drei gleichzeitig in die Kapelle können. An der Stirnseite ist ein Relief, das Dante in der typischsten aller Positionen darstellt, mit einer Hand an der Backe, so wie man in Karikaturen Hausfrauen darstellte, die sagen: „Mensch, ich hab den Ofen nicht ausgestellt“.

Dantes Gebeine kamen dann, als sie doch wieder auftauchten, doch noch nach Ravenna. Sie liegen in einem kleinen, weißen Sarkophag im Garten neben dem Denkmal, durch ein schönes Gitter abgetrennt. Die Inschrift kann ich aus der Entfernung nicht lesen. Dante war aus Florenz verbannt, aber wie genau er nach Ravenna kam und warum, weiß ich nicht. Jedes Jahr kommt am Todestag Dantes eine Abordnung aus Florenz nach Ravenna und bittet um die Rückgabe der Gebeine. Die Bitte wird jedes Mal abgelehnt. Wahrscheinlich in Dantes Sinne.

Dann kommt San Vitale, das berühmteste Bauwerk Ravennas. Der Raum ist achteckig, zweistöckig. Die etwas vorgeschobene Apsis im Osten, mit Arkaden in beiden Geschossen und durch und durch mit Mosaikschmuck versehen, lenkt alle Aufmerksamkeit auf sich.

Christus erscheint zweimal, einmal jugendlich und bartlos, einmal bärtig mit Mittelscheitel, der Tradition der Ikonen folgend. Der jugendliche Christus sitzt auf einer türkisfarbenen Erdkugel und reicht San Vitale die Krone. An seiner anderen Seite ein Bischof, der ein Modell der Kirche trägt. All das in einer Landschaft, die der von Sant’Appolinare in Classe ähnelt.

Bekannter noch sind die Mosaike zu beiden Seiten des Altars. Sie zeigen Justinian und Theodora, beide mit ihrem Hofstaat. Beide halten eine Opferschale in der Hand, und auf Theodoras Gewand sieht man die Heiligen Drei Könige, die ebenfalls ihre Opfergaben präsentieren. Justinian hat ein ausgesprochen schönes Gesicht, mit großen, braunen Augen und einem ernsten, durchdringenden Blick. Er erinnert mich an den Christus in Sant’Appolinare Nuovo. Tatsächlich trägt Justinian, genauso wie Theodora, einen Nimbus. Für Theodora, von der es heißt, sie sei ein einfaches Küchenmädchen gewesen (was manche als sanfte Umschreibung für Prostituierte verstehen), bedeutet das eine doppelte Aufwertung. Theodoras Hofdamen haben alle individuell gestaltete, bis auf den Boden fallende Gewänder. Zu ihrer Linken schlägt jemand den Vorhang des Palasts zurück, und man hat trotz der Starre das Gefühl, dass Theodora sich gleich umdreht und wieder den Palast betritt.

Wie San Vitale, der ja eigentlich aus Bologna stammt, nach Ravenna und dort zu so hohen Ehren kam, weiß man nicht.

Zum Schluss geht es noch in das Mausoleum der Gallia Placidia, nur ein paar Meter entfernt, auf dem Grundstück von San Vitale. Es ist ein wunderbares, kleines  Gebäude, ein gut erhaltener, schlichter Zentralbau, das intimste und in gewisser Weise „schönste“ der vier Gebäude, die wir gesehen haben. Auch hier, wie in den anderen Kirchen, wunderbare Alabasterfenster, die in der Sonne gelb-braun scheinen. Wunderbar. Der Raum ist viel dunkler als San Vitale, das großformatige, helle Fenster hat, aber das Fehlen von Tageslicht macht die Besonderheit des Raums aus. Das Mausoleum ist der älteste der erhaltenen Bauten Ravennas.

Der heutige Eindruck ist allerdings etwas verfälschend, denn der Bau liegt fast zwei Meter unter dem alten Bodenniveau. Der feuchte Boden gab nach. Das kann man auch bei den anderen Gebäuden sehen, und bei San Vitale gibt es ein paar nachträglich angebaute, grobe Stützpfeiler, um den Bau abzusichern.

Auch hier gibt es wieder Mosaike. In der Eingangstür ein irgendwie modern wirkender, jugendlicher Christus, der sich in Schräglage auf seinen Stab stützt und mit einer Hand das Maul eines Schafes streichelt. Ganz wunderbar zwei Tauben, die auf einer Wasserschale sitzen, eine trinkend mit gebeugtem Kopf, die andere nach hinten blickend. Am schönsten finde ich aber die Darstellung des Hl. Laurentius mit dem Rost, auf dem er gebraten wurde, und einen Bücherschrank an seiner Seite. Er ist geöffnet und enthält die vier Evangelien. Es sieht so aus, als habe man sich um Herstellung der Perspektive bemüht, es aber nicht geschafft. Die Krönung der Mosaiken ist der blaue, über und über mit Sternen besäte Himmel in der Kuppel.

Galla Placidia war eine bemerkenswerte Frau: Kaisertochter, Kaiserschwester, Kaisermutter. Völkerwanderung und das Ende des Weströmischen Reiches bildeten den Hintergrund zu ihrem Leben. Sie war die Tochter des weströmischen Kaisers Theodosius. Sie war außerdem eine Zeitlang Regentin für ihren Sohn, und sie war zweimal verheiratet, einmal mit einem Heerführer der Gegner, nachdem die Westgoten in Italien eingedrungen waren und sie als Geisel genommen hatten. Sie ließ das Mausoleum schon zu Lebzeiten errichten, wurde aber vermutlich nicht hier, sondern in Rom begraben.

Als wir in Bologna ankommen, ist es fast dunkel. Es ist aber immer noch 21° warm, am Abend um acht. Vielleicht ist es in Bologna heute schöner gewesen. In Ravenna ist nur ab und zu die Sonne durchgekommen.

Die beiden Frauen zeigen mir noch die Gedenkstelle für das Attentat von 1980. Es besteht einerseits ganz einfach aus einer der beiden Bahnhofsuhren. Eine der Uhren, die an den beiden Flanken des Gebäudes außen angebracht sind, ist damals stehen geblieben und steht immer noch: fünf vor halb elf. Die andere geht weiter.

Die eigentliche Gedenkstelle befindet sich in einer Wartehalle. An der Wand zum Bahnsteig ist eine Delle im Boden. Darüber ist eine einfache Tafel mit den Namen und dem Alter der Opfer angebracht, wohl über fünfzig insgesamt. Daneben ist eine breite Lücke in der Wand, die Lücke, die die Bombe gerissen hat. Ein einfaches, würdiges Denkmal. Über den Namen steht, dass es sich um Opfer eines „faschistischen“ Attentats handele. Das ist natürlich eine Stellungnahme. Die Attentäter sahen sich sicher nicht so, sondern glaubten selbst, gegen ein „faschistisches“ System zu agieren.

Der Gang durch die Innenstadt ist ein wahres Erlebnis. Die Straßen sind proppenvoll, an allen Ecken Musik und Artisten, die Cafés voll besetzt, lauwarme Luft, weiches Licht an den Fassaden der historischen Gebäude.

Ich bleibe in einem Lokal ganz in der Nähe des Hotels hängen: Brace. An den Wänden große Schwarz-Weiß-Photos von Bob Dylan, Mick Jagger, James Dean, Brigitte Bardot und anderen Größen der Vergangenheit. Unter der Decke ein ganzes Ensemble von Fußballtrikots, alle von anderen italienischen Vereinen, alle natürlich mit Namen: Totti, Nedved, Del Piero, Nesta usw.

Am Nachbartisch ein Mann, der ein geradezu indezent großes Stück Fleisch verdrückt, während sich seine Freundin mit Pasta mit Muscheln begnügt. Als er aufsteht, sieht man, dass er kräftige Nahrung braucht. Er ist zwei Meter groß.

Kaum habe ich ein Wort gesagt, fragt der Kellner: Deutsch?. Von da an wird kein Wort Italienisch mehr gesprochen. Seine Freundin ist Deutsche, seine Chefin Österreicherin. Das Essen ist gut, und man wird zuvorkommend behandelt.

Ich komme auch endlich, nach der ganz atypischen Pizza, zu meiner ersten Pasta in Bologna: Tagliatelle al ragù, die hier, als Konzession an die Touristen, Tagliatelle Bolognese heißen.

Die Rechnung zahlt man, wie das jetzt häufig der Fall ist, nicht am Tisch, sondern an der Theke, auch in guten Restaurants. Auch am Mittag in der Ca‘ de Vin war das schon so.

16. September (Sonntag)

Noch einmal strahlender Sonnenschein. Der Schatten der Grisenda teilt die Fassade des gegenüberliegenden Palazzo in drei Teile.

