Kreta (2014)

1. Oktober (Mittwoch)

Es geht nach Süden. Und wie! Ierapetra, die einzige Stadt in der Nähe von Myrtos, meinem Zielort, gilt als die südlichste Stadt Europas. Wo immer ich das in den letzten Wochen gesagt habe, gab es Widerspruch: Zypern, Gibraltar, Azoren, Malta. In Ordnung, mit Superlativen sollte man vorsichtig sein. Also formuliere ich um: Ierapetra liegt ziemlich weit südlich in Europa. Die Reisedauer spricht jedenfalls dafür: eine ganze Woche. Gut, man könnte es auch schneller haben, aber es eilt ja nicht.

Im Moment bin ich allerdings von Kreta nach weit entfernt. Die Reise beginnt in Koblenz. Der erste berichtenswerte Vorfall ereignet sich nach knapp zwei Kilometern: Auf den abschüssigen Straße werde ich, 40 km/h fahrend, von einem Radfahrer überholt. Nach einer knappen Minute verschwindet sein Rücklicht hinter einer Kurve. Es ist sieben Uhr und noch dunkel.

Ich bin bestens eingewiesen worden und finde tatsächlich den Weg auf Anhieb, Richtung Innenstadt und dann über Lahnstein, wo es eines ehemaligen Politikers zu gedenken gilt nach Hermeskeil, wo es einer italienischen Verbindung zu gedenken gilt. Dann geht es weiter Richtung Ludwigshafen. Als ich nach Baden-Württemberg komme, nach 150 Kilometern, sind schon mehr als zweieinhalb Stunden vorbei! Die letzte Ausfahrt vor der Grenze ist Schifferstadt, das mit dem Schifferstädter Hütchen wirbt (das ich einmal in einer Ausstellung in Speyer gesehen habe), die erste Ausfahrt nach der Grenze ist Hockenheim. Irgendwo unterwegs riecht es nach verbranntem Holz. Da ist von den ??? Kohleplatten die Rede.

Der erste Stau kommt nach 60 Kilometern, der zweite nach 120, und zwischendurch gibt es Baustellen und Schmalspuren. Das Wetter ist ausgesprochen trüb. Nach den vielen Hindernissen, die sich in den letzten Tagen noch eingestellt haben (und die nur mit fremder Hilfe überwunden werden konnten), frage ich mich schon, ob die ganze Reise vielleicht unter einem schlechten Stern stehe. Das schlimmste Hindernis, und das spürbarste, ist die Folge eines dummen Sturzes, ausgerechnet am Tag vor der Abfahrt, ausgerechnet auf Schotter, mit zwei vollbepackten Tüten, deren Inhalt sich auf den Boden ausbreitete, auf dem Weg zu einer Reinigung und mit einer Busfahrt, einer Zugfahrt und einer weiteren Busfahrt vor der Brust. Ein aufgeschürftes Knie, zwei aufgeschürfte Hände und ein aufgeschürfter Ellenbogen sind die Folge. Als ich blutend und verschmiert mit meinen Siebensachen zu einer Apotheke humpelte, verfluchte ich mich selbst und mein Schicksal, bevor ich mir klar machte, dass dazu überhaupt kein Anlass bestand. Das meiste ist auch bald ausgestanden, nur die linke Hand bleibt ein Hindernis. Glücklicherweise kann ich das Handgelenk problemlos bewegen, aber jede Bewegung der Finger schmerzt. Daran muss man denken, wenn man den Winker betätigt, wenn man eine Buchseite umschlägt oder wenn man die Zahnbürste benutzt. Am schlimmsten ist das Händewaschen.

Gut, dass es das Radio gibt. Es lenkt von trüben Gedanken ab. Zuerst höre ich etwas über das Finkenschlagen. Dabei werden keine Finken geschlagen, sondern Finken beim Schlagen, d.h. beim Anschlagen von Tönen, beobachtet, und zwar hinter vorhängen, um zu vermeiden, dass das Aussehen des Finken eine Rolle spielt. Es gibt den Kampfsport, bei dem es nur um Quantität geht, und die Kür, bei der es um die Schönheit der Stimmen geht. Das Finkenschlagen gibt es vorzugsweise im Harz. Der historische Hintergrund ist der, dass Buchfinken einst in die Bergwerk mitgenommen wurden, als Warnsignale: Solange die Vögel sangen, war die Welt noch in Ordnung, wenn sie aufhörten zu singen, bestand Explosionsgefahr!

Dann gibt es etwas zu den Meistersängern und deren Berufung auf die Minnesänger, in deren Tradition sie sich verstanden. Es gab zwölf Meistersänger, und so schuf man auch nachträglich eine Mannschaft aus zwölf Minnesängern, die es in dieser Form und mit dieser Zahl nie gegeben hatte, im Vertrauen auf die legendäre Aussagekraft der Zahl zwölf.

Dann kommt eine Nachricht zu Petar Radenkovic, ein untrügliches Zeichen, dass es auf Bayern zugeht. Radenkovic war der erste Popstar unter den Fußballspielern, mit seiner Selbstdarstellung, seinem Spitznamen und seiner Schallplatte, der wohl ersten eines Fußballspielers in Deutschland. Er war berühmt für seine Ausflüge ins Spielfeld, geradezu ein Vorgänger von Manuel Neuer darin, und auch als Elferkiller hatte er einen Namen. Was ich nicht mehr in Erinnerung hatte: Als einer der ersten Torhüter trug er Handschuhe! Stimmt, ich glaube nicht, dass Tillkowski 1966 im Endspiel schon Handschuhe trug. Da war Radis große Zeit schon fast vorbei.

Wieder geht es nur stockend weiter, und erst nach der Abbiegung nach Ulm fließt der Verkehr besser. Ich hatte vor, in Kempten Halt zu machen, aber gerade als ich da ankomme, brauen sich dunkle Wolken zusammen und ich verschiebe den Halt auf Füssen, die letzte Station auf der Autobahn.

Da habe ich allerdings die Rechnung ohne die Wolken gemacht. Die begleiten mich treu, und als ich in Füssen aus dem Auto steige, beginnt es zu regnen.

Die städtische Werbewirtschaft verspricht ein „unvergessliches Erlebnis“ bei der Besichtigung der Stadt. Das ist dann aber doch wohl etwa zu hoch gegriffen. Ein schön herausgeputztes Zentrum und eine erhöht gelegenes Schloss, das ist alles. Die Stadt wirbt mit dem zweideutigen Slogan Ende der Romantischen Straße, nicht unbedingt weitsichtig.

Ich kaufe Ansichtskarten und, in einem Supermarkt, Briefmarken und gehe damit in ein Café. Dort bekomme ich Brasselkuchen. Das ist Streuselkuchen mit Blätterteig. Ich werde gefragt, ob ich eine Tasse wolle oder ein Haferl. Und man wird überall mit Grüß Gott! begrüßt.

Dann gehe ich ein bisschen durch die Stadt. Ich sehe einen Brunnen mit einem lesenden Mädchen am Brunnenrand und einen anderen Brunnen mit einem untersetzten Mann mit Laute und Stimmgabel. Man würde ihn kaum für einen Musiker halten.

Es gibt eine Kirche mit dem ungewöhnlichen Patrozinium St. Mang. An den Häusern stehen Schilder mit Lawinengefahr, ein Haus hat die Hausnummern 7 und 7½, und bei Trachten-Werner gibt es die rot-weiß karierten Hemden, in denen sich immer die spanischen oder peruanischen oder französischen Neuerwerbungen von Bayern München präsentieren müssen.

Im ganzen Zentrum gibt es ehemalige Färberhäuser, zu erkennen an einem Lattenrost unter dem Dachüberstand, das zum Trocknen der Stoffe diente.

Im Kornhaus, einem zentralen Haus über zwei Ecken mit einem überwölbten Erdgeschoss, wurde früher zweimal pro Woche Korn zum Kauf angeboten. Das war zentral für die Ernährung, die Grundlage für Fladen und Brei.

Auf dem Parkplatz gleich vor dem Eingang zum Zentrum, wo ich mein Auto mit einem etwas flauen Gefühl abgestellt habe, steht eine Plakatwand mit der Aufschrift Miet me! Ich habe das Auto dort mit einem etwas flauen Gefühl abgestellt, aber alles ist noch an Ort und Stelle, als ich zurückkomme.

Man wird durch den Ort und dann einmal herum geleitet und steht plötzlich in wilder Einsamkeit, am Lechfall, auf allen Seiten von Bergen umringt. Die Szenerie hat sich von einem Moment auf den anderen verändert.

Von hier aus sind es nur noch 700 Meter nach Österreich. Ich wusste nicht, dass Füssen so nahe an der Grenze liegt.

Vom Lech habe ich im Zentrum nichts gesehen. Vielleicht fließt er um den Ort herum. Der Fußweg zum Lechfall ist wegen Bauarbeiten gesperrt, und nach einem Photo fahre ich weiter. Und bin bald in Österreich.

Merkwürdigerweise bin ich noch nie „richtig“ in Österreich gewesen: ein Länderspiel in Wien in der Studentenzeit, ein verzechtes Wochenende am Mondsee, ebenfalls in der Studentenzeit, Osterferien in Leutasch, gleich hinter der Grenze, als Schüler, ein Tagesausflug nach Salzburg von Reichenhall – irgendwie „zählt“ das alles nicht. Nach Innsbruck wollte ich schon immer. Jetzt liegt es praktischerweise auf dem Weg.

