9. März (Sonntag)
Auf der Terrasse am Flughafen in Deutschland sitzen Leute draußen in der Sonne und trinken Kaffee. Und das Mitte März! Die Temperaturen in Deutschland sind in den letzten Tagen ständig gestiegen, in Marokko sind sie dramatisch gefallen.
Auf dem Flug sind die deutschen Touristen in der Minderheit. Die meisten sind Marokkaner, oder Deutsche marokkanischen Ursprungs, die auf Heimatbesuch sind. Alle Männer, ohne Ausnahme, tragen europäische Kleidung. Die meisten sind von uns nicht zu unterscheiden. Alle Frauen, mit einer Ausnahme, tragen Kopftuch. Die jungen Frauen tragen allerdings Hosen, die alten lange, bis auf den Boden herab reichende, formlose Kleider, die wie Mäntel aussehen.
Im Flugzeug haben sich die alten marokkanischen Frauen einfach irgendwo hingesetzt. Wie früher im Bus in Marokko. Da gab es doch auch keine reservierten Plätze. Auf meinem Platz sitzt ein junger Deutscher, weil eine Marokkanerin auf seinem sitzt. Also setze ich mich einfach irgendwo hin. Bis jemand kommt und diesen Platz reklamiert. Auch an anderen Stellen beginnt ein reger Platztausch. Die marokkanischen Frauen sind unförmig und nicht gerade agil. Die Aktion dauert, und am Ende starten wir tatsächlich mit einer Viertelstunde Verspätung. Das nutze ich im Nachhinein als Rechtfertigung für meinen deutschen Ordnungssinn, dem diese Anarchie widerspricht.
Der junge Marokkaner neben mir, der gebrochen Deutsch spricht, fängt während des Flugs an zu beten. Ob es wegen der Turbulenzen ist? Vermutlich steht einfach die Gebetszeit an, aber ich sehe außer ihm keinen beten. Ich habe noch nie eine Muslimin in der Öffentlichkeit beten sehen, Männer aber oft. Das tägliche Gebet fällt fünfmal am Tag an und ist eine der fünf Säulen des Islam, zusammen mit dem Ramadan, den Almosen, der Wallfahrt nach Mekka und dem Bekenntnis zu dem einen Gott. Ein einfacher Glauben. Was wohl auch den Erfolg des Islams zur Zeit seiner Verbreitung im frühen Mittelalter ausmachte.
Der Name Marokko kam erst im 16. Jahrhundert über das Französische zu uns und ist von Marrakesch abgeleitet, der damaligen Hauptstadt. Auf Arabisch heißt Marokko Al-Mamlakah al Maghrebia, ‚Maghrebinisches Königreich‘. Wörtlich heißt maghreb einfach ‚Westen‘. Marokko war das westliche Ende des vom Islam eroberten Territoriums.
Marokko war einst mein erstes Reiseziel außerhalb von Europa. In einer Reisegruppe, mit dem Bus, über Silvester. Mit den Stationen Tanger, Fes, Meknes, Marrakesch, Rabat. Lang, lang ist’s her, 28 Jahre, aber mir sind noch eine ganze Menge Szenen in Erinnerung: die verwinkelte Medina von Fes, der Marktplatz von Marrakesch mit Gauklern, Schlangenbeschwörern und dressierten Affen, das allgegenwärtige Bild von Hassan II., dem damaligen König, das Grabmonument von Mohammed V,. seinem Vater, in Rabat, die Moschee in Meknes, eine der ganz wenigen, die man in Marokko besichtigen kann, die eleganten Straßen mit weißen Gebäuden in der Neustadt von Rabat, das Gerberviertel in Fes, händchenhaltende Männer (hier eine völlig neutrale Freundschaftsgeste), einen ganz kurzen Blick in eine Medersa (die damals immer madrassa genannt wurde) eine Schule, mit auf dem Boden sitzenden Kindern, die Koranverse im Chor rezitierten, Hotelportiers und Gästeführer in langen Gewändern und Fes, sprachgewandte junge Schlepper in der Medina, aggressiv bettelnde Kinder, die Wetterkarte, die den Süden Spaniens, Al-Andalus, als Teil Marokkos behandelte, die bunt gekleideten Berber, denen wir irgendwo im Gebirge einen Besuch abstatteten. Auch erinnern kann ich mich an einen jungen Kellner, der ein Jahr im Allgäu gearbeitet hatte, gut Deutsch sprach und jede Gelegenheit nutzte, es anzuwenden.
Am meisten hallen die wütenden Rufe der Gerber in Fes wider. Wir wurden auf einen Platz geführt, von dem aus wir in die Senke mit den Arbeitern und den Bottichen hinabblicken konnten. Die Gerber schienen uns etwas zuzurufen. Es dauerte, bis wir verstanden, was die Rufe bedeuteten: Sie protestierten. Sie wollten nicht bei ihrer Arbeit beobachtet werden, wollten nicht, dass die Misere zum Photomotiv wurde. Sie wollten ihre Würde behalten.
Als ich im Flugzeug einmal den Blick von meiner Lektüre hebe, sehe ich im Gang, vor einem der Wagen, die durch die Gegend geschoben werden, plötzlich eine fast furchteinflößende Figur, eine große Frau mit schwarzem, weitem Gewand und breitem Schleier, ganz in Schwarz. Sie wendet mir den Rücken zu. Es ist eine Figur wie Belphegor. Später, bei der Passkontrolle, sehe ich sie von vorne. Eine freundlich lächelnde, junge Frau.
Die Reise geht über schneebedeckte Berge, vermutlich die Pyrenäen. Dann kommt kurz Wasser in Sicht: die Meerenge von Gibraltar. Dann vegetationslose, graubraune Gebirgslandschaften. Das entspricht und widerspricht meinen Erinnerungen: Ich habe damals Marokko als ein erstaunlich gebirgiges und ein erstaunlich grünes Land erfahren. Geologisch sah es wie eine Fortsetzung von Andalusien aus.
Dann kommen ein grünlicher See und ein Gebirgspfad, aber kaum Zeichen von Zivilisation, auch unmittelbar vor Fes noch nicht. Ganz kurz vor der Landung sieht man dann aber grüne Felder und Olivenhaine, mit Olivenbäumen in Reihe und Glied.
In Fes ist es bewölkt und kälter als in Deutschland. Es ist aber auch drei Stunden später. Die Passkontrolle ist modern, aber langwierig und umständlich. Stempel werden auf Formulare und in Dokumente gedrückt und gehämmert. Die Hinweisschilder sind, wie auch die meisten an der Straße, zweisprachig.
Draußen wartet ein vom Hotel engagierter Taxifahrer auf mich. Das Hotel liegt in der Medina und ist nicht leicht zu finden. Also bin ich auf Nummer Sicher gegangen.
Mit einem Mal ist es stockdunkel, so um sieben Uhr. Die Dämmerung ist von ganz kurzer Dauer.
Es geht über eine ausgebaute Straße, an der gerade Bauarbeiten stattfinden, mit ziemlich viel Verkehr. Es ist Sonntagabend, die Leute kommen vom Picknick im Mittleren Atlas zurück, erfahre ich. Der Mittlere Atlas trennt, grob gesprochen, die Gegend um Fes von der um Marrakesch. Südlich davon liegt der Hohe Atlas und noch weiter südlich der Anti-Atlas. Was für ein wunderbarer Name! Im Norden liegt das Rif.
Der Taxifahrer hat in der Schule Französisch gelernt, Englisch nur durch den Kontakt mit den Touristen.
Ich frage nach den Autos. Die meisten sind, wie erwartet, französische und japanische Fabrikate, aber auch koreanische seien gut vertreten.
Wir kommen durch die Neustadt, von den Franzosen angelegt, mit ein paar hypermodernen Bauten. Die Neustadt, sagt mir der Taxifahrer, sei heute „geschlossen“. Erst dann merke ich, dass er auf den Feiertag anspielt. Heute ist Sonntag. Die Medina ist freitags „geschlossen“.
Im Arabischen heißt medina einfach ‚Stadt‘, aber die Europäer haben das Wort übernommen, um von der Altstadt zu sprechen, im Unterschied zur Neustadt. Ich erinnere mich auch an eine Unterscheidung, von der damals immer die Rede war: Medina und Kasbah, Geschäftsviertel bzw. Wohnviertel der Altstadt. Wörtlich heißt kasbah einfach ‚Burg‘.
Am Rande der Altstadt werde ich einem jungen Mann übergeben, der mich zum Hotel führt. Mit ihm muss ich Französisch sprechen. Wir gehen durch ein Tor, und mit einem Mal befindet man sich mitten im Orient.
Durch ganz schmale, schummrig beleuchtete Gassen geht es zwischen hohen Hauswänden hindurch kreuz und quer durch die Medina. Wir biegen ein Dutzendmal oder mehr ab. Einige Gassen sind wie ausgestorben, andere sehr belebt.
Wir gehen schnellen Schrittes, und ich bekomme kaum mit, dass am Straßenrand noch Waren verkauft werden, in einer Gasse auch Töpferwaren für Touristen.
Dann stehen wir unvermittelt vor einem Hauseingang, dem Riad Tayba, dem Hotel. Riads sind alte, um einen Innenhof gebaute Patriziervillen, die heruntergekommen waren und jetzt für die Hotellerie renoviert worden sind. Sie liegen immer in der Medina.
Die Eingangstür ist unscheinbar und niedrig. Umso überraschender ist der Eindruck, wenn man in den prächtigen Innenhof kommt. Dort befindet sich die improvisierte „Rezeption“, und ich muss mich um Formalitäten kümmern, statt mir das Haus anzusehen. Wieder muss ein umständliches und dazu schwer verständliches Formular mit winziger Schrift ausgefüllt werden. Als ich fertig bin, habe ich so viele Fehler gemacht, dass ich noch mal von vorne anfangen muss.
