Nischni Nowgorod (2014)

8. Juni (Pfingstsonntag)

Für die Trierer Buchläden – und die deutschen Reisebuchverlage – scheint Russland nur aus Moskau und Petersburg zu bestehen. Über Nischni Nowgorod ist jedenfalls nichts zu finden. Dabei scheint es sehr schön zu sein, hat historische Bedeutung als Festungsstadt, Handelsstadt und Fürstenresidenz und liegt an exponierter Stelle, am Zusammenfluss von Oka und Wolga. Und ist unter dem Namen Gorki, den es zur sowjetischen Zeit trug, auch einigermaßen bekannt.

Ich selbst war aber auch überrascht, als ich erfuhr, dass es Direktflüge von Frankfurt nach Nischni Nowgorod gibt.

Der Zusatz nischi bedeutet einfach ‚niedrig‘ und unterscheidet Nischni Nowgorod von Weliki Nowgorod, dem „Großen“ Nowgorod. Das aber viel kleiner ist als Nischni, die eine Millionenstadt und die fünftgrößte in Russland ist. Zu ihren Partnerstädten gehören Tampere, Essen, Minsk und Matanzas! Es gibt also immer noch russisch-kubanisch Verbindungen.

In Nischni Nowgorod heißt Nischni Nowgorod nur Nischni. Wie Münden in Hannoversch Münden. Leuchtet ein. Wäre sonst auch zu kompliziert. Dabei fällt allerdings das eigentlich wichtigere Wort, das Wort, das Bezugswort, weg. Das Gegenstück zu Köln, wo nur das wenig aussagekräftige Bezugswort übrig geblieben ist.

Sprachlich ist Nowgorod die russische Schwester von Neustadt, Neuville, Newton, Neapel und Karthago. Alle bedeuten dasselbe.

Wenn ich von meiner geplanten Reise nach Nischni erzähle, löst das überall dieselbe Reaktion aus: Kalt! Tatsächlich ist heute in Nischni 29°!

Wegen der schlechten Bahnverbindung geht es mit dem Fernbus nach Frankfurt. Das bedeutet eine lange Wartezeit am Flughafen. Trotz des relativ kurzen Flugs bin ich insgesamt über zwölf Stunden unterwegs und komme erst in den frühen Morgenstunden an. Alexander, „mein Mann in Nischni“, will es sich aber nicht nehmen lassen, mich am Flughafen abzuholen. Das machten sie immer so. Da hatte ich keinen Verhandlungsspielraum.

An der Trierer Bushaltestelle warte ich in der Gesellschaft von zwei Eidechsen, die sich, von der Vormittagshitze angezogen, aus ihrem Versteck gekommen sind und sich in der Sonne baden. Sie umschlingen sich und reiben sich aneinander und fügen der Hitze noch ein bisschen Körperwärme hinzu. Schön warm.

Beim Fernbus stehen noch Passiergere ohne Fahrkarte. Keine Chance. Ab Kaiserslautern ist der Bus bis auf den letzten Platz gefüllt.

Die Frau neben mir, eine Triererin aus Berlin, fährt bis nach Berlin. Sie war auf Heimaturlaub. Die Aussicht der langen Fahrt scheint sie nicht zu begeistern. Insgesamt zwölf Stunden, sagt sie mir. Bis nach Frankfurt vergeht die Zeit dagegen mit Lektüre wie im Flug.

Die Lektüre ist sogar mit Erkenntnisgewinn verbunden. Im Deutschen manipulieren wir unsere Wörter durch Endungen. Wir fügen etwas hinzu und geben dem Wort seine grammatische Bestimmung. Aus Schritt wird Schritte, aus Singular wird Plural, aus macht wird machte, aus Gegenwart wird Vergangenheit. Manchmal machen wir es aber anders. Wir ändern den Stammvokal. Aus Vogel wird Vögel, aus wachsen wird wuchsen. So funktioniert es, grob gesprochen, im Hebräischen. Der Konsonantenstamm ist immer gleich. Er gibt die Bedeutung an. So bedeutet s-b-t ausruhen. Die Vokalkombination a + a bedeutet ‚Vergangenheit‘. Er ruhte aus heißt also sabat > Sabbat!

Als wir in Frankfurt ankommen, sind wir bei 33°. Der heißeste Tag des Jahres. Und wieder geht es in einen Bus. Den Shuttlebus zum anderen Terminal. Gott sei Dank kann man in Schatten warten. Es ist viel Betrieb am Flughafen. Autos und Menschen drängen sich überall nach vorne. Ich habe so viel Zeit, dass ich auf den günstigen Zeitpunkt warten kann.

Im Shuttlebus gibt es dann durch die Lautsprecher die standardisierten Höflichkeitsfloskeln, die überhaupt schon nicht viel bedeuten, aber am Flughafen besonders unpassend erscheinen: „Wir wünschen Ihnen einen angenehmen Aufenthalt am Frankfurter Flughafen“. Flughäfen sind Orte, von denen man eigentlich nur eins will: weg.

Mir steht aber noch ein echter Aufenthalt bevor. Mit Zeitung und Kaffee ziehe ich mich in den hintersten Winkel des Flughafens zurück. Ich lese, dass in Amsterdam ein Restaurant eröffnet worden ist, dass nur Einzeltische hat. Eigens für Alleinreisende. Damit die nicht immer an den Katzentisch müssen. Pech gehabt, wenn man auch hier an den Katzentisch kommt.

In der Forschung wird mehr Geld zur Bekämpfung des Haarausfalls investiert als in die Bekämpfung der Malaria. Weltweit. Alles der männlichen Eitelkeit zuliebe.

In jedem Zeitungsteil ist von Brasilien und der bevorstehenden WM die Rede. Von den Protesten gegen die WM, die die schlechte Infrastruktur beklagen und die hohen Kosten. Man solle besser für Schulen und Krankenhäuser, für Straßen und Schienen sorgen. Alles sehr berechtigte Anliegen, aber an einer Stelle heißt es auch: Daran würde ich auch nichts ändern, wenn es die WM nicht gäbe. Besonders beklagt wird der teure Stadionbau in Manaus, mitten im Regenwald. Was soll man da mit einem Stadion, dessen Erstellung teuer war und dessen Aufrechterhaltung auch teuer sein wird. Andererseits: Soll man ganze Teile des Landes ganz ausschließen? Was ist überhaupt aus den Stadien in Südafrika geworden? Bei denen wurden vor vier Jahren die gleichen Argumente gebraucht. Aber nach der WM scheint sich niemand mehr dafür zu interessieren.

In einem Interview erzählt ein ehemaliger deutscher Kindersoldat von seinen Erlebnissen im 2. Weltkrieg. Wie begeistert sie waren. Es gab Sammelbilder, eins pro Zigarettenpackung. Man bettelte bei den Erwachsenen, ob man die Bilder bekommen könnte. Man beobachtete abgeschossene Piloten im Fallschirm am Himmel. Man sammelte am nächsten Morgen Und man hoffte, dass der Alarm in der Nacht länger als drei Sekunden dauern würde. Dann gab es am nächsten Tag schulfrei.

Dann habe ich noch Zeit für die Lektüre einer Kurzgeschichte von Stevenson, die mir ein Freund vom Lauftreff vor einiger Zeit als „Hausaufgabe“ mitgegeben hat. Ich solle mir das doch mal ansehen. Er komme damit als Laie nicht zurecht. Das kann ich nach der Lektüre allerdings verstehen. In der Geschichte geht es um einen alten schottischen Geistlichen, einen Presbyterianer, und ein geheimnisumwobenes, fünfzig Jahre zurückliegendes Ereignis aus der Zeit, als er als junger Geistlicher in diese gottverlorene Gegend in der schottischen Heide – so verstehe ich jedenfalls moorland hier – kommt. Einbildung und Wirklichkeit, Geschichte und Legende vermischen sich. Es geht u.a. um eine Frau, die er gegen die Vorwürfe der Dorfbewohner, sie sei eine Hexe, tapfer verteidigt, um einen Schwarzen – eine nie dagewesen Erscheinung – die eines Nachts auf dem Friedhof des Ortes auftaucht und um den rätselhaften Tod dieser Frau, die erst an einem einzigen Nagel und einem einzigen Faden aufgehängt tot vorgefunden wird und dann plötzlich wieder zum Leben ersteht und schließlich von dem mutigen Pfarrer in das Reich der Geister vertrieben wird. Nur ganz selten, wenn sie einen über den Durst getrunken haben, erzählen die alten Dorfbewohner in der Dorfkneipe von damals. Und genau das ist das Problem, denn sie sprechen schottisches Englisch, oder das, was Stevensons Versuch ist, das mit den Mitteln der Standardsprache widerzugeben. Das bedeutet, dass typisch schottische Wörter auftauchen wie bairn für child, (schwedisch barn!), kirk für church, aye für yes, ken für know und das merkwürdig regelmäßige gaed für went, aber auch die Umschreibung schottischer Aussprachevarianten durch mair für more, sae für so, ain für own, een für eyes, guid for good, sic für such. Ganz schön kompliziert, daran kann sich auch jemand die Zähne ausbeißen, der regelmäßig englische Texte liest.

Als der Flug endlich aufgerufen wird, hat sich der Flughafen weitgehend geleert. Das Flugzeug ist höchstens zu einem Drittel besetzt. Beide Plätze zu meiner Seite sind frei. Es geht über Berlin, Danzig, Kaunas, Vilnius, Minsk und Moskau nach Nischni. Der Flug dauert gut drei Stunden.

Während des gesamten Flugs wird es nicht ganz dunkel, und lange haben wir einen permanenten Sonnenuntergang, einen länglichen feuerroten Streifen mit gelben Fransen unter einem hellblauen und über einem schwarzen Streifen.

Im Flugzeug werden sonst immer die Einreiseformulare verteilt, aber diesmal hat die Lufthansa keine bekommen von den russischen Behörden. Das müsse man dann vor Ort machen.

Als wir in Nischni ankommen, ist es immer noch 18°, und das, obwohl es schon drei Uhr in der Frühe ist.

Wir sind nur ein paar Handvoll Passagiere, nur die von unserem Flug, aber auch so füllen wir die kleine Wartehalle fast ganz aus. Schilder gibt es hier nur auf Russisch, und an der Wand hängen zehn dicht beschriebene Seiten mit Verordnungen. Aber in welche Schlange man sich stellen soll, ist kaum herauszufinden. Es geht nur langsam vorwärts, und dann müssen wir wieder aus der Schlange heraus, um die Einreiseformulare auszufüllen. Davon gibt es aber keine mehr. Ein paar Passagiere haben noch eins erwischt, der Rest von uns steht rum wie Falschgeld. Es wird beratschlagt, was man machen kann. Einige zweisprachige ältere russische Damen versuchen zu erklären, aber eine Lösung haben sie auch nicht. Inzwischen wird eins der Kontrollhäuschen mit  Getöse wieder geschlossen und die Wartenden in eine andere Schlange verwiesen. Ich entscheide, mich einfach wieder in die Schlange zu stellen. Als ich fast dran bin, kommt eine uniformierte junge Frau mit den Formularen. Sie sehen aus die Relikte aus der Sowjetzeit, schlechtes Papier, winzige Schreibfelder, kaum lesbare Schrift.

Dann kommt die Überprüfung. Die Kontrollhäuschen gleichen denen auf Kuba eins zu eins.  Oder umgekehrt. Wohl ein sowjetischer Exportartikel. Auch die Überprüfung geht genauso anonym und umständlich vor sich. Am Ender erhält man den einen Teil des Formulars wieder zurück. Den muss man bei der Ausreise unbedingt wieder vorlegen. Auch genauso wie in Kuba.

Dann kommt der schöne Moment, von man an unbekanntem Ort von einem Bekannten Empfang genommen wird. Alexander ist da, zusammen mit seiner Tochter Luba, der kleinen Schwester von Maria, die ich in Portland kennen gelernt habe, der „italienischen“ Tochter, deren Apartment verweist ist und das mir zur Verfügung gestellt wird.

Luba übernimmt das Chauffieren. Sie hat einen modernen Ford und fährt ganz souverän. Über völlig menschenleere Straßen geht es über eine breite, unendliche Straße, vorbei an Geschäften und Lokalen, die aus unerfindlichen Gründen 24 Stunden am Tag geöffnet sind, Richtung Zentrum. Die meisten haben internationale Unternehmen, außer McDonalds u.a. Ikea und Obi.