Laute Rockmusik am Rande der Straße. Gar nicht sonntäglich. Dann komme ich an Straßen, die mit Banderolen abgesperrt sind, und auf denen steht: Mezza Maratona. Heute ist der Stadtlauf von Bologna. Was für eine verpasste Gelegenheit!

In der Via Goito suche ich nach dem Palazzo Bocchi. An dessen Fassade sollen „merkwürdige“ Inschriften in Hebräisch stehen. Ich laufe die ganze Straße ab – vergebens. Beim zweiten Durchgang merke ich dann, dass sich das Gebäude hinter einem Gerüst versteckt. Es wird renoviert. Von der Fassade ist nichts zu sehen.

Ich wollte aber sowieso in diese Ecke, wegen des Mittelaltermuseums. Vorher bestelle ich noch schnell ein Frühstück in einem Café nebenan. Das gibt mir einen guten Eindruck davon, was man in Italien unter Frühstück versteht: ein kleiner Cappuccino, ein winziges Teilchen, nicht viel größer als ein Keks, und ein kleines Glas Wasser.

Das Mittelaltermuseum entstand aus der Zusammenlegung verschiedener Sammlungen. Das erklärt die sehr bunte Mischung. Es erklärt vielleicht auch, dass man Mittelalter sehr großzügig interpretiert: Es geht bis mindestens ins 17. Jahrhundert.

Als Auftakt gibt es Stücke aus einem Kuriositätenkabinett, darunter zwei Straußeneier, eins davon mit einer feinen Gartenszene, in der ein Galan und seine Geliebte sich, unter Einhaltung des gebührenden Abstands, die Hand reichen. Straußeneier, heißt es, wurden häufig in Kapellen in erhöhter Position ausgestellt und sollten an das Licht Gottes erinnern. Da staunt man Klötze.

Aus der Neuen Welt sind Kokosnüsse und Trinkschalen aus Kokosnuss vertreten sowie drei blasebalgartige, lederne Gerätschaften, von denen man annimmt, dass sie zum Inhalieren von Tabak dienten.

Aus Deutschland gibt es schön verzierte, breite Kämme aus Holz, die bei aller Kunstfertigkeit die praktische Seite nicht vergessen: unten breite, oben enge Zähne. Sie tragen eine Inschrift, die auf Deutsch sein soll, aber wie Hebräisch aussieht.

Aus China sind Pantoffeln aller Art vertreten. Auch Öllampen gab es in Form von Pantoffeln.

Das ist aber gar nichts gegen ein Paar sogenannter zoccoli aus Venedig, Frauenschuhe aus Korkeiche, den heutigen hochhakigen Holzsandalen nicht unähnlich, aber mit einem wichtigen Unterschied: Sie sind viel höher. Man fragt sich, wie man auf so hohen Absätzen überhaupt laufen kann, und bekommt prompt die Antwort: auf zwei Diener gestützt.

Vermutlich unbekannter Herkunft sind zwei Würfel, die man erst gar nicht als solche erkennt. Sie sind zwar sechseckig, aber länglich, und können nicht gewürfelt, sondern müssen gerollt werden. In jeder der sechs Seiten ist die entsprechende Zahl von Löchern gedrillt.

In die Hauptsäle des Museums gelangt man durch den Innenhof. Jetzt rückt auch Bologna ins Zentrum des Interesses, vor allem mit den vielen, vielen Grabplatten, meist aus Marmor, für die Universitätslehrer, meist Rechtswissenschaftler. Die Szene ist immer die gleiche: Lehrende auf dem Katheder im Zentrum, Studierende rechts und links davon, sitzend oder stehend. Auf den ersten Blick sehen die alle gleich aus, aber im Detail unterscheiden sie sich doch. Die Kleidung ist lang, mit langen Knopfreihen am Hals und am Arm. Die meisten haben haubenartige Kopfbedeckungen, aber vereinzelt gibt es auch welche ohne Kopfbedeckung. Die meisten sind bartlos, aber dann entdecke ich doch einen mit einem sauber geschnittenen Schnauzbart und einen mit einem Kinnbart. Einige sind mit Büchern ausgestattet, was damals ein Luxus gewesen sein muss, und blättern in den Büchern herum oder lesen in den Büchern. Andere halten einfach einen Finger in die Seite. Schreiben sieht man niemand. Auf fast jeder Darstellung ist jemand, der nicht zuhört, zur Seite sieht, den Kopf gelangweilt auf die Hand stützt, und einer scheint zu schlafen. Einige sehen wie Frauen aus, aber das wird täuschen. Diese Marmorplatten sind meist aus dem Mittelalter, tauchen aber auch später noch auf, mit einer veränderten Darstellung: mehr Perspektive, weniger Figuren. Die sitzen und stehen bei den mittelalterlichen Darstellungen immer dicht gedrängt nebeneinander.

Auf einer kleineren, späteren Grabplatte sieht man den Lehrer nicht mehr bei der Arbeit, sondern als Toter. Er liegt auf der Seite, den Kopf auf ein Kissen gestützt, das wiederum auf zwei Büchern aufliegt. Auch unten, an den Füßen, liegen Bücher, alle mit einem dicken Metallverschluss zusammengehalten. Zu Füßen des Lehrers sitzt ein untröstlicher Student mit gesenktem Kopf. Wie schön!

Bei der religiösen Kunst fällt vor allem ein Reliquiar auf, das wie eine Damenhandtasche aussieht. Es hat auch eine Kette zum Umhängen und eine Schnalle zum Öffnen. So schmückte sich die Dame von Welt, wenn sie ausging oder auf Reisen ging, vermutet man. Das Reliquiar, aus ziselierter Bronze, vergoldet, mit Korallen besetzt, stammt aus der karolingischen Zeit. Dieser Typ war damals weit verbreitet.

In der Halle der Skulpturen sieht man einen Abguss in klein des Neptun von Giambologna. Daneben eine andere Figur von ihm, ein Merkur, das Ergebnis eines Auftrags, den er noch während seiner Arbeit am Neptun aus Florenz erhielt. Man vermutet, dass Giambologna an dieser Figur Dinge ausprobierte, die er dann beim Neptun zur Vollendung brachte. Tatsächlich sieht man auch beim Merkur eine ganz ähnliche, aufwärts zeigende Bewegung und eine ähnliche Handhaltung und Beinstellung.

Daneben ein Abguss des Kopfs der Statue Gregors XIII. Hier hat man ihn gleich vor sich und kann die Details sehen, die man an der Piazza Maggiore wegen der Höhe des Balkons nicht sehen kann: die Adlernase, die zerfurchte Stirn, die zusammengekniffenen Lippen, den entschlossenen, aber nicht aggressiven Blick, den Schmuck auf der Tiara und auf dem Gewand.

Es gibt noch eine weitere Papstfigur, eine, die merkwürdig modern wirkt, fast abstrakt, mit ganz glatten Formen. Sie ist aus Bronze und mehr als menschengroß. Sie stellt Bonifatius VIII. dar, einen Papst, der Philipp den Schönen von Frankreich zum Erzfeind hatte. Leider kann ich nicht herausfinden, was es mit der Statue auf sich hat. Es heißt, sie sei vielleicht die erste Statue Bolognas überhaupt gewesen. Aber warum sie aus der Öffentlichkeit verschwand, von wann und von wem sie ist, bleibt mir unklar.

Ich lese aber am Abend zufällig, dass noch eine weitere Papststatue in Bologna verschwand, aber für immer, vermutlich in einem Augenblick des Wiedergewinns der städtischen Selbständigkeit, als man den Papst ganz wörtlich loswerden wollte und die Statue zerstörte, indem man sie von San Petronio hinunterkugelte. Bei der  Statue, die Julius II. darstellte und so verschwand, handelte es sich um ein Werk Michelangelos. Seine einzige Bronzestatue.

In dem Innenhof sind Stelen aus dem jüdischen Friedhof von Bologna ausgestellt. Sie wurden, nach einer päpstlichen Bulle, die alle Juden aus dem Kirchenstaat verbannte, mit Ausnahme von Rom und Ancona, den Mönchen übergeben, die damit machen konnten, was sie wollten. Die Mönche entschieden, die Stelen zu recyceln und christlichen Zwecken zuzuführen. Es ist wohl so gewesen, dass die jüdischen Inschriften überschreiben und die Stelen auf christliche Gräber gestellt wurden. So legt es zumindest eine Zeichnung nahe. Die ursprünglichen Inschriften sind jetzt aber wieder sichtbar gemacht worden. Sie haben allerdings einen Rahmen, der zwar keine eindeutigen Symbole wie das Kreuz aufweist, aber doch engelartige Figuren zeigt und vermutlich christlich ist.