Der junge Mann, der mich auch vom Taxi abgeholt hat, macht heute wohl die Vertretung für den Besitzer. Er serviert mir einen heißen Tee, der gleichzeitig süß und bitter schmeckt. Der Tee wird aus großer Höhe aus einer silbernen Kanne in ein winziges Glas geschüttet, in dem frische Minze liegt. Dazu gibt es Kokosplätzchen. Mein Hunger ist aber größer als meine Abneigung gegen Kokos, also beiße ich kräftig rein.
Jetzt will ich aber nur noch ins Bett. Der Mann begleitet mich auf das Zimmer und zeigt mir unterwegs noch die Terrasse. Das Zimmer ist winzig klein und ganz einfach, hat aber alles, was man braucht.
Als ich gerade im Bett liege, klopft es an der Tür. Es ist immer noch ein Fehler in dem Formular. Die Zahl, die eingetragen werden muss, ist nicht die des Passes, sondern die, die die Beamten bei der Passkontrolle in den Pass hinein gestempelt haben.
10. März (Montag)
Den Weckdienst übernehmen die Hähne. Danach gibt kein Einschlafen mehr. Es ist gerade mal vier Uhr, aber erst drei Uhr marokkanischer Zeit. Und Frühstück gibt es erst um neun.
Unter den Bettdecken ist es warm, aber im Zimmer ist es kalt. Eine Heizung gibt es nicht. Auf dem schönen, gefliesten Boden liegt ein schmaler Läufer, der die Kälte der Fliesen etwas dämmt.
Das Zimmer hat schöne Messingbeschläge an Türen und Schränken, eine sehr schöne, polygonale Lampe mit farbigem Glas, einen sehr schönen Spiegel mit einer kunstvollen Einfassung. Auch im Bad ist ein Spiegel, mit einer Einfassung in
Hufeisenbogen, der arabischsten aller Formen.
Der Papierkorb ist aus Holz, wie der kleine Bruder eines Zubers, in denen man früher die Wäsche wusch.
Ich gehe nach unten und sehe mir den Innenhof an. Er muss ursprünglich offen gewesen sein. Das Glasdach, das Licht und Luft hineinlässt, ist eine Konzession an die Nutzung des Hauses als Hotel. Auf die Luft, die hereinkommt, im Sommer bestimmt eine Wohltat, könnte man im Moment aber ganz gut verzichten. Es ist ganz schön kalt.
Die Decke wird getragen von vier Pfeilern, aus Halbsäulen bestehend, in blau-weißen Mosaikfliesen. Darüber durchbrochene Kapitelle aus Stuck, und an den Wänden durchbrochene Holzpaneele.
Auch der Boden und die unteren Teile der Wände sind blau-weiß, in unterschiedlichen Mustern. Die Sitzbänke sind niedrig und, wie die Kissen, seidenbestickt, in Rot und Gold. Davor stehen ebenso niedrige, runde Tischchen aus Messing, sehr schön gearbeitet mit geometrischen Figuren. Ineinander verschlungene Quadrate und ein vielzackiger Stern, umgeben von floralen Mustern. Nicht ein Quadratzentimeter ist unbearbeitet.
Beim Frühstück mache ich ein Photo von den schön präsentierten Schälchen und dem friedlichen Miteinander von Marmeladen und Oliven und komme so ins Gespräch mit einer französischen Familie am Nachbartisch, Eltern und erwachsener Sohn. Wir sprechen Englisch, Französisch und Deutsch durcheinander. Sie fahren heute mit dem Zug nach Meknes. Hier in Fes sind sie problemlos ohne Führer zurechtgekommen. Das widerspricht dem, was mein Reiseführer sagt und meiner Erinnerung an die labyrinthische Medina. Auch was Betteln, Schleppen und Klauen angeht, scheinen sie keine schlechten Erfahrungen gemacht zu haben.
Nach dem Frühstück taucht Mekki auf. Mit ihm hatte ich per Mail das Abholen vom Flughafen vereinbart, und er wurde auch im Internet positiv erwähnt.
Mekki bietet sofort an, mir einen Führer zu besorgen und mich zur Bank zu begleiten. Wir machen uns gleich auf den Weg. Er ist nicht der Besitzer des Riads, sondern so eine Art Geschäftsführer. Die Besitzerin ist Französin.
Wir kommen durch den schon sehr lebendigen Souk, den Markt, und zwar durch den Teil, wo vorwiegend Fleisch verkauft wird. Auf einer Art Baumstamm sitzen Hühner, die seelenruhig darauf warten, im Kochtopf zu landen. Jedenfalls rühren sie sich nicht. Auch krähende Hähne sind dabei, vermutlich die, die mich am Morgen geweckt haben.
Wir kommen bald an das Ende der Medina und das Blaue Tor. Hier gibt es Banken. Ich bin froh, dass Mekki mich begleitet hat, denn es gibt Probleme beim Geldabheben, aber in der zweiten Bank klappt es dann beim zweiten Anlauf doch. Das Umrechnen ist einfach: 10 Dirham = 1 Euro.
Auf dem Rückweg stoßen wir in der Medina auf einen Esel, der Gasflaschen transportiert. Irgendwie müssen die ganzen Waren ja in die Medina kommen. Esel sind da eine gute Lösung. Vermutlich seit Jahrhunderten gängige Praxis. Mekki zeigt mir noch einen unauffälligen Kellereingang. Das sei die Bäckerei. Auch das Weißbrot des Frühstücks kommt hierher. Allerdings ist das typisch marokkanische Brot ganz anders, eine Art Fladen.
Unterwegs lerne ich zwei nützliche Wörter auf Arabisch: wuacha, ‚gut‘, und safi, ‚in Ordnung‘.
Als wir wieder im Hotel sind, stellt sich auch schon bald der Führer ein. Ich mache von vornherein deutlich, dass ich nichts kaufen will und kann. Das Argument mit der Gepäckbeschränkung im Flugzeug zieht. Auch Mekki hatte vorher schon versucht, mir Öl anzubieten.
Der Führer kennt die Medina wie seine Westentasche, und deshalb bin ich froh, ihn dabei zu haben. Die Erklärungen sind allerdings mager und verlieren sich in Einzelheiten. Ein Bild von Fes entsteht nicht.
Zuerst kommen wir wieder an das Blaue Tor, wo ich vorher schon mit Mekki war. Das Blaue Tor ist grün. Jedenfalls an der Stadtseite. An der Außenseite ist es blau. Grün ist die Farbe des Islam, Blau die Farbe von Fes, so wie Ocker die Farbe von Marrakesch ist. In der Umgebung von Fes gibt es Phosphorvorräte. Das ist der materielle Hintergrund für die Verbindung der Stadt zur Farbe. Das Tor sieht älter aus als es ist. Es stammt, in dieser Form jedenfalls, vom Beginn der französischen Herrschaft, vom Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Franzosen beriefen sich bei ihrem Einmarsch darauf, von Marokkanern zur Hilfe gerufen worden zu sein. Dies ist ein Muster, das sich in der Geschichte immer wieder wiederholt. Invasoren kommen nicht aus eigenem Interesse, sondern, um anderen zu helfen.
Wir gehen unendlich lange Wege. Die Medina von Fes ist die größte Marokkos. Und, wie es heißt, die weltweit größte zusammenhängende autofreie Fläche in einer Stadt. Das kann man sich gut vorstellen. Wieder, wie gestern, wechseln sich völlig ausgestorben wirkende Gassen unvermittelt mit sehr lebendigen ab.
Von Modernität ist hier kaum etwas zu sehen, bis auf ein paar Stände, in denen industriell gefertigte Ware angeboten wird. Ansonsten ist der Gang durch die Medina wie eine Rückkehr ins Mittelalter. An Waren, Herstellung, Abläufen dürfte sich seitdem kaum etwas geändert haben.
Man sieht per Hand verschlossene Flaschen mit Wasser, die zum Verkauf angeboten werden. Was das wohl ist? Rosenwasser!
Etwas weiter wird an Steinplatten gemeißelt. Was könnte das sein? Grabplatten! Sie sind weiß, haben eine grüne Umrandung und bekommen jetzt Verse und Friese verpasst. Die Mitte ist freigelassen für Namen und Daten der Toten.
Als nächstes erreichen wir die Medersa Bou Inania, die Koranschule. Auch sie stammt aus dem Mittelalter, ist aber kürzlich restauriert worden. Bis ins 20. Jahrhundert fungierte sie noch als Schule. Jetzt ist sie Monument, fungiert aber noch als Moschee. Deshalb darf man nur den Innenhof betreten.
Den erreicht man durch einen schönen Torbogen. Der Boden ist aus Carrara-Marmor, die Wände sind in ihrer ganzen Höhe von den drei typischen Elementen der maurischen Tradition dekoriert: Fliesen, Stuck, Holz. Das erinnert an den Innenhof des Riads. Sowohl die Kacheln als auch das Holz – Zedernholz – tragen Inschriftenfriese mit Versen aus dem Koran. Sie sind in osmanischer Schrift, und mein Führer sagt auf Nachfrage, das könne er nicht lesen. Er sagt es so, als wäre die Frage völlig verrückt. Was wohl seinen Grund hat. Ich habe eine viel zu enge Vorstellung von Arabisch und arabischer Schrift.
Von einer Ecke des Innenhofs hat man einen Blick auf das Minarett, das zu der Medersa gehört, aber getrennt steht.
Wir unterhalten uns auf den langen Wegen über Gott und die Welt. Dabei erfahre ich unter anderem, dass das Arabische einen Dual hat, mit eigenen Formen bei den Nomen. Und dass man im Süden Marokkos eher auf Tee, im Norden eher auf Kaffee steht.