Als Nischni noch Gorki hieß, war es eine geschlossene Stadt, d.h. eine völlig abgeschlossene Stadt, in die Ausländer nicht rein und aus der sie vor allem nicht raus durften. Ausländische Wissenschaftler und Lehrer wurden teils mit wilden Versprechungen angeworben, dann aber nicht mehr weggelassen. Alexander hat einige von ihnen noch als Student erlebt. Kompetente Kräfte, die auch nicht unbedingt unglücklich waren, sich aber natürlich eingeschlossen fühlten – und es auch waren.

In das Haus geht es durch eine schwere Eisentür, die wie der Zugang zu einem Warenhaus aussieht. Dann geht es über eine dunkle Marmortreppe, an deren Rand nur schattenhaft zerbeulte Briefkästen zu erkennen sind, und wieder stehen wir vor einer schweren Eisentür, mit einer dicken Polsterung auf der Innenseite. Die führt in das Apartment. Das ist geräumig, mit einem wilden Mischmasch aus Möbel, Einrichtungsgegenständen und Krimskrams vollgestopft. Schwere, rote Holzdielen und PVC, kitschige Souvenirs und Photos, weiß bemalte Holztüren, Schränke mit dem Schick der 50er Jahre, eine mit einer bestickten Decke ausgestattetem Sessel, der der Dekoration dient, und kaum ein Plätzchen, an dem man seine persönlichen Dinge parken kann, geschweige denn, wo man seine Koffer ausbreiten kann. Alexander weist mich in alles ein. Er hat eingekauft wie ein Weltmeister. Alles ist vorhanden, sogar Bier, obwohl er selbst gar keins trinkt, wie mir in Erinnerung geblieben ist. Er hat das Apartment sogar extra geputzt, ist allerdings zu der Erkenntnis gekommen, dass die Arbeit als Putzkraft nicht das Zeug hat, zu seinem Lieblingsberuf zu werden.

9. Juni (Pfingstmontag)

Der Verkehr von der Straße rüttelt an den schweren Fenstern der Wohnung, Doppelfenstern aus Holz, und der dröhnende Autolärm kommt durch die kleinen Oberlichter der Fenster. Dass ich trotzdem bisher geschlafen habe, zeigt, dass ich es nötig hatte. Jedenfalls ist Pfingstmontag hier definitiv kein Feiertag. Das scheint mir ohnehin eine sehr deutsche Erfindung zu sein. Sehr russisch sind dagegen die Oberlichter. Die haben in jedem zweiten russischen Roman ihren Auftritt, auch im Winter, wenn sie die einzige Möglichkeit sind, für Frischluftzufuhr zu sorgen.

Das erste, was ich beim Blick auf die Straße sehe, ist ein Trolleybus. Auch sehr russisch. Es ist stark bewölkt, aber warm. Die Menschen laufen auffallend schnell in ganz sommerlicher, legere Kleidung über den Bürgersteig. Die Privatwagen scheinen alle aus neuerer westlicher Produktion zu stammen, die Busse scheinen alle noch aus der Sowjetzeit zu stammen.

Bei meiner ersten selbständigen Aktion verbrenne ich mir gleich die Finger. Am Wasserkessel beim Teekochen. Dafür bekomme ich das Wasser der Dusche nicht warm. Obwohl Alexander mich eingewiesen hat.  Dagegen bekomme ich den Gasherd im zweiten Versuch an.

Während ich in der vollgestopften Küche sitze und mich umsehe, wird es immer schwüler. Dann wird es draußen dunkler. Die ersten Regentropfen fallen, kühle Luftstöße kommen in die Wohnung, und dann fängt es an zu donnern. Dann wird es dunkel, dunkler als in der Nacht, und dann geht es los. Heftiger, dichter Regen, mit schweren Regentropfen.

Inzwischen habe ich mir die Schlappen geschnappt, die am Eingang stehen. Gestern habe ich gleich den Fauxpas begangen, die Wohnung mit Schuhen zu betreten. Das macht man in Russland nicht. Alexander hat großzügig darüber hinweggesehen.

Als Alexander kommt, hat der Regen aufgehört. Zur Orientierung erfahre ich gleich außerhalb des Hauses Folgendes: Es gibt drei große Plätze: Svoboda, Minin und Gorkij. Sie bilden eine Art Dreieck. Svoboda, der Freiheitsplatz, ist gleich in unserer Nähe. Von dort führt die Gorki Straße schnurstracks zum Gorki Platz, benannt nach dem Dichter, der hier geboren wurde. Von dort führt die Prokrovskaja ebenso schnurstracks zum Kreml und zu dem davorliegenden Minin Platz. Der erinnert an eine Legende, die Teil des kollektiven Bewusstseins von Nischni ist. Von der Legende habe ich schon in Portland gehört. Alexander zufolge spielte Graf ??? die entscheidende Rolle bei dme Ereignis, aber das zu sowjetischer Zeit nicht sein durfte, gab man einem einfachen Bauern, Minin, die Rolle des Protagonisten.

Ich erfahre auch, dass Sacharow, bevor er ins Exil ging, hier in Nischni unter Hausarrest stand.

Wir gehen über die gesichtslose Gorki Street und betreten ein Postamt. Dort sitzen lauter alte Leute und warten darauf, dranzukommen. Sie zahlen hier ihre Miete und Strom und Wasser. Das geht auch bargeldlos, aber, Alexander zufolge, bevorzugen die alten Leute die traditionelle Form, erstens um des Kontakt willens und zweitens, um sich über die umständliche Bürokratie beschweren zu können. Das Ganze sieht wie kapitalistisch aufgepeppter Kommunismus aus, eine merkwürdige Mischung. Alexander holt hier eine Sendung ab.

Dann geht es zu einem zweiten Postamt, größer und etwas moderner. Alexander erweist sich als Großmeister der Organisation. Es geht darum, dass Ausländer, die mit einem Touristenvisum einreisen, sich innerhalb von drei Tagen bei den Behörden melden müssen. Früher musste man zur Einwanderungsstelle, eine zeitraubende und demütigende Aktion. Heute gibt es Alternativen. Dazu geht die Post. Hier werden alle Unterlagen geprüft, abgestempelt, in einen Umschlag gesteckt und der Einwanderungsbehörde zugeschickt. Alexander ist bestens vorbereitet, hat verschiedene Formulare ausgefüllt, Wertmarken besorgt, Kopien angefertigt. Nicht auszudenken, wenn ich alleine davor gestanden hätte. Er weiß außerdem die eher brummigen Beamtinnen gut zu nehmen, und die werden unter seinem Charme zu Wachs.

Alle Beamtinnen sind jung, weiblich, gutaussehend und modisch gekleidet, sehr feminin. Man hat fast den Eindruck, das werde bei der Einstellung berücksichtigt.

Wir verlassen triumphierend das Gebäude und kommen auf die Pokrovskaja, benannt, wenn ich das richtig verstehe, nach Mariens Kleidern. An dieser Straße stand früher die Kirche dieses Namens. Die Pokrovskaja ist die zentrale Fußgängerstraße, eine breite, gerade verlaufende Straße mit historischen Gebäuden und Lokalen, internationale Ketten und einheimische Betriebe. Ich frage nach einer Kirche und es stellt sich heraus, dass das keine Kirche, sondern die Russische Staatsbank ist. Irgendwann kommen wir an einem aus der Sowjetzeit stammenden Gebäude. Dort saß früher der KGB, heute von einer Organisation abgelöst, die einen weniger furchteinflößenden Namen trägt, aber sich im Prinzip derselben Aufgabe verschreibt.

Am Straßenrand liegt das Berjoska Cafè, benannt nach einem Tanz, bei dem man lange, traditionelle Kleider trägt und sich bewegt, indem man ganz kleine Schritte macht, so dass der Betrachter Bewegung sieht, nicht aber die sich bewegenden Füße. Es muss so aussehen, als würden die Figuren von einer geheimnisvollen Kraft bewegt, ohne eigenen Antrieb. Hier zeigt sich Alexander wieder einmal genial: Er sieht das als Chiffre für Luba und Sascha. So bewegten die sich durchs Leben.

Wir machen ein paar Versuche, Geld abzuheben, aber alle scheitern. Das beschäftigt uns den Rest des Vormittags. Am Ende werde ich wohl etwas ungeduldig. Ich kann nicht verstehen, warum das, was in Marokko und in der Dominikanischen Republik geht, hier nicht gehen soll. Sobald man nach Geldabheben fragt, wird man argwöhnisch angesehen. Man muss Geldkarte und Pass vorzeigen, dann wird einem eine Nummer zugeteilt und man muss Schlange stehen. Am Ende bin ich es leid und tausche einfach mein bisschen Bargeld in Rubel ein. Das geht. Wir sind gerade in der hochmodernen Zentrale einer Bank, wo es überall vor Elektronik nur so wimmelt. Trotzdem ist auch hier der Versuch gescheitert, den Automaten Geld zu entlocken. Für  200 Euro gibt es knapp 10.000 Rubel. Etwas genauer gerechnet, sind 45 Rubel ungefähr ein Euro.

Als wir in einer der Warteschlangen stehen, wird Alexander von einer eleganten Dame mittleren Alters angesprochen. Später erklärt er mir, das sei eine ehemalige Sekretärin gewesen. Er hat sie aber nach all den Jahren nicht mehr erkannt. Sie ihn wohl.

Die Jagd nach Geld wird unterbrochen von einem sehr guten Kaffee mit Eclair in einem überdachten Lokal am Ende der Prokrasnaja. Ich bin sehr damit einverstanden, nur eine Kleinigkeit zu essen. Heute Abend gibt es ein großes Abendessen bei Alexander, mit zwei Kollegen, einen aus der Romanistik, einen aus der Germanistik als weiteren Gästen. Luba hat, wie ich zu meinem Entsetzen erfahre, extra frei genommen und es sich nicht nehmen lassen, selbst zu kochen. Auch ihr Ehemann wird dabei sein. Er ist Polizist, aber wohl bei der Kripo, wenn ich das richtig verstehe. Mitten im Leben. Alexander hat sich am Anfang gewundert, wenn der schon mal abends zwei Stunden unter der Dusche steht. Er reinigt sich von all dem Dreck des wirklichen Lebens, sozusagen. Er hat Jura studiert, aber keinen angemessenen Posten gefunden.

Alexander erzählt mir, wie sie in einer Blitzaktion vor ein paar Jahren das Apartment gekauft haben, als die Preise im Keller waren. Er berichtet auch, dass die meisten Russen versuchen, mit 65 weiterzuarbeiten, da man als Rentner erstens nicht gut versorgt ist und zweitens wie der Abschaum der Gesellschaft behandelt wird. Man kann, je nach Arbeitsplatz, bis 70 arbeiten, aber dann ist endgültig Schluss. Er selbst findet das Verhältnis zu den Studenten auch schwierig. Er werde immer kritischer. Die Neuordnung der Studiengänge hat die Lage auch nicht einfacher gemacht. Da die Studenten hier Gebühren zahlen, haben sie  an ihrer Universität nicht viele Master-Studenten. Das kommt als weiteres Problem hinzu.

Auf dem Rückweg sehen wir am Straßenrand Bäuerinnen, die Erdbeeren verkaufen. Alexander erkundigt sich nach dem Preis. Die werden noch billiger, die Hochsaison steht noch bevor. Es gibt normale Erdbeeren, aber auch ganz kleine, vielleicht Walderdbeeren. Die Bäuerinnen bessern sich mit dieser Arbeit die Kasse auf. Das scheint legal zu sein.

Am Abend werde ich abgeholt zum Abendessen bei Alexander. Der hat zwei Kolleginnen eingeladen, eine „französische“ und eine „deutsche“. Beide sind füllige russische Damen und heißen beide Tatjana, Tatjana Petrowna, F und Tatjana Iwanowa (D).  Wenn man zwischen zwei Frauen gleichen Namens sitzt, hat man einen Wunsch frei, heißt es in Russland.

Die Wohnung ist unglaublich vollgestopft. Die Bücher passen kaum in die Regale, aber über, neben und vor ihnen stehen und hängen noch Porzellantiere, afrikanische Masken, Audiokassetten, Ikonen, künstliche Blumen, ein Staubwedel, eine US-Flagge, ein gläserner Eifelturm, ein Gummiball.