Allerdings ahne ich nicht, dass das schlimmste Stück des Weges noch vor mir liegt: Die Straße ist eng und kurvenreich und nass und führt oft dicht an der Felswand vorbei. In Wellen kommt dichter Gegenverkehr. Erst geht es steil nach oben, dann steil nach unten. Und es gibt nicht eine einzige Entfernungsangabe. Ich habe zwischendurch sogar das Gefühl, dass ich auf der falschen Straße bin. Bin ich aber nicht.

Es geht sogar direkt an der Zugspitze vorbei, an deren österreichischer Seite. Es gibt einen Aussichtpunkt, wo man sich die Zugspitze ansehen kann. Es gibt aber nichts zu sehen, alles liegt in den Wolken. Die Touristen machen dennoch fleißig Photos.

Dann kommen mehrere Tunnel. Ich fühle mich alles andere als wohl bei der Fahrt, und bin erleichtert, als es endlich auf die Autobahn geht. Das Radio habe ich inzwischen ausgestellt, und das, obwohl man daran seine Freude haben kann: In den Nachrichten ist von der Bolizei die Rede, die schon im Jänner die Fahndung aufgenommen habe, in den Verkehrsnachrichten ist von einer Spähre die Rede, und im Wetterbericht von den Dageshöchstwerten. Es handelt sich um Radio Tirol, und in dem Wetterbericht kommt wie selbstverständlich auch Bozen vor.

Vor Innsbruck fahre ich auf einen Parkplatz. Da soll es eine Touristeninformation geben. Die ist aber geschlossen. Es gibt nur ein übelriechendes WC, und als ich im Regen dahin gehe, habe ich eine Gruppe von Männern im Blick, die ich für verdächtig halte. Dummes Zeug.

Auf der Weiterfahrt wirbt Innsbruck mit den Olympischen Ringen für sich. Zu Recht. Es war sogar zweimal Ausrichter der Spiele, 1964 und 1976.

Ich weiß, dass ich auf dieser Seite des Inn bleiben muss, aber dazu ist es vermutlich schon zu spät. Dazu hätte ich die Ausfahrt davor nehmen müssen. Auf jeden Fall weiß ich, dass ich nach Hötting muss. Nur ist Hötting nicht ausgeschildert. Ich fahre durch die abgrundtief hässlichen Außenbezirke, immer weiter Richtung Zentrum, und dann komme ich wirklich über eine Brücke. Jetzt bin ich wohl auf der richtigen Seite. Dann komme ich aber zu weit aus dem Zentrum raus und versuche, trotz des dichten Berufsverkehrs, wieder in die andere Richtung zu kommen. Es gibt aber an allen Ecken Abbiegeverbote und Einbahnstraßen (die hier Einbahn heißen), und die Sache gestaltet sich schwierig. Am Ende schaffe ich es und frage einen Studenten. Der schickt mich wieder in die andere Richtung. Er ist aber so unsicher, dass ich dem Braten nicht traue. Ich warte, bis eine andere Studentin kommt, und die weiß bestens Bescheid. Ich folge ihren Instruktionen und komme bald, über die Höttinger Auffahrt, eine ganz enge, steile Straße, die sich den Hügel raufwindet, nach Hötting. Die Gegend erinnert mich an einen höher gelegenen Teil von Heidelberg.

Hier kennt aber keiner das Hotel. Und den Namen der Straße, an der es liegt, hat noch nie gemacht gehört. Wohl aber von der Höttinger Gasse, die auch Teil der Adresse ist. Ich drehe mich immer im Kreis, ohne es zu merken, und dann komme ich immer wieder oben an der Höttinger Auffahrt aus. Endlich erklärt mir dann jemand, dass ich wieder ganz runter muss, an den Inn, und von dort die Höttinger Gasse rauf. Das klappt hervorragend, und nach ein paar Hundert Metern kommt ein Hinweis auf das Hotel. Die … ist eine winzige Stichstraße. Daher kennt sie keiner. Und daher hat das Hotel vorsichtshalber die Höttinger Gasse der Adresse zugefügt, ein Umstand, über den wir uns am Vorabend noch gewundert haben.

Das Hotel ist ungemein altmodisch, mit richtigen Schlüsseln und ohne Aufzug und einer vorsintflutlichen Einrichtung. Die Dusche ist etwas schwach auf der Brust, und im Fernseher empfängt man bei Schneegestöber die beiden ersten Staatsprogramme und RTL 2.

Mir soll das alles gleich sein. Ich mache gleich einen Spaziergang in die Innenstadt. Dahin gelangt man in kürzester Zeit über einen ganz steilen Fußpfad, der gleich am Hotel beginnt. Er führt vorbei am Immobiliengeschäft Meilenstein, an der orthographisch bedenklichen Mass-Schneiderei und am Café Bubi.

Schon der Blick vom Höttinger Ufer aus auf die Innenstadt ist sehr schön. Und er trügt nicht.

Die Innenstadt ist, im Gegensatz zum anderen Flussufer, ganz flach. Das erinnert entfernt an Budapest.

Man kommt über die Innbrücke, von der Innsbruck seinen Namen hat. Der Inn ist, wie alle Flüsse in dieser Gegend, grün, und hier ist er breit und hat eine starke Strömung.

Die Altstadt ist ein richtiges Schatzkästchen, mit schönen Häusern, die irgendwie alle gleich und doch alle anders sind. Über eine kleine Straße kommt man an einen länglichen Platz, fast eine Straße, an dessen vorderem Ende das Goldene Dachl liegt, Innsbrucks Wahrzeichen. Am anderen Ende verbreitet sich die Straße, ist aber eigentlich eine Verlängerung des Platzes. Das ist die Neustadt. Die Neustadt ist allerdings fast so alt wie die Altstadt. Die Altstadt wurde von den Grafen von Andechs angelegt, den eigentlichen Stadtgründern. Als die ohne Nachfolger ausstarben, ging die Stadt an die Grafen von Tirol. Und die legten die Neustadt an. Die Grafen von Tirol folgten dann die Habsburger, und aus dieser Zeit stammt das Goldene Dachl. Man hat also hier, in großer Dichte, die drei Dynastien zusammen, die Innsbruck sein Gesicht verliehen. Seine Glanzzeit erlebte Innsbruck unter den Habsburgern, vor allem unter Maximilian, dem „letzten Ritter“.

Die Innenstadt ist auch jetzt noch voll von Touristen, vor allem weit angereisten: Chinesen, Amerikaner, Inder. In den Erdgeschossen der Häuser befinden sich fast nur Gastronomie und Souvenirläden. In gehe in einen Souvenirladen, der von einem Inder betrieben wird, um einen Reiseführer zu kaufen. Ich werde wie selbstverständlich auf Englisch angesprochen, und als ich nach einem Reiseführer auf Deutsch frage, muss man erst hinter einem Vorhang danach suchen.

Ich gehe noch in die Neustadt, auf der Suche nach einer Drogerie, und da donnert plötzlich ein Flugzeug direkt über uns hinweg. Es fliegt quer über die Straße und ganz knapp über den Häusern. Da der Spuk ganz schnell vorbei ist, wirkt das Ganze etwas unwirklich. Es sollte am nächsten Tag aber noch seine Fortsetzung haben.

2. Oktober (Donnerstag)

Wenn ich nicht schon Frühaufsteher wäre, Innsbruck würde einen aus mir machen: Als die Kirchenglocken um sieben Uhr läuten, sind schon zwei Flugzeuge über das Hotel geflogen.

Ich vermisse meinen Rasierschaum. Das scheint tatsächlich das einzige zu sein, was ich in den verschiedenen Asylheimen, in denen ich in den letzten Wochen untergekommen bin, vergessen habe. Es lässt sich Ersatz besorgen. Eine Frau, die in der Drogerie vor mir an der Kasse ist, bittet den Kassierer um ein kleines Sackerl und sagt Servus! zum Abschied. Im Allgemeinen befinden sich die typisch österreichischen Grüße und ähnliche Ausdrücke aber auf dem absteigenden Ast. Das ist dem Tourismus und den deutschen Fernsehserien geschuldet. Tatsächlich werde ich hier oft mit Hallo! oder sogar Guten Tag! begrüßt.

Am Morgen bietet die Innenstadt ein anderes Bild als am Abend: Geschäftsleute, Hausfrauen, Hundebesitzer, Schulkinder, Bauarbeiter statt Touristen. Aktentasche statt Kamera.

Gleich am Eingang zur Altstadt fällt mir ein Haus auf, allerdings nur wegen einer winzigen Sitzbank unter einem sehr niedrigen Holzdach neben dem Eingang. Keine Ahnung, wozu die dient. Das Haus ist die Ottoburg, ein spätmittelalterlicher Wohnturm. Wie kommt sie dazu, Ottoburg zu heißen? Ottos Burg, ist doch klar. So stellten sich auch das die Menschen vor, als sie ihr diesen Namen gaben (XVIII). Der Otto, den sie meinten, war Herzog Otto von Andechs. Der galt als einer der Stadtgründer. So wurde aus der Öttburg (XVII) die Ottoburg. Die Öttburg hieß vorher aber Ödburg (XVI). Sie war öde, also ‚leer‘. Sie wurde zwar noch bewohnt, aber, nach dem Tod von Rudolf von Anhalt, nicht mehr von Adeligen, nur noch von Bürgerlichen, und die „zählten“ nicht. Also war die Burg leer. Mit Otto nichts zu tun. Die Burg müsste also eher Rudolfsburg heißen oder Maximiliansburg. Denn der hatte Rudolf die Burg vermacht. Womit wir bei dem wichtigsten Mann von Innsbruck wären, Maximilian I. von Habsburg, dem „Letzten Ritter“. Der wird mich noch den ganzen Tag verfolgen.