Nach dem Museum gehe ich nach San Petronio. Es ist genau zwölf. Jetzt müsste man den Sonnenstrahl auf dem Meridian sehen. Aber da ist nichts. Ich habe die Rechnung ohne die Sommerzeit gemacht.

Also warte ich eine Stunde und sehe die letzten Läufer des Halbmarathons ins Ziel kommen, gleich vor der Kirche, auf der Piazza Maggiore. Es ist schon ziemlich warm zum Laufen. Die Strecke sieht vielversprechend aus. Es geht die südliche Hälfte der alten Stadtmauer entlang und vorher und nachher auf zwei unterschiedlichen Strecken durch die Innenstadt.

Dann geht es wieder nach San Petronio. Ich sehe lauter Leute, die etwas verloren herumstehen und alle offensichtlich den Sonnenstrahl suchen. Die Öffnung oben im Gewölbe haben wir inzwischen entdeckt, aber die Sonnenflecken, die sich auf dem Boden abzeichnen, kommen alle aus Fenstern. Dann hören wir zufällig, wie eine Stadtführerin auf ein paar zusammengeklappte Stühle zeigt. Da ist er. Immer noch ein gutes Stück vom Meridian entfernt, aber doch eindeutig auf dem Weg zu ihm und zu dem richtigen Weg im September. Offensichtlich liegt der Berechnung eine andere Zeit zugrunde, noch eine Stunde später. Zu dieser Zeit ist die Kirche allerdings geschlossen.

Nachher setze ich mich in eine Pizzeria, in der man eigentlich nur Pizza essen kann, was ich natürlich nicht tue und was ich herzhaft bereue. Es ist das schlechteste Essen, das ich bisher bekommen habe. Ich hätte spätestens dann skeptisch werden müssen, als ich auf der Speisekarte die Pizza mit Nutella und Grand Marnier als Spezialität des Hauses entdeckte.

Auf der Toilette begegne ich wieder einer italienischen Spezialität: dem Pedal unter dem Waschbecken, mit dem man das Wasser betätigt. Die zweite Spezialität ist der Händetrockner, der garantiert jede Hand feuchter macht als es Wasser je könnte. Auch allgegenwärtig.

Am Nachmittag entdecke ich bei einem Spaziergang eine Maske, der eine legendäre Bedeutung zukommt. Sie hängt über einem Tor beim Palazzo Malvasia. Es ist eher eine Fratze als eine Maske, mit Hörnern, einem struwweligen Bart und weit geöffnetem Mund. Auf den Mund kommt es an. Denn daraus floss, der Legende nach, nach jeder Neuwahl eines gonfaloniere, des Bürgermeisters sozusagen, Wein für das Volk, damit es den Neugewählten feiere. Den gonfaloniere, der nicht viel zu sagen hatte, stellte im Turnus eine der vierzig adeligen Familien. Wer wirklich die Macht hatte, war der päpstliche Legat. Einen neuen gonfaloniere gab es alle zwei Monate. Ebenso häufig floss also der Gratis-Wein.

Etwas ziellos gehe ich durch eben dieses Tor und komme ins Jüdische Viertel. Auf einer Tafel heißt es, einer päpstlichen Bulle zufolge habe jedes Jüdische Viertel nur eine Synagoge haben dürfen, und die durfte durch keinerlei Symbole gekennzeichnet sein. Unwillkürlich fällt mein Blick auf den Straßennamen darüber: Via dell’Inferno. Das war wohl ein christlicher Seitenhieb.

Irgendwo sehe ich ein Speiselokal, das nicht wie ein Speiselokal aussieht. Die Gerichte sind auf lauter Pappschachtel verzeichnet, die an der Fassade hängen und an allerlei Kleinkunstgegenständen haften, die vor dem Lokal stehen. Es wird typische Küche aus Bologna angeboten. Sollte ich in den nächsten Tagen probieren.

Ich komme dann wieder auf eine größere Straße. In mehreren Kneipen, die bis an den Rand gefüllt sind, läuft die Übertragung eines Fußballspiels. Man hört laute Anfeuerungsrufe. Und dann, gerade als ich vor einer der Kneipen stehe, einen Torschrei. Natürlich vermutet man, dass der FC Bologna gerade getroffen hat, aber weit gefehlt: Es ist Juventus gegen Genua, und Juve hat gerade zum 3:1 getroffen. Dabei spielt gleichzeitig Bologna in Rom und gewinnt. Aber das scheint keinen zu interessieren. Am nächsten Tag in der Zeitung wird der Erfolg dann aber doch angemessen gewürdigt.

An einer Kneipe finde ich ein Stellenangebot, auf Deutsch: Man sucht einen Deutschen zur Eröffnung einer deutschen Brauerei.

Auf dem Rückweg probiere ich mal wieder ein neues Café. Hier gibt es kuriose Kaffeevariationen. Ich probiere einen caffè montato und bekomme von dem freundlichen Wirt gleich noch einen caffè del nonno zu probieren. Der caffè montato ist ein schwer definierbarer Kaffee mit aufgeschäumter Sahne, der in einem großen Glas serviert wird. Der caffè del nonno schmeckt ungleich besser. Es ist ein sehr süßer, sehr dickflüssiger Kaffee mit Mokkageschmack.

17. September (Montag)

Beim Laufen heute fast alleine unterwegs gewesen. Die anderen haben sich vom Halbmarathon ausgeruht.

Heute kommen viele neue Schüler an, darunter eine dick eingepackte Mexikanerin. Ich habe dagegen wieder meine kurze Hose ausgepackt.

Die Lehrerin erzählt, dass es in Bologna fast jedes Jahr schneit, in Florenz dagegen, das gerade einmal hundert Kilometer weiter südlich liegt, so gut wie nie.

In der Pause erfahren wir von anderen Zubereitungsarten des Kaffees: caffè senegalese, caffè marocchino, caffè corretto. Eine gute Alternative für Zeiten, in denen der Cappuccino nicht erlaubt ist, ist der caffé machiato. Am Nachmittag probiere ich das gleich aus. Die Lehrerin selbst trinkt allerdings auch am Nachmittag, um vier oder fünf, Cappuccino. Das sei durchaus akzeptabel, sagt sie.

Zu dem Standardprogramm einer Reise nach Bologna gehört der Besuch des Santuario della Madonna di San Luca auf dem Monte della Guardia, einem Hügel außerhalb der Stadt. Dabei geht es weniger um den Besuch des Heiligtums als um den Weg dorthin. Der längste Arkadengang überhaupt führt unter 666 Bögen nach oben.

Ich schlage den Rat meiner Kolleginnen aus dem Wind, den Bus zu nehmen, und mache alles zu Fuß. Schließlich machen das die Pilger bei der alljährlichen Prozession ja auch. Einige machen es sogar, wie ich später sehe, barfuß, andere laufen statt zu gehen. Und Guido Reni soll den Weg jeden Tag gegangen sein. Am Ende muss ich aber einsehen, dass es doch ein gutes Stück Arbeit ist.

Es geht los an der Porta Saragozza. Da muss man aber erst mal hinkommen, und die liegt ziemlich genau am anderen Ende der Innenstadt. Unterwegs sehe ich ein Café mit den Namen Officina di Caffè und eine Werbung für Età Glaciare 4, ein grässlicher Film, der mich schon seit der ersten Folge, die ich mal in Dublin gesehen habe, verfolgt.

Die Porta Saragozza, ein sehr ansehnliches Tor in einem Stil, der etwas Arabisches hat, enthält ein Museum des Wallfahrtsortes. Aber das ist geschlossen, und mich interessiert ohnehin der Weg mehr. Die Bögen sind nummeriert, aber leider nicht alle, und es fehlen ausgerechnet die letzten Nummern, aber hier prangt die Nummer 1.

Der erste Teil des Weges ist flach, dann kreuzt der Weg die Straße und es geht bergauf. Treppen wechseln sich mit Rampen ab, so dass es nicht zu beschwerlich ist, und der Höhenunterschied ist nicht allzu groß, etwa zweihundert Meter.

Es ist jetzt, um die Mittagszeit, sehr ruhig, und es sind wenige unterwegs. Zwei Italienerinnen nehmen immer zwei Stufen auf einmal und sind bald an mir vorbei.

Man hat zu einer Seite die Wand und zu der anderen den Durchblick durch die Arkaden. Die Sicht ist allerdings nicht spektakulär. Man sieht nicht in die Ferne. In der Wand sind regelmäßig Nischen eingelassen mit Madonnenbildern oder Passionsbildern. Hin und wieder kommt man sogar an einer Wohnungstür vorbei. Hier leben wirklich ganz normale Menschen.