Der Führer selbst spricht unaufgefordert sehr positiv über Deutschland. Wie so viele Menschen aus armen Ländern setzt er ganz auf Modernität, auf Fortschritt, auf Wohlstand. Und das repräsentiert Deutschland. Analog dazu ist Norditalien gut, Süditalien schlecht. Ähnlich ist es bei Frankreich. Marokko ist für afrikanische Verhältnisse sehr entwickelt, sagt er, aber eben nur für afrikanische. Es gibt aber ausländische Unternehmen, die jetzt in Marokko ihre eigenen Werke aufbauen, vor allem, wegen der günstigen Lage, in Tanger.
Als wir dann einem Mann mit einer Trainingsjacke mit Schalke-Emblem begegnen, öffnet sich eine ganz andere Tür, und die ist nicht mehr zu schließen: Fußball. Mein Führer hat eine unglaubliche Fußballkenntnis und kann Namen, Paarungen, Spieler, Ergebnisse aus allen Ländern und Zeiten auf Anhieb nennen. Auch da ist er oft auf Seiten Deutschlands, aber nicht, wenn es gegen afrikanische Mannschaften geht. Bei der WM, wenn es für Deutschland gegen Ghana geht, steht er natürlich auf Seiten Ghanas. Afrikanische Solidarität, und das in Marokko, das uns nicht gerade als typisch afrikanisch gilt und eine wichtige Ausrichtung auf Europa hat.
Wir kommen durch den Souk für Holzwaren und den Souk für Kupferwaren. Hier wird nicht nur verkauft, sondern auch hergestellt. Das rhythmische Hämmern und die Werbesprüche der Verkäufer bilden den akustischen Hintergrund. Die Holzerzeugnisse, Bänke und Sessel, sind teils gar nicht als solche zu erkennen. Sie sind von einem polsterartigen, glänzenden, weißen Stoff überzogen: Hochzeitsmöbel. Hier feiert der Kitsch fröhliche Urständ.
Wir kommen dann in das ärmlich aussehende Andalusierviertel. Meinem Führer zufolge ist es schon im 8. Jahrhundert von Einwanderern aus Andalusien gegründet worden. Ich hatte immer gedacht, die Reise wäre nur in die andere Richtung gegangen.
Über verschlungene Wege kommen wir zum Gerberviertel. Die Art der Besichtigung hat sich seit damals geändert. Man wird über hohe, unregelmäßige Treppen auf eine Terrasse geführt, von der aus man aus einiger Distanz die Arbeiten beobachten kann. Man bekommt einen Strauß Minze in die Hand gedrückt. Die Minze soll man sich vor die Nase halten, wegen des Gestanks. Das scheint mir ziemlich übertrieben. So schlimm ist es nun auch wieder nicht. Die Arbeiter bekommen auch keine Minze. Aber vielleicht würde ich im Sommer bei Hitze anders reden.
Ich werde einem anderen Mann übergeben, der mich begleitet und gut Deutsch spricht. Er lebt in der Nähe von Offenbach und verbringt die Zeit, wo bei seiner Arbeit, in einem Gemüsemarkt, die Flaute herrscht, hier in der Heimat.
Er erzählt mir, ich weiß nicht, wie die Rede darauf kommt, von einer Reise nach Ägypten. Dann folgt eine einzige Eloge auf Ägypten. Das sei ein wunderbares Land, viel besser als Tunesien. Die Tunesier seien aufdringlich, die Ägypter zurückhaltend. Ägypten gefalle ihm sogar besser als sein eigenes Land. Eine bemerkenswerte Aussage.
Auch, wenn sich die Form der Besichtigung geändert hat, die Arbeit der Gerber ist immer noch genau dieselbe. Sie stehen in den mannshohen Bottichen aus Ton, bis zu den Knien in die verschiedenen Flüssigkeiten eingetaucht, in kurzen Hosen und ohne Handschuhe. Sie wenden die schweren Felle, tauchen sie ein, ziehen sie heraus, mit der Hand oder mit langen, hölzernen Stäben. Auf einer Mauer sieht man gelbe Lederstücke in der Sonne trocknen.
Die Funktionsweise verstehe ich nicht, aber man kann verschiedene Arbeitsschritte unterscheiden, teils an den Farben der Bottiche. Links sind die weißen Kalkbottiche. Hier sind die Arbeiter besser geschützt, mit kompletter Arbeitsuniform und Handschuhen. Hier, in den Kalkfässern, werden Haare und Fleischreste gelöst und das Fell trennt sich vom Leder. Anschließend muss das Leder wieder entkalkt werden. Dafür gibt es Wasserbottiche. Dann muss es „weichgekocht“ werden und dann getrocknet, geglättet und eingefettet, und erst am Ende steht der Prozess des Färbens. Der kann, je nach Farbton, kompliziert sein und mehrere Gänge erfordern. Man sieht deutlich rote und gelbe Bottiche. Der Mann aus Offenbach erzählt mir, es würden nur Naturstoffe verwendet und er sagt auch etwas zu Materialien, die inzwischen verboten sind, aber ich kann ihn wegen seiner unorthodoxen Aussprache nicht gut verstehen. Jedenfalls werde jetzt infolge dieser Änderung für Gelb der teure Safran verwendet. Wenn ich ihn richtig verstehe, ist die Gerberei jetzt eine Kooperative, und die Leder dürfen nicht oder nur an die Händler der Medina verkauft werden.
Als ich dem Offenbacher am Ende ein Trinkgeld anbieten will, lehnt er höflich ab. Er führt mich wieder hinunter. Der Weg führt durch eine Ladenstraße. Er zeigt mir eine Lederjacke und hält ein Feuerzeug daran, offensichtlich Zeichen der Echtheit. Ich will nichts kaufen und fahre wieder das Argument der Gewichtsbeschränkung an, und wieder verfängt es.
Unten nimmt mich mein Führer wieder in Empfang. Er bringt mich noch zu der Place Nejjarine und entlässt mich dort in das Holzmuseum.
Das Schaustück des Platzes ist ein schön dekorierter Brunnen mit einem Vordach aus Zedernholz. Etwas versetzt dahinter befindet sich die Fondouk Nejjarine, die ehemalige Herberge der Zimmerleute. Unten wurden Geschäfte gemacht, oben wurde gewohnt. Mit Hilfe der UNESCO wurde der Bau zu dem Holzmuseum umgewidmet.
Die Eingangshalle mit mehrstöckigen Etagen und Geländern aus geschnitztem Holz ist allein schon den Eintritt wert. Auf verschiedenen Etagen wird alles präsentiert, was mit Holz zu tun hat, von Baumstämmen bis zu Kämmen.
Unten sieht man Gebrauchsgegenstände aus Holz: Mörser, Blasebälge, Waschbretter, Schöpflöffel, Bottiche, Spiegeleinfassungen, Gestelle zum Wäschetrocknen und eben Kämme. Viele von ihnen haben zwei Seiten, mit dünnen Zähnen auf der einen und dicken auf der anderen Seite.
Oben kommen Berufsutensilien wie Spinnräder, Stößel für Leder, Ölpressen, Schaufeln für Bäckereien.
Noch weiter oben gibt es skulptierte Türen, Blendläden, Holzfriese, Paneelen, Trennwände. Viele Objekte sind jünger, als man vermutet, vom Beginn des 20. Jahrhunderts, aber es gibt auch Exponate, die bis ins 14. Jahrhundert zurückgehen. Unter einem steht: XIIX – XIX. Eine eigenwillige, aber einleuchtende Schreibweise.
Dann gibt es Musikinstrumente: Trommeln, Leier, dickbäuchige Lauten, Leiern, ein offensichtlich typisch arabisches Musikinstrument namens Rhab, und Oboen, deren französischer Name, hautbois, noch auf ihre Herstellung aus Holz hinweisen.
Dann gibt es liturgische Geräte, vor allem chapelets, Gebetsketten, unseren Rosenkränzen ähnlich. Ihre Form variiert von Orden zu Orden.
Besonders interessant sind Holztafeln für den Unterricht, sog. Karraka. Die am Vortag gelernten Verse auf der Vorderseite werden ausgewischt, auf der Rückseite bleiben sie noch stehen, als Erinnerungshilfe. Dann wird eine Masse, salsal, auf die noch feuchte Oberfläche aus weißlicher Tonerde der Vorderseite aufgetragen. Die Tafel wird in der Sonne getrocknet, und dann können mit einer besonderen Tinte, smaq, die neuen Verse aufgetragen werden.
Dann kommt es zu einem bezeichnenden Missverständnis: Ich lese etwas von Minibar. Der Wunsch ist Vater des Gedankens. Es ist aber tatsächlich Minbar. Das ist die Bezeichnung für den mit Treppen ausgestatteten Stuhl des Imams beim Freitagsgebet. Er wird während der Woche verschlossen gehalten, ganz in der Nähe der Gebetsnische, und kommt nur zum Gebet zum Vorschein.
Dann kommen noch Gesetzestafeln aus Holz, längliche Holzstäbe, in denen in kleiner Schrift vom Imam dekretierte Gesetze des Gewohnheitsrechts eingeschrieben sind. Es geht um ganz alltägliche Fragen wie Bewässerung, die Instandhaltung von Wegen, Regeln für Hochzeiten und Taufen und Maßnahmen bei Zuwiderhandlung. Diese Tafeln wurden in Moscheen oder bewachten Getreidespeichern aufbewahrt und nur bei Bedarf hervorgeholt. Der Name für solche Getreidespeicher ist agadir. Daher der Name der Stadt.
Rosenkränze, Taufen, Orden: Bin ich hier richtig im Islam? Das frage ich mich, als ich das Museum verlasse.