Gleich anschließend an die Ottoburg, ohne Zwischenraum, weitere repräsentative Gebäude, ein barockes zwischen zwei gotischen. Das hat seinen Grund: Das barocke Gebäude, ursprünglich zusammen mit dem links davon das alte Regierungsgebäude, wurde bei einem Erdbeben (XVII) zerstört und dann barock wiederaufgebaut!

In einem dieser Gebäude die Piano-Bar und gegenüber die Goethe-Stube. Goethe war wohl auf dem Weg nach Italien hier. Der Ruf der Rösti der Piano-Bar ist bis nach Trier gedrungen.

Gleich an der Ecke zum zentralen Platz der Altstadt – ob es eine Straße oder ein Platz ist, ist kaum zu entscheiden – liegt das  Höblinghaus. Es fehlt in keinem Reiseführer. Ein gotisches Bürgerhaus mit reichem barocken Stuck an der Fassade.

Schräg gegenüber das Goldene Dachl, Innsbrucks Wahrzeichen. Das Goldene Dachl steht metonymisch für den langen Erker, der einen Großteil der Fassade einnimmt und damit für das gesamte Haus, die Residenz der Tiroler Landesfürsten. Das Goldene Dachl, mit mehreren Hundert vergoldeten Dachschindeln, wurde zur Hochzeit Maximilians mit seiner zweiten Frau errichtet.

Am Katzunghaus, weiter den Platz hinunter, sieht man am Erker mittelalterliche Reliefs, die Musikanten, Spielleute und Turniere darstellen, die auf diesem Platz stattfanden.

Überall sieht man Wirtshauszeichen, auch da, wo gar keine Wirtshäuser mehr sind. Zwischen denen auch ein dezentes gelbes M.

Die Seilergasse ist nach den Seilern benannt, die hier residierten, und die Riesengasse gegenüber nach den … Nein, nach einer Kaufmannsfamilie namens Ryss.

In der Nähe das Haus der Tiroler Landstände. Auch die kamen nach Innsbruck, nachdem die Grafen von Tirol es zu ihrer Residenz gemacht hatten.

Dahinter ein Haus, indem Leopold Mozart mit seinem Vater residierte und Konzerte gab.

Die Altstadt wird von der Neustadt durch den Burggraben abgetrennt, heute nur noch eine Straße dieses Namens. Hier befindet sich auch die Touristeninformation. Und da finde ich Ansichtskarten mit dem wunderbaren Werbespruch der österreichischen Tourismusindustrie: No kangaroos in Austria. Steht, zusammen mit dem Bild eines Kängurus, auf einem schwarz-gelben Verkehrsschild, wie man sie in Australien hat.

Die Neustadt ist der Altstadt ähnlich, hat aber viel breitere Gebäude, die oben einen geraden Abschluss haben oder ein Tympanon oder eine Volute. Am Ausgang des Platzes werden die Fassadenfarben auch auffälliger: Weiß, Violett, Rosa.

Im Zentrum der Neustadt steht die Annasäule. Oben auf der Annasäule steht – Maria. Ihre Mutter hat nur einen Platz unter den vier Heiligen auf dem Podest gefunden, zusammen mit Georg, Kaspian und Vigilius. Georg hat ein dünnes verspieltes goldenes Schwert, mit dem man nie im Leben einen Drachen töten könnte. Die Säule wurde errichtet zum Gedenken an den Abzug der Bayern (1703), am St.-Anna-Tag.

Im Straßenpflaster der Neustadt sind die Namen der Partnerstädte von Innsbruck eingetragen, samt Entfernungen: Freiburg (379), Grenoble (494), Krakau (701), New Orleans (8471), Sarajewo (665) und Tiflis (2705). Grenoble und Freiburg leuchten ja ein, und an Krakau fühle ich mich auf dem hinteren Teil der Neustadt sogar erinnert, aber New Orleans? Kann man sich unterschiedlichere Städte vorstellen?

Die Neustadt weist auch das kleinste Haus Innsbrucks auf (2,11), groß genug, um jetzt United Coffees zu beherbergen. Hier war ursprünglich der Durchgang zu dem dahinterliegenden Friedhof und die einzige Baulücke im geschlossenen Gebäudekomplex der Neustadt, aber als der Friedhof aufgegeben wurde, schloss man auch diese Lücke. Mir fällt allerdings auf, dass man zwischen den Häusern, im Gegensatz zur Altstadt, Lichtschächte gelassen hat, nur werden die vom Platz aus von Regenrinnen verdeckt.

Von der Neustadt aus hat man einen hervorragenden Blick in die Altstadt. Leider liegen die Berge dahinter noch immer im Dunst. Die würden das Bild komplettieren.

Ich gehe zurück zur Altstadt und ins Goldene-Dachl-Museum. Die Bezeichnung ist irreführend. Es ist ein Maximilian-Museum. Auf den Balkon unter dem Goldenen Dachl darf man nicht, so dass man von den Reliefs und Bemalungen oben genauso wenig sieht wie unten. Allerdings lohnt sich der Blick hinunter auf den Platz. Und im Museum ist zumindest ein zentrales Relief zu sehen, nämlich das von Maximilian mit seinen beiden Frauen. Obwohl das Goldene Dachl aus Anlass der Hochzeit mit der zweiten Frau, Bianca Maria Sforza aus Mailand, errichtet wurde. Seine Witwe, Maria von Burgund, ist dennoch neben ihr zu sehen. Maria von Burgund war vom Pferd gefallen und getötet worden. Es heißt, die erste Heirat sei eine Liebesheirat gewesen, die zweite nicht unbedingt.

In der eigentlichen Ausstellung, einem runden Raum mit gedämpftem Licht, gibt es außerdem Silbermünzen aus der Zeit Maximilians zu sehen, Zahlungsmittel und Gedenkmünzen. Maximilian, der Innsbruck zu der Hauptstadt seines Reiches machte, hatte Tirol vor allem so lieb, weil es reich war, und der Reichtum beruhte hauptsächlich auf den Silberminen. Am Ende, heißt es, war Maximilian in Tirol nicht mehr sehr beliebt. Auf seiner letzten Reise verweigerten die Wirte die Aufnahme. Er hatte einfach zu viele Schulden gemacht. Das soll der Hintergrund sein für das Lied Innsbruck, ich muss dich lassen.

Dann sieht man ein Kinderspielzeug von Maximilian, ein Ritter auf einem Pferd. Das Reiten blieb, nach eigener Aussage, sein Leben lang seine Lieblingsbeschäftigung.

Dann eine schmiedeeiserne Ofentür mit Jagdszenen im Relief. Die Jagd war Maximilians zweite Lieblingsbeschäftigung. Und konnte vermutlich oft mit der ersten kombiniert werden. Am liebsten jagte er Gämse. Er ließ genaue Aufzeichnungen über das Vorkommen und die Lebensweise der Gämse machen und erfand selbst Ausrüstungsgegenstände für die Jagd, darunter eine „Hirnkappe“. Bei der Jagd konnte jeder zu ihm kommen und Anliegen vortragen. Das trug entscheidend zu seiner Popularität bei.

Man sieht auch zwei Portraits von Maximilian. Eins zeigt ihn als Privatmann, eins als  Monarch, mit Zepter, Schwert und Goldenem Vlies. Die unvorteilhafte Habsburger-Nase ist bei dem Staatsportrait abgeflacht.

Außerhalb dieses Raums gibt es jede Fülle von Karten, Tafeln, Reproduktionen zu Maximilian. Ein Teil steht unter der Überschrift Tu, felix Austria nube. Der erste Teil des Mottos, Bella gerant alii, ist vorsichtshalber ausgespart. Kriege wurden unentwegt geführt, aber die Heiratspolitik der Habsburger war wirklich überwältigend. An einer mehrfarbigen Karte kann man hier gut sehen, wie das Reich sich immer weiter ausdehnte. Maximilian selbst war mit gutem Beispiel vorangegangen: Durch seine Heirat mit Maria von Burgund war Burgund zu den Stammlanden hinzugekommen. Sein Sohn Philip (der Schöne) heiratete dann Johanna (die Wahnsinnige). Dadurch kamen Kastilien und Aragon (auch gerade erst vereint), ganz Süditalien und das Riesenreich in Lateinamerika hinzu. Dann kam es zu der berühmten Doppelhochzeit in Wien, bei der zwei Enkel Maximilians verheiratet wurden, wobei Maximilian für den einen, Ferdinand, einsprang. Der hatte gerade etwas Besseres zu tun als zu heiraten. Vermutlich Kriege führen. Also heiratete Maximilian (56) stellvertretend Anna (12), und Maria (9) heiratete Ludwig (9). Habsburg verband sich mit den Jagellonen. So kamen auch Böhmen und Ungarn an Habsburg, die Grundlage der Österreich-Ungarischen Doppelmonarchie. Dazu waren zwar noch ein paar glückliche Todesfälle nötig, aber die traten dann tatsächlich ein! Was Maximilian nicht wissen konnte: Seinem Enkel, Karl V., wuchs die Sache am Ende über den Kopf. Er teilte das Riesenreich auf, zwischen seinem Bruder und seinem Sohn!

Nebenbei wurde Maximilian auch noch Kaiser des Römischen Reiches. Dazu wurde man vom Papst in Rom gekrönt. Man brauchte dazu natürlich dessen Einverständnis. Die hatte Maximilian noch nicht, machte sich aber trotzdem auf den Weg nach Rom. Dort wurde ihm vom Dogen von Venedig die Passage verweigert. Maximilian ließ sich kurzerhand, statt sich krönen zu lassen, in Triest zum Kaiser ausrufen! Und machte sich damit unabhängig vom Papst.