Es gibt leckeres Essen. Jede Speise wird im Detail erklärt. Die Portionen sind klein und die Gerichte werden auf winzigen Tellern serviert. Aber es gibt so viele Gerichte, dass man mehr als satt wird. Auch Getränke gibt es in Vielfalt, von Champagner (mit Ananas und einem literarischen Zitat serviert) über Rotwein und einen Digestiv bis zu Orangensaft und einem selbstgemachten Saft mit Früchten aus der Datscha bis zu einem leckeren, milden Tee, der in einem Glasbehälter mit Kornblumen konserviert wird. Es wird aber mäßig getrunken. Vorauseilend hat man mir aber schon erklärt, dass mit der russischen Säuferei sei ein Vorurteil.

Wie immer in Russland, muss ständig auf irgendwen und irgendwas angestoßen werden. Für solche Gelegenheiten halte ich mir immer das neutrale Auf die Freundschaft parat, aber es ist schon vergeben und ich proste „Auf Russland“. Nach einer kleinen Verzögerungspause wird das auch gerne angenommen.

Die deutsche Tatjana hat ihre Doktorarbeit über negativ besetzte Verben im Deutschen geschrieben. Davon gebe es viel mehr als positiv besetzte, und das sei wohl in allen Sprachen so. Das Deutsche habe aber viel weniger syntaktische Möglichkeiten der Differenzierung als das Russische, sagt sie. Ich frage mich, wie man so etwas nachweisen kann und ob ich einem Gast in einem vergleichbaren Fall die Defizite seiner eigenen Sprache vor Augen führen würde, aber das Gespräch geht schon weiter. Alexander erklärt, dass eine kürzlich veröffentlichte Studie ergeben habe, in Telefongesprächen würden zu 90% negative Wörter benutzt. Wie genau man das herausgefunden hat, bleibt allerdings offen. Vorstellen kann man sich das aber. Wir meckern eher als das wir loben.

Die französische Tatjana hat drei Jahre in Algerien gelebt, gerade zu einer Zeit, als sich das Land immer mehr kulturell von Frankreich abwandte. Da hätten sie als Russen einen guten Stand gehabt, sagt sie.

Die deutsche Tatjana hat keinerlei Kontakte zur DDR gehabt, hat jetzt aber Kontakte nach Essen, der Partnerstadt Nischnis, wo sie schon ein paar Mal gewesen ist. Von Oberhausen hat sie noch nie was gehört.

Während des Essens kommt auch Lubas Ehemann, der Mann von der Kripo, dazu. Er ist still und zurückhaltend und der einzige, der keine Fremdsprache kann. Luba ist mit ihren Eltern als achtjähriges Mädchen nach Washington gegangen, als Alexander dort das Fulbright-Stipendium hatte. Das fand sie wunderbar. Obwohl sie ins kalte Wasser geworfen wurde und von einem Tag auf den anderen, ohne Englischkenntnisse, in Amerika zur Schule ging. Heute ist sie Englischlehrerin.

Ohne mein Zutun kommt die Rede dann doch noch auf Putin und die Krim. Die Aktion sei ein Meisterstück gewesen, kurz entschlossen, erfolgreich, gewaltlos.

Ohne direkt angesprochen zu werden, erfahre ich auch noch, was in den nächsten Tagen noch auf mich zukommt: Ballett, Oper und Klavierabend. Mehr als ich sonst in einem ganzen Jahr über mich ergehen lasse. Dazu kommt noch ein ganzes Bündel an Veranstaltungen am 12. Juni, dem russischen Nationalfeiertag und dem Stadtfest Nischni Nowgorods. Dabei darf ich mir auf keinen Fall das Feuerwerk entgehen lassen. Dass man Feuerwerk

Was Aktivitäten in Nischni angeht, ist von einer Seilbahnfahrt und einer Bootsfahrt die Rede. Auch das scheint Alexander schon auf der Rechnung zu haben.

Als Luba die beiden Tatjanas nach Hause fährt, wird Alexander bei einem Absacker nachdenklich. Er werde immer mehr zum Eremiten. Nach der Devise: Seitdem ich die Menschen kenne, weiß ich die Hunde zu schätzen. Ich empfinde gleichzeitig Bedauern und Verständnis.

Dann muss die arme Luba auch noch mich nach Hause bringen. Ihr Mann fährt mit, und wir versuchen, mit Lubas Hilfe, ein paar Sätze Russisch miteinander auszutauschen. Das geht mehr schlecht als recht. Als ich USA sagen will, kommt Stati Uniti dabei raus. Er will wissen, ob die Straßen in Deutschland besser seien als in Russland. Die beste Antwort, die mir darauf einfällt, ist: Einige ja, andere nein. Aber diese Antwort fällt mir erst zu Hause ein, als es längst zu spät ist.

10. Juni (Dienstag)

Der Tag ist davon überschattet, dass ich am Abend ins Ballett muss. Beim Frühstück habe ich genug Zeit, um mir zu vergegenwärtigen, wann das zum letzten Mal der Fall war: 1982! Und zwar in Moskau! Irgendwann habe ich mal am Fernsehen ein Interview mit einem jungen Mann gesehen, der berichtete, dass Balletttänzer zu werden schon als Kind sein Traum war. ER habe immer nur eins gewollt: Tanzen, Tanzen, Tanzen. Wie das in den Kopf eines Jungen kommen kann, ist mir ein Rätsel.

Der Tag lässt sich aber gut an. Es ist leicht bewölkt und mäßig warm, so um die 20°, und gar nicht mehr schwül. Ideales Wetter für eine Stadterkundung.

In der Varvarskaja verlege ich mich darauf, fremde Eigennamen zu entziffern. Das macht immer Spaß: Cafe Ramses, Ayurveda. Und dann die deutschen Lehnwörter: Feuerwerk, Schlagbaum und Parickmacherskaja!

Ich komme an einer kleinen Kirche vorbei, habe aber keinen Mut reinzugehen. Nur ein kleiner Spalt der winzigen Tür ist offen, und ich habe eine kurze Hose angezogen. Keine guten Bedingungen. Über dem Eingang ist eine Inschrift ins Mauerwerk eingebracht, in Altkirchenslawisch. Einzelne der darin verwendeten Buchstaben tauchen jetzt in moderner Werbung wieder auf, als Hingucker.

An jeder Ecke gibt es die kleinen Kioske, an denen Blumen verkauft werden. Sehr russisch. Ich kann mich an die Spanier erinnern, die mit Befremden feststellten, dass in Russland Männer mit einem Blumenstrauß über die Straße gingen.

Die Varvarskaja führt direkt auf einen Eingang zum Kreml zu, einem breiten Turm aus Ziegeln mit einem Dreieck aus grünen, leuchtenden Ziegeln als Bekrönung. An dem Turm hängt ein Banner, dass der bevorstehenden Feiertag ankündigt, den 12. Juni: Tag Russlands, Tag der Stadt.

Schräg davor ein kleiner Park, mit einem Denkmal für Minin, den Helden Nischnis, im Zentrum. Er blickt in eine Richtung und weist mit der Hand in die andere Richtung. Außerdem trägt er einen langen Bauernrock. Ich halte ihn deshalb fälschlicherweise für den Bauern, der, der Legende nach, die angreifenden polnischen und litauischen Truppen, die ihm nach den Weg fragten, in die falsche Richtung und in den tiefsten Wald schickte und so unter Aufopferung des eigenen Lebens die Stadt rettete. Das stellt sich aber als Irrtum heraus.

Von hier aus führt eine breite, kaum befahrene, leicht ansteigende Straße auf ein anderes Monument zu, das am oberen Ende der Straße liegt. Es ist das Monument für einen Piloten, der wohl als erster den Nordpol auf dem Weg nach Amerika überflog. Er trägt klobige Stiefel und eine Uniform, die dazu passt und sieht Richtung Himmel. Das Denkmal wurde 1940, zwei Jahre nach seinem Tod, errichtet. Am Pedestal ist die Karte des Flugs zu sehen. Durch ein Versehen oder einen Schaden landete Chkalow nicht in Vancouver, Kanada, sondern in Vancouver, Washington.

Hinter dem Denkmal, man ahnt es schon aus der Ferne, kommt dann Wasser in Sicht, ein breiter Fluss. Aber: welcher? Wenn ich die Zeichnung in dem Skizzenbuch von Alexander richtig verstehe, ist es die Oka. Links von hier, hinter der Biegung und durch die Kremlmauern und den Hügel kaum einzusehen, kommt die Wolga zum Vorschein. Die fließt dann, mit der Oka vereinigt, nach links hin weiter. Am Flussufer sieht man gleichförmige Hochhäuser, in der anderen Richtung Hafenkräne oder Ölbehälter, und nach vorne hin eine grüne, längliche Insel und dahinter das andere Flussufer, ebenfalls grün.

Hier oben zeigt sich Nischni zum ersten Mal als touristischer Ort. Reiseführer laufen mit kleinen Gruppen umher, vor uns liegt ein Ausflugsschiff, Menschen posieren vor der Aussicht. Die Touristen sind ausschließlich Russen. Eine touristische Infrastruktur scheint es nicht zu geben. Ich habe bisher noch nicht einmal einen Stadtplan ergattert.

Es geht dann über eine lange, breite, oben doppelläufige Treppe runter ans Flussufer. Die Treppe sieht wie aus einem Barockschloss kommend aus, wurde aber erst zur Feier des Siegs von Stalingrad errichtet. Folgerichtig führt sie auf ein am Flussufer wie auf einem Podest präsentiertes Kriegsschiff zu, einen Cutter, der sowohl bei der Revolution als auch im 2. Weltkrieg zum Einsatz kam. Es heißt passenderweise Held.

Dann geht es am Flussufer entlang. Die Sicht auf das Wasser ist leider durch einen langen Bauzaun verstellt. Auf dem Kai trifft man nur ganz vereinzelt auf jemanden. Dafür gibt es kreischende Möwen in großer Zahl. Sie kommen manchmal gefährlich direkt auf einen zugeflogen, um dann abzubiegen und sich auf der breiten, weißen Reling niederzulassen. Wenn man ein Photo machen will, fliegen sie wie auf Kommando weg.

Auf der anderen Straßenseite eine ganze Reihe alter Lagerhäuser und Kontore, ein bisschen in die Jahre gekommen, aber ansehnlich. In einigen befinden sich im Erdgeschoss Luxusboutiquen. Ohne Käufer. Wer soll sich auch hierher verirren, um sich Stöckelschuhe zu kaufen?

Alexander hatte mich gewarnt: Dies ist nicht Amerika. Hier gebe es so gut wie keine öffentlichen Toiletten. Das kann ich nicht bestätigen. Ich komme im Laufe des Vormittags an drei sehr ordentlich aussehenden Toilettenhäuschen der gleichen Machart vorbei. Man muss allerdings bezahlen.

Ich gelange bis zu der modernen Boat Station. Von da aus geht es dann rauf bis zu der parallel zum Ufer verlaufenden Rozhdestvenka, einer der ältesten Straßen Nischnis und eine richtige Vorzeigestraße.

Als ich gerade dort ankomme, setzt ein Platzregen ein, aber ich kann mich noch gerade rechtzeitig in ein modernes Café retten. Dort sitzt man unter einer festen Plane, halb drinnen, halb draußen. Gut geschützt. Gott sei Dank. Es bricht ein richtiges Sommergewitter aus, es regnet in Strömen. Fünf Minuten früher hätte ich mich noch nicht einmal irgendwo unterstellen können. So kann ich Kaffee und Kuchen bestellen und meine ersten Rubel ausgeben. Hier wird ordentlich abkassiert. Es ist teurer als in Deutschland.

Die Rubelscheine haben heute ausschließlich Monumente, auf beiden Seiten, nicht näher bezeichnet, sie werden als bekannt vorausgesetzt. Ich erkenne kein einziges. Als der Kuchen auf ist, ist auch der Regen vorbei. Glück gehabt.

Rechts von dem Café kommt man nach ein paar Hundert Metern, zu einer etwas erhöht auf einem Abhang liegenden Kirche, dem Schmuckstück der Rozhdestvenka. Sie hat sehr fein gearbeitetes, üppiges Steinmetzwerk um die Fenster herum und verschiedenen Kuppeln, kleine vergoldete und eine große blaue, umgeben von mittelgroßen mit sehr schönen, schräg angebrachten Kacheln in verschiedenen Farben, ein richtiger Hingucker. Ich gehe den Abhang rauf, und das lohnt sich. Erst von hinten hat man einen kompletten Blick auf die Kirche und sieht überhaupt erst den Glockenturm, einen getreppten Turm mit einem goldenen Wetterhahn. Ein sehr schönes Ensemble. Ich versuche aus verschiedenen Positionen alles auf einem Photo einzufangen, aber das ist gar nicht so einfach. Aus einem offenen Fenster hört man Gesang. Gesangunterricht. Es wird immer dieselbe Passage gesungen, unterbrochen von Kommentaren der Lehrerin. Für mich hört es sich immer gleich perfekt an.