Den langen Weg zurück zum Blauen Tor finde ich tatsächlich ohne größere Schwierigkeiten. Es geht die meiste Zeit über die Talaa Kebira, die „Hauptstraße“ der Medina. Tatsächlich heißt kebira so etwas wie ‚groß‘ (womit vermutlich auch der Name Khedira zusammenhängt).
Sobald ich alleine bin, werde ich angesprochen als potenzieller Kunde, aber überhaupt nicht aufdringlich. Und gefährlich wirkt hier überhaupt nichts auf mich. Auch die bettelnden Kinder von damals tauchen nicht auf. Von meinem Führer habe ich erfahren, dass es Unterricht von 8-12 und von 14-18 Uhr gibt, aber nur im Turnus. Jedes Kind hat nur ca. zwei Stunden Unterricht pro Tag. Das erklärt also ihre fehlende Präsenz in der Medina nicht.
In den engen Gassen wird jeder Quadratmeter zur Ausstellung der Waren genutzt. Sie hängen an Türen und Hauswänden, an Ketten, Fäden und Bügeln und baumeln über einem in der Luft.
Gelegentlich kommen mir Männer mit Dschellaba entgegen, dem langen Kapuzenmantel. Sie tragen oft einfache, flache Strickmützen, aber kein einziger trägt einen Fes. Dabei kommt der Name des Huts tatsächlich vom Namen der Stadt. Auch das hat etwas mit der Färbertradition von Fes zu tun.
Zum Essen gehe ich ins La Kasbah, direkt am Blauen Tor gelegen. Man sitzt auf einer erhöhten Terrasse und sieht durch ein Gitternetz auf das Tor. Es ist jetzt auch warm genug, um draußen zu sitzen.
An einem anderen Tisch sitzen zwei schlecht gekleidete Amerikanerinnen mit Schirmen ohne Mützen. Wogegen die schützen sollen, weiß man nicht. Ich habe bisher noch keinen Sonnenstrahl entdeckt.
Es gibt eine scharfe, sehr leckere Suppe, die nach Tomate schmeckt, nicht nach Tomate aussieht, aber Tomate ist. Auf Kosten des Hauses gibt es als Zugabe einen kleinen Teller mit Linsen, mit einem Teelöffel serviert. Auch sehr lecker.
Zum Hauptgang bestelle ich das unvermeidliche Couscous, das Nationalgericht Marokkos, und nicht nur Marokkos. Ich probiere es nicht zum ersten Mal, und auch diesmal kann ich nicht entdecken, was daran so lecker sein soll. Es wird ein riesiger Berg Couscous auf einem tiefen Teller serviert, garniert mit gedünstetem Gemüse – Möhren, Kraut, Zwiebeln, Kichererbsen – und einer Hähnchenkeule. Das schmeckt ohne Couscous ganz gut.
Alkohol gibt es nicht, und ich weiß nicht, ob ich darüber traurig oder froh sein soll.
Als Nachtisch gibt es sehr leckere Mandarinen. Satt ist man danach für den ganzen Tag, und die Rechnung ist auch bezahlbar: 770 Dirham, 7,70 €.
Die Geldscheine haben alle das Portrait von M6, Mohammed VI., dem König, auf dem große Hoffnungen ruhten, als er die Nachfolge seines Vaters, Hassan II., antrat. Die Hoffnungen scheinen sich nicht oder kaum erfüllt zu haben. Das betrifft vor allem die Stellung der Frau, die politische Mitbestimmung des Parlaments und des Volkes und die Aufarbeitung der Regierungszeit seines Vaters.
M6 gehört der Dynastie der Alouiten an, die Marokko seit dem 17. Jahrhundert beherrscht. Sie waren „Ausländer“, Araber, genauso wie ihre Vorgänger, die Saadier. Die mittelalterlichen Dynastien, die Marokko beherrschten, waren dagegen „Einheimische“, Berber: Mereniden, Almohaden, Almoraviden. Hier in Fes ist oft von den Mereniden die Rede, während ich die Almoraviden und Almohaden eher aus Spanien kenne. Die Gründer von Marokko, die Idrissiden, waren dagegen wieder Araber.
Am Anfang der Reise muss man vor allem versuchen, an Kleingeld zu kommen. Das ist hier Mangelware. Eintritt im Museum ist dafür die beste Methode.
Dafür bietet sich eine weitere Möglichkeit im Musée du Batha, dem Volkskundemuseum, von Mekki und vom Reiseführer empfohlen. Es ist gar nicht so weit vom Blauen Tor. Das Museum hält allerdings nicht, was es verspricht.
Es ist in einem alten Palast untergebracht, der sich zu allen Seiten eines rechteckigen Gartens erstreckt. In den schmalen, gangartigen Gebäuden stehen in Vitrinen alle möglichen Objekte herum, mit knappen Beschriftungen und ohne jede Beschreibung.
Interessant ist ein Becher, mesure d’aumone, dessen Sinn sich mir nicht sofort entschließt. Offensichtlich handelt es sich um einen Messbecher für Almosen, aber auch einen Messbecher für Korn. Die Almosen sind also Naturalien. Der Prophet selbst scheint die Maße vorgegeben zu haben. Diese Becher sehen aus, als wären sie aus Messing, sind aber aus Holz!
An den Wänden hängen lange Teppiche, Berberteppiche, oder jedenfalls nach der Art der Berber gefertigte.
Reichlich vertreten ist Keramik, allesamt in Blau und Weiß. Es gibt große Schalen, die eher so aussehen, als seien sie rein dekorativ, aber auch Suppenschüsseln, bei denen man das nicht so genau weiß, und ganz praktische Dinge wie Tintenfässer und Seifenspender.
Der Garten ist ganz regelmäßig angelegt. Zwei Wege, einer längs, einer quer, teilen ihn in vier gleiche Teile. Da, wo die Wege sich kreuzen, ist eine vierfache achteckige Verzierung in den Boden eingelassen, und in deren Zentrum natürlich ein Brunnen. Das sind Muster, wie ich sie auch in Indien mehrmals gesehen habe, vor allem im Taj Mahal. Immer wieder werde ich in diesen Tagen ausgerechnet an Indien erinnert.
Die Pflanzen scheinen nach genau dem gegensätzlichen Prinzip angelegt zu sein: von allem etwas, in bunter Mischung, groß und klein, krumm und gerade. Da gibt es Pappeln, Palmen, Zedern, Platanen, Myrten und eine riesige, gebogene Eiche, die zur Seite zu kippen scheint.
Ich gehe noch mal zum Blauen Tor und kaufe unterwegs Ansichtskarten und Briefmarken. Die Briefmarken sind klein und sehr schön, alle mit unterschiedlichen Motiven, obwohl von gleichem Wert. Das Verfahren beim Kaufen ist umständlich und langwierig, mit hochmodernen elektronischen Anzeigen, die eigentlich zu nichts gut sind. Die Briefmarken sind teuer, fast ein Euro pro Stück. Dann kaufe ich noch Wasser und wunderbare, glänzende Mandelplätzchen.
Am Blauen Tor beobachte ich noch ein bisschen die Szenerie und mache ein Photo von außerhalb der Stadtmauer, auf dem man zwei Minarette sieht. Von einer alten Frau werde ich wütend zurückgepfiffen, als ich in eine Gasse abbiegen will. Vielleicht ist es der Eingang zu ihrem Haus, ist aber als solcher nicht zu erkennen. Taxis mit tuckerndem Dieselmotor kommen und gehen, und vor dem Tor warten Männer mit Handkarren auf Aufträge. Sie widmen sich dem Transport von Waren in die Medina.
Auf dem Rückweg ins Riad biege ich dann einmal falsch ab und gelange zu einem Stadttor mit einem Kleidermarkt. Hier bin ich eindeutig falsch. Dann erwische ich aber den richtigen Weg. Kurz vor dem Riad begegne ich dem Mädchen, das dort das Frühstück serviert. Sie lächelt mir unter ihrem Kopftuch freundlich zu.
Erst am Abend im Riad nehme ich zum ersten Mal den Ruf des Muezzins wahr.
11. Februar (Dienstag)
Am Morgen sind die Hühner wieder schneller als der Muezzin. Doch der folgt bald darauf.
Beim Warten auf das Frühstück fällt mir das schöne Fenster des Raums auf: Holzsprossen trennen es in acht größere und zehn kleinere Flächen auf. Die größeren Flächen sind leicht abgedunkelt, die kleinen sind farbig gefasst, in leuchtendem Gelb, Rot, Grün und Blau.
Die französische Familie fand Meknes nicht so schön wie Fes. Die deutsche Familie am Nachbartisch hat noch eine Reise in die Wüste vor, aber es ist Regen angesagt, und die Sache könnte ins Wasser fallen. Sacken die Kamele dann im Wüstensand ein?
Hier ist Fes ist es heute zum ersten Mal sonnig und auch etwas wärmer. Diesmal gehe ich über die Talaa Seghira, die „Kleine Straße“, durch die Medina. Ich will ein paar Sachen sehen, die ich am Vortag nicht gesehen habe. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich gesehen habe. Die schwierige Orientierung, die fremden Namen, die Ähnlichkeit der Sehenswürdigkeiten und die wenig systematische Stadtführung haben für Verwirrung gesorgt.
Genauso wichtig wie die Besichtigungen sind aber die vielen kleinen Eindrücke, die man am Rande mitbekommt: Ich sehe einen Fischverkäufer, der mit den Sardellen mit einer Schere die Köpfe abschneidet, einen Esel, der für die Müllabfuhr eingesetzt wird, einen Zwiebelverkäufer, der die Zwiebeln auf seinem Handkarren mit Wasser bespritzt, einen Mann und eine Frau, beide alt, die ein schweres Bündel durch die Medina tragen, er auf dem Rücken, sie auf dem Kopf, einen Packen gelber Seide am Wegesrand. An einer Koranschule, aus der die Stimmen von Kindern kommen, die Koranverse herunterleiern, steht eine arabische Inschrift zwischen den Zahlen 1949 – 1368. Das ergibt nur Sinn, wenn man von rechts nach links liest.