Interessant auch die Sektion zum Rechtswesen. Hier war Maximilian ein echter Erneuerer. Er schuf als erster ein einheitliches und kodifiziertes Recht im deutschsprachigen Raum, das den schönen Namen Malefizordnung (1499) trägt. Man macht sich nicht klar, wie es sein muss, wenn man für einen Diebstahl an einem Ort einen Tracht Prügel bekommt, an einem anderen die Hand abgehackt bekommt. Erfundene Beispiele, aber nicht ganz aus der Luft gegriffen. Es war ohnehin so, dass der Staat kein Rechtsmonopol hatte. Die Gerichtsbarkeit konnte auf Privatpersonen übertragen werden. Man kann sich gut vorstellen, dass es dabei zu Problemen kam und oft auch zu Willkür. In den Gerichtsverfahren gab es keine Verteidiger, nur den Richter und die Geschworenen. Eine Verurteilung war nur bei einem Geständnis möglich. Daher die „Notwendigkeit“ der Folter!

Maximilians Modernität wird am deutlichsten in der Weise, wie er den Buchdruck, noch ganz neu, für seine Zwecke ausnutzte. Wie die Baukunst setzte er ihn gezielt als Werbemittel ein, zur Erinnerung an seine Herrschaft und seine Person. Diese Schriften waren, im Gegensatz zu den gelehrten Schriften der Zeit, auf Deutsch verfasst! Man sieht hier ein Faksimilie des Theuerdank, einer quasi-autobiografischen Schrift, in der Maximilian in der Person des Ritters Theuerdank auftritt. Abenteuer, Minnedienst, Ehre, Treue, Jagd, all das zeichnet Theuerdank aus.

In seinem Schlafgemach ließ Maximilian einen Denkspruch anbringen, den ihn als Menschen zeigt, als nachdenklichen Menschen: Ich leb und weiß nit wie lang,/Ich stirb und weiß nit wann,/Ich fahr und weiß nit wohin,/Mich wundert, dass ich fröhlich bin.

Als ich aus dem Museum komme, klärt das Wetter auf, aber es fängt an zu regnen. Ich gehe durch ein Tor aus der Altstadt hinaus zur Hofkirche. Die sieht von außen mit einem schlichten Renaissance-Portal einfach genug aus, aber wenn man reinkommt, trifft einen der Schlag! Man steht direkt vor einem monumentalen Grabmal, das so groß ist, dass man die Kirche kaum wahrnimmt. Und das kommt nicht von ungefähr: Die Kirche wurde für das Grabmal gebaut!

Bei näherem Hinsehen gibt es dann doch noch ein paar Ausstattungsstücke aus der alten Renaissance-Kirche: die Orgel, die Uhr, die Holzempore im Chor.

Hinten in der Kirche befindet sich das Grabmal für Andreas Hofer, den Tiroler Freiheitshelden, mit Gewehr und Fahne mit Trauerflor, einen breitkrempigen Hut zu Füßen, vor einer Felslandschaft. Sein Blick geht sehnsuchtsvoll in die Ferne, in das freie Tirol, will man meinen.

Eine überraschende Verbindung zu Schweden gibt es dann auch noch zu entdecken: Dies ist die Kirche, in der Christina, auf ihrem Weg nach Rom, zum katholischen Glauben übertrat. Ein riesiger Affront gegen das protestantische Schweden.

Das Grabmal – wen wundert es? – ist das Grabmal für Maximilian. Es ist geradezu paradox, dass es leer ist. Maximilian ist in Wiener Neustadt begraben!

Um das eigentliche Grabmal herum stehen auf vier Seiten 28 (von 40 geplanten) lebensgroßen Figuren aus Eisen, einige ausgeführt schon zu Maximilians Lebzeiten, andere erst zur Zeit Ferdinands, seines Enkels. Drei stammen von Dürer, zwei von Veith Stoß. Unter den 28 sind immerhin 8 Frauen, viele davon mit einem Buch, das sie mit einem Finger aufgeschlagen halten. Sie tragen bestickte Gewänder und Kronen und Hauben, von denen einige geradezu orientalisch aussehen. Die Männer, Herzöge und Könige, in mittelalterlichen Rüstungen oder in Renaissance-Outfit, mit Wams, tailliert und gepolstert, mit Kniehosen, Krause und Barett. Sieht irgendwie witzig aus. Und bequemer als die Mode anderer Zeiten.

Bei einem der Ritter ist vorne eine deutliche Schwellung zu sehen, und die Rüstung ist an dieser Stelle hell gestrichen durch die vielen Berührungen der Besucher.

Die Gestaltung des Grabmals ist natürlich Programm: Die Statuen stellen (echte und imaginäre) Vorgänger Maximilians da, darunter, trotz ihres Erscheinungsbildes, auch König Artus und Dietrich von Bern, eine große Verkündung der Legitimation der Herrschaft der Habsburger.

Im Zentrum steht das Kenotaph selbst, doppelstöckig, mit Relief von Ereignissen aus dem Leben Maximilians, hinter einem schwarzen Gitter mit goldenem Laubwerk. Oben auf die kniende Statue Maximilians.

Als ich aus der Kirche komme, ist es heller und wärmer geworden und es regnet nicht mehr. Jetzt ist mein Sommer-Outfit passender als am Morgen. Ich setze mich auf eine Parkbank, zwischen eine Frau mit einer dicken Steppjacke und einem jungen Mann mit entblößtem Oberkörper, ein Zigarillo in der einen, eine Dose Bier in der anderen Hand.

Von hier aus sieht man auf die breite, weiße Fassade der klassizistischen Hofburg. Bei einem längeren Aufenthalt wäre sie fast Pflicht. Im Zentrum des Platzes sieht man ein Reiterstandbild mit einer statischen Besonderheit und dahinter einen prächtigen Baum und durch den Baum das klassizistische Landestheater. Was es mit dem Reiterstandbild auf sich hat, erklärt mir der Reiseführer: Das Pferd bäumt sich nach vorne auf, so dass die Hinterhände oben, „in der Luft“, sind. Trotzdem stützt es sich nicht, wie man das sonst macht, mit dem Schweif auf dem Boden ab, als Bodenhaftung sozusagen.

Der Dom liegt in der Pfarrgasse. Das hat seinen Grund: Bis zur Erhebung von Innsbruck zur Diözese war er Pfarrkirche.

In der Pfarrgasse liegt ein Café mit dem nicht unproblematischen Namen CU und ein Geschäft mit dem Namen Tiroler Wachszieher und Lebherzen. Was das wohl ist?

Im Dom dominiert die Ovale, in Fenstern, in Mosaiken, an der Decke, in Fresken, am Boden. Es gibt ein paar schöne Beispiele für die barocke Lust an der Täuschung. In den Zwickeln der Vierung sieht man die Evangelisten Johannes und Lukas mit ihren Symbolen. Man könnte schwören, dass die Hand mit der Feder, die Flügel des Adlers, das Pult von Lukas aus der Wand heraustreten, aber es ist alles gemalt.

Das Gegenstück dazu findet sich in der mächtigen Orgel auf der Empore im Westen. Zwischen den großen Orgelpfeifen links und rechts sind in der Mitte die kleineren angebracht, nach innen hin immer kleiner werdend. Vor ihnen ein Weg, der sich nach hinten hin verjüngt. Es sieht so aus, als wären die Orgelpfeifen Säulen, die einen Weg begrenzen. Man kann den Weg förmlich entlang gehen, meint man. So sieht es jedenfalls von der Vierung aus. Je näher man der Orgel kommt, umso mehr verschwindet der Effekt. Am Ende ist alles flach.

Nach dem Dom gehe ich dann in die Piano-Bar zu frischgemachten Rösti und einem österreichischen Weißwein. Eine routinierte, souveräne Kellnerin mit einer etwas schnodderigen Art, bei der Freundlichkeit sozusagen einprogrammiert ist, bedient mich.

Als ich aufstehe, hört man zwei laute Knalle, wie bei einer Explosion, so plötzlich und so erschreckend, dass einige Kellnerinnen aus den umliegenden Wirtschaften herausgelaufen kommen. Die Touristen blicken kurz auf und schütteln den Kopf.

Als ich dann noch mal in der Neustadt bin, fliegt wieder ein Flugzeug direkt über unseren Köpfen her, aber diesmal ist es sogar ein Starfighter. Ist das normal? Man hat den Eindruck, dass die Fenster klirren und die Wände wackeln.

Auf dem Rückweg sehe ich dann noch eingangs der Altstadt die Statue von Vater und Sohn, die ich am Morgen übersehen habe, gleich vor der Ottoburg. In gebückter Haltung sehen die beiden in die Ferne (hier auf die andere Innseite), mit forschendem, argwöhnischem Blick, nicht ganz frei von Angst. Ein Gewehr liegt zwischen ihnen auf dem Boden. Das Denkmal erinnert an den Tiroler Freiheitskampf. Nach der Niederlage gegen Napoleon musste Österreich Tirol an Bayern abtreten. Von da an hieß Tirol Südbayern! Dagegen richtete sich der Freiheitskampf. Der blieb erfolglos, aber nach dem Wiener Kongress kam Tirol wieder zu Österreich. Sieg der Diplomatie über die Waffen.

Auf dem Rückweg zu dem Hotel wird es merklich kühler, wenn man nach oben kommt. Komisch, dass die paar Meter etwas ausmachen. Eine Frau mit Stock und Kopftuch quält sich den Berg hoch. Sie ist mit ihrer altmodischen Kleidung das Pendant zu den modisch gekleideten Musliminnen im Zentrum. Beide verbindet das Kopftuch.

Als ich im Hotel den Fernseher anmache, heißt eine der Meldungen: Eurofighter in Innsbruck notgelandet.

3. Oktober (Freitag)

Von der Sonne vom Vortag ist nichts mehr übrig. Dichte Wolken. Zeit zum Aufbruch.