Dann geht es zurück, an dem Café vorbei und weiter auf der Rozhdestvenka. Hier reihen sich alte Bankhäuser und Kaufhäuser aneinander, alle verschieden, aber meist mit der gleichen Geschosshöhe und oben gerade abschließend, ohne Giebel. Die Häuser sind in Pastellfarben gehalten, meist grün, gelb oder blau. Das sieht ein bisschen wie Peterburg aus, aber heimeliger, nicht ganz so majestätisch.

Auf den Bürgersteigen sieht man in größeren Abständen Skulpturen auf Bodenniveau, die Typen aus dem alten Handelsstadt abbilden, u.a. einen Bäckerjungen, der eine Bauchladen mit Brot, Bretzeln und Gebäck vor sich her trägt.

Etwas weiter stoße ich dann auf eine ähnliche moderne Skulptur, die an die Salzaffäre erinnert. Man sieht einen großen Sack Salz und zwei breite Holzschuhe oder etwas von der Art. Die Erklärung ist nur auf Russisch und ich verstehe sie nicht richtig. Es geht wohl darum, dass eines Tages eine Salzlieferung vom Erdboden verschwand, ohne dass man eine Erklärung dafür hatte.

Die vollständige Erklärung liefert Alexander später nach, der aber selbst die Salzaffäre nicht kannte und auch die Skulptur nicht. Es ging darum, dass eines Tages nach einer Überschwemmung in Nischni, der Salzhauptstadt Russlands, alle Salzvorräte verschwunden waren. Das lag aber nicht am Wasser, sondern daran, dass der Vorsitzende der Salzgesellschaft, Verederevsky, zusammen mit anderen führenden Familien, den Blinows und den Bugrows, den Salzbetrug organisiert hatten. Blinows Vater gab daraufhin seinem Sohn die eisernen Schuhe mit den Worten: “Trage sie einmal im Jahr und gedenke der Ehre unserer Familie.” Später sollen die Blinows und die Bugrows große Philanthropen geworden sein.

Zwischen Fahrbahn und Bürgersteig verlaufen breite Schienen, und ich frage mich, was die zu bedeuten haben. Später höre ich dann tatsächlich eine Straßenbahn heranrumpeln, alt, aus einem einzige Wagen bestehend.

Am Ende der Straße hat man einen Blick auf die erhöht liegende hintere Kremlmauer. Davor liegen zwei Kirchen, eine weiße mit ausschließlich goldenen Kuppeln und eine weitere, die Johanniskirche, mit goldenen und grünen Kuppeln. Dies ist der historische Ort, an dem die Gefahr durch die Polen und Litauer, die bereits Moskau erobert hatten, abgewendet wurde. Der russischen Sichtweise zufolge wurde dadurch das Vaterland gerettet. Der Tag ist praktischerweise der 4. November. Der Tag konnte also als Gedenktag den Tag der Oktoberrevolution ablösen. Jedes Jahr kommt der Präsident oder der Ministerpräsident nach Nischni und besucht diese historische Stelle. Genauer gesagt, das Denkmal, das man hier, gleich vor der Kirche, errichtet hat. Es stellt beide dar, Minnin und ???. Sie stellten sich, heißt es, der überlegenen feindlichen Armee entgegen. Es scheint, dass die meisten Kulturen ohne so einen Mythos nicht auskommen. Keine Erfindung der Neuzeit: David gegen Goliath, Athen gegen die Perser,

Auch hier sieht man photographierende und posierende russische Touristen, die aber bald flüchten müssen, genauso wie ich, denn neues Ungemach bahnt sich an. Der Himmel verdunkelt sich und es fallen die ersten Tropfen. Ich schaffe es noch gerade bis unter einen der mächtigen Torbögen der Kremlmauer. Dann geht es richtig los. Die Sache ist aber nicht nach fünf Minuten erledigt, und auch nicht nach zehn. Ich muss mich entscheiden, ob ich nass werden und pünktlich zur Verabredung mit Alexander kommen oder warten und mich verspäten soll. Ich entscheide mich aufgrund der Sintflut fürs Warten. Eine fatale Entscheidung. Am Ende bin ich sowohl nass als auch verspätet. Zweimal und dann noch ein drittes Mal sieht es so aus, als würde der Regen aufhören, und am Horizont sieht man auch einen hellen Streifen, aber dann geht es mit unverminderter Kraft weiter. Schon als ich mich endgültig entscheide, doch zu gehen, bin ich nass. Der Torbogen ist nicht breit genug, um vor dem Regen zu schützen, und auf dem Boden bilden sich Rinnsale, da das Wasser nicht abfließen kann. Dann renne ich wie ein Berserker los, aber alles Rennen hat keinen Sinn und schon nach ein paar Metern bin ich klatschnass. Außerdem geht mir auf der Treppe die Puste aus.  Als ich endlich ankomme, ist alles verklebt vor Nässe: Notizblock, Geld, selbst Alexanders Buch, das ich unter das Hemd gesteckt habe.

Alexander hat nicht nur Verständnis, sondern bereitet mir auch gleich einen wunderbaren warmen Tee zu. Bei der Gelegenheit kann ich auch gleich abgucken, wie er den Tee zubereitet. Es geht ohne Netz und doppelten Boden. In einer kleinen Kanne wird eine ganz starke Brühe als Grundsubstanz zubereitet. Davon bekommt man so viel oder so wenig wie erwünscht in seine Tasse und dazu heißes Wasser. Ich komme mir vor wie einem Roman von Tolstoi. Und der Tee ist wie ein Segen. Alexander rügt mich dafür, dass ich bisher immer nur Beuteltee getrunken habe, ohne zu ahnen, dass das nur deshalb der Fall ist, weil ich nicht wusste, wie ich mit dem losen Tee verfahren sollte.

Passenderweise hat die Dekanin, mit der wir verabredet sind, selbst angerufen und das Mittagessen nach hinten verschoben. Ich bin ein echter Glückskerl.

Ich habe immer noch keine Ansichtskarten gekauft, auch keine gesehen, von Briefmarken ganz zu schweigen. Die bekäme ich am besten bei der Post, meint Alexander. Das könne ich auch am Donnerstag noch erledigen. Aber am Donnerstag ist doch Feiertag. Ja, meinst du etwa, die würden sich die Gelegenheit entgehen lassen, am Feiertag Reibach zu machten? Ja, aber ist die Post denn nicht staatlich? Bei uns hat die Post an Feiertagen zu. Nein, nein, hier haben die auf. Darauf kannst du dich verlassen. Na, dann.

Wir machen uns, mit Schirmen bewaffnet, auf den Weg zur Uni. Man kommt zu Fuß dahin. Auf dem Weg bleiben wir an einem alten Holzhaus stehen. Das ist Gorkis Haus. Er ist in Nischni geboren und hat der Stadt zwischenzeitlich ihren Namen gegeben. Ich kenne nur Die Mutter von ihn und finde das Buch grässlich. Alexander auch. Er habe aber auch Besseres geschrieben. Obwohl er der Dichter des Regimes war, kam es später zu Konflikten, und die Gerüchte besagen, er wäre von Stalin mit einem Geschenk in Form von Schokolade aus dem Weg geräumt worden. Irgendwann glaube ich nicht richtig zu verstehen und muss nachfragen. Verdi hat einen Stoff von Gorki verarbeitet? Da stimmt doch was mit der Chronologie nicht. Doch, stimmt, Gorki hat schon Ende des 19. Jahrhunderts begonnen, zu veröffentlichen.

Auf dem weiteren Weg bestätigt mir Alexander noch einmal, dass er nicht der ganze große Freund von Dostojewski ist. Das hat er mir schon in Portland gesagt. Seine Frau war eine Dostojewski-Expertin. Er findet, Dostojewski sei ein großer Schriftsteller, aber er habe die menschliche Seele von innen nach außen gekehrt. Er wolle das nicht alles wissen. Für ihn steht Tschechow ganz oben auf der Liste. Auch das finde ich schwer zu verstehen. Er habe eben mit Humor gemacht, was Dostojewski mit Innenschau gemacht habe. Ich bemerke, dass ich den Kirschgarten überhaupt nicht komisch finde, aber das liegt vielleicht einfach an mir.

Inzwischen sind wir an der Universität angekommen. Sie heißt Linguistische Universität. Es werden, wenn ich das richtig sehe, in erster Linie Übersetzer und Dolmetscher ausgebildet. Wie die Sache funktioniert und wer welcher Abteilung zugeordnet ist, versteh ich aber nicht.

In Alexanders Büro habe ich ganz kurz Zugang zum Internet, aber das funktioniert sehr langsam und ich muss bald Schluss machen. Ich lerne auch die Sekretärinnen oder Mitarbeiterinnen kennen, zwei blutjunge Frauen. Er sei die alten Weiber leid, sagt Alexander, sie säßen immer nur den ganzen Tag herum und tränken Tee. Die jungen Dinger seien besser.

Dann gehen wir zur Dekanin, Irina Jurjewna, einer bemerkenswerten, jungen Frau, die in der Germanistik arbeitet und es in kurzer Zeit, trotz zweier kleiner Kinder, es schon zur Dekanin gebracht habe. Wir haben sofort einen guten Draht zueinander. Die Unterhaltung ist locker und ich bin unbefangener als am Abend bei Alexander. Irina fragt nach den Studiengängen und berichtet auch von ihren Reisen nach Deutschland. Sie kennt auch Trier. Ihr Mann ist Ingenieur und handwerklich seht begabt. Er hat auch ihr Haus selbst gebaut oder in Stand gesetzt. Jetzt, im Sommer, leben sie auf der Datscha. Die ist nur 30 Kilometer von Nischni entfernt. Das ist keine lange Strecke, aber ihre Arbeitszeiten sind lang. 10 bis 5 im Büro ist das Minimum. Da haben wir es in Deutschland doch besser, vor allem, weil wir nicht ständig im Büro sein müssen.

Dann geht es in den Kreml. Er liegt, aus Verteidigungszwecken, erhöht, und ist stark befestigt. Er ist nicht nur die Keimzelle der Stadt, sondern war ursprünglich die Stadt selbst. Heute gibt es hier nur repräsentative Bauten. Sie erinnern ein bisschen an Petersburg. Auffallend ist ein länglicher Bau, bei dem die Säulen nicht in der Mitte, sondern am äußersten Rand stehen. Das sollte eigentlich die Mitte des Gebäudes sein, aber es konnte dann nicht weiter finanziert werden und blieb unvollendet. Als Verlängerung hat es jetzt einen Bau aus der Sowjetzeit.

Vor dem Eingang zur Philharmonie begegnen wir dem Präsidenten der Universität und seiner Frau. Beide begrüßen mich sehr distanziert, fast etwas feindselig, und wenden sich dann sofort ab. Das Amt des Präsidenten ist rein repräsentativ und gut dotiert, eine Sinekure für „verdiente“ Professoren. Der Präsident war früher jahrelang Dekan. Das Amt soll jetzt aber abgeschafft werden. Alexander scheint das sehr zu begrüßen.

Dann geht es ins Ballett. Der Raum, mit aufsteigenden Stuhlreihen, ist völlig schmucklos und sieht aus wie eine Messehalle. Die Vorstellung ist Teil eines Festivals und bis auf den letzten Platz ausverkauft. Alexander hat die Karten schon im April gekauft Das Festival ist diesmal Ungarn gewidmet, und das Ballett stammt auch aus Ungarn. Vor Beginn sprechen der ungarische Botschafter und der Bürgermeister von Nischni. Ich versuche, herauszufinden, wer wer ist und tippe auf den Richtigen, aber nur, weil er langsamer spricht und vom Blatt abliest und weil der andere sich in Cowboypose mit breiten Beinen präsentiert. Dann kommt eine Frau, die ankündigt, man werde zwei Teile sehen, einen modernen Einakter und dann Tänze zu französischen Chansons.