Oben angekommen, steht man auf einer Art Balkon mit Flügeln zu beiden Seiten. Aber die Aussicht ist von den meisten Stellen aus versperrt, mit zwei Ausnahmen. An einer sieht man in die Hügellandschaft der Apenninen, an der anderen sieht man auf die Stadt und den Ring von Hochhäusern, der die Altstadt umgibt.

Den schönsten Blick hat man, rückwärtsgewandt, auf die Basilika selbst, mit ihren geschwungenen Bögen, ihrer geschwungenen Fassade und ihrer kreisrunden, geraden Kuppel. Der Außenbau, aus rotem Stein, ist relativ schlicht.

Neben dem Eingang stehen in Nischen zwei gewaltige, beeindruckende Skulpturen, Markus und Lukas, Lukas als Maler, mit Palette. Der Bezug zu der Basilika besteht darin, dass man das Madonnenbild dem Evangelisten selbst zuschrieb. Es soll von einem Pilger von Byzanz nach Italien gebracht worden sein. Er hatte den Auftrag, das Bild auf den Monte della Guardia zu bringen, konnte den aber nicht finden, bis ein Mönch in Rom ihm bei einer zufälligen Begegnung verriet, das sei in der Nähe seiner Heimatstadt Bologna. Dort habe eine Frau, die sich dem religiösen Leben verschreiben wollte, ein Monasterium errichten lassen. Der Mönch brachte das Bild dorthin, und damit begann die Tradition Die erlebte dann (XV) den entscheidenden Schub, als wegen des Unwetters die erste Wallfahrt stattfand. Später (XVII) wurde dann zum Bewältigung der Pilgerströme (und nebenher zu deren Schutz vor Sonne und Regen) der Arkadengang gebaut. Noch später (XVIII) entstand die Basilika.

Der Innenraum ist der totale Kontrast dazu. Hier herrscht barocke Fülle. Überall riesige Tafelgemälde, Skulpturen, Säulen, alles sehr bewegt. In den Querarmen des griechischen Kreuzes befinden sich sogar Balkone mit Vorhängen. Man glaubt, in einem Theater zu sein.

Das Madonnenbild selbst hängt über dem Altar, aber in traue mich wegen meiner legeren Kleidung nicht ganz nahe heran. In den Bänken sitzen betende und meditierende Besucher.

Ich setze mich auf eine Bank vor der Basilika und genieße die Sonne. So einen warmen Tag werde ich dieses Jahr vielleicht nicht mehr erleben. In den nächsten Tagen soll das Wetter in Bologna schlechter werden. Als ich wieder im Hotel ankomme, sind insgesamt gut drei Stunden vergangen, seitdem ich aufgebrochen bin.

Auf dem Rückweg sieht man von dem Arkadengang aus in das Stadion des FC Bologna hinein. Der FC Bologna gehört zu den guten, aber nicht zu den besten italienischen Vereinen. Internationale Erfolge gab es wenige, und die meisten italienischen Titel liegen schon eine Weile zurück. Der Verein ist aber fast ohne Unterbrechung in der Serie A gewesen. Die dramatischste Auseinandersetzung gab es in einer Art Halbfinale vor dem ersten Titelgewinn 1925. Man spielte zu Hause gegen Genua und verlor 1:2. Dann gewann man das Rückspiel in Genua 2:1. Es kam zu einem Entscheidungsspiel in Mailand. Das endete 2:2 nach Verlängerung. Es kam zu einem weiteren Entscheidungsspiel in Turin. Das endete 1:1 nach Verlängerung. Daraufhin – es waren inzwischen zehn Wochen seit dem ersten Spiel vergangen – setzte der Verband ein weiteres Entscheidungsspiel an, wieder in Mailand, aber es wurde vor leeren Rängen und um sieben Uhr morgens gespielt. Das half. Bologna gewann 2:0.

Am frühen Abend bietet die Schule einen Stadtrundgang zur Einführung an. Trotz der Warnung der Lehrerin, dabei gebe es für mich nichts mehr zu entdecken, nehme ich teil. Und entdecke dabei eine ganze Menge. Allein die Gelegenheit, die Flüstergalerie im Palazzo del Podestà selbst auszuprobieren, macht die Teilnahme lohnenswert. Es ist wirklich verblüffend. Man steht an gegenüberliegenden Seiten der Vierung unter dem Palast, mit dem Rücken zum Publikum, und  spricht in normaler Lautstärke in eine Rille, die in die Wand eingelassen ist. Man kann, trotz der vorbeigehenden Leute und des Verkehrs von der Straße am Ende des Platzes, jedes Wort des Partners am anderen Ende verstehen.

Im Zusammenhang mit dem nackten Neptun fällt mir auf, dass nudo (italienisch) dasselbe heißt wie desnudo (spanisch), obwohl das eine das Gegenteil des anderen zu bedeuten scheint.

Wir sehen auch eine Inschrift an der Garisenda mit einem Zitat aus Dantes Inferno, in dem der Turm erwähnt wird. Dante sagt, dass der Turm sich zu der anderen Seite zu neigen scheint, wenn schnelle Wolken vorbeiziehen: Qual pare a riguardar la Carisenda/sotto ‘l chinato, quando un nuvol vada/sovr’essa sì chè ella incontro penda.

Wir können auch einen Saal im Palazzo della Mercanzia sehen, der mit sehr schönen Fresken ausgemalt ist, die die unterschiedlichen Gilden darstellen. Das Gebäude wurde im Krieg von einer Bombe getroffen, die eine Hälfte erheblich in Mitleidenschaft zog. Diese eine, die linke Hälfte, ist wieder aufgebaut worden.

In der Krypta von Santo Stefano sehen wir eine Säule, die sich von allen anderen unterscheidet. Es heißt, sie habe lange als verbindliches Maß für Darstellungen von Jesus gegolten, da ihre Höhe seiner Größe entsprach.

Der Rundgang endet vor San Domenico. Wir entschließen uns, noch in die Osteria dell’Orsa zu gehen, die eine Deutsche bereits am Vortag gesucht und nicht gefunden hat. Wir laufen die ganze Via Marsala rauf und runter und merken dann, dass wir in der falschen Straße sind. Als wir dann in dem Lokal ankommen, bekommen wir gerade noch Platz im Keller. Oben und draußen sind alle Plätze besetzt. Die beiden Kellner leisten eine fantastische Arbeit.

An allen Tischen wird laut und viel gesprochen, aber der Lärmpegel ist nicht unangenehm, ganz im Gegenteil. Das Stimmengewirr trägt zu der besonderen Atmosphäre bei.

Wir versuchen, das Gespräch auf Italienisch zu führen. Es geht irgendwie, auch wenn wir immer wieder ins Stocken kommen. Es ist aber alles sehr angenehm. Am Schluss entschließe ich mich, die Rechnung zu begleichen, fürchte aber, mit dem Geld nicht auszukommen. Dann reicht es aber so gerade, und erst zuhause merke ich, dass es nur deshalb reichte, weil sie eine Flasche Wasser nicht berechnet haben.

18. September (Dienstag)

Am Morgen versuche ich, Geld abzuheben. Das ist gar nicht mal so einfach. Immer wieder kommen neue Fragen, bis man die Geheimzahl eingibt, und dann kommt die Anweisung, eine Taste zu drücken, die es nicht gibt und der Vorgang wird abgebrochen. Ich versuche es an einem anderen Automaten noch mal, diesmal mit Englisch als Sprache der Instruktionen. Vorher hatte ich es mit Deutsch versucht. Diesmal klappt es. Es erscheint die merkwürdige Anweisung, erst die Karte, dann die Quittung und das Geld innerhalb von dreißig Sekunden entgegenzunehmen. Ich lasse es nicht darauf ankommen, zu probieren, was geschieht, wenn man das nicht macht.

Im Unterricht kommen, allerdings eher zufällig, ein paar sehr nützliche Ausdrücke vor wie ci ho rimesso – ich habe es in den Sand gesetzt, mi butto – ich gebe es auf und c’e la abbiamo fatto – wir haben es geschafft. In der Pause rasselt eine andere Lehrerin eine ganze Reihe von Ausdrücken herunter, die sie ständig im Unterricht gebraucht, darunter Cavolo! – Verdammt!

Auf Nachfrage lerne ich, wie man Das sieht gut aus und Das hört sich gut an sagt: Sembra buono und Suona bene. Das wurde ich gestern in der Osteria dell’Orsa von einer russischen Schülerin gefragt und konnte es nicht beantworten.