Damit ich überhaupt aufbrechen kann, muss ein Angestellter des Hotels mehrere Autos in der engen Einfahrt des Hotels, die als Notbehelfsparkplatz dient, umrangieren.

Es geht durch die engen Gassen Höttings, am Salon Anny und an der Frau-Hitt-Straße vorbei. Dichter Berufsverkehr, aber ich schaffe es irgendwie, der komplizierten Beschreibung des Mädchens von der Rezeption zu folgen und ins Zentrum zu kommen. Dabei lande ich wieder an der Höttinger Auffahrt, wo ich am Tag der Ankunft herumgekurvt bin auf der Suche nach dem Hotel.

Auf der anderen Seite sieht man auf einer Erhebung eine Sprungschanze, und im Zentrum komme ich an dem Heizungsgeschäft Energiebig vorbei.

Es gilt immer wieder, abzubiegen, sich einzuordnen, und die letzte Abfahrt schaffe ich nur im letzten Moment, aber dann befinde ich mich auf der Straße, die Richtung Brenner führt, der auf Italienisch komischerweise Brennero heißt.

Der Rio quält sich mit 80 km/h die Straße rauf. Sieht gar nicht so steil aus. Die Fahrt ist nicht gerade die reinste Freude: Baustellen, Mautstellen, dichter Verkehr, trübes Wetter. Lastwagen, Wohnwagen, Reisebusse, PKWs. Das österreichische Radio lässt keinen Zweifel aufkommen: es ist viel mehr los als sonst, und das liegt am Feiertag in Deutschland. Den Staumeldungen zufolge habe ich noch Glück gehabt, dass ich nicht mehr auf dem Weg von Füssen nach Innsbruck bin.

Nach nicht einmal vierzig Kilometern kommt die italienische Grenze. Hätte nicht gedacht, dass die so nahe bei Innsbruck ist. Der Übergang ist ganz anders, als ich ihn mir vorgestellt habe. Ich hatte gedacht: Man fährt in Nordeuropa in einen langen Tunnel rein und kommt am anderen Ende des Tunnels in Südeuropa aus. Der Tunnel ist erstens gar nicht lang, und zweitens ändern sich weder die Landschaft noch das Wetter schlagartig.

Komischerweise bin ich noch nie mit dem Auto in Italien gewesen obwohl ich doch schon so oft hier war.

In Österreich 1 bekomme ich kurz vor neun gerade noch das Ende einer Sendung über Papyrus mit. Schade, um jede Minute, die ich verpasst habe. Papyrus ist empfindlich gegen Sonne und Feuchtigkeit, aber wenn die beiden Faktoren wegfallen, so wie im Wüstensand Ägyptens, erhält er sich ausgezeichnet und verblasst höchstens ein wenig. Papyrus wurde nicht, wie man meinen könnte, schlagartig von Pergament verdrängt, sondern beide bestanden jahrhundertelang nebeneinander. Erst das Papier verdrängte beide. Papier gab es in China schon im 2. Jahrhundert, aber seine Herstellung wurde wie ein Staatsgeheimnis gehütet. Erst nach einem arabisch-chinesischen Krieg gelang es den Arabern, mit Mitteln, die wir nicht kennen, den Chinesen das Geheimnis zu entlocken. Die Araber brachten die Technik mit nach Hause. Allerdings gab es ein Problem: Die Chinesen nutzten den Maulbeerbaum als Rohstofflieferer, und im Nahen Osten gab es schon damals nur noch wenige Bäume. Die Araber fanden eine andere Lösung: Als Rohstoff nutzten sei Kleiderstoffe! Muss man erst mal drauf kommen.

Da die Entfernung nach Verona nicht so groß ist, kommt ein Halt unterwegs in Frage. Bozen, Brixen, Meran, Trient? Ich kenne keine der Städte. Trient, das mich wegen des tridentinischen Konzils seit Studententagen verfolgt, ist eine Nummer zu groß für einen Zwischenstopp. Meran liegt etwas abseits des Weges. Bleiben Bozen und Brixen. Mit dem sicheren Gespür für die falsche Entscheidung wähle ich Brixen, wegen des Cusanus.

Das erste Problem gibt es bei der Ausfahrt, an der Mautstelle. Ich muss 2,90 bezahlen. Ich schiebe einen 5-Euro-Schein in das Fach. Der kommt wieder raus. Dann versuche ich es noch mal, dann noch mal anders herum. Immer wieder kommt er raus. Ich schätze mein Kleingeld ab. Müsste reichen. Reicht aber nicht. Ich habe aber schon angefangen, es einzuwerfen. Ich versuche es wieder mit dem Geldschein. Wieder nichts. Der Automat, der im Übrigen nur Italienisch spricht, fordert mich auf, das Fahrzeug zu verlassen. Ich versuche es vorher noch mal mit dem Geldschein, und jetzt klappt es plötzlich. Das Wechselgeld und die vorher eingeworfenen Münzen kommen klimpernd hinaus. Es klingt wie an einem Spielautomaten. Ich greife in die Schale, um das Kleingeld zu fassen zu bekommen. Dabei fallen ein paar Münzen auf den Boden. Ich lasse sie liegen. Hinter mir hat sich inzwischen eine Schlange gebildet.

Dabei habe ich das Privileg, auf der ganzen Strecke mit Euros auszukommen. Vor gut zehn Jahren hätte ich auf dieser Fahrt noch D-Mark, Schilling, Lira und Drachme benötigt.

Nach kurzer Zeit kommt Brixen zum Vorschein. Vom Auto aus sieht es aus wie ein deutscher Kurort. Gepflegt, aber nichtssagend. Am Wegesrand werden überall Äpfel angeboten, zweisprachig: Äpfel – Mele. Das deutsche Wort erscheint, etwas trotzig, immer zuerst. So auch bei den offiziellen Schildern: Krankenhaus – Ospitale.

In Brixen, habe ich vorher gelesen, gilt auf bestimmten Strecken ein Fahrverbot für bestimmte Fahrzeuge. Ob meins dazuzählt, weiß ich nicht. Auf jeden Fall ist alles hochkompliziert. Man muss sich durch einen dichten Schilderwald hindurchfinden und dabei Richtungsanzeigen beachten, die anderen Fahrzeuge nicht zu vergessen. Im Kreisverkehr gilt in Italien die Regel rechts vor links, aber nicht alle scheinen die Regel zu kennen oder sich daran zu halten.

Überall gibt es Hinweisschilder zu Hotels, aber nirgends zu Parkplätzen, außer zu einem für Busse. Da versuche ich trotzdem hinzukommen, vergebens. Das komplizierte System mit den vielen Sonderregeln bringt mich von Weg ab. Irgendwann finde ich an einem Seitenstreifen einen Platz auf einem markierten Feld. Ich steige aus und sehe mir an, welche Regeln hier gelten. Ist das vielleicht nur ein Parkplatz für Anlieger? Abschleppen kann ich wirklich nicht gebrauchen. Ein Autofahrer, der gleich hinter mir steht, sieht mich warnend an, und ich ziehe Leine. Wieder beginne ich, durch das Zentrum zu kreuzen. Als ich dann an einer Kreuzung ankomme, an der die Einfahrt in alle drei Straßen verboten ist – Einbahnstraße, Durchfahrtverbot, von 9-17 gesperrt – gebe ich auf und fahre zur Autobahn zurück. Leichter gesagt als getan. Es ist nur der Brenner ausgeschildert, keine andere Richtung. Da Brenner aber auf jeden Fall falsch ist, fahre ich in eine andere Richtung und kommt nach zehn Minuten nach – Brixen. Ich versuche es wieder, und diesmal komme ich über eine unendliche Landstraße Richtung Bozen. Da stimmt wenigstens die Richtung. Ob ich nach Modena oder nach Bozen muss, ist mir nicht klar. Manchmal erscheint ein Schild Autostrada, einmal auch Autostrade, manchmal auch A22, aber wohin ich muss, ist mir lange nicht klar. Irgendwann erscheinen dann A22 und Modena zusammen. Das ist es.

Verona liegt schon im Veneto. Das ist historisch ganz einleuchtend. Verona hat jahrhundertelang zur Republik Venedig gehört, bis zu deren Ende in den französischen Revolutionskriegen, für mich schon eine kleine Vorblende auf Kreta, das auch jahrhundertelang zu Venedig gehörte. Sogar die Zeitspanne ist ungefähr gleich: etwa 400 Jahre. Es gab in dieser Zeit eine kleine Parenthese, ein paar Jahre, in den Verona den Besitzer wechselte. Da gehörte es zu Habsburg, und zwar ausgerechnet unter Maximilian! Später gehörte Verona dann abwechselnd zu Frankreich und zu Österreich, und eine Zeitlang waren sogar das Westufer französisch und das Ostufer österreichisch.

Bei der Ausfahrt nach Verona werde ich wieder zur Kasse gebeten: 13€. Ich versuche es mit einem 10-Euro-Schein. Wird nicht akzeptiert. Dann mit einem 5-Euro-Schein. Wird nicht akzeptiert. Dann beide noch einmal. Nichts. Dann versuche ich es mit einem 50-Euro-Schein. Klappt auf Anhieb. Jetzt fällt der Groschen (passendes Bild!): Die Automaten erkennen die neuen Scheine nicht! Der Fünfziger ist noch von der alten Sorte.

Ich parke das Auto direkt hinter der Mautstelle. Hier ist alles laut, hässlich, Grau in Grau. Und kein Sonnenstrahl zu sehen. Auf Umwegen komme ich zu einer Tankstelle mit einem Café. Das Café ist schmuddelig und hässlich. Bei der streng blickenden Frau hinter der Theke, mit männlichen Gesichtszügen, athletischem Körper und Tätowierungen auf den Armen, bestelle ich einen Cappuccino. Und sofort merkt man, dass man in Italien ist: Der Cappuccino ist hervorragend, zwei Klassen besser als den, den ich in den letzten Tagen in Füssen und in Innsbruck bekommen habe.