Dann kommen sechs Frauen in Weiß und sechs Männer in Schwarz. Zwischendurch hängen sie reglos aneinander und sehen aus wie Christus am Kreuz. Dann beginnen sie, unmotiviert auf der Stelle zu trippeln, die Arme in die Luft zu werden, Aufwärmübungen mit dem Kopf zu machen, dem Publikum zuzuwinken, Freudensprünge oder Kniebeugen zu machen. Eine Handlung ist nicht zu erkennen. Später wird Qualm auf die Bühne geblasen, erst schwarzer, dann blauer. Die Musik kommt vom Band. Sie erinnert manchmal an Fallas Dreispitz, manchmal an Griegs Morgenerwachen. Ich finde das alles profund langweilig. Meine Position als Kulturbanause ist gestärkt.

In der zweiten Hälfte gibt es französische Chansons. Lauter Klassiker: Je ne regrette rien, Ne me quitte pas, Nathalie, Paris s’éveille. Sie geben den einzelnen Tänzern ein wenig Protagonismus, denn sie werden einzeln oder zu zweit betanzt. Ich frage mich immer, was peinlicher ist: Wenn man über die Bühne stolziert oder wenn man sich bäuchlings auf die Bühne wirft. Das Publikum scheint das nicht zu stören. Es gibt herzlichen Applaus. Alexander gibt einen professionellen Kommentar ab: Es seien gute, talentierte Tänzer, die Koordination sei gut gewesen, aber die Choreographie nicht. Die Tänze seien für die Chansons zu dynamisch, zu athletisch gewesen. Man habe ja schon die Stimme und die Musik, da müsse der Tanz sich darauf beschränken, die Musik zur Geltung kommen zu lassen.

Am Ausgang steht an der Garderobe eine lange Schlange. Wir haben nur Alexanders Tasche, und er schafft es, sie in Sekundenschnelle vor allen anderen zu ergattern. Er ist einfach ein altes Schlitzohr. Ich hätte mich natürlich hinten angestellt.

Er besteht darauf, mich noch nach Hause zu begleiten. Es regnet in Strömen, und, obwohl wir Schirme dabei haben – Alexander sei Dank – werden wir wieder nass. Der Regen kommt von der Seite, manchmal von beiden Seiten gleichzeitig, hat man den Eindruck, die Autos spritzen und auf den Bürgersteigen und am Straßenrand bilden sich, da die Dränage nicht funktioniert, tiefe Pfützen. Als ich zu Hause ankomme, habe ich das Gefühl, dass ich Regen genug für eine ganze Woche gehabt habe. Alexander ruft mich am Abend noch an und teilt mir mit, dass wir morgen um zehn die Bootstour machen, Regen oder nicht. Er hat noch eine halbe Stunde auf den Bus warten müssen.

11. Juni (Mittwoch)

Die Bootstour ist auf 12 Uhr verschoben. Dann werde das Wetter besser. Jetzt sei es doch ziemlich dunstig.

Wir fahren mit einem der kleinen, alten, wendigen Busse zur Boat Station. Diese Busse werden privat betrieben. In den Bussen ist eine „Schaffnerin“. Sie sitzt bequem hinter dem Fahrer und nimmt das Fahrgeld entgegen, etwas 50 Cent.

Während wir an der Boat Station im Regen auf Einlass in das Schiff warten, erzählt Alexander von Washington. Luba war schüchtern und besuchte in der Anfangszeit nur in Begleitung ihrer Mutter den Unterricht. Maria war überhaupt nicht schüchtern und gleich in einer Vielzahl von Projekten organisiert. Vor allem beim Sport, in der Leichtathletik, war sie voll dabei. Sie spezialisierte ich auf den Hürdenlauf, und das war nach der Rückkehr ein Problem: In ganz Nischni waren keine Hürden aufzutreiben. Aber Alexander ließ sich natürlich nicht klein kriegen und trieb am Ende am anderen Ende der Stadt welche auf. Maria war auf in verschiedenen biologischen Projekten involviert und wurde dann ausgewählt, als eine von vier Schülerinnen ein Projekt bei Al Gore vorzustellen. Das traf bei den amerikanischen Eltern nicht nur auf Zustimmung. Als ihre Eltern sie fragten, was denn das Schönste bei Al Gore gewesen sei, sagte sie: Die Kekse.

Die Schule, auf die die Mädchen gingen, war nicht die, die ihnen zugeteilt war, aber Alexander wollte seine Töchter auf jeden Fall in dieser Schule unterbringen. Er wurde bei dem Direktor vorstellig, und es stellte sich heraus, dass das ein reicher Exilrusse war, der am Ende des Gesprächs der Aufnahme der Mädchen zustimmte.

Das geht es auf das Boot. Statt Erklärungen gibt es nur laute Musik aus großen Lautsprecherboxen. Es ist alles grau in grau du man kann kaum etwas erkennen. Die Fahrt geht die Oka runter und dann wieder rauf und dann die Wolga runter und wieder rauf. Der Zusammenfluss der Flüsse ist nicht richtig zu erkennen. Die Bootsfahrt ist praktisch überflüssig, aber Alexander lässt sich davon nicht beeindrucken und konstatiert a Ende, es sei doch schön, die Stadt vom Fluss aus zu sehen. Nach meiner Meinung fragt er glücklicherweise nicht.

Wir kommen unter mehreren Brücken hindurch, darunter einer Metro-Brücke. Um Photos zu machen, gehen wir zwischendurch immer wieder aufs Deck, aber es ist windig und kalt. Man sieht schon kurz nach der Abfahrt das Blago-Veschenksi-Kloster und dann die Alexander-Newski-Kathedrale, gelb gefasst erhöht gelegen, um vom Fluss aus gut gesehen zu werden. Eine richtig gute Sicht hat man aber lediglich, und das gleich zweimal, auf die Stalingradtreppe mit dem Cutter davor und dem Kreml im Hintergrund.

Die Wolga fließt nach Süden und mündet in das Kaspische Meer. Andere bekannte Städte an der Wolga sind XXX und natürlich Stalingrad, also Wolgograd. Ich erfahre, dass es früher Zarstadt hieß. Den Namen Stalingrad bekam es noch zu Stalins Lebzeiten. Dagegen bekam Leningrad seinen Namen erst nach Lenins Tod. Bis dahin hieß es Petrograd, seit der Revolution.

Es gibt eine Bewegung, die den Namen Stalingrad wiederherstellen will. Stalin, sagt Alexander, sei immer noch populär, einer Umfrage nach der größte Russe aller Zeiten. Wenn die Leute auch nur einen Gulag zu sehen bekämen, würden sie ihre Meinung ändern, meint er. Für sie stehe Stalin einfach für Ruhe, Ordnung, Sicherheit. Wenn sie sich für Stalin aussprächen, protestierten sie damit gegen ihre Armut. Das leuchtet mir ein.

Irgendwie kommen wir aus Jeltsin zu sprechen. Für den schämt sich Alexander besonders. Er war ausgerechnet zu der Zeit an der Macht, als Alexander in Washington war. Er sei ständig betrunken gewesen und habe das Land ausverkauft. Peinlich. Von Jeltsin kommt dann die Rede auf Bush und dessen Verwechslung von Austria und Australia, als er zu Besuch in Österreich war, ws die Produktion des populären Stickers anregte: „There are no cangaross in Austria“.

Wir teilen das Schiff mit einer Schulklasse, offensichtlich Abiturienten, obwohl sie sehr jung aussehen. Am Vortag sind die letzten Prüfungen gewesen. Die werden landesweit abgehalten, und die Prüfer sind nie die eigenen Lehrer, sondern kommen aus ganz unterschiedlichen Landesteilen. Die Aufgaben waren bisher immer landeseinheitlich, wurden aber oft vom Osten aus per Internet unter Ausnutzung der Zeitverschiebung, in den Westen übermittelt. Die Regierung hat immer wieder neue Anstrengungen unternommen, das zu unterbinden, hat jetzt aber ein Einsehen gehabt und zum ersten Mal unterschiedliche Aufgaben gestellt.

Jeder Schüler wird in Mathematik und Russisch geprüft, dazu kommen für zukünftige Universitätsabsolventen zwei Wahlfächer, je nach angestrebtem Studienfach.

Die Universitäten entscheiden selbst über Aufnahme, sowohl bei den staatlichen als auch bei den privaten Bewerbern. Staatliche Bewerber studieren umsonst, die anderen zahlen. An Alexanders Universität zahlt der Staat für 100 Plätze. Der Rest wird von privaten Studenten eingenommen. Nicht alle werden angenommen, da die Universität auf ihre eigenen Kapazitäten Rücksicht nehmen muss, aber private Bewerber können mit schlechteren Noten reinrutschen als staatliche Bewerber.

Die Schüler machen allerlei faxen und sind ständig unterwegs, betragen sich aber gut, unter den Augen der etwas abseits sitzenden Lehrer, die dem Treiben lächelnd zusehen. Einige sind ganz extravagant auffallend gekleidet, andere ganz normal. Nicht alle sind mit Smartphones ausgestattet.

 

Alexanders Tochter Maria hat schon zwei Bücher veröffentlicht, eins über College Slang, auf Russisch, ein anderes auf Englisch. Für die Veröffentlichung hätten die Universitäten gesorgt. Damit würden besonders gute Abschlussarbeiten prämiert. Glücklich die Absolventen, die an einer solchen Uni studieren!

Alexanders Ehefrau, Natalia Zhivolupola, die vor zwei Jahren ganz plötzlich gestorben ist, hat eine 800-seitige Monographie über Dostojewskijs Notizen aus dem Untergrund hinterlassen. Die Arbeit nimmt die gesamte Geschichte des Genres, der Bekenntnisliteratur, auf, von Augustinus über Rousseau bis Confessions of an Opium Eater. Alexander hat die ersten 700 Seiten editiert, jetzt bleiben noch 100 Seiten, die wohl nicht ganz fertig geworden sind. Er ist im Zweifel, wie er weiter verfahren soll, will aber mit aller Macht das Buch in nicht allzu großer Ferne herausbringen. Von Anfang Juli bis Mitte August hat er frei und wird sich nur dem Buch widmen. Nach dem Tod seiner Frau hat er innerhalb weniger Monate einen Sammelband zu ihrem Gedächtnis herausgebracht, mit Beiträgen von Forschern aus Australien, den USA und verschiedenen europäischen Ländern. Alle hätten sofort und bereitwillig ihren Beitrag geleistet. Seine Frau muss eine ungewöhnliche Koryphäe gewesen sein.

Auf dem Schiff gibt es nur Verpflegung aus dem Automaten, und davon machen wir keinen Gebrauch. Als wir um halb drei wieder zu Hause sind, halte ich es vor Hunger kaum noch aus. Ich habe den ganzen Tag noch gar nichts gegessen. Aber Alexander hat vorgesorgt und schon am Morgen gekocht! Beim Kochen schört er auf Olivenöl, auch beim Braten, obwohl andere sagen, Olivenöl solle man nur für Salate verwenden. Als Alternative gebrauche man in Russland Maisöl. Ich weiß nicht, was das ist. Dafür versteht er nicht, was mit Rapsöl gemeint ist und kennt auch das englische Wort nicht. Das kommt selten vor.

Es gibt Hähnchenschenkel mit gebratenen Auberginen und Champions. Ich werde nach allen Regeln der Kunst umsorgt. Einen eigenen Beitrag kann ich nicht leisten. Zu allem Übel erfahre ich auch noch, dass er eine Woche unbezahlten Urlaub genommen hat, eigens für meinen Besuch.

Zur Vorbeugung gegen Erkältung serviert mir auch einen Kräutertee aus Aserbaidschan. Der schmeckt allerdings nicht sonderlich gut.

Schon während ich noch esse  – natürlich habe ich die größere Portion bekommen – hat er mit dem Abwasch begonnen. Das sei eine Obsession aus seiner Zeit in Baku. Dort habe es früher oft Wasserknappheit gegeben. Das ist auch heute noch so, aber nicht mehr so stark. .

Bei der Gelegenheit erzählt er, dass die Ukraine der Krim das Wasser abgedreht hat. Die gesamte Ernte sei zunichte gegangen. Was würde wohl passieren, wenn Russland der Ukraine das Gas abdreht, will er wissen.