Was man besichtigen könnte, ist entweder nur Muslimen zugänglich oder wird renoviert. Man muss sich mit einem Blick von außen begnügen.
Dazu gehört auch die Universität. Vor der haben wir auch gestern gestanden, aber ich habe sie gar nicht als Universität wahrgenommen, denn sie wurde als Moschee präsentiert. Das war sie auch ursprünglich und ist sie wohl auch immer noch, weshalb das Betreten nicht erlaubt ist. Ihr weißes Minarett der Moschee ist eine der Orientierungspunkte in Fes, aber mitten in der Medina sieht man es meistens nicht.
Die ursprüngliche Moschee war viel kleiner als die heutige und wurde, wenn man der Inschrift glauben darf, von einer Frau gegründet, Fatima al-Fihri, und zwar im 9. Jahrhundert!
Die Moschee wurde dann immer weiter ausgebaut und entwickelte sich zu einem Zentrum der Wissenschaft, an der unter anderem Maimonides lehrte. Die Universität scheint den ersten europäischen Universitäten noch voranzugehen. Irgendwo ist sogar von der ersten Universität der Welt die Rede! Das war die Zeit, als muslimische Reisende entsetzt von der Armut, der Rückständigkeit, dem Mangel an Hygiene und Komfort in Europa berichteten, der Dritten Welt des Hochmittelalters.
Wie groß die Universität – oder Moschee – heute ist, kann man an den vielen Toren ermessen, an denen man immer wieder vorbeikommt, wenn man durch die Medina geht, insgesamt vierzehn. Alle Türen sind verschlossen außer dem Hauptportal. Hier kann man einen Blick in den Innenhof mit einem großen Brunnen im Zentrum werfen. Mehr sieht man nicht.
Auch, wenn man die Universität nicht besichtigen kann, wird mir jetzt endlich ein Faktor aus der Geschichte von Fes klar: Die Frau, die die erste Moschee gründete, kam aus Kairouan, in Tunesien, und daher hat die Universität ihren Namen: Karouine! Die Flüchtlinge aus Kairouan bildeten eine Stadt, die aus Andalusien eine andere. Später wurden die Stadtmauern eingerissen und die beiden Städte vereinigt: Fes-el-Bali, das, was wir als Medina bezeichnen.
Ich komme zur Place Seffarine, dem Kupferplatz. Die auf dem Boden sitzenden hämmernden Arbeiter und die sich stapelnden Waren aus Kupfer und Messing ziehen die Blicke auf sich. Pfannen, Töpfe, Eimer, Teekessel, Weihrauchgefäße, Zuckerdosen und Samoware kommen hier zur Herstellung. Es gibt eine Produktionslinie, an der jeder Arbeiter eine bestimmte Funktion übernimmt, eine frühindustrielle Arbeitsweise, die sich von den Handwerkern der anderen Viertel unterscheidet.
Das Gegenstück dazu bieten die Handwerker in Rue Mechatine, einer von der Place Seffarine abbiegenden Straße. Hier wird das Horn der Tiere vom Schlachthof verarbeitet, zu Löffeln und Gabeln, aber auch zu Armreifen und Ringen. Es gibt allerdings nur noch einen einzigen Handwerker alten Stils hier. Er ist über 80 Jahre alt und sitzt in seiner „Werkstatt“, die nichts anderes ist als eine Vertiefung in der Stadtmauer. Bei ihm kaufe ich einen Kamm in der Form einer Maus.
Gleich an der Place Seffarine liegt der Eingang zur Bibliothek der Universität. Sie wurde von Sultan Abou Inane gegründet (XIV) und von Sultan Al Mansur erweitert (XVI). Hier wurden Werke von Averroes, von Ibn Khaldun und Ibn Al Khatib aufbewahrt. Der Bestand war so bedeutend, dass man die Bibliothek mit einem Kupferschloss absicherte, das vier Schlösser hatte. Vier Bibliothekare hatten jeweils nur einen der Schlüssel. Das hört sich wie aus einem Märchen an.
Gleich neben der Bibliothek ist der Zugang zur Kisaria, ein eigens überdachter Souk, der abends verschlossen wird, da hier besonders wertvolle Waren verkauft werden. Ich laufe durch die Kisaria und komme zu einem Gebäude mit einem Turm, das aber kein Minarett ist. Es unterscheidet sich von einem Minarett dadurch, dass es keine Laterne hat. Die Funktion des Turms war es, die Mondphasen für den muslimischen Kalender zu beobachten und zu bestimmen. Im Ramadan wurde von diesem Turm aus auch die Zeit für die letzte Mahlzeit am Morgen vor dem Fasten angekündigt.
Bis hierher habe ich die Orientierung bewahrt, aber jetzt komme ich irgendwie vom Wege ab. Immer wieder werde ich von Jungen verfolgt, die kaum abzuschütteln sind. Sie fangen sehr höflich an, werden dann aber immer aggressiver. Irgendwie gelingt es ihnen, mich in ein ausgestorbenes Viertel zu treiben. Eine der gängigen Strategien lautet, die Gasse sei blockiert. Eine andere, man müsse Eintritt bezahlen. Langsam wird mir doch etwas mulmig, aber dann sehe ich plötzlich in einiger Distanz wieder Lebenszeichen und bin kurz darauf in der Kebira.
An dem Blauen Tor warte ich auf einen Fahrer, um die Tour de Fes zu machen. Ich setze mich in ein Café, auf die Terrasse, und bekomme einen Milchkaffee. Erst habe ich mich kaum getraut, danach zu fragen, weil alle anderen entweder Espresso oder Tee trinken. Der Kaffee ist hervorragend und kostet gerade mal 8 Dirham. Der Kellner freut sich über das Lob. Die Cafés sind in Marokko reine Männersache. Die meisten sitzen für sich allein und tun gar nichts. Bei uns würde man vermutlich Zeitung lesen, aber eine Zeitung bekomme ich hier erst am letzten Tag zu Gesicht.
An einer Häuserwand hängt ein großes Plakat, auf dem man in Fes willkommen geheißen wird: „Lächele, du bist in Fes.“ Das gibt es vielen verschiedenen Sprachen. Außer den gängigen europäischen Sprachen einschl. Russisch und Griechisch sind auch Japanisch und Chinesisch vertreten. Und eine nicht identifizierbare Sprache, in der es „Smile, you’re katika Fes“ heißt.
Fes war bis zum Beginn des französischen Protektorats Hauptstadt Marokkos. Es verlor dann seinen Status als politische Hauptstadt an Rabat und seinen Status als wirtschaftliche Hauptstadt an Casablanca. Vorher war die Hauptstadt mehrmals zwischen Fes und Marrakesch gewechselt, mit Ausnahme einer Periode, als Meknes Hauptstadt war.
Casablanca hieß, als portugiesische Gründung, ursprünglich Casa Branca. Die Stadt wurde durch das Erdbeben von 1755 zerstört und von den Saadiern mit dem arabischen Namen Dar-el-Beida wieder aufgebaut. Dann ließen sich spanische Händler dort nieder und nannten die Stadt Casablanca.
Der Fahrer ist auf die Minute pünktlich. Es geht einmal ganz um Fes herum, auf einer sich windenden, ständig rauf und runter führenden Straße. Wir begegnen einmal einem Mann, der Bambusstäbe auf einem Handkarren transportiert und seine liebe Not und Mühe hat, den abwärts drängenden Karren bei sich zu halten.
Man sieht, wie groß die Stadt und wie groß die Medina ist, und man sieht auch die lange, hohe Stadtmauer, die sich um die ganze Medina zieht. Es gibt zwei Aussichtspunkte, von denen man das Gesamtbild bekommt, den Borj Nord und den Borj Sud, ehemalige Festungen auf den Hügeln um die Stadt herum. Von dort aus blickt man in den Talkessel, in dem Fes liegt. Die Hügel der Umgebung sind hoch und kahl auf der einen und fruchtbar auf der anderen Seite. Hier wachsen Ölbäume und Maisstauden. Der Blick vom Borj Sud ist ganz anders als der vom Borj Nord, vielleicht wegen des Stands der Sonne. Vom Borj Sud hat man jedenfalls einen schönen Blick zwischen erhöhten Teilen der Stadtmauer hindurch auf die grünen Dächer des Mausoleums.
Der erste Halt ist aber am Königspalast. Auch der ist natürlich nicht zugänglich, aber von der breiten Esplanade vor dem Palast kann man sich die prachtvolle Fassade ansehen. Sie hat sieben vergoldete Messingtore, in regelmäßiger Abfolge groß-klein-groß. Über den Bögen Mosaike, und darüber Galerien mit niedrigen Säulen und darüber Vordächer, wie das Dach selbst mit grünen, glasierten Kacheln abgedeckt.
Der Königspalast liegt im Fes Djedid, der ‚Neustadt‘ die aber fast so alt ist wie die Medina, Fes el Bali, und nichts mit der französischen Neustadt zu tun hat. Hier liegt auch das Jüdische Viertel.
Wir kommen auf die Umgehungsstraße und ich erfahre, dass die direkt nach Algerien führt. Dummerweise will ich wissen, wie weit das ist, aber das weiß der Mann nicht. Er schätzt 500 km. Ich hatte gedacht, es wäre näher, aber er scheint recht zu haben.
Das Benzin kostet 90 Dirham. Dabei hat Marokko selbst kein Erdöl. Entweder gibt es hier nicht so hohe Steuern auf das Benzin oder die arabischen Bruderstaaten helfen mit günstigen Preisen aus.