Ich frage die Frau nach Porta Palio, und sie verweist mich an zwei Fahrer, die neben mir stehen. Die wissen bestens Bescheid und erklären mir den Weg.

Italienisch klappt auf Anhieb, sprechen und verstehen. Auf Anhieb stimmt allerdings wohl nicht ganz. Ich habe Radio gehört, und das Gehirn steht seit ein paar Tagen auf Italienisch.

Der Weg in die Stadt ist noch weit. Es geht durch das Messeviertel, und als ich im Zentrum ankomme, habe ich den Überblick über die Ampeln verloren. Ich soll an der vierten abbiegen. Es sind alle möglichen Hotels angekündigt, aber meins ist natürlich nicht darunter. Außerdem ist die Arena ausgeschildert, ein Name, der nichts mit der Arena der deutschen Städte zu tun hat, sondern das Amphitheater meint. Obwohl Arena metonymisch für das ganze Gebäude steht, bezeichnet es ursprünglich nur den Sand. Der Bezug ist aber nur noch im Spanischen zu erkennen, aber im Italienischen, das arena durch sabbia ersetzt hat, verlorengegangen.

Je weiter ich ins Zentrum komme, umso schöner wird die Stadt und umso besser wird das Wetter. Ich lande auf einem engen, kleinen Parkplatz. Da ergattere sich den letzten freien Platz, genau an einer Stelle, die alle passieren müssen, die raus wollen. Es ist so eng, dass mir Zweifel kommen, ob man hier überhaupt parken kann, und ein Autofahrer in einem schwarzen Sportwagen macht ungeduldige Bewegungen. Ich fahre weg, und er stellt sich in die Lücke. Neben diesem Parkplatz gibt es noch einen unterirdischen, und da sind mehr Plätze frei, aber wie man dahinkommt, ist mir ein Rätsel. Ich drehe ein paar Runden, bis ein anderer Platz frei wird.

An dem Parkplatz gibt es auch ein WC. Ein spanisches Ehepaar steht davor und fragt sich, wie und wo man das Geld einwerfen muss. Ich versuche es kurzerhand mit Münzen und es klappt. Als ich herauskomme, halte ich ihm dem Mann die Tür auf und sage: Gehen Sie rein, so ist es gratis. Er ist so übertölpelt von der Aktion und davon, dass ich es ihm auf Spanisch sage, dass er nur stammeln kann: Oh, thank you.

Im Zentrum wimmelt es nur so von Touristen. Ich wusste nicht, dass Verona so ein Magnet ist. Ich hatte es eher für einen Geheimtipp gehalten. Aber es gibt die Arena, die Verbindung zu Romeo und Julia und die Nähe des Gardasees.

Bei der Touristeninformation erfahre ich, dass das Hotel Porta Palio nicht auf dem Corso Porta Palio ist, sondern auf einer großen Straße, die von dem Tor abgeht. Es liegt ein gutes Stück außerhalb des Zentrums. Bevor ich den Parkplatz verlasse, will ich mich orientieren, in welche Richtung ich fahren muss, aber die Straßen haben entweder keine Straßenschilder oder Namen, die nicht auf der Karte sind. Ich frage einen jungen Mann an einer Ampel, und der holt sofort sein Smartphone heraus und zeigt mir grob die Richtung.

Beim Fahren muss man vor allem auf die wendigen Mopeds achten, die plötzlich auf allen Seiten erscheinen können. Dazu kommt, dass Straßennamen vom Auto aus oft nicht gut zu lesen sind. Sie befinden sich häufig an Häusern und sind in Stein gemeißelt. Die Schrift ist oft verblasst.

Trotzdem geht die Sache einigermaßen gut. Die Italiener fahren zwar manchmal etwas unberechenbar, fahren aber gar nicht so schnell und sind erstaunlich rücksichtsvoll. Noch zweimal muss ich fragen, einmal bei einer Gruppe von Männern, die gemütlich vor ihrem Haus sitzen, einmal an einer Bushaltestelle, dann finde ich die Straße, und da auch gleich einen großen Parkplatz, der, oh Wunder, sogar gratis ist.

Das Hotel, das noch ein ganzes Stück entfernt liegt, ist ganz anders, als ich es mir vorgestellt habe, angesichts des Namens und angesichts des Wohnviertels: modern, auffallen, aus der Reihe fallend: Die vier Stockwerke sind mit Querstreifen in knalligen Farben markiert, die Ecke ist abgerundet, nach vorne gewölbt, und geht mit Schwung in den Hauptteil über, längs der Straße, und zur anderen Seite in einen kleineren Teil mit Außentreppen und Bullaugenfenstern.

Bevor ich überhaupt meinen Namen nenne, gibt mir die Frau an der Rezeption gleich den Umschlag von zuhause, mit dem Voucher für das Hotel in Patras, der nicht rechtzeitig angekommen, aber netterweise nachgesandt worden ist.

Das Zimmer ist noch nicht fertig, aber ich kann mein Auto holen und es in die Tiefgarage stellen. Als ich komme, ist auch das Zimmer bereit. Es hat Doppelverglasung, und die braucht man auch, um den Verkehrslärm von der vielbefahrenen Straße in Grenzen zu halten.

Es ist noch reichlich Zeit für einen Spaziergang in die Innenstadt. Ich gehe dahin, wo ich gerade herkomme, zur Piazza Bra, da, wo auch die Touristeninformation ist. Das Wort bra ist germanisch und heißt ‚breit‘, eine sehr angemessene Bezeichnung. Der Platz ist so breit, dass ich vorher gar nicht gemerkt habe, dass hier auch die Arena ist. Sie liegt auf der anderen Hälfte des Platzes, hinter dem Park im Zentrum.

Nicht zu übersehen ist aber das Kunstmuseum. Da läuft gerade eine große Sonderausstellung zu Veronese. Sie läuft unter dem Titel Veronese is coming home. Man macht sich als Ausländer nicht immer die wörtliche Bedeutung klar, die hinter den Eigennamen stehen.

Es gibt verschiedene andere Paläste und zwei große Tore, die den Platz säumen, und auf der anderen Seite eine ganze Zeile von Häusern mit Arkaden und einem breiten Weg für Fußgänger davor, der berühmte liston. Das war der erste gepflasterte Weg Veronas. Die Händler in diesen Häusern hatten die Erlaubnis, hier auf dem Weg ihre Wagen auszustellen, vorausgesetzt, sie ließen genug Raum für die Passanten. Heute ist die Lage ganz ähnlich, nur sind die Händler ausschließlich Besitzer von Straßencafés – und Restaurants und die Kunden Touristen.

Ich besorge in einer winzigen Tabaccheria einen Reiseführer, Ansichtskarten und Briefmarken und setze mich dann in ein Straßencafé am Theaterplatz und blättere bei Kaffee und Tiramisu ein bisschen in dem Reiseführer. Der ist hervorragend. In der Touristeninformation hatten sie den Reiseführer nicht, den ich haben wollte, und der Besitzer in der Tabaccheria hat mir freundlicherweise diesen hier geöffnet. Er hat nur 5 € gekostet und ist sehr informativ. Wie gut er ist, merke ich erst am nächsten Tag.

Kurzentschlossen gehe ich in die Arena. Interessant durch den noch frischen Vergleich mit dem Kolosseum im Frühjahr. Die Arena ist fünfzig Jahre älter als das Kolosseum. Und das sieht man ihm auch an. Es ist gröber, mit einfacheren Formen. Dafür ist es in einem besseren Zustand. Hier scheint nichts abzubröckeln oder gar zusammenzustürzen.

Von dem äußeren Ring ist noch weniger erhalten als in Rom, nur vier von insgesamt über siebzig Bögen, dreistöckig. Durch sie in den blauen Himmel zu sehen, ist aber beeindruckend, schon durch die schiere Höhe. Der innere Ring ist nur zweistöckig.

Drinnen gibt es eigentlich nicht viel zu sehen. Ein guter Teil des Zuschauerraums ist abgesperrt, und die Hälfte ist mit modernen Sitzen für Aufführungen versehen. Auch die Bühne im Zentrum steht.

Informationen gibt es überhaupt keine, weder auf Schrifttafeln noch in Broschüren, und es sind auch keine Funde ausgestellt wie im Kolosseum. Die Stufen sind offensichtlich zu einer späteren Zeit renoviert worden, vielleicht nach dem Erdbeben (XII), von dem in Verona immer wieder die Rede ist. Wie beim Kolosseum hat man seine liebe Mühe und Not, die Stufen heraufzukommen: Sie sind sehr hoch. Da macht man es uns heute viel einfacher.

Sehr gut zu erkennen sind die unterschiedlichen Baumaterialien: außen, für die tragenden Teile, große Steinblöcke, wie bei der Trierer Porta, aber nicht nachgedunkelt; für die Gewölbe innen unbearbeitete Steine mit Mörtel; für die Wände innen flache Ziegel in sauberen Reihen, mit Mörtel dazwischen, wie beim Trierer Dom.

Die Arena fasste 30.000 Zuschauer, mehr als Verona Einwohner hatte. Das zeugt von der Bedeutung Veronas, aber auch von dem Entschlossenheit, Bedeutung zur Schau zu stellen. Die christlichen Kirchen des Mittelalters nahmen diese Tradition auf. Auch sie fassten mehr als alle Einwohner der Städte.