Wir kommen auf die Arbeiter an der Fassade des gegenüberliegenden Hauses zu sprechen. Ich beobachte sie die ganzen Tage schon. Sie sind unglaublich wendig, immer in Bewegung und arbeiten ohne Unterbrechung. Das seien Gastarbeiter, sagt er, aus den ehemaligen zentralasiatischen Staaten der Sowjetunion: Kasachstan, Tadschikistan, Usbekistan. Sie würden schonungslos ausgenutzt, mit schlechter Bezahlung und schlechter Unterkunft. Sie brauchen, wenn ich das richtig verstehe, keine Arbeits- oder Aufenthaltserlaubnis, oder wenigstens wird es ihnen leicht gemacht, hier zu arbeiten. Sie kommen in Scharen.

Das habe es zu Zeit des Sozialismus nicht gegeben. Und der sei soweiso nicht so schlecht gewesen: medizinische Versorgung, Bildung, Nahrung, Transport, für alles gesorgt. Nur hätten sie eben das ewige politische Mantra des Sozialismus runterbeten müssen, aber daran habe man sich gewöhnt und das mit einem ironischen Lächeln abgetan. Das leuchtet mir alles ein. Aber: Reisen ins Ausland, freier Zugang zu Informationen, ideologiefreie Forschung und ein bisschen Luxus wie Bananen und Deos und vernünftige Autos? Zählt das nicht?

Alexanders Englisch ist von allererster Klasse, vor allem in Phraseologie und Vokabular ist er so gut wie unschlagbar. Irgendetwas ist aber komisch, außer der etwas unorthodoxen Aussprache, und erst bei Mittagessen fällt es mir auf: Er braucht nicht modifizierte Imperative, und das ist pragmatisch natürlich nicht erlaubt. Eat! Sit down!  Bei der Aussprache führt zu keinen Missverständnissen, aber hat kuriose russische Züge, vor allem die fehlende Unterscheidung von /i:/ und /i/. Beim Besteigen des Boots warnte er mich heute: Be careful, it is sleepery.

Am Abend geht es in die Oper. Es gibt Carmen, leider wieder in der Philharmonie im Kreml, nicht in der Oper. Carmen ist, Alexander zufolge, die meistgespielte Oper der Welt und wird jeden Tag auf irgendeiner Bühne der Welt aufgeführt.

Hinter dem Kreml-Tor sind Waffen und Fahrzeuge aus dem 2. Weltkrieg ausgestellt, darunter ein Lastwagen mit einem harmlos aussehenden Dachgepäckträger. Erst wenn man näher herangeht, sieht man, dass der Dachgepäckträger mehrere Lagen abschussbereiter Projektile hat. Das Fahrzeug ist in Russland seht bekannt.

Wir kommen auf den Krieg und dessen Folgen zu sprechen. Alexander sagt, es gebe keine Ressentiments gegenüber Deutschen mehr. Meine Erfahrungen bestätigen das. Ich erinnere mich, wie ich auf der ersten Reise immer wieder gefragt wurde: Bist du für den Krieg? Wenn man mit nein antwortete, war alles in Ordnung.

Was die politische Situation angeht, sagt Alexander, die Russen hätten jahrelang darauf gewartet, dass der Westen auf sie zukomme. Jetzt sei man es leid. Man hätte keine Erwartungen mehr, und man gebe auch, ehrlich gesagt, nichts mehr darum. Die Russen hätten von den Amerikanern gelernt. Was die Russen mit der Krim gemacht hätten sei dasselbe, was die Amerikaner mit dem Kosovo gemacht hätten.

Wir sind eine halbe Stunde vor Beginn schon auf unseren Plätzen. Ich habe Zeit genug, mich für die bevorstehende Tortur zu stählern. Es gibt ein Programm mit eng beschriebenem Text, in den ich mich einstweilen vertiefe.

Nebenbei erzählt Alexander, wie er in San Francisco zusammen mit Maria in letzter Minute Karten für die Oper bekam. Maria, die sich mit amerikanischen Sitten auskannte, erwähnte noch, dass ihr Vater an der Portland State University unterrichte, woraufhin es besonders gute Plätze gab. Allerdings war keine Zeit zum Umkleiden mehr, und so saß Alexander mit T-Shirt inmitten von Amerikanern mit Abendkleidung. Er rührte sich vier Stunden lang nicht und wagte nicht, nach links und rechts zu sehen. Aber die Oper genoss er in vollen Zügen.

Die Aufführung sei konzertant, sagt Alexander, und der große Teil der Bühne ist tatsächlich von den Sitzen für das Orchester eingenommen. Die Musiker erscheinen, alle in elegantem Schwarz und Weiß, fast nur Frauen. Das sei so schlecht bezahlt, dass sich das heutzutage nur noch Frauen antun würden, sagt Alexander. Die Verteilung auf die Instrumente ist allerdings sehr ungleich: Die Streicher sind fast nur Frauen, nicht aber die Kontrabässe, und bei Bläsern und Perkussion gibt es mehr Männer. Auffallend ist, wie jung alle sind.

Die Ouvertüre beginnt mit einem Knall, mit einem Tusch des Beckens, und dann geht es sofort rasant los.

Dann kommen die Sänger auf die Bühne. Sie sind kostümiert und spielen auch, wenn auch ohne Bühnenbild, fast ohne Requisiten und nur auf dem vorderen Streifen der Bühne. Das ist ziemlich gut gemacht. Die Requisiten kann man gut durch Gesten ersetzen, und Gesten kommen in der ganzen Aufführung immer wieder zur Geltung.

Es wird auf Französisch gesungen. Früher wurden alle Opern grundsätzlich auf Russisch gesungen, sagt Alexander. Jetzt meist in der Originalsprache. Verstehen kann man allerdings herzlich wenig, höchstens mal encore und moi foi und natürlich amour.

Es sind mehr als zwei Dutzend Sänger auf der Bühne, alle mit kräftigen, vollen Stimmen. Von den Solisten gefällt mir Micaela am besten, die Verlobte Josés, und José am schlechtesten. Es krächzt und quiekt bei ihm immer wieder. Ich stelle mir aber vor, dass ein Kenner auf meine Kommentare mit Grausen reagieren würde.

Die Sänger sind alle, aber wirklich alle,  blutjung, vielleicht um die 30, und das scheint irgendwie zu dem Stück zu passen.  Die Kostüme sind ausgesprochen schön, und die Sängerinnen auch, eine wie die andere.

Die bekannten Passagen sind wirklich mitreißend, aber die Oper hat auch viele Längen, und die Handlung ist unerträglich. Dass so ein Schwachsinn zum Gegenstand einer großen Oper wurde, kann man vermutlich nur mit Zeitgeist begründen. Es wird mir länger und länger, und ich sehe immer wieder auf die Uhr. Nach einem Fußballspiel ist noch nicht mal der erste Teil vorbei. Und die harten Sitze werden auch nicht bequemer.  Meine Erlösung finde ich mit Carmens Tod.

Alexander ist, wie nicht anders zu erwarten, ganz hingerissen. Er hat viele Details beobachtet, die mir entgangen sind. Dann gehen wir schweigend und jeder seinen eigenen Gedanken nachhängend durch den Regen nach Hause.

12. Juni (Donnerstag)

Es ist Feiertag, und es rüttelt nicht an den Fenstern und hämmert, klopft und ruft nicht von dem gegenüberliegenden Gerüst. Aber auch heute regnet es. Ab Samstag, meinem Abreisetag, soll es wieder besser werden!

Am Vormittag gehe ich durch den Regen ins Zentrum. Der Platz um den Kreml ist abgesperrt und man muss eine Kontrolle passieren. Erst später, am Abend, sehe ich, was der Grund dafür ist: Alle Flaschen, auch Plastikflaschen, werden einkassiert. Es herrscht absolutes Alkoholverbot auf dem Gelände.

Auf einer Bühne gibt es laute Popmusik, und an einer Ecke steht ein Auto, das man gewinnen kann. Und es ist voll von Menschen, die offensichtlich zum Feiern hier sind. Aber die Feier ist wohl noch nicht richtig in Gang gekommen.

Ich gehe die Prokravskaja runter Richtung Gorki-Platz. Ich will eine Flasche Wein für Alexander kaufen, finde aber überhaupt keinen Ort, wo Alkohol verkauft wird.

Von der Straße biegt nach links ein Markt ab. Das ist ein Ensemble von kleinen Buden und Ständen um eine feste Markthalle herum.

Draußen sieht alles ziemlich ärmlich aus, drinnen etwas besser. Es gibt eine abgetrennte Kabine für Raucher. Auch hier weit und breit kein Wein. Später erfahre ich, dass die Händler, oder wenigstens die Männer im Hintergrund, alle aus Aserbaidschan sind. Das ist eine Art Mafia, die sich diesen Erwerbszweig gesichert hat. Die Qualität sei aber gut. Und alles garantiert immer frisch.

Unverrichteter Dinge kehre ich auf die Hauptstraße zurück. An der Fassade eines Theaters sind ein paar Tierfiguren angebracht. Deren Sinn ist mir nicht klar.

Über die Straße fährt ein Bähnchen, wie es das jetzt auch in unseren Innenstädten gibt, aber es richtet sich wohl eher an Kinder. Auf der Kühlerhaube und auf dem Dach sind lauter große Märchenfiguren angebracht.

Heute ist es nicht nur regnerisch, sondern auch kühl: 11°. Auf einem Schild vor einem Café steht: „Ein heißer Kaffee an einem kalten Tag“.

Ich mache mich auf die Suche nach der Post und komme dabei auf den Gorki-Platz. Der ist so groß, dass er mit einem Blick gar nicht einzufangen ist. Die Bürgersteige sind breit, aber in einem beklagenswerten Zustand: Risse und Löcher und Gefälle im Asphalt, und Sand, Erde und Wasser an den aufgebrochenen Stellen. Im Kontrast dazu steht an jeder zweiten Ecke ein modernes Bankgebäude,

Nachdem ich eine Runde gemacht und nichts gefunden habe, spreche ich kurzentschlossen zwei junge Männer an. Die wissen nicht, wo die Post ist, zücken aber sofort ihre Smartphones und sehen nach. Als sie auch da nichts finden, rufen sie jemanden an und begleiten mich. Sehr freundlich. Fast wird mir das ein bisschen suspekt, als sie mich in eine Metrostation führen, aber dann verstehe ich, dass es nur darum geht, die Straße zu unterqueren. Da wir ziemlich lange unterwegs sind, führt kein Weg daran vorbei, ein paar Worte zu wechseln. Sie wollen wissen, woher ich komme, warum ich hier bin und wie lange. Irgendwie bekomme ich das alles hin, auch die Erklärung, dass Trier die Stadt ist, in der Marx geboren wurde, aber dass das nur die älteren Russen wüssten. Sie selbst können kein Englisch, haben aber in der Schule Deutsch gelernt. Davon machen sie aber nur sehr spärlich Gebrauch. Als wir am anderen Ende des Platzes angelangt sind, stehen wir plötzlich vor der Post. Ich muss vorher daran vorbeigelaufen sein. Ich will ihnen zum Dank 50 Rubel für einen Kaffee geben, aber das nehmen sie nicht an. Also versuche ich mich an einem etwas emphatischen Dankeschön auf Russisch. Die Post ist natürlich geschlossen, aber es war trotzdem keine schlechte Erfahrung.

Ich komme am Burger King vorbei und sehe zufällig, dass es sich Restaurant nennt. Am Ende eines kleinen Parks auf der gegenüberliegenden Seite liegt das Restaurant des Aquariums, mit uniformierten Kellnern und weißen Tischdecken. Es heißt Café.

Durch die Gehversuche im Russischen ermuntert spreche ich ein Mütterchen am Straßenrand an, das Schmuck verkauft. Ich erstehe ein Paar rote Ohrringe. Was Ohrringe heißt, weiß ich nicht mehr, aber Ohr wohl. Das reicht. Ansonsten geht es noch um den Preis und die Farbe, aber das meiste ist auch mit Hand und Fuß zu bewerkstelligen.

Dann fallen mir noch ein Kwas-Stand und ein Eis-Stand auf. Die sehen noch genauso aus wie zu seligen Sowjetzeiten.

An der Oktoberskaja biege ich quer ab und frage mich, ob der Name noch der Revolution geschuldet ist. In der Hauptstraße habe ich vorher einen ziemlich verwahrlosten Eingang zu einem Café gesehen, an dem noch CCCP stand.

An der nächsten Straßenecke steht ein auffälliges modernes Gebäude mit schräg nach vorne herausragenden Quadern an der Fassade und einem extravaganten Eingangsteil. Ich habe den Bau in dem Führer gesehen, finde ihn aber jetzt nicht mehr.