Bologna hat auch einen Literaturnobelpreisträger, Carducci. Dem ist ein Museum gewidmet, nicht weit von den Giardini Margherita. Das will ich mir nach dem Unterricht ansehen. Es ist eine Zone, in der ich sonst noch nicht gelandet bin, und in der Mittagszeit wirkt sie wie ausgestorben. Das Museum schließt aber um eins. Bleibt als Alternative das Universitätsmuseum, im Palazzo Poggi, ein gutes Stück in die andere Richtung. Als ich es endlich ausfindig mache, stellt sich heraus, dass es auch um ein Uhr schließt. Ganz in der Nähe ist das Kunstmuseum, die Pinacoteca Nazionale. Sie ist bis zum Abend geöffnet.

Man möchte irgendwie, dass einem das alles besser gefällt, aber irgendwie gelingt es nicht. Überall gezückte Messer, entrückte Blicke, rauschende Bärte, wehende Kleider, Engel im Sturzflug. Alles ist ständig in Bewegung, alles ist Drama, alles ist Ekstase. Und zwar nicht erst im Barock, auch schon im Mittelalter. Gleich am Anfang hängt ein Sankt Georg, der mit entschlossenem Blick dem Drachen seine Lanze ins Maul stößt. Der Drache windet sich, das Pferd dreht sich nach hinten, der Ritter hat sich tief nach unten gebeugt.

Die Thematik ist, unabhängig von der Epoche, fast durchgehend religiös, so sehr, dass die Ausnahmen sofort ins Auge fallen. Das beste Beispiel des Gegenprogramms ist Renis Portraits seiner Mutter, großartig, aber wie ein Fremdkörper in dem Saal. Auch dadurch, dass es erträgliche Maße hat. Die anderen Gemälde nehmen oft die ganze Höhe der Wand ein und messen manchmal über vier Meter. Auch die Farbenpalette ist hier stark reduziert. Die Mutter erscheint in einem schwarzen Kleid mit weißer Haube und weißem, zurückgeschlagenen Schleier. Sie hat herbe, fast männliche Züge. Der Blick ist entschlossen, fast herausfordernd. Ein Auge ist leicht zugekniffen. Was sie wohl selbst zu dem Portrait gesagt hat?

Ansonsten noch bemerkenswert ein Gemälde, auf dem ein reicher Mann seine Familie zur Schau stellt, zwei neben ihm sitzende Frauen und zwei hinter diesen stehende Männer. Beide tragen Renaissancekleidung, ein schwarzes Wams mit weißem Rüschenkragen. Der eine zeigt eine Schriftrolle her, der andere stützt einen Arm auf ein fein gearbeitetes Schwert. Beides sind vermutlich Insignien ihrer beruflichen Laufbahn. Sie stehen aber wortwörtlich im Hintergrund. Im Vordergrund die beiden Frauen, beide mit schweren, bunten Brokatkleidern versehen, mit feinen Ringen, Ketten und Ohrringen, eine auch mit einem langen, auffälligen Pelz. Zwischen ihnen auf dem Tisch ein grässliches Schoßhündchen, mit einer mit Edelsteinen besetzten Halskette und langen Ohrgehängen! Das Bild stammt von einer Frau, Lavinia Fontana.

Ich sehe mich nachher noch ein bisschen im Universitätsviertel um und trinke zur Erholung einen caffè macchiato.

Irgendwann stehe ich vor dem Teatro Comunale. Es steht auf dem Grundstück des alten Palazzo Bentivolgio, dem Palast einer Adelsfamilie, von der in der Geschichte Bolognas immer wieder die Rede ist. Ganz verstehe ich deren  Bedeutung bis zum Schluss nicht, aber es sieht so aus, als hätten sie sich am Ende sowohl den Papst als auch das Volk zum Feind gemacht. Der Palast, ein Renaissancepalast wie er im Buche steht, wurde jedenfalls Ziel des Volkszorns und 1507 völlig zerstört. Wie das geht, kann man sich kaum vorstellen. Der Palast war 140 Meter lang und hatte drei Stockwerke. Da reicht es nicht, wenn man ein bisschen wütend auf den „Tyrannen“ ist, um den Palast dem Erdboden gleichzumachen.

Besichtigen kann man das Theater nicht. Das habe ich bei der Touristeninformation erfahren. Dort war man ausgesprochen kurz angebunden und ziemlich unfreundlich. Diese Erfahrung blieb eine von wenigen Ausnahmen. Ansonsten sind die Leute freundlich und zuvorkommend.

Im Vorbeigehen habe ich um die Mittagszeit eine kleine Galerie gesehen, die aber geschlossen war. Jetzt geht es wieder dahin zurück. Dort gibt es sehr schöne Ansichtskarten, sozusagen als Abfallprodukt der Kunstwerke, die hier verkauft werden. Es sind Ansichten von Bologna, in erdigen Farben, einerseits mit bekannten Motiven, andererseits mit alltäglichen Dingen wie Hauseingängen und Fahrrädern, immer ohne Menschen. Der Stil ist immer derselbe, auch auf den Bildern, die teilweise ein Relief haben. Keine große Kunst, aber schön anzusehen. In dem Geschäft geht gerade ein Verkaufsgespräch vonstatten. Es geht um die Entscheidung zwischen zwei Bildern, eins mit den Arkaden, ein anderes, mit einem weniger klaren Bezug zu Bologna. Ich werfe einen kurzen Blick auf die Preise. Sie bewegen sich zwischen 500 und 1500 €.

Am Abend fällt mein Blick in der Nähe der Kathedrale zufällig auf eine Skulpturengruppe, eine Beweinung Christi über einem Hauseingang. Dem Christus fehlt der Kopf. Das Gebäude ist das alte städtische Pfandleihhaus. Es hat fast etwas von einem Wortspiel im Italienischen: eine Pietà am Monte de Pietà. Ob da Absicht dahinter steht?

Als ich kurz vor dem Hotel bin, spricht mich ein Mann an, der eine tessera haben will, einen Ausweis für den Zigarettenautomaten. Ich denke sofort an einen Trick, um irgendwie an die Kreditkarte zu kommen und lasse ihn abblitzen. Im Nachhinein denke ich mir, dass das vielleicht vorschnell war. Vielleicht brauchte er einfach einen Ausweis, um an Zigaretten zu kommen.

19. September (Mittwoch)

In einem Text über Bärte, den wir zuhause lesen sollen, fragt sich der Autor, ob es mehr Zeit erfordert, einen Bart oder keinen zu haben, einen gepflegten Bart, versteht sich. Zum Spaß messe ich am Morgen mal die Zeit, die ich zum Rasieren benötige: acht Minuten. Wenn das repräsentativ ist, würde man alle Zeit der Welt haben, um seinen Bart zu pflegen.

Auf dem Weg zum Unterricht sehe ich dann beim Frühstück rein zufällig auf der Theke in der Bar einen Ausspruch, in Bolognese, in dem das Wort Bart vorkommt: Cuand la barba fá al stupén, lâsa la dôna e tént al vén. Der freundliche Wirt übersetzt für mich: Wenn der Bart alt und struwwelig wird, lass die Frau und versuch‘s mit dem Wein.

Im Unterricht lernen wir, dass man in Italien, wenn man Sekt verschüttet, die Zeigefinger in die Sektpfütze taucht und sich damit den Hals benetzt, um Unglück abzuwenden.

Auf dem Flur höre ich, wie eine Lehrerin etwas erklärt und dabei internet, blogg und zoom gebraucht, alle mit einem Vokal am Ende.

Wir sprechen eine ganze Zeit über ein schönes Zitat über das Reisen, aber am Ende habe ich das Gefühl, dass ich es überbewertet oder missverstanden habe. Die Diskussion darüber verläuft sich irgendwie, und der Kontext, in dem das Zitat ursprünglich vorkam, bleibt unbekannt: Viaggiando si diventa ancora di più ciò che se èBeim Reisen wird man noch mehr so, wie man ist.

Nach dem Unterricht wird mir in einer Bäckerei ein Stück Pizza aufgewärmt. Dabei kommt die Pizza gleich mit der Verpackung, dem Papier, in die Mikrowelle.

Am Nachmittag sehe ich in der Kathedrale ein paar romanische Reste aus der Vorgängerkirche. Zwei Löwen mit auffällig runden Köpfen bewachen den Eingang. Schützend legen sie ihre Klauen um ein Löwenjunges vor ihnen. Heute dienen sie als Stützen für das Weihwasserbecken. Ursprünglich trugen sie Säulen. Ganz in ihrer Nähe, in der ersten Seitenkapelle, stellt eine Skulptur einen Mann dar, der eine Säule trägt. Er ist in die Hocke gegangen und hat den Rücken fast durchgedrückt. Er stemmt sich gegen die Last, die ihn zu erdrücken droht. Eine eindrucksvolle, symbolträchtige Skulptur.