Nach dem Niedergang Roms wurden die Gewölbe der Arena zu vorgeschriebenen (und mit Mietzahlungen verbundenen) Rückzugsorten für Frauen des leichten Gewerbes. Die Gewölbe heißen fornici, und daher kommt fornicare!

Aus dem Jahre 1450 stammt ein Dekret, das es untersagt, die Arena als Steinbruch zu nutzen. Sie sei ein bewahrenswertes Monument. Das ist bemerkenswert früh.

Im Mittelalter predigten hier Franz von Assisi und Antonius von Padua. Auch Dante war hier. Die konzentrischen Ringe, heißt es, hätten ihn zu der Vorstellung der Ringe im Inferno geführt.

Interessant, was im Mittelalter aus der Arena wurde: Hier wurden Gottesurteile ausgeführt, um Verdächtige zu überführen, hier wurden Todesurteile vollstreckt und hier wurden Duelle abgehalten, mit denen Rechtsstreitigkeiten entschieden wurden.

Auf dem Rückweg bleibe ich an einer Pizzeria stehen, einem kleinen Stehlokal, in der die Pizza, die es ohnehin nur in Streifen geschnitten gibt, nur eine Nebenrolle spielt. Dafür gibt es hervorragende arancini, frittierte Reisbällchen mit selbstgewählten Zutaten, und panzerotti, Teigtaschen mit selbstgewählten Zutaten. Davon nehme ich mir jeweils eine mit. Das Abendessen findet wegen Übermüdung im Hotelzimmer statt.

4. Oktober (Samstag)

Am Morgen geht plötzlich im WC das Licht aus. Ich hebe den Kopf, und es geht wieder an. Die Erklärung: Es gibt einen Sensor, der dafür sorgt, dass das Licht angeht, wenn man das WC betritt. Wenn er keine Bewegung mehr wahrnimmt, schaltet er das Licht aus.

Von all den Sehenswürdigkeiten von Verona entscheide ich mich für San Zeno, etwas außerhalb des Zentrums und in der Nähe des Hotels.

Auf dem Weg dahin sehe ich an einer Kreuzung ein Schild nach Valpolicella. Hatte keine Ahnung, dass das hier in der Nähe war. Valpolicella, Verona, Vicenza, Venedig. Zufall? Habe ich mich schon in den letzten Wochen gefragt bei Kempen, Kerpen, Krefeld, Kevelaer, Kleve, Kalkar und bei Mendig, Merzig, Mayen, Manderscheid, Münstereifel, Mannebach.

Frühstück gibt es in einem Café gleich neben dem Eingang von San Zeno, einen guten Kaffee und ein Gebäckstück, das auf der Theke liegt, wieder was mit Reis, aber diesmal süßlich.

Die Entscheidung für San Zeno war goldrichtig. Das Portal, der Kreuzgang, die Kirche, alles lohnt sich. Dabei sieht die Kirche außen gar nicht spektakulär aus, obwohl sie im Süden einen schönen, freistehenden Campanile hat.

Die Kirche hat eine komplizierte Baugeschichte. Die heutige Kirche stammt zum großen Teil aus dem Hochmittelalter und wurde nach einem Erdbeben (XII) errichtet. Die Vorgängerkirche war unter den Karolingern gebaut und in Anwesenheit von Pipin geweiht worden, nachdem die Verehrung von San Zeno, einem der ersten Bischöfe von Verona, und damit der Pilgerstrom zugenommen hatte.

Die Fassade hat einen Vorbau, eine Art Vordach, auf Säulen stehend, der auf Italienisch protiro heißt. Das Wort kenne ich nicht und kann auch keine deutsche Entsprechung finden, aber so was habe ich in Italien schon mal gesehen. Der hat es in sich. Eine französische Besuchergruppe und zwei deutsche Einzelreisende verbringen bestimmt eine halbe Stunde davor. Der scheint auch aus der Bauzeit zu stammen, sieht aber viel moderner aus.

Das Schmuckstück der Fassade ist komischerweise gar nicht zu sehen. Es ist die mächtige Bronzetüre, die sich hinter einer einfachen Holztür verbirgt, wohl aus konservatorischen Gründen. Die Bronzetüre sieht man aber nachher im Innern.

Der Vorbau schützt die Reliefs und Malereien an der Wand, wirft aber auch einen Schatten auf sie, so dass nicht alles zu erkennen ist. Dabei ist das Bild in dem Halbkreis wichtig: Neben San Zeno im Zentrum erscheinen zur einen Seite die Adeligen, hoch zu Ross, und auf der anderen die freien Bürger! Eine Aufwertung des Dritten Standes, seine Nobilitierung sozusagen!

Darüber, in dem Bogen des protiro, weitere Malereien, die man nicht erkennen kann, und darunter in einem Fries Reliefs, die Wunder zeigen, die San Zeno vollbracht hat.

Das protiro selbst hat an den Seiten die Darstellung der Monate, links und rechts und außen und innen jeweils drei. Das ist ein beliebtes Motiv in dieser Gegend, ich habe es schon in Parma und in Modena gesehen. Hier kann man die Monate allerdings kaum identifizieren, und genauere Beschreibungen gibt es nicht.

Vorne am protiro, an den Seiten, die Statuen von Johannes der Täufer und Johannes der Evangelist,  zwischen ihnen ein Fries mit weiteren Reliefs und oben die Hand Gottes. Der obere Teil des protiro wird von menschenähnlichen Figuren gestützt. Der eine scheint laut aufzuschreien, die andere, eine Art Sphinx, trägt die Sache – im wahrsten Sinne des Wortes – mit einem Lächeln.

Als wenn das noch nicht genug wäre, gibt es seitlich des protiro, ganz unten, auf Augenhöhe, Reliefs an der Westwand der Kirche, die Szenen aus dem Alten und dem Neuen Testament, aber auch aus dem Alltag darstellen. Neben der Kreuzigung sieht man Jagdszenen oder Duelle. Wie sich das wohl theologisch begründet?

Oben, über dem protiro, eine schöne, eher einfache Fensterrose, die den Eindruck vermittelt, als bewege sie sich, vielleicht das Rad der Fortuna evozierend.

Der Gang in die Kirche geht durch den Kreuzgang. Auch der ist, wie die Rose, eher einfach, mit nicht verzierten Kapitellen, aber gleichzeitig elegant und schön. Es gibt jeweils auf zwei Seiten Rundbögen und auf zwei Seiten Spitzbögen, aber auf allen vier Seiten sind es Doppelsäulen, niedrig, schlank. Das bringt von verschiedenen Seiten immer neue Bilder, und die optisch sich schräg ineinander verschiebenden Säulen sind ein phantastisches Photomotiv.

Auch der Innenraum, viel länger als man glaubt, ist mit seinem halb erhöhten Chor und seiner halb erniedrigten Krypta, echt sehenswert. Die Ausstattung ist reich: Fresken, Altäre, Kreuze. Besonders schön eine große Sitzstatue von San Zeno im Chor. Er hält, mit vollem Bischofsornat, eine Angel mit Fisch in der Hand – er ist der Patron der Süßwasserfischer! – und scheint zu lächeln.

Zwei große Becken, wohl noch aus vorchristlicher Zeit, stehen in den Seitenschiffen, vermutlich früher als Taufbecken benutzt. Eine hat eine Menge Kratzspuren. Man sagt, sie kämen von den Klauen des Teufels, der von San Zeno besiegt und veranlasst wurde, das Becken in die Kirche zu bringen.

Zum Schluss, und am westlichen Abschluss der Kirche, dann die Bronzetüren, zwei mächtige Türe mit jeweils 24 quadratischen Reliefs. Auch hier, wie draußen, ist so ziemlich alles vertreten: Bibelszenen, Propheten, Monate, Duelle, Pflanzenornamente usw. In einem Relief sieht man Fischer mit zwei gefangenen Fischen in einem Boot und einem dritten Fisch, der über ihnen schwebt. Rätselhaft. Der wichtigste Hingucker ist eins der beiden Reliefs, an denen die Türgriffe befestigt sind: ein menschenähnlicher Kopf, in den die bösen Worte in Form von Schlangen durch die Ohren eindringen und in Form des Satans aus dem Mund herauskommen!

Am Ende, entweder ermüdet oder überwältigt, vergesse ich, in die Krypta zu gehen. Aber nach Verona muss man ohnehin noch mal kommen.

Als ich aus der Kirche komme, ist es bewölkt und 19° warm. Durch das Viertel Sanz Zeno, ein ganz normales italienisches Wohnviertel, gehe ich zur Etsch. Als ich da ankomme und mich umdrehe, sehe ich ein den Platz hinter mir, ein Platz ohne jede Besonderheiten, aber wie er italienischer nicht sein könnte: Zwei Straßen, die schräg auf den Platz zulaufen, parkende Autos an der Schnittstelle der Straße, drei- bis vierstöckige Häuser, grüne Blendläden, Gitter vor den Fenstern, ein paar Blumentöpfe, ein paar schmale Balkone, Bürgersteige mit großen, teils gebrochenen Steinen, Fassaden mit abbröckelnder Farbe und einige Pflastern, ein paar Jalousien über den Eingängen der Erdgeschosse, ein Café, eine Bank, eine Tabaccheria mit dem weißen T auf blauem Grund, alte Straßenlaternen, die über der Straße hängen.

Ich gehe an der Etsch entlang Richtung Kastell und dann über den Corso Cavour Richtung Altstadt. Diese gerade verlaufende Straße wurde ab dem 16. Jahrhundert von den Adeligen benutzt, um hier ihre Stadtpaläste zu errichten. Hier kann man schön die verschiedenen Stilarten beobachten, vor allem Barock und Klassizismus. Aber auch ein paar spätgotische Fassaden sieht man noch.