Der nächste Halt ist, allerdings nur auf meinen ausdrücklichen Wunsch, der Friedhof. Hier herrscht ein Treiben wie auf einem Markt, jedenfalls am Eingang. Die Gräber liegen dicht gedrängt auf dem Abhang des Hügels, möglicherweise auf Mekka ausgerichtet. Alle Grabsteine sind weiß und unterscheiden sich kaum voneinander. In den Grabstein eingelassen sind dann die Grabplatten mit der grünen Einfassung, deren Produktion ich in der Medina gesehen habe.
Dann kommt ein Halt in einer Keramikwerkstatt. Mir schwant nichts Gutes. Ich hatte, wenn auch nur in holprigem Französisch, von vornherein klar gemacht, dass ich nichts kaufen will. Aber man verhält sich dezent, und am Ende, in der obligatorischen Verkaufshalle, wird kein Druck ausgeübt.
Die Besichtigung ist interessant. Und der Führer, dem ich hier übergeben werde, sehr freundlich. Er hat sofort einen deutschen Reiseführer in meiner Tasche entdeckt und bringt dann bei Gelegenheit das eine oder andere deutsche Wort aus der Töpfersparte an den Mann.
Der Grundstoff ist grauer Ton, aus der Nähe von Fes. Der wird hier in einem losen Haufen an einer Wand gelagert. Er wird mit Wasser vermengt und dann mit nackten Füßen zu einer Masse gestampft. Dann wird die Masse an der Luft getrocknet. Und kommt dann zu dem Töpfer.
Dem kann man bei der Arbeit an der mit dem Fuß betriebenen Töpferscheibe beobachten. Ob wirklich alle Produkte hier noch so hergestellt werden? Jedenfalls behauptet das mein Führer. Es entsteht gerade eine Tajine, die Schüssel, die dem zweiten marokkanischen Nationalgericht neben dem Couscous ihren Namen gegeben hat. Als die Sache Form angenommen hat, teilt er mit einem hauchdünnen Faden den Deckel vom Topf. Fertig!
Die fertigen Produkte werden getrocknet und dann ein erstes Mal gebrannt. Dabei verändert sich die Farbe. Dann wird glasiert und wieder gebrannt, und wieder verändert sich die Farbe. Das heißt, es kommt eine andere Sache aus dem Ofen als man reingetan hat.
Als wir vor dem Brennofen stehen, zeigt der Führer mir eine braune Masse. Das ist der Brennstoff. Ich soll raten, was das ist. Keine Ahnung. Olivenkerne! Ein günstiger Brennstoff. Sie sind eigentlich Abfall und eignen sich dem Vernehmen nach besonders gut zum Brennen von Keramik.
Dann kommt eine linguistische Frage: Was heißt Mosaik auf Arabisch? Vielleicht Mosaik? Nein. So was wie zellij. Mein Führer muss es ein paarmal wiederholen, bis der Groschen fällt: azulejos! Daher haben die Spanier das Wort!
Wie die Mosaiken entstehen, ist unglaublich. Erst einmal werden die gerade hergestellten, glasierten und gebrannten Platten kaputt gemacht! Sie werden mit einem einfachen Hammer in eine Vielzahl von Formen, ganz kleinen Einheiten, zerschlagen. Das grenzt an ein Wunder.
Der junge Mann, der das so kunstvoll macht, trägt ein BVB-Trikot, und sofort kommt wieder die Rede auf Fußball. Mein Führer erweist sich wiederum als echter Kenner. Er weiß genau, wen Bayern von Dortmund gekauft hat und wen sie noch kaufen werden. Er selbst ist Anhänger von Barca. Davor gebe es hier viele, Real Madrid dagegen kaum.
Was kaputt ist, wird jetzt wieder zusammengesetzt. Darum kümmert sich ein anderer, ein alter Mann mit Dschellaba. Er muss die Steinchen aber auf dem Kopf anordnen, mit der farblosen Seite nach oben, sieht also nicht, welches Muster entsteht. Das muss er alles im Gedächtnis behalten. Ein falscher Stein, und mit etwas Pech ist das ganze Muster hinüber!
Ich bin beeindruckt, als ich die Werkstatt verlasse. Ich bitte meinen Fahrer, mich im Jüdischen Viertel herauszulassen. Da seien wir doch schon gewesen, meint er. Ich kann ihn aber überzeugen, dass ich trotzdem noch mal dahin will.
Auch hier gibt es allerhand Krempel zu kaufen. Aber es scheint mehr Verkäufer als Käufer zu geben. Die Verkäufer sitzen meist reglos herum. Am besten haben es die Möbelverkäufer. Die machen es sich auf einem Sofa bequem und halten Siesta.
Das Jüdische Viertel scheint ein Viertel ohne Juden zu sein. Jedenfalls kann ich nichts Jüdisches erkennen, und die Synagoge und den Friedhof finde ich nicht. An einem Geschäft sehe ich sogar ein Schild mit Öffnungszeiten für das Jahr und geänderten Öffnungszeiten für den Ramadan. An einer Straße sieht man eine ganze Häuserreihe mit schönen Holzbalkonen. Die sind anders als in der Medina, aber ob die auf jüdisches Erbe schließen lassen?
Auf vielen Umwegen und mit der Hilfe eines Mannes, der mich durch lauter verdächtig aussehende Viertel führt, komme ich dann wieder auf den Weg nach unten. Der endet in einem sehr gepflegt angelegten Park, ein riesiger Kontrast zu dem Durcheinander des Jüdischen Viertels. Es gibt eine kleine, künstlich angelegte Insel mit Palmen, einen Weg mit hohen Bambusbäumen und die Nachbildung eines Schöpfrads, wie die Araber es schon im Mittelalter hatten. An dem See eine Gruppe von Mädchen, die hysterisch kreischen, wenn sie einen Wassertropfen abgekommen. Ein ebenso universales wie unerklärliches Phänomen der Spezies Weib.
Unterwegs halte ich an einem Karren mit Datteln an. Sofort kommen drei Männer auf mich gestürzt. Ich erkundige mich nach dem Preis – 10 Dirham pro Kilo – und mache meine Bestellung. Prompt wird eine Plastiktüte bereitgestellt und mit vollen Händen gefüllt. Bald wird mir das unheimlich. Ich habe den Mut, einzuschreiten und zu fragen, wohin das führen soll. Die Männer sagen, sie hätten „zwei Kilo“ verstanden. Tatsächlich habe ich „ein Viertel“ gesagt. Das bekomme ich dann auch am Ende. Auch das ist natürlich noch viel zu viel. Auf dem weiteren Weg lasse ich Kinder und alte, am Wegesrand sitzende Männer und Frauen in die Tüte greifen. Keiner sagt nein. Datteln haben im Islam eine besondere Bedeutung, da der Prophet sie, zusammen mit Milch, als letzte Mahlzeit vor dem Fasten aß. Sie wachsen nur an weiblichen Dattelpalmen. Von denen gibt es zwanzig auf eine männliche. Die Dattelpalmen werden bis zu 200 Jahre alt und haben ihre fruchtbarste Zeit zwischen 30 und 100 Jahren. Dann produzieren sie zwei Zentner Datteln pro Jahr!
Ziemlich erschöpft suche ich dann ein im Reiseführer empfohlenes Restaurant, etwas abseits, in der Nähe der Post gelegen, nicht so leicht zu finden, da Straßenschilder entweder nicht existieren oder auf Arabisch sind. Fragen hilft auch nicht immer. Am Ende hilft mir der Mann von der Post. Der spricht fließend Französisch und kennt auch die Straßennamen.
Das Restaurant ist zu dieser Zeit allerdings geschlossen. Ich kann mich aber kurz umsehen. Man kommt sich vor wie in einem Sultanspalast. Weiche, niedrige Sessel und Sofas unter einem überkuppelten Dach, das Ganze schwach beleuchtet. Hier wird sozusagen im Liegen gegessen. Man lässt mich auch einen Blick ins Menu werfen. Stolze Preise.
Der Hunger treibt mich dann in eins der gängigen Lokale im Zentrum, Chez Hakim. Eine treue Imitation des La Kasbah vom Vortag: Menu, Preise, Terrasse, alles gleich, sogar die Tomatensuppe scheint von demselben Koch zubereitet. Beim Hauptgericht verzichte ich allerdings auf das Couscous und nehme das zweite Nationalgericht Marokkos, die Tajine. Die gibt es in allen möglichen Variationen. Ich nehme Rindfleisch mit Pflaumen, mit Mandeln, Safran und Zimt serviert. Ausgezeichnet! Serviert wird in eben dieser Tajine, von der das Gericht seinen Namen hat und die ich vorher bei der Tour in der Keramikwerkstatt gesehen habe. Der spitz zulaufende Deckel wird mit einer dramatischen Geste entfernt und zum Vorschein kommt das Gericht.
Beim Aufstieg auf die Terrasse habe ich mir eine ordentliche Beule eingefangen. Die hohen und unregelmäßigen Stufen fordern alle Aufmerksamkeit und es bleibt keine für Gefahren, die von oben lauern. Solche Stufen gibt es auch im Holzmuseum, im Riad und in dem Lokal von gestern.
12. März (Mittwoch)
Warum gibt es in Marokko eigentlich keine römischen Baudenkmäler? Schließlich gehörte Marokko ja wie ganz Nordafrika zum Römischen Reich. Die Antwort ist ganz einfach: Gibt es. Und zwar in einem Ort mit dem nicht sehr arabisch klingenden Namen Volubilis, etwa zwischen Fes und Rabat gelegen. Auch Tanger scheint auf eine römische Gründung zurückzugehen.