Außer der Kathedrale stehen noch drei andere Dinge auf meinem Zettel, aber ich finde keine davon. Vor lauter Frust gehe ich laufen. Dabei komme ich ordentlich ins Schwitzen. Es ist viel schwüler als an den Tagen zuvor. Ich komme in andere Ecken des Parks und sehe dabei auch einen Kinderspielplatz und ein Herrenhaus und schließlich, rein zufällig, das etruskische Grab, von dem man mir erzählt hat. Genau genommen sind es zwei, die dafür in Frage kommen. Ich entscheide mich für das erste. Es ist aus großen, nur grob behauenen Steinen und hat die Form einer kleinen Kirche mit Satteldach. Es gibt keinerlei Verzierungen. Das andere Grab ist noch einfacher, mit einzelnen Steinen, die in eine Mörtelmasse eingelassen sind.

Am Abend gibt es eine von der Schule organisierte Weinprobe. Nach einem Gewaltmarsch, der uns in unbekannte Regionen der Stadt bringt, kommen wir in eine Art Weinstube. An einem langen Tisch stehen bereits Gläser für uns bereit. Wir sind etwa zwanzig. Am ganzen Abend ist kein anderer Gast zu sehen.

Es gibt drei Weine, alle irgendwie etwas exzentrisch, von etwas exzentrischen Winzern. Der erste ist ein bisschen pedantisch und verzeichnet auf seinen dicht bedruckten Etiketten alle Inhaltsstoffe des Weins, so geringfügig sie auch sein mögen. Die zweite, eine Bio-Weinbauerin, ist freiwillig aus dem D.O.C. ausgestiegen, eine mutige Entscheidung, wie es heißt, und verkauft ihren Qualitätswein jetzt als Tafelwein. Der dritte ist ein Sizilianer, der zuerst in der Finanzwelt Karriere gemacht und dann alles aufgegeben hat und in sein 1000-Seelen-Dorf am Ätna zurückgekehrt ist. Es baut seinen Wein auf 800 Meter Höhe an.

Die Weine werden, wie das so üblich ist, wortreich erklärt. Manchmal ist einem zum Lachen zumute, z.B. als die Sommelier sagt, wie sie im Armgelenk merke, dass der eine Wein schwerer als der andere sei. Manchmal ist man aber auch verblüfft, wenn sie Gerüche und Geschmäcke entdeckt, die man auf einmal auch wahrnimmt, auch wenn man sie vorher nicht wahrgenommen hat. Aus der Sicht des Laien ist es verblüffend, dass überhaupt nicht von Jahrgängen die Rede ist. Keine Ahnung, wie das einzuschätzen ist.

Es wird kein Versuch gemacht, die komplizierten Erklärungen den Lernenden irgendwie zugänglich zu machen. Auf der einen Seite gibt es die obligatorischen hilflosen Forderungen „Langsamer“ und „Lauter“, auf der anderen Seite die ebenso hilflose Aufforderung, man solle ruhig nachfragen, wenn man etwas nicht verstünde. Die beiden Damen, die die Präsentation machen, haben, wie das fast immer der Fall bei Muttersprachlern ist, kein Gefühl für die Schwierigkeiten und erst recht keine Handhabe, die Sache zu vereinfachen. Man möchte sie am liebsten in eine ähnliche Situation ins Ausland versetzen.

In meiner Nähe sitzt eine australische Winzerin, deren Kommentare ich gerne gehört hätte, aber ich bekomme nur mit, dass es sich um junge Weine handele und dass sie die erst einmal liegen lassen würde.

20. September (Donnerstag)

Nachdem ich jetzt marinare gelernt habe, ‚blaumachen‘, setzte ich es auch gleich in die Tat um und schwänze die Schule. Nach einigem Zögern entscheide ich mich, einen Ausflug zu machen, obwohl in Bologna viel auf der Strecke geblieben ist. Die Frage ist, wohin: Ferrara, Parma, Modena? Alle drei sind gut zu erreichen. Parma und Modena liegen wie Bologna an der antiken Via Emilia, der Bologna seine verkehrsgünstige Lage zu verdanken hat. Die Via Emilia, von Piacenza nach Rimini, zieht sich wie ein schräg abfallender Strich durch die Emilia-Romagna.

Am Ende entscheide ich mich für Parma. Die Entscheidung ist rein intuitiv. Dazu kommt aber, dass es in Parma weniger Einschränkungen aufgrund des Erdbebens zu geben scheint.

Als ich aus dem Haus gehe, ist es fast noch dunkel. Und es sind gerade einmal 17°. Im Laufe des Tages kommt allerdings die Sonne raus und es wird noch einmal richtig sommerlich warm. Ein schönes Abschiedsgeschenk von Italien.

Auf dem Weg zum Bahnhof sehe ich in einem Schaufenster eine Schürze mit der Aufschrift: Non sono un uomo di spectaccolo, ma sono uno spectaccolo di uomo.

In dem Café, wo ich frühstücke, wird auf einem Schild darauf hingewiesen, dass es keine Toilette gibt: Questo locale non è dotato di toilette. Dabei  hat das Café eine ansehnliche Größe.

Der Zug, ein Nahverkehrszug, braucht eine gute Stunde nach Parma und eine weitere Stunde zur Endstation, Mailand. Die meisten steigen schon in Modena aus.

Vom Bahnhof in Parma aus führt eine schnurgerade Straße mit einer Mischung von alten und neuen Häusern direkt in die Altstadt. An dem Zaun vor einem der alten Häuser hängen vier schön gestaltete, rote Briefkästen.

Man hat irgendwie das Gefühl, an einem Fluss entlang zu sehen, und tatsächlich gibt es rechts des Weges ein Flussbett, das aber um diese Jahreszeit fast ganz ausgetrocknet ist.

Vor der Besichtigung trinke ich noch einen Kaffee. Gerade vorher in Bologna habe ich mich noch gefragt, ob die Preise in den Cafés festgesetzt sind. Ich zahle immer 2,80 für Kaffee, Gebäck und Wasser, 2,30 ohne Wasser. Jetzt in Parma zahle ich gleich 2,00 € für den Kaffee.

Parma hat etwas, das Bologna nicht hat, nämlich ein einziges, alles andere übertreffendes Bauwerk, das Baptisterium. Der Baumeister selbst, Benedetto Antelami, der wichtigste mittelalterliche Baumeister, den Parma hatte, war so stolz auf sein Werk, dass er – völlig ungewöhnlich für die Zeit – über dem Eingang seinen Namen und das Jahr der Erbauung eingemeißelt hat: Bis binis demptis – annis de mille ducentis – incepit dictus opus hoc sculptor Benedictus. Kurz gesagt: Benedikt 1196 (=1200 – 2 x 2).

Das Baptisterium steht zwischen Dom und Bischofspalast auf der Piazza del Duomo. Der Bischofspalast, mit sehr unterschiedlich gestalteten drei Ebenen an der Fassade, wurde später zum Sitz der Farnese, die später aus Ferrara flüchten mussten. Sie sollen einen ziemlichen Einfluss auf Parma gehabt haben.

Das Baptisterium ist achteckig und ganz mit weißem Marmor verkleidet. Ein Fries mit Skulpturen zieht sich etwas über Augenhöhe einmal fast vollständig um den Bau. Man sieht geflügelte Löwen, Sphingen, Zentauren und Tierkreiszeichen.

An allen drei Portalen gibt es Skulpturen und Reliefs, eins interessanter als das andere. Über dem Eingang, an der Porta della Vergine, zeigt der Architrav Motive um Johannes den Täufer. Schließlich handelt es sich ja um eine Taufkirche. Bei der Taufe im Jordan links halten Engel elegant geformte Badetücher bereit, bei dem Bankett des Herodes erkennt man genau das Muster der Tischdecken – vermutlich ein Anachronismus – und rechts wird Johannes mit einem beherzten Schlag der Kopf abgehauen, aber ein Engel fliegt schon herbei, um seine Seele aufzufangen.

Am Westportal wird zum ersten Mal überhaupt in Italien das Jüngste Gericht dargestellt, genauer die Auferstehung der Toten. Von links und rechts klettern nackte Menschen einer nach dem anderen aus einem Sarg und laufen auf zwei Posaune spielende Engel in der Mitte zu. Darüber Christus, der seine Wundmale herzeigt, und daneben das Kreuz, auf das Engel zufliegen. Sie bringen die Marterwerkzeuge mit. Am Rand der Tür werden die Werke der Barmherzigkeit und das Gleichnis mit dem Weinberg dargestellt. Die ganze Szene ist eingerahmt von feinen Säulen und Halbsäulen in rötlichem Veroneser Marmor.