In einem gemütlichen Café ganz nahe der Wohnung trinke ich einen Kaffee. Mutig, fast übermütig, bitte ich um die Speisekarte und erkläre, dass ich jetzt nichts essen möchte, vielleicht aber später oder morgen. Klappt. Speisekarte sieht gut aus.

Als ich Alexander nur wenig später vorschlage, ihn am nächsten Tag dorthin zum Essen einzuladen, sagt er zum ersten Mal nicht von vornherein nein. Den Rest des Tages über habe ich aber wieder keine Chance, auch nur einmal eine Busfahrkarte zu bezahlen. Er hat aber irgendwie gemerkt, dass mir die Rundumversorgung nicht ganz recht ist und erklärt, er habe mir eine Mail geschrieben, die ich dann in Deutschland lesen könne. Es handele sich wohl um einen kulturellen Unterschied. Ein russisches Sprichwort besage, wenn man etwas möge, lasse man es nicht mit dem Leben davonkommen.

Konzessionen, was das Programm angeht, werden allerdings nicht gemacht. Das Feuerwerk am Abend muss ich mir ansehen. Darauf habe auch Luba bestanden. Dabei habe ich hier in aller Deutlichkeit gesagt, dass ich Feuerwerk nicht mag und finde, wenn man eins gesehen habe, habe man alle gesehen. Ja, aber ich hätte noch kein russisches gesehen. Und das müsse man sehen, weil das Publikum anders reagiere. Widerrede sinnlos.

Erst einmal fahren wir aber zum Blago-Veschenksi-Kloster. Auf dem Svoboda-Platz steht ein großer Bauzaun. Hier entsteht ein Einkaufszentrum. Früher gab es hier eine Reihe kleinerer Geschäfte. Bei dem Graben nach dem Fundament stieß man auf Wasserleitungen. Die wurden zerstört und die gesamte Gegend überschwemmt. Das sind alte, vor geraumer Zeit unterirdisch verlegte Flüsse. Nischni ist da nicht die einzige Stadt, die früher ein bisschen was von Venedig gehabt haben muss.

Dann kommen wir durch einen kleinen Park mit dem Denkmal für die Gefallenen der ersten russischen Revolution. An die erinnere sich heute kein Mensch mehr, meint Alexander.

Den Bus fährt von der Oper ab. Die ist nach Puschkin benannt und hat eine Puschkin-Büste vor dem Eingang. Puschkin besaß ein Gut, besser gesagt, ein Dorf in der Umgebung von Nischni. Er schrieb dort auch seine bedeutendsten Werke, allerdings unfreiwillig. Der gesamte Bezirk war abgesperrt wegen des Ausbruchs von Malaria.

Russland ist in gut 50 Bezirke eingeteilt, und in einem von denen, einem oblast, lag Puschkins Dorf.

Nach wenigen Stationen kommen wir an dem Kloster an. Ein langer, gewundener Weg führt zum Kloster hinunter. Wenn man näher kommt, merkt man, wie groß das Kloster ist. Man geht unter einem Torbogen her und betritt das gepflegte, fast menschenleere Gelände. Hier regiert die Farbe Grün über den weißen Mauern: Die Türen, die Blendläden, die Eingänge vor den Toren, die Dächer, die Kuppeln, alles grün. Wir gelangen vor verschiedene verschlossene Türen. Auf einer Tafel liest man, dass das Kloster im 13. Jahrhundert gegründet wurde. Die jetzigen Bauten stammen aus dem 17. Jahrhundert. Besonders bekannt ist das Kloster als Grablege. Sie berühmten Toten sind chronologisch aufgelistet. Die ersten sind alle Priester höheren Ranges, dann kommt aber auch ein Schriftsteller, und schließlich sogar ein Lehrer.

In einem Lädchen ergattert Alexander ein paar Kerzen und die Information, wie man in die Kirche gelangt. Am äußersten Ende, als wir es schon fast aufgeben wollten, ist eine Seitentür geöffnet.

Der Innenraum ist niedrig, gewölbt, mit drei Schiffen und drei ???, und ziemlich dunkel. Die Decke und die Wände sind blau gefasst, darauf Darstellungen von Heiligen. Von der Decke hängen schwere, eiserne Lüster in Form eines Rads, von dem wiederum reihenweise Kreuze hinabhängen. Vorne im Gemeinderaum steht die wichtigste Ikone der Kirche, eine Gottesmutter. Sie ist hinter Glas. An der Ikone hängt Schmuck als Votivgabe. Davor zündet man die Kerzen an.

Die prächtige Ikonostase, ganz in Silber, ist hinter einem eigens durch ein Geländer abgesperrten Raum. All das ist orthodox wie aus dem Lehrbuch.

Draußen erzählt Alexander von einem Bekannten, der Millionär geworden ist, ganz schnell, nach dem Zerfall der Sowjetunion, dann aber in Schwierigkeiten geriet, sein ganzes Geld zusammenraffte und in das Kloster auf dem Berg Athos ging.

Heute hätten die Klöster in Russland wieder starken Zulauf. In der Sowjetzeit wurden die meisten Klöster aufgelöst, auch dieses hier. Es hätte als Lager gedient und ziemlich vernachlässigt ausgesehen.

Jetzt geht es noch zur Seilbahn. Sie führt auf die andere Wolga-Seite, nach Bor. Sie ist in erster Linie als Transportmittel, nicht als Freizeitangebot zu verstehen. Die Menschen aus Bor fahren mit ihr zur Arbeit nach Nischni.

Die Seilbahn ist brandneu und stammt aus französischer Fertigung. Auf jedem der modernen, quadratischen Wagen gibt es Werbung für eine Automarke: Ford, Kia, VW. Eine wirbt mit dem Werbespruch: Immer auf der Höhe.

Weder bei der Überfahrt noch in Bor gibt es etwas zu sehen. Dort ist das Stadtfest in vollem Gange. Kinder stehen mit der russischen Fahne auf einem offenen Lieferwagen und lassen sich photographieren. Andere stehen mit Farbtöpfen vor Militärfahrzeugen und malen sie an. Eine gute Idee. Auf dem zentralen Platz steht eine lebensgroße, silbern glänzende Skulptur Lenins, vor dem alten Kulturzentrum. Das wird immer noch genutzt aber nicht mehr so viel wie zur Sowjetzeit. Hier gibt es Tanzgruppen, Chöre, Literaturzirkel, Bastelgruppen usw.

An einem Stand der Schriftzug von Coca-Cola. Ich erinnere mich, dass es zur Sowjetzeit immer nur Pepsi gab. Warum, weiß ich nicht. Der Stand nennt sich Bistro. Das Wort soll angeblich von boistro kommen, schnell, aber ob das stimmt, habe ich bis heute nicht rausbekommen. Es gibt hier auch Hot Dogs. Die werden mit einem russischen Plural versehen und heißen hot dogi.

Nach Hause geht es, um das Transportprogramm zu vervollständigen, mit der Straßenbahn. Sie ist leidlich modern, besteht nur aus einem Wagen und fährt über eine Trasse in der Straßenmitte. Da hat sie freie Fahrt und hält den Verkehr nicht auf, da die Straße sehr breit ist. Wir sind jetzt schon mit dem Auto, mit dem Bus, mit dem Schiff, mit der Seilbahn und mit der Straßenbahn gefahren.

Am Abend werden wir von Luba und ihrem Mann abgeholt. Es geht zuerst über eine der großen Wolgabrücken auf die andere Seite, auf das Gebiet der Messe. Viel ist nicht mehr zu sehen aus Nischnis großer Zeit als Handelsstadt, die hier ihr Zentrum hatte. Sie machte Nischni zur „dritten Hauptstadt Russlands“.

Nachdem die Messe in der Sowjetzeit zunächst abgeschafft wurde, wurde sie danach wiederbelebt, als eine neue Wirtschaftspolitik eingeläutet wurde. Das zentrale, langgezogene zweistöckige Messegebäude mit einer hohen Arkade im hervorgehobenen Mittelteil hat Geschäfte im Untergeschoss und Büros im Obergeschoss. Es stammt vom Ende des 19. Jahrhunderts und ist in historistischem Stil gehalten, mit traditionellem Dekor aus Backstein und Mörtel. Wir sehen es aber nur vom Auto aus.  Wir parken am Rande des Platzes. Dort gibt es Musik auf einer Bühne und dann ein Feuerwerk, obwohl es noch taghell ist. Man will dem großen Feuerwerk auf der anderen Seite zuvorkommen.

In dem Mitte des Platzes ein großes Lenin-Monument. Wir posieren davor und lassen uns photographieren. Wie wir von Lenin auf  Alexanders Zahnarztbesuch zu sprechen kommen, ist ein Geheimnis der Dynamik einer Konversation, aber jedenfalls ist es so. Der Zahnarzt sagte ihm, da müsse einiges gemacht werden, und Alexander antwortete, er bräuchte nur die Vorderzähne, für das th.

Wir fahren dann zur Alexander-Newski-Kathedrale. Wie schon vom Fluss aus kann man sie auch von Land aus schon aus der Entfernung sehen. Die Dämmerung setzt ein.

Die Kirche ist, wie zu erwarten war, um diese Zeit geschlossen, aber sie ist auch von außen interessant. Ganz in dunklem Gelb gefasst, unterscheidet sie sich deutlich von den anderen orthodoxen Kirchen. Sie hat keine prominenten Kuppeln, und wenn man den oberen Teil ausblendet, könnte man meinen, vor einer katholischen Kirche zu stehen.

Irgendwie ist die Rede davon gewesen, dass ein Freund Saschas einen anderen Ort als den Minin-Platz für das Feuerwerk vorgeschlagen hat, aber am Ende landen wir doch dort.

Auf einer Bühne singt ein Sänger aus Moskau, dessen Großvater schon eine Berühmtheit war. Das Feuerwerk wartet auf ihn und das Ende des Konzerts und beginnt mit Verspätung, so um halb zwölf.

Das Feuerwerk ist technisch perfekt und wird von Musik untermalt, aber mich lässt es kalt. Es wiederholt sich auch sehr stark. Weniger wäre mehr gewesen. Die Russen schauen andächtig zu, viele Väter mit Kindern auf den Schultern. Die berühmten russischen Reaktionen, derentwegen man laut Alexander das Feuerwerk sehen muss, bleiben aus. Die Zeiten änderten sich, meint er. In der Sowjetzeit wären die Leute richtig mitgegangen. Das ist aber jetzt schon 25 Jahre her.

Ich will mich zu Fuß auf den Weg nach Hause machen, aber das wird entschieden unterbunden. Ich unterdrücke meine Wut, zeige mich aber auf dem Weg einsilbig. Zu Hause wird dann die Verärgerung mit einem kalten Bier gelöscht.

13. Juni (Freitag)

Heute fängt der Tag zumindest nicht mit Regen an. Es sind sogar ein paar blaue Flecken am Himmel zu erkennen. Und dann kommen sogar die ersten Sonnenstrahlen seit Montag zum Vorschein.

Ich gehe zuerst zur Post. Nachdem die Sache mit den Ansichtskarten nicht geklappt hat, ist Alexander mit zwei riesigen Ansichtskarten aufgetaucht, nebst beschrifteten und frankierten Umschlägen. Auf die Art und Weise sollen wenigstens die Russinnen in Deutschland Nachricht von der Reise bekommen.

Dann sehe ich mir das Gorki-Denkmal an. Gorki steht erhöht auf einem Podest, das aus natürlichem Felsen zu wachsen scheint. Er blickt wie ein Visionär in die Ferne. Seine Rockschöße wehen im Wind. Das liegt daran, dass die Statue eigentlich unten am Flussufer aufgestellt werden sollte.

Die Procharskaja ist noch wie ausgestorben. Von der gestrigen Feier ist nichts mehr zu sehen. Ich mache mich auf die Suche nach der Synagoge. Als ich das gestern Alexander gegenüber erwähnte, holt er zu einem Rundumschlag aus, bei dem die Juden nicht allzu gut wegkommen. Luba habe an einer jüdischen Schule hier in Nischni gearbeitet und sei froh gewesen, als sie eine andere Stelle gefunden hätte. In Alabama sei er bei den Schwarzen auf große Vorbehalte gegenüber den Juden gestoßen. Die hätten sogar behauptet, der Sklavenhandel in Amerika sei größtenteils von Juden betrieben worden. In der Sowjetunion habe es erhebliche Vorbehalte gegenüber Juden gegeben, und die ausgewanderten russischen Juden fühlten sich in Israel als Juden zweiter Klasse. Er selbst hat aber die Synagoge in Nischni zusammen mit einer Kollegin, einer ausgewanderten Jüdin, die aus Amerika zu Besuch gekommen sei, besucht. Da habe man sie sehr zuvorkommend behandelt. Na also, geht doch. Ich will mir ja nur das Gebäude ansehen.