Marokko ist, grob gesagt, zweimal so groß wie Deutschland und hat halb so viele Einwohner. Die Einwohner konzentrieren sich in zwei Stadtregionen, um Casablanca und um Rabat herum.
Marokko ist sogar dreimal so groß wie Deutschland, wenn man die West-Sahara dazurechnet. Die hat man sich mit einer legendären Aktion einverleibt, dem Friedensmarsch, genau zu dem Zeitpunkt, als die letzten spanischen Truppen die Kolonie verließen. 250,000 unbewaffnete Marokkaner gingen mit dem Koran in der Hand über die Grenze und ließen sich in der West-Sahara nieder. Bald folgte das Militär. Die Sahauris flüchteten in großen Zahlen nach Algerien. Der Konflikt ist immer noch nicht gelöst. Marokko sieht die West-Sahara als einen festen Bestandteil des Landes an, obwohl es keine richtige Legitimation gibt, was auch die internationale Gemeinschaft so sieht. Die Polisario agiert von Algerien aus, hat aber den bewaffneten Kampf so gut wie eingestellt. Immer wieder wird ein Referendum angekündigt, aber nicht durchgeführt. Die Frage ist: Wer darf abstimmen? Die Verteidigung der West-Sahara kostet viel Geld, und Mauretanien, das sich zuerst an der Besatzung beteiligt hat, hat sich inzwischen aus der West-Sahara zurückgezogen. Daraufhin hat sich Marokko auch dieses Gebiet einverleibt.
Nach dem Frühstück will Mekki mich überreden, hier im Riad zu Mittag oder zu Abend zu essen. Fatima, das Mädchen, das das Frühstück serviert, sei eine ausgezeichnete Köchin. Ich weiß nicht, wie ich aus der Nummer herauskommen soll. Eigentlich will ich noch unbedingt das typische Gericht von Fes probieren, die Pastilla. Aber es stellt sich heraus, dass es die auch hier gibt. Also sage ich zu. Ich frage nach dem Preis. Ganz marokkanischer Händler, vermeidet er es, einen Preis zu nennen und sagt „I’ll make you a good price.“ Wein kann er aber nicht auffahren. Er hat aber keine Einwände, wenn ich mir selbst eine Flasche besorge.
Dann zeigt er mir ein Buch mit arabischer Kaligraphie. Man ist erstaunt, was man mit Buchstaben alles machen kann. Größe, Form, Schwung der Buchstaben unterscheiden sich so, dass man ganz andere Bilder bekommt. Außerdem werden die Buchstaben oft zu Bildern zusammengefügt, z.B. zu Schiffen. Es gebe eine iranische, eine irakische und zwei osmanische Traditionen. Deshalb ist es so schwer, die unterschiedlichen Texte zu entschlüsseln. Aber die Texte selbst treten hier wohl eher in den Hintergrund.
Als ich das Riad verlasse, stoße ich mir den Kopf an der niedrigen Haustür, genau da, wo ich mir gestern schon eine Beule geholt habe. Draußen ist es mäßig warm, aber sehr windig. Im Laufe des Tages steigen die Temperaturen wieder.
Mit dem Taxi geht es in die Neustadt, kein leichtes Unterfangen, denn der Taxifahrer spricht kein Wort Französisch. Mit Hilfe einer Karte und ein paar Gesten wird das grobe Ziel aber klar. Was allerdings das Centre Artisanal ist, das ich suche, weiß er nicht. Unterwegs hält er unvermittelt an. Eine Frau steigt zu und bald wieder aus. Als wir dann ins Zentrum kommen, spricht er einen Passanten an. Der weiß, wo das Centre Artisanal ist und steigt gleich mit ein. Am Ende zahle ich den sensationellen Preis von 10 Dirham.
Das Centre Artisanal entpuppt sich als eine Enttäuschung. Angeblich kann man hier Handwerkern bei der Arbeit zusehen, aber davon ist weit und breit nichts zu sehen. Es gibt nur eine Ausstellungshalle mit fertigen Produkten.
Das Centre Artisanal liegt an einem sechsspurigen Boulevard mit einem breiten, palmenbestandenen Mittelstreifen. Ich gehe da ein Stück entlang und komme dabei an einem palastartigen Gebäude vorbei: dem Polizeipräsidium. Eine fürstliche Herberge für die Bullen.
Mit Afrika hat das allen natürlich wenig zu tun. Das ist französisch. Aber einen kolonialen Charme wie bei der Neustadt von Rabat kann man hier bei den gesichtslosen Bürobauten nicht erkennen. Später muss ich umdenken, als Mekki mir von der französischen Stadt vorschwärmt. Wie schön es doch da sei. Die Marokkaner haben natürlich andere Augen als wir Touristen. Für sie bedeutet die Neustadt Komfort, Modernität, sozialer Aufstieg. In der Medina wohnt man entweder unfreiwillig oder weil man schon immer dort gewohnt hat.
Ich mache mich auf die Suche nach Carrefour, dem verheißungsvollen Ort, an dem es Wein geben soll. Ich werde in die umgekehrte Richtung und vom dem Boulevard weggeschickt und komme in eine etwas lebendigeres, schöneres Zentrum mit kleineren Straßen. Dahin zu gelangen ist allerdings nicht leicht. Das Überqueren der Straße ist ein Abenteuer. Am besten wirken der entschlossene Blick und der ebenso entschlossene Gang.
Im Zentrum reiht sich ein Geschäft an das andere, lauter moderne Geschäfte, die Bedürfnisse decken, die die Leute in der Medina gar nicht erst haben: Kontaktlinsen, Uhren, Handys, Plastikspielzeug, Schuhputzer und Banken, Banken, Banken.
Dann komme ich an einer Parapharmacie vorbei und frage mich, was das wohl ist.
Zu Carrefour ist es eine ganz schöne Strecke. Am Ende taucht es an einer großen Kreuzung auf, zwischen Burger King und McDonalds. Man betritt eine Shopping Mall, wie sie überall in der Welt stehen könnte und wird mit lauter arabischer Musik empfangen. Carrefour befindet sich im Untergeschoss. In dem riesigen Laden verlieren sich ganz wenige Kunden. Ich mache mich auf die Suche nach den Weinregalen, habe aber keinen Erfolg. Also fange ich wieder von vorne an, diesmal ganz systematisch. Dann entdecke ich irgendwo ein paar Bierdosen. Alkoholfreies Bier. Und kein Wein zu sehen. Also frage ich einen Mann am Eingang. Der bittet mich, zu warten, klärt etwas mit einer Kollegin an der Kasse und bittet mich dann hinaus. Er begleitet mich ans Ende der Shopping Mall und deutet dann auf einen Eingang. Nochmals Carrefour, eine Sonderabteilung: Cave alcool, die ‚Alkoholhöhle‘.
Da gibt es reichlich Auswahl. Die ausländischen Weine sind sehr teuer, die marokkanischen nicht. Ich kaufe eine Flasche Rotwein aus Meknes.
Dann geht es mit dem Taxi zurück. Der Taxifahrer muss erst noch die anderen Passagiere wegbringen, lässt mich dann eine Zeitlang im Wagen sitzen und macht dann mit mir eine weite Runde, als ob er die Tour de Fes mit mir wiederholen wollte. Als ich schon den Glauben verloren habe, jemals wieder ans Ziel zu kommen, stehen wir plötzlich vor dem Blauen Tor.
Dort trinke ich in dem Café von gestern einen Kaffee. Ein anderer Kellner und gestiegene Preise. Aus 8 Dirhams sind 10 geworden. Eine Inflationsrate von 25%!
Auf dem Weg zurück ins Riad sehe ich zum ersten Mal ein Schild, das an einem Durchgang in einer der Gassen hängt: Not street.
Mekki hat mir ein Café empfohlen, das Café Clock, ganz in der Nähe der Medersa Bou Inania, nicht weit vom Riad entfernt. Man geht von der Talaa Kebira ab in ein ganz enges überdachtes Gässchen, mit Holzgerüsten an den Lehmwänden, und als man schon glaubt, hier kann es nicht sein, steht man vor dem Eingang.
Das Café bezeichnet sich als „Crosscultural Café“ und erweist sich als echter Geheimtipp. Es werden Exkursionen, Einführungen in Kalligraphie, besondere Mahlzeiten und all so was angeboten. Es gibt auch einen zweistündigen Einführungsunterricht in marokkanische Etikette und Sitten, verbunden mit dem Erlernen von wichtigen Wörtern und Ausdrücken, und ich versuche, mich gleich für morgen anzumelden, aber der Mann ist leider ausgebucht.
Das Café befindet sich in einem schönen, quadratischen, sehr hohen Innenhof mit quasi frei schwebender Terrasse ganz oben, kurz vor dem Oberlicht. Eine Skulptur aus Orgelpfeifen hängt fast in ganzer Höhe von oben herunter.
Die Böden und Bögen haben Fliesenmosaik, an den nackten Wänden hängen marokkanische Handtaschen, alte Photoapparate und Uhren aller Art: The Clock Café. Der Name nimmt vermutlich Bezug auf eine alte Uhr in der Talaa Kebira, die leider nicht mehr funktioniert. Ursprünglich wurde sie wohl mit Wasser betrieben, aber wie das funktionierte, erschließt sich heute nicht mehr. Es sind nur noch ein paar hölzerne Stangen übrig.
Ich bestelle einen Kaffee und einen Teller mit marokkanischen Plätzchen, eine bunte Mischung. Alle sehr gut, besonders eins mit einer Erdnusspaste zwischen Schokolade und eins mit Mandeln in einer Feige.
Danach geht es ganz langsam, aber zielstrebig zur Medersa el Attarine. Sie ist gerade restauriert worden. Warum sie dieser Tage bei der Stadtführung ausgelassen wurde, verstehe ich nicht, aber inzwischen weiß ich das wenigstens.