Am Südportal ist nur eine, aber eine höchst merkwürdige Szene dargestellt: Ein Mann ist auf einen Baum geklettert, um sich an einem Honigkorb zu bedienen, aber unten an dem Baum nagen Tieren an den Wurzeln und oben bedroht ihn ein Drache: Wer sich nur den süßen Dingen des Lebens widmet, läuft Gefahr, verloren zu gehen. Der Hintergrund dazu ist ein orientalisches Märchen: Der verwöhnte Königssohn Josaphat wird durch die Begegnung mit Armut, Krankheit und Tod zu innerer Einsicht gebracht und durch den christlichen Asketen Balaam zum Glauben geführt. In diesen Kontext passen auch die Figuren, die die Szene umgeben, Sonne und Mond und die „dahinjagende“ Zeit.

Der Eindruck, wenn man das Baptisterium betritt, ist atemberaubend. Es ist ganz und gar ausgemalt. Die steil aufsteigende Kuppel ist durch Archivolten in sechzehn vertikale Streifen geteilt. Horizontal gibt es vier Gemäldestreifen, und darüber, ganz oben in der Kuppel, Sonnen und Sterne. Die Gemäldestreifen zeigen biblische Figuren und biblische Szenen. Auch unter der Kuppel sind die Wände ausgemalt. Statt sich in Details zu verlieren, lässt man einfach den Kopf kreisen und sieht sich all diese Pracht an. Es wird einem fast schwindlig dabei.

Unten stehen zwei Taufbecken, ein großes (für die Ganzkörpertaufe) in der Mitte, ein kleines am Rande. Das hat wieder die Löwenfiguren, auf die ich in diesen Tagen so oft stoße, aber hier wird eine andere Interpretation angeboten: Der Löwe hält nicht etwa ein Löwenjunges, sondern einen Hasen, die menschliche Seele, in den Klauen, aber der Löwe wird von dem über ihm lastenden Taufbecken erdrückt, so wie der Satan von der Macht des Sakraments erdrückt wird.

Unter der Kuppel, etwa auf der Höhe, wo die Kuppel ansetzt, sind in Kammern zwei Reihen von Statuen eingestellt. Wenn sie mal farbig waren, sind sie es nicht mehr. Es sind großdimensionierte Allegorien der Monate und der Jahreszeiten: im Juni wird geerntet, im Juli gedroschen, im Oktober gesät. Ähnlichen Darstellungen werde ich im Laufe des Tages noch dreimal begegnen. Außerdem gibt es eine Frauenfigur und eine Männerfigur, die die Jahreszeiten symbolisieren. Der Mann hat einen Umhang umgeworfen, der eine Hälfte des Körpers bedeckt und die andere frei lässt und trägt auch nur einen Schuh. Er symbolisiert vermutlich Herbst und Winter gleichzeitig. Zu seiner Seite ein kahler und ein bewachsener Ast.

Im Vergleich zum Baptisterium ist der Dom fast enttäuschend. Das liegt auch daran, dass sich die Sonne gerade versteckt und im dem ohnehin dunkleren Raum die Details, zum Beispiel die romanischen Kapitelle, kaum erkennen lässt. Dabei ist auch der Dom ganz und gar ausgemalt. Die meisten Malereien sind vermutlich aus dem Barock und haben einen anderen Charakter als die des Baptisteriums.

Das ganze große Glanzlicht des Doms ist Correggios Ausmalung der Kuppel. Sie zeigt die Himmelfahrt. Auch hier ist wegen der Höhe und der Dunkelheit nicht viel zu erkennen, und das ist schade, denn das Werk ist hoch umstritten und es immer gewesen. Schon nach der Enthüllung wurden vielfach die vielen nackten Körperstellen, die ungestüme Auffassung des Themas und die Profanität der Malerei kritisiert. Tatsächlich sieht Maria aus, als wäre sie von einer Rampe in die Erdumlaufbahn geschossen worden. Nachdem das Werk enthüllt worden war, wurde Correggio der Auftrag zum Ausmalen des Doms entzogen.

Ich sehe mir ein Steinrelief (XII) näher an, eine Kreuzabnahme, die im Querschiff steht. Sie kann man aus allernächster Nähe betrachten, und ganz ungestört. Es gibt eine längere Erklärung auf Italienisch, die einen mehr Details sehen lässt.

Sie stammt auch von Antelemi, und auch hier gibt es eine Inschrift, die seine Autorschaft verrät. Das Kreuz hat zwei Edelsteine, ein symbolischer Verweis darauf, dass es Leben, nicht Tod bedeutet. Die Darstellung ist sehr lebendig: Jesus hängt noch mit einer Hand am Kreuz. Sein Leichnam wird, kräftig und gleichzeitig liebevoll, von Joseph von Arimathäa gestützt, während Nikodemus auf eine Leiter gestiegen ist und den letzten Nagel entfernt. Rechts sitzen die Soldaten und teilen Christi Gewand unter sich auf, mit sehr unterschiedlichen Mienen, von indifferent bis peinlich berührt.

Die Fassade des Doms, ganz in Marmor, ist allerdings ausgesprochen schön. Hier, am Hautportal, begegnet man wieder Monatsdarstellungen, diesmal als Relief. Man kann sie besser erkennen als die weit oben stehenden Skulpturen des Baptisteriums. Die Zählung fängt mit März an, dem Monat der Empfängnis. Dieser Monat wird durch einen Jüngling symbolisiert, der sich einen Dorn aus dem Fuß zieht. Im August, September und Oktober gibt es Motive aus der Weinlese, im November wird ein Schwein geschlachtet.

Obwohl Baptisterium und Dom mit Marmor verkleidet sind, sind Ziegel aus eigener Herstellung das wichtigste Baumaterial in Parma. Das sieht man, wenn man um den Dom herumgeht. Die waren ein wichtiger Exportartikel Parmas, und nach einiger Suche finde ich, im Palazzo del Governatore, in der Wand das amtlich approbierte Muster eines solchen Ziegelsteins. Ich bin jetzt mitten in der Stadt angekommen. Es herrscht reger Betrieb, ein denkbar großer Kontrast zu meinem ersten Besuch in Parma vor Jahren, als ich an einem Sonntagmittag hier war.

Die Suche nach dem Stein bringt mich zur Touristeninformation. Von der werde ich zum Teatro Regio geschickt. Ich weiß auch nicht, warum. Ich habe nach dem Teatro Farnese gefragt, und das macht in einer Stunde zu. Als ich zum Teatro Regio komme, stellt sich heraus, dass alle Besichtigungen heute ausfallen. Das Teatro Regio sieht aber wenigstens wie ein Theater aus und ist nicht so schwer zu finden. Das kann man von dem Teatro Farnese nicht sagen, und viele wissen nicht, wo es ist. Am Ende komme ich an einen riesigen, grauen, schmucklosen Bau, der eher wie ein Bunker aussieht und nicht wie ein Palazzo. Darin ist tatsächlich, im ersten Obergeschoss, das Teatro Farnese. Der Bau beherbergt auch verschiedene Museen.

Gerade wegen des nüchternen Äußeren ist der Eindruck beim Betreten des Theaters überwältigend. Man betritt eine große, sehr hohe Halle, die erst einmal gar nicht wie für ein Theater gemacht aussieht. Und es war anfangs auch gar kein Theater, sondern eine Halle für Ritterturniere! Ein kunstsinniger Farnese-Fürst, Ranuccio I., ließ die Halle zum Theater umbauen. Sein Wappen hängt über der Bühne, und an der Seite, zwischen Bühne und Zuschauerrängen, sind zwei große Reiterstatuen, hoch oben an der Wand angebracht, die vermutlich auch Farnese-Fürsten darstellen.

Die Bühne ist oben und zu beiden Seiten von einer großen Holzstruktur mit riesigen Halbpfeilern eingefasst. Dahinter verbergen sich die technischen Apparaturen, die ganz neue Maßstäbe setzten.

Man kann die Bühne betreten. Sie hat eine Tiefe von vierzig Metern! Von dort hat man einen guten Blick auf die Zuschauerränge, die erstmals nicht mehr im Halbkreis, sondern in Hufeisenform angeordnet sind. Auch diese Neuerung wirkte als Vorbild für spätere Theaterbauten. Man fragt sich allerdings, wie gut man von den äußeren Enden der Ränge auf die Bühne sehen konnte, ohne Nackenstarre zu bekommen.