Das ist allerdings gar nicht so einfach. In der Grusinkaja, wo sie sein soll, ist sie nicht zu finden, und keiner weiß Bescheid. Dann frage ich eine ältere Dame, und die gibt eine genaue und verständliche Erklärung, bei der mir das Schlüsselwort Arkoi, Bogen, hilft. Ich uss zurück, die Procharskaja überqueren und durch einen Bogen durch gehen auf die Verlängerung der Grusinskaja zur anderen Seite hin.

Auch da werde ich lange nicht fündig. Es gibt hier aber ein paar schöne, einigermaßen passabel erhaltene Holzhäuser.

Schon fast am Ende der Straße sehe ich ein prächtiges Gebäude und davor ein kleines Wärterhäuschen, auf dem Polizei steht. Die Polizei scheint sich hier nur mit dem Besten zufriedenzugeben. Aber keine Synagoge. Ich frage einen alten Mann, der gerade rechtzeitig auf dem Innenhof erscheint und deutet auf das prächtige Gebäude hinter mir: Synagoge. Ich habe mich von dem Wärterhäuschen davor verwirren  lassen. Vermutlich steht es nicht zufällig da, sondern gewährt der Synagoge Schutz.

Erst jetzt sehe ich, wie blind ich war: Vor dem Gebäude steht ein riesiger, neunarmiger Leuchter, und das durchbrochene Gitter des Vorplatzes zeigt überall den Davidstern. Das Gebäude ist von seiner Architektur her aber genauso gut ein Palast sein. Allerdings heißt es, die Fassade repräsentiere die Thora-Rolle und die beiden Türme die cases der Thora. Darauf muss man erst mal kommen.

Bei der Suche nach der Synagoge bin ich vorher zufällig auf ein besonderes außergewöhnliches Gebäude gestoßen, das ohnehin auf meinem Programm stand. Es ist eine architektonische Besonderheit, ein modernes Gebäude, von dem es heißt, es sei eine Ansammlung von Zitaten, Anspielungen und Motiven verschiedener der Architektur der Avantgarde des 20. Jahrhunderts, eine Art Reliquiar der modernen Architektur. Die Fassade ist jedenfalls ganz und gar unregelmäßig und hat immer etwas anderes zu bieten, sobald man den Blick weiter wandern lässt. Betont wird die Besonderheit dieses Gebäudes dadurch, dass seine Nachbarn zwei Stile in Reinkultur vertreten, den Jugendstil zur Linken und den Konstruktivismus zur Rechten.

Bevor ich wieder auf die Prokrasnaja komme, fällt mein Blick auf die Seitenansicht des wirklich ehrwürdig aussehenden Baus der Russischen Zentralbank, den ich dieser Tage für eine Kirche gehalten habe. Tatsächlich kann man das auch glauben, wenn man hier von der Seite auf den spitz zulaufenden Turm sieht. An dessen Ende müsste eigentlich ein Kreuz stehen, aber stattdessen steht dort ein Stern. Mir fällt auch neben der russischen Fahne eine Fahne mit einem Hirsch im Zentrum auf, vermutlich der Fahne von Nischni und eine weitere Fahne, die der Sowjetunion. Was hat die wohl hier an diesem offiziellen Gebäude zu suchen?

Suchen ist überhaupt das Stichwort des Vormittags. Auf einer Seitenstraße, der Malaja Prokrowskaja, suche ich das Dynamo-Stadion. Es soll auch eine architektonische Besonderheit sein, aber die finde ich nicht. Ich treffe aber irgendwann auf das Stadion. Dort findet gerade Universitätssport statt. Es wird so etwas wie Rugby mit Frisbee-Scheiben gespielt. Ich gehe durch das Stadion durch und am anderen Ende wieder raus und finde mich plötzlich auf der Prokraskaja. Unglaublich. Das Stadion grenzt direkt an die Fußgängerzone an!

Am Rande des Stadions steht das Pile House, so genannt, weil hier einfach eine Schicht auf die andere aufgeschichtet wurde. Das sieht aber in der Wirklichkeit nicht so verlockend aus wie in der Zeichnung im Buch.

Dann entdecke ich auch endlich die Fassade des Marionettentheaters. Eher zufällig. Das Theater wendet der Prokraskaja ihre Seite zu und man sieht die Fassade nur, wenn man etwas abzweigt. Die Fassade schließt oben ab mit Türmchen und Fialen aus Eisen und darunter, vor einer Art Balkon auf Höhe der Mitte der Fassade, erscheinen, ebenfalls aus Eisen, bekannte Figuren des Marionettentheaters, darunter der Rattenfänger von Hameln. Das sieht wie die Bühne des Marionettentheaters aus.

Dann finde ich noch die Garantija-Bank, auch abseits der Hauptstraße gelegen. Als ich sie gefunden habe, bin ich nicht sicher, ob es wirklich die Bank ist, so ungewöhnlich ist die Architektur. Es sieht aus wie eine moderne Flugzeughalle. Es ist aber wirklich die Bank. Die andere Seite der Bank ist ein neoklassischer Bau. Der Kontrast macht’s.

Zwischendurch habe ich einen Kaffee getrunken und ein Profiterol gegessen, das allerdings eher wie aus der Retorte schmeckt. Zum ersten Mal überhaupt bekomme ich Münzen zurück. Sie sehen ziemlich schäbig aus und sind sehr dünn und leicht. Fühlt sich ein bisschen wie Blech an.

Dann kaufe ich an der Prokovskaja noch einen Kaffeebecher von Nischni Nowgorod, für die Sammlung zuhause. Ich mache noch ein Photo von einer der vielen Skulpturen, die Figuren aus dem ehemaligen Alltag von Nischni darstellen, diesmal eine Frau mit langem Kleid vor dem Eingang zum Kino, die sich in einem Spiegel betrachtet. Dann bitte ich noch eine schüchterne junge Frau, ein Photo von mir auf einer Parkbank zu machen, an der Seite einer Frau, die es sich dort bequem gemacht hat. Das ist nicht sehr originell. Später sehe ich immer wieder, wie andere Besucher dasselbe Motiv wählen.

Mir ist aufgefallen, dass ich in der ganzen Zeit auf der Straße nicht einmal eine andere Sprache als Russisch gehört habe. Als ich das Alexander erzähle, weist er das entrüstet zurück: Nischni sei eine sehr internationale Stadt.

Erstaunlicherweise hat Alexander mein Angebot angenommen, ihn am letzten Tag zum Essen auszuführen, und zwar in das kleine Café in der Nähe der Wohnung, in dem ich dieser Tage einen Kaffee getrunken habe. Auch Luba und Sascha haben zugesagt, was wiederum Alexander erstaunte. Der hatte gesagt, die seien beide viel zu schüchtern.

Es läuft wegen unseres Konzerts am Abend und den Arbeitszeiten der anderen auf ein Mittagessen um vier Uhr nachmittags hinaus. In bester Tradition also, wie in die Aristokraten in den alten russischen Romanen.

Das Lokal ist gemütlich, mit niedrigen Decken, schwarzen Holztischen und schwarzen Holzbalken unter der Decke. Das Essen ist allerdings nicht berauschend und eher teuer.

Bei der Unterhaltung habe ich mal wieder keine Antwort auf die Frage, was typisch deutsches Essen ist und welches das schönste Land ist, das ich besucht habe. Auf die Gegenfrage erfahre ich, was typisch russisches Essen ist: Suppe. Borschtsch und Soljanka werden natürlich genannt. Die Gesellschaft ist ausgesprochen angenehm, und die jungen Leute scheinen ernsthaft interessiert zu sein. Auch meine eher verhaltenen Kommentare zum Feuerwerk am gestrigen Abend werden ohne Gram akzeptiert.

Nischni ist einer der Austragungsorte der WM 2018. Es wird ein neues Stadion gebaut, und zwar in der Nähe der Alexander-Newski-Kathedrale am anderen Flussufer.

Sascha und Luba hatten geplant, nach Italien zu reisen, um Maria zu besuchen, aber plötzlich bekam Sascha Bescheid, er dürfe bis auf Weiteres keine Auslandsreise antreten. Das geschah völlig willkürlich und ohne Begründung. Es ist auch nicht klar, wie lange die Regelung gilt. Luba sollte nun alleine reisen, will aber Sascha nicht alleine zuhause lassen. Ich spüre, dass das nicht in Alexanders Sinn ist und empfehle, sich die Chance nicht entgehen zu lassen.

Lieber würde ich noch sitzen bleiben und weiter über Gott und die Welt reden, aber ich muss noch einmal auf die harten Stühle der Philharmonie, und zwar ausgerechnet zu einem Klavierkonzert.

Es bestätigt die schlimmsten Befürchtungen. In der ersten Halbzeit gibt es Petruschka von Strawinsky. Es ist eine Musik, die man wohl als „modern“ einordnen würde. Es lebe die Disharmonie. Es gibt ständige abrupte Wechsel in Volumen, Tonhöhe, Rhythmus, und es wird ordentlich in die Tasten gehämmert. Es ist eine Musik, der ich zuhause nicht fünf Minuten lang zuhören würde. Das Ballett gibt es auf der Leinwand dazu, teils in Form von Marionetten, teils in Form von Tänzern, die sich täuschend ähnlich wie Marionetten bewegen.

In der Pause erzählt Alexander eine typische Anekdote von seiner Hochzeit. Alexander und Nathalia erschienen beim Standesamt. Dort wurde ihnen gesagt, sie müssten das Aufgebot bestellen und könnten dann nach zwei Monaten heiraten. Sie wollten aber sofort heiraten. Die Standesbeamtin sagte aber, das käme nicht in Frage, so seien die Regeln nun einmal. Eine Bekannte kam ihnen zu Hilfe. Sie erschien am folgenden Tag bei der Standesbeamtin mit einer Flasche Wodka, die sich in Rubel-Scheine eingepackt hatte. Am nächsten Tag erschienen Alexander und Nathalia wieder auf dem Standesamt. Die Standesbeamtin begrüßte sie herzlich und sagte: „Warum haben Sie mir denn nicht gesagt, dass sie verliebt sind?“ Und schloss die Ehe auf der Stelle.

In der zweiten Halbzeit gibt es kurze Stücke aus verschiedenen Epochen, von Gluck bis Ravel. Alles klingt sehr modern. Gluck klingt nicht nach Gluck, Mozart nicht nach Mozart, Wagner nicht nach Wagner. Alles klingt wie 20. Jahrhundert. Keine Ahnung, woran das liegt.

Dazu gibt es bewegte Bilder von Chagall, ausgerechnet Chagall, noch einer meiner speziellen Vorlieben. Warum alle Leute sofort ins Schwärmen geraten, wenn sie den Namen hören, habe ich noch nie verstanden. Auch nicht bei den euphorischen Erklärungen der Kirchenfenster in Metz, Mainz und Zürich.

Die Bilder begleiten die Musik. Bei Gluck bewegen sich Orpheus und Eurydike ganz langsam aufeinander zu und sind sich am Ende ganz, ganz nah. Bei den anderen Stücken ist die Beziehung eher abstrakt. Kreise bewegen sich wie wild um einander, eine roter Fleck dehnt sich immer mehr aus und nimmt am Ende die gesamt Fläche ein. Nicht sonderlich originell, aber wenigstens etwas, was von der Musik ablenkt.

Als die letzten Ravel-Töne verklungen sind, beginnt das Publikum mit dem dämlichen rhythmischen Klatschen und bringt den eitlen Pianisten sofort wieder auf die Bühne. Und das kommt das Unvermeidliche: eine Zugabe. Statt jetzt wenigstens zur Erholung etwas Leichteres zu spielen, wiederholt er das Stück von Gluck. Und dann gibt es noch eine zweite Zugabe.

Draußen ist es immer noch taghell. Dort werden wir von einem russischen Radiosender interviewt. Alexander muss meine blassen Bemerkungen ins Russische übersetzen.

Und dann heißt es: Auf Wiedersehen. Nach dieser geballten Ladung Kultur, freue ich mich auf drei Wochen Fußball statt Ballett.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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