Diese Medersa hat ihren Namen von dem nahegelegenen Gewürzmarkt. Sie wurde von einem der Mereniden-Herrscher eigens für Schüler von außerhalb der Stadt angelegt.
Man wird durch ein kleines Holztor in den Innenhof gelassen. Und mit einem optischen Paukenschlag begrüßt. Der Eindruck ist überwältigend und wird noch dadurch gesteigert, dass ich ganz alleine bin. Danach kommt ein junges amerikanisches Paar und dann eine kleine geführte Gruppe, und alle reagieren mit einem Ruf des Erstaunens. Bögen, Gesimse, Konsolen, Friese, Inschriften, Arabesken – man weiß nicht, wo man zuerst hinsehen soll. Vielleicht ist das sogar das Strukturprinzip. Bei christlichen Bauwerken gibt es eher einen „Hingucker“, hier ist alles offen.
Auch hier kann man wieder die drei Materialien unterscheiden, die diese Architektur ausmachen: Fliesen, Stuck, Holz. Inschriften aus dem Koran gibt es in allen drei Materialien. Von oben scheint die Sonne herein und wirft Licht und Schatten auf einzelne Teile.
Ein Torbogen mit Stalaktitenmuster führt in den Gebetsraum mit einem pyramidenförmigen, holzgeschnitzten, hohen Dach und einer schön dekorierten Gebetsnische aus Stuck.
Die Medersa wurde noch bis ins 20. Jahrhundert als Schule benutzt. Wie das genau funktionierte, kann man sich schlecht vorstellen. Man sieht nur den Innenhof und den Gebetsraum und keinerlei Ausstattung. Die Zimmer der Schüler befanden sich wohl im nicht zugänglichen ersten Stock.
Dann mache ich mich auf die endlose Suche nach der Zaouia Moulay Idriss II., dem Mausoleum des Stadtgründers. Die Suche ist am Ende erfolgreich, aber nutzlos: Auch hier wird renoviert, und selbst der Schlitz in der Wand, durch den gläubige Muslime ihre Hand strecken, um in Kontakt mit dem Heiligen zu kommen, ist nicht zu sehen.
Trotzdem lohnt es sich, denn man erfährt bei der Gelegenheit etwas von der Stadtgeschichte von Fes. Moulay Idriss II. gilt als der Stadtgründer und wird gleichzeitig wie ein Heiliger verehrt. Daher wurde sein Mausoleum, das erst nach Jahrhunderten wiederentdeckt wurde, zum Wallfahrtsort. Sein Vater ist der Namensgeber von Moulay Idriss, der heiligsten Stadt Marokkos, in der Nähe von Meknes gelegen. Dort herrscht das ganze Jahr über großer Andrang, denn Muslime, die siebenmal nach Moulay Idriss pilgern, müssen nicht mehr nach Mekka pilgern. Das kommt vielen marokkanischen Muslimen entgegen, denn viele können sich eine Pilgerfahrt nach Mekka nicht leisten. Diese Reservepilgerfahrt wird allerdings von der muslimischen Orthodoxie nicht anerkannt.
Moulay Idriss war ein direkter Nachkomme des Propheten. Er war, ein gutes Jahrhundert nach dessen Tod, nach dynastischen Kämpfen aus Arabien in den Westen geflüchtet und ließ sich in Volubilis nieder, das er zu seiner Residenz machte. Die islamisierten Berber riefen ihn zu ihrem Führer auf. Er wurde von Anhängern der Gegenpartie vergiftet. Sein Sohn baute dann Fes zur Festung aus.
Bei der langen Suche nach dem Mausoleum komme ich durch Teile der Medina, in denen ich noch nie gelandet bin, gleichzeitig aber immer wieder an bekannten Stellen vorbei. Unter anderem komme ich am Henna-Markt vorbei. Henna wurde bei freudigen Ereignissen aufgetragen, und zwar auf Hände und Füße! Es gibt auch eine Reihe anderer Kosmetika wie Rosenwasser und Walnussrinde. Die benutzte man als Zahnpasta. Mohnpulver wurde zum Schmuck auf Lippen und Backen aufgetragen.
Der krönende Abschluss des Tages ist dann das Abendessen im Riad. Es gibt einen Salat aus Möhren, Kartoffeln, rote Beete und Eiern, alles in winzig kleine Quadrate geschnitten. Dann kommt die sehr gute Pastilla, ein Blätterteich mit einer Füllung aus Fleisch und Eiern, bestäubt mit einer Mischung aus Puderzucker und Zimt! Die bilden ein kunstvolles Muster aus Kreuzen auf dem runden Teig. Der marokkanische Wein, Ksar, schmeckt ausgezeichnet. Das Wort ksar bezeichnet ein befestigtes Dorf, vor allem das traditionelle Berberdorf mit Häusern aus Lehm.
Von den Berbern habe ich in diesen Tagen bis auf ein paar bunte Berbergewände kaum etwas mitbekommen. Man trifft wohl eher in den Gebirgen, vom Rif bis zum Altas, auf sie. Sie sind ein Sonderfall in der Sprachgeschichte insofern, als sie sich trotz Islamisierung und jahrhundertelanger arabischer Herrschaft ihre Sprache erhalten haben. Bei einer solchen Konstellation, wenn die Eroberer die überlegene Kultur sind, eine Schrift haben und Institutionen schaffen und außerdem ihre Religion durchsetzen, geht die Sprache der Einheimischen in der Regel verloren, obwohl es Ausnahmen gibt. Im Falle der Berber liegt es vielleicht daran, dass sie hauptsächlich in den Dörfern lebten oder daran, dass die arabischen Eroberer in der Minderheit waren.
13. März (Donnerstag)
Am Morgen führt mir Mekki einen Wunderstab vor. Er zeigt mir eine sehr schöne Ausgabe des Korans mit farbigen Kreisen am Rande. In diese Kreise sind die Namen verschiedener Sprachen eingeschrieben: Englisch, Französisch, Arabisch, Urdu usw. Er hält den Stab auf einen der Kreise und dann auf eine Koransure, und der Stift liest die Passage auf Englisch!
Der Gang durch die Medina wird nie langweilig: Ein Metzger hantiert mit einer Säge an einem Knochen herum, der Rosenwasserverkäufer hat es sich zwischen den Flaschen bequem gemacht und döst vor sich hin, Katzen balgen sich um Tiergedärm, ein deutscher Tourist führt zwei große Hunde durch die Medina spazieren.
An einem Buchladen sehe ich ein Schild mit dem unvermeidlichen Rechtschreibfehler: Welcome. Inside we have more english books. Oben drüber steht’s richtig.
Ich mache noch einen Versuch mit der Synagoge im Jüdischen Viertel, und diesmal klappt es. Man betritt die Synagoge durch einen unscheinbaren Kellereingang. Sie liegt fensterlos im Untergeschoss. Man kann die Synagoge ohne Kopfbedeckung betreten. Warum, weiß ich nicht.
Es ist ein einfacher, zweischiffiger Raum. Von der Balkendecke hängen ganze Reihen von Lampen herab, einige aus Glas, andere aus Messing. Die Thora wird an der Seite aufbewahrt, hinter einem schönen, tiefroten Vorhang aus Samt mit goldenen Lettern und einer Krone, dem siebenarmigen Leuchter und dem Davidsstern.
Eine Treppe führt in die Mikwe hinunter. Ein Aufpasser weist mir den Weg. Um sicherzustellen, dass ich verstanden habe, sagt er: Haman! Unten gibt es aber nichts zu sehen, außer abgestandenem Wasser.
Ich entrichte meinen Obolus und frage mich noch zum Jüdischen Friedhof durch. Dort begrüßt mich ein alter Mann auf Deutsch und schiebt dann ein paar völlig unverständliche Erklärungen auf Englisch hinterher. Die einzige Wörter, das ich verstehe, sind Cholera und Rabbi. Als ich ihm zehn Dirham in die Hand drücke, sagt er: „Mehr!“
Er bleibt am Eingang stehen und ich gehe zu den Gräbern hinunter. Ich bin hier ganz für mich.
Auf den ersten Blick sieht der Friedhof wie der muslimische aus, alle Grabsteine sind weiß und abfallend auf einem Hügel angeordnet. Es gibt aber größere Unterschiede zwischen Arm und Reich. Die Gräber der Armen scheinen anonym zu sein und haben alle die gleiche Form, eine längliche Wulst, wie eine zusammengerollte Decke. Vielleicht sind die Inschriften nur verblasst, vielleicht handelt es sich hier aber auch um die Opfer der Cholera-Epidemie.
Es gibt aber auch eine ganze Reihe von Gräbern, die die Form von Sarkophagen haben. Die Inschriften verraten die Namen der Toten: Benjamin, Aaron, Yehuda, Jonathan, Salomon, Saul. Der gängigste Nachname ist Cohen. Alles sehr jüdisch. Es gibt aber auch kuriose Verbindungen wie Simon Sultan.
Die Inschriften sind auf Hebräisch, aber manchmal auch zweisprachig, mit Spanisch oder Französisch als zweiter Sprache. Die jüngste Inschrift ist von 2011, die älteste, die ich finden kann, ist von 1733. Sie ist auf einem pompösen, aber ziemlich heruntergekommenen Grabstein zu sehen, der einen Löwen abbildet. Das ist vermutlich das Grabmal des Rabbi, den der Mann am Eingang erwähnt hat. Über einer eigenen Grabeshalle mit großen Grabmälern stehen die Zahlen 5754 und 5732, vermutlich Jahreszahlen des jüdischen Kalenders.
Dann geht es zurück zum Riad. Es heißt Abschied nehmen von Fes. Das Ende einer Reise in die Vergangenheit.