Die besondere Ästhetik des Raumes wird durch eine doppelte Loggia hinter den Zuschauersitzen erreicht, die Durchblick gewährt auf die illusionistische Malerei dahinter. Einfach wunderbar!

Da es noch relativ früh am Tag ist, beschließe ich, statt in Parma zu bleiben, auf dem Rückweg in Modena Halt zu machen. Der Zugahrplan spielt mit. Die Züge sind wieder alle sauber, pünktlich und bequem. Vor allem in dem Zug von Parma nach Modena gibt es wunderbar breite, weiche Sitze. Die reinste Erholung. Auch die Durchsagen sind präzise und verständlich. Ich erinnere mich noch an die scheppernden Lautsprecherddurchsagen meines ersten Aufenthalts in Bologna. Da konnte man meistens allenfalls den einen oder anderen Ortsnamen erahnen. Jetzt versteht man jedes Wort.

Eins der wichtigsten historischen Objekte in Modena ist ein Eimer. Ein gar nicht besonders ansehnlicher Eimer. Er wurde als Kriegsbeute nach der Schlacht von Zappolino (1325) nach Modena gebracht, einer Schlacht gegen den Erzfeind: Bologna. Der Eimer ist heute hinter Glas im Palazzo Communale zu besichtigen.

Wenn man dieser Rivalität auf den Grund geht, landet man tief in der Geschichte, bei der Pippinschen Schenkung (bzw. deren Erneuerung durch Karl den Großen). Pippin hatte die Langobarden in Norditalien besiegt und einen Teil des eroberten Gebiets dem Papst vermacht, aber eben nur einen Teil, und den Rest für sich behalten. Die Grenze zwischen den beiden Teilen bildete der Panaro, und der verläuft genau zwischen Modena und Bologna. Insofern verstand sich der östliche Teil als zu Rom gehörend, also als Romagna im engeren Sinne, während der westliche Teil, mit Modena, zumindest formal zum Frankenreich gehörte. Ob man so weit in die Geschichte zurückgehen muss, um solche Rivalitäten zu erklären, ist fraglich, aber irgendwo müssen sie ja herkommen. Dass die Rivalität, sogar Abneigung, auch heute noch besteht, wurde auch in einem Artikel über die Neuordnung der Provinzen in Italien deutlich, den wir dieser Tage gelesen haben. Die Zusammenlegung von Modena und Bologna wurde da als Paradebeispiel für etwas zitiert, was, der populären Vorstellung zufolge, gar nicht geht. Natürlich gab es auch Rivalitäten „normalen“ Zuschnitts zwischen den anderen Städten. Man stand allenfalls zusammen, wenn es um die städtische Selbständigkeit ging. Ansonsten herrschte Kirchturmpolitik, campanilismo, und es war letztlich gar nicht so wichtig, ob man zum Kaiser oder zum Papst gehörte.

Jedenfalls hat der Eimer in Modena eine hohe Bedeutung. Früher hing er in der Ghirlandina, dem mit weißem Marmor verkleideten Turm, der von überall zu sehen ist. Sagt man. Vom Bahnhof aus kann ich ihn aber nicht sehen. Dafür ist er nicht hoch genug. Er erinnert entfernt an das Baptisterium von Parma, ist aber viereckig und schmucklos.

Vor der Ghirlandina steht die Statue eines Dichters aus Modena, dessen Ruhm vor allem auf einem Gedicht beruht, und das heißt „La secchia rapita – Der geraubte Eimer“!

Die Ghirlandina ist durch Bögen mit dem Dom verbunden, und der ist eins der drei großen Gebäude auf der Piazza Grande. Dass der Platz nicht mehr, wie früher, Piazza del Duomo heißt, betont seinen bürgerlichen Charakter. Schließlich ist hier auch der erwähnte Palazzo Communale. Er dient als ganz normales Rathaus, aber man lässt mich auch drei reich ausgemalte repräsentative Räume besichtigen. In einem davon, La sala del fuoco, hängt ein Bilderzyklus, der auf den ersten Blick ganz friedlich, fast idyllisch aussieht, aber den Bürgerkrieg nach Cäsars Tod zum Thema hat: „La Guerra di Modena“ (1546) von Niccolò dell’Abate. Auch damals war Modena heftig umkämpft und wurde stark zerstört, nicht das einzige Mal in seiner Geschichte. Das hatte sogar zur Folge, dass die Stadt einst ganz verlassen und an einen anderen Ort verlegt wurde. Als man dort aber kein Glück hatte, kehrte man zurück. Hier waren schließlich die Reliquien des Heiligen, San Giminiano, der der Stadt am Ende doch zu Glück verhalf. Modena ist heute eine der erfolgreichsten und wohlhabendsten Städte Italiens.

An einer Ecke des Palazzo Communale steht auf einer Konsole die weiße Figur einer jungen Frau, der Bonisima, ein Emblem Modenas. Man weiß nicht, wen sie darstellt, aber man glaubt, es handele sich um eine reiche Modeneserin. Das wäre ungewöhnlich, eine profane Figur, und vielleicht handelt es sich doch um eine Heilige, aber sie sieht tatsächlich eher „bürgerlich“ aus.

Vor dem Palazzo Communale steht, oder liegt, ein dicker, breiter Steinblock auf niedrigen Stützen. Man kann sich kaum vorstellen, was das ist, aber eine Inschrift verrät es: Es ist die Pietra Ringadora, ein Rednerstein. Auf dem Stein stehend, wand man sich, wenn man etwas zu sagen hatte, an seine Mitbürger. Der Stein wurde auch bei der öffentlichen Bestrafung von Verbrechern und zur Ausstellung nicht identifizierter Leichen benutzt.

Der Dom ist geschlossen und außerdem eingerüstet, aber nicht ganz. Wenn man herum geht, bekommt man doch einiges zu sehen, vor allem den Reliefschmuck an den drei Portalen.

Der Dom von Modena ist ein Schmuckstück und hat romanische Skulpturen, die zu den ältesten überhaupt zählen. Auf den ersten Blick wirken sie etwas naiv, aber die Erzählungen sind sehr interessant. Im Norden, zur Ghirlandina hin, mit der der Dom durch ein paar Bögen verbunden ist – der schmale Durchgang zwischen Dom und Turm ist an sich schon sehenswert – befindet sich die Porta della Pescheria, nach dem Fischmarkt benannt, der auf dieser Seite beheimatet war. Da sieht man in den Bögen wütende Ritter eine Burg bestürmen und eine Gefangene befreien.

Am Abend in Bologna komme ich in der Osteria dell’Orsa ins Gespräch mit einem Mann, der Italienisch spricht, aber nicht italienisch aussieht. Ich glaube erst, er hat sie nicht alle. Erst bestellt er, ohne es zu wollen, gleich einen halben Liter Wein und ist dann überrascht, wie viel das ist, dann fragt er mich, ob das, was ich auf dem Teller hätte – Hähnchenschnitzel mit Bohnen – eine Pizza sei, und dann weiß er nicht, was Tiramisù ist. Andererseits hat er mich schon nach zwei Wörtern als Ausländer identifiziert, und sein Italienisch hört sich perfekt an. Ein Rätsel. Am Ende stellt sich heraus, dass er Schwede ist, ein schwedischer Musiker, ein Violinist, der mit italienischen Musikern zusammen auftritt oder zusammenarbeitet. Er lebt, wenn ich das richtig verstehe, in Neapel, und ist nur auf Stippvisite in Bologna. Deutsch habe er nur ein Jahr lang gelernt, dann habe er zu Italienisch gewechselt, habe aber durch die Musik Kontakt mit Deutsch. Er kennt auch Städte wie Heilbronn, die im Ausland nicht jeder kennt. Er kommt auf die deutsche Philosophie zu sprechen, auf Fichte und Nietzsche. Das Archiginnasio von Bologna kennt er nicht, und auch nicht das Anatomische Theater in Uppsala. Merkwürdig. Er fragt mich, ob ich denn Schwedisch könne, und ich gebe kleinlaut zu, dass ich das gerade lerne. Daraufhin beginnt die ganz große Sprachverwirrung und wir vermischen Italienisch, Deutsch und Schwedisch. Die Italiener am Nebentisch gucken herüber – man kann das aus den Augenwinkeln sehen – und fragen sich wohl, was das für ein merkwürdiges Gespann sein mag.

Auf dem Rückweg verirre ich mich ein letztes Mal in den Straßen von Bologna und führe, angeregt von den Eindrücken des Tages und dem halben Liter Wein, den ich verdrückt habe, Selbstgespräche in einem babylonischen Sprachgemisch, das an Salvatore aus Der Name der Rose erinnert.

 

 

 

 

 

 

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