Ich suche ein „Martyrium“, einen kleinen, noch aus der frühchristlichen Zeit stammenden Sakralbau, in dem ursprünglich Reliquien aufbewahrt wurden. Nachdem ich ein paar Mal hin und her gegangen bin, frage ich eine zierliche ältere, elegant gekleidete Dame nach dem Weg. Wie war das noch mal? Sacello delle Sante Teuteria e Tosca. Hat sie noch nie gehört. Sie zieht aber ohne Zögern ihr Smartphone hervor und lokalisiert es dort. Wir stehen fast davor. Sie zeigt auf eine Kirche hinter uns. Aber das ist Santi Apostoli, da war ich gerade schon. Sie guckt noch mal nach und deutet dann auf einen kleinen Backsteinbau neben der Kirche. Das ist er.

Der Bau ist zwar geschlossen, aber schon wegen dieser freundlichen Auskunft hat sich die Suche gelohnt. Die Legende hinter dem Bau ist diese: Teuteria, eine englische Adelsdame, wehrte sich gegen die Zudringlichkeiten des heidnischen Oswald und flüchtete vor ihm an diesen Ort, in eine Grotte, wo Tosca, die Schwester des Bischofs von Verona, sich betend die Zeit vertrieb. Als Teuteria es gerade geschafft hatte, in die Grotte zu flüchten, verschloss eine Schicksal spielende Spinne den Eingang mit einem dichten Spinnennetz. Die Meuchelmänner von Oswald glaubten, die Grotte wäre vor langem verlassen worden und entdeckten Teuteria nicht. Die Heiden sind in diesen Legenden nicht immer große intellektuelle Leuchten.

Durch die Porta Borsari am Ende des Corso Cavour komme ich in die Altstadt. Der Name der Porta ist nicht römisch, sondern kommt von den „Börsianern“ des Mittelalters. Die Porta ist ein weißes, zweistöckiges Tor mit zwei Bögen, von der nur der vordere Teil erhalten ist. Das Bodenniveau ist hier wegen der Porta abgesenkt, auf das ursprüngliche römische, und steigt Richtung Piazza delle Erbe auf das jetzige Niveau an. Verona steht, wie Trier, auf einer Kulturschicht von mehreren Metern.

Die Piazza delle Erbe ist das Zentrum Veronas, ein langgestreckter Platz, das ehemalige Forum Romanum. Der jetzige Name kommt von den Kräutern, die hier verkauft wurden.

Hier ist mächtig was los. An einem Stand kaufe ich eine Macedonia di fruta, einen Becher mit kleingeschnittenem Obst: Kiwi, Pfirsich, Trauben, Ananas, Melone, Erdbeere. Kostet
3 € und ersetzt eine komplette Mahlzeit.

Hier findet man La Berlina, eine Ädikula, ein „Tempelchen“, in dem Verbrecher zur Schau gestellt und auch bestraft wurden, einen Brunnen mit der Madonna di Verona, eine Säule mit dem Markuslöwen (während der Napoleonischen Herrschaft wurde die Säule abgerissen, später wieder aufgebaut), die Torre del Gardello, einer der ersten Türme überhaupt, die eine Uhr hatten, und das Domus Mercatorum, eine Art Kaufmannsgilde, an dem, um den Erfordernissen des Marktes gerecht zu werden, Buchführung und Deutsch gelehrt wurde und das zum Nukleus der Universität von Verona wurde.

Von hier aus kämpfe ich mich zu der sogenannten Casa di Giulietta durch. Nirgendwo herrscht solches Gedränge wie hier. Shakespeare hat Romeo und Juliet in Verona spielen lassen, und Verona ist ihm heute noch dankbar dafür. Es wird nicht nur Julias Haus, sondern auch ihr Grab präsentiert. Auch Statuen gibt es, die die angebliche Julia darstellen. Das Ganze ist natürlich eine Mogelpackung. Shakespeare hatte vermutlich nicht die geringste Ahnung, wie Verona aussah. Das Stück hätte auch in Venedig oder Athen spielen können. Natürlich hat er Quellen benutzt, aber Julia ist eine Kunstfigur, keine historische Figur. Aber das interessiert die Tourismusindustrie nicht. Man hat tatsächlich ein Haus ausfindig gemacht, das aus der Zeit stammt und in dem eine Familie lebte, deren Nachnamen entfernt an Capulet erinnert. In der Nähe werden die Bezüge natürlich kommerziell ausgenutzt, so in einem Geschäft gegenüber dem Haus, das mehr Shakespeare-Kitsch hat als ganz Stratford.

Ich hatte gedacht, man könne das Haus von Straße aus sehen. Kann man auch, aber bei dem Gedränge sieht man kaum was, und der wichtigste Anziehungspunkt ist im Innenhof. Dahin kämpfe ich mich durch.

Es ist sogar ein ganz schöner Innenhof, aber das nimmt man bei dem Gedränge kaum wahr. Aller Augen richten sich auf den Balkon im zweiten Stock. Das ist der Balkon, auf dem Julia und unter dem Romeo stand. Es gibt nur ein Problem: In Romeo and Juliet gibt es keinen Balkon! Das Wort ist im Englischen zum ersten Mal 1613 attestiert, drei Jahre vor Shakespeares Tod. Da war Romeo and Juliet längst geschrieben. Und selbst wenn das Wort vorher in Gebrauch war, Shakespeare kannte es vermutlich nicht und wusste wohl auch nicht, was ein Balkon ist. Der Balkon kommt in unsere Köpfe nur durch die Aufführungspraxis. Ein sprechendes Beispiel für die Kraft der Bilder im Vergleich zum Wort. Ist ja auch einleuchtend. Im Theater macht es sich besser, wenn Julia auf dem Balkon steht statt am Fenster. Aber davon wissen die Besucher, die sich hier im Innenhof drängeln, vermutlich nichts. Und wollen es vermutlich auch nicht wissen.

Von hier aus gehe ich zur Piazza Bra, der, an der die Arena liegt. Da gibt es einiges zu sehen. Im Zentrum steht ein von der Stadt München, einer der Partnerstädte Veronas, gestifteter Brunnen. In dessen Zentrum stellen Steinblöcke die Alpen dar, und auf der einen Seite das Wappen Münchens, auf der anderen das Wappen Veronas zu sehen. Am Brunnenrand Inschriften der anderen Partnerstädte: Nimes, Salzburg, Pula, Albany, Naganame.

In der Nähe des Brunnens eine Reiterstatue, die Vittorio Emmanuele II darstellt. Nichts Ungewöhnliches in Italien. Hier hat sie aber doch eine besondere Bedeutung. Sie steht nämlich an der Stelle, an der zur Zeit der Venezianischen Herrschaft eine Statue stand, die die Ergebenheit Veronas gegenüber Venedig ausdrückte. Schleimscheißer. Als es Venedig nicht mehr gab, war es auch mit der Ergebenheit vorbei.

In einem weiten Kreis um den großen Platz gruppieren sich repräsentative Gebäude, die man kaum mit einem Blick wahrnimmt. Der Palazzo della Gran Guardia, der, in dem die Veronese-Ausstellung stattfindet, nimmt in seinen alternierenden Fensterformen – Halbkreis und Dreieck – Fensterformen der Arena auf. Der Palast hatte ursprünglich keine Stufen, weil er keine brauchte. Jetzt braucht er sie. Als man im 19. Jahrhundert begann, den Platz um die Arena auszugraben, senkte man das Bodenniveau um zwei Meter. Auf einmal stand der Palast „in der Luft“!

Am Rande des Platzes befindet sich das Museo Maffeiano, das vor allem Inschriften in allen möglichen Sprachen des Altertums enthält. Das wäre was für einen längeren Aufenthalt in Verona. Am Eingang ist ein Zitat über Verona aus Romeo and Juliet: There is no world without Verona walls/But purgatory, torture, hell itself./Hence “banishèd” is banished from the world,/And world’s exile is death.

An Sant‘Anastasia vorbei, die bei einem längeren Besuch auch auf dem Programm stehen würde, gehe ich an das andere Ufer der Etsch. Die Brücke, die in einem barbarischen Akt von den Nazis gesprengt und nach dem Krieg wiederaufgebaut wurde, stammt aus der Römerzeit und ist noch mal gut 200 Jahre älter als die Trierer Römerbrücke. Auch hier sind nicht alle Pfeiler römisch.

Auf der Brücke gelingt mir ein schönes Photo von dem Uferpanorama. Es sieht fast wie ein Gemälde aus. Schöner als die Wirklichkeit.

Auf der anderen Seite der Etsch liegt das Römische Theater, das aber wegen Renovierungsarbeiten geschlossen ist. Auch muss in dieser Gegend der Dom liegen, aber der scheint nicht die beachtenswerteste Kirche Veronas zu sein.

Auf dem Rückweg suche ich noch nach der Piazza Signori. Die ist mir bis jetzt durch die Lappen gegangen. Nach einigem Suche stelle ich fest, dass sie direkt neben der Piazza delle Erbe liegt und mit ihr durch einen Durchgang mit Bogen verbunden ist. Ich bin aber nicht mehr aufnahmefähig für all das, was es hier auch noch zu sehen gibt und begnüge mich mit zwei Details. An den Häuserwänden befinden sich an zwei Stellen „Löwenmäule“. In die konnte man Zettel einwerfen, auf denen man Mitbürger denunzierte, sauber getrennt nach Wucherei und Seidenschmuggel! Und im Zentrum steht erhöht eine Statue von Dante. Der war hier am Platz bei seinen Freunden und Förderern, Cangrande und Della Scala, zu Gast – die dann auch in der Commedia gut wegkamen. Wieder hat die Statue eine ideologische Bedeutung: sie wurde 1865 errichtet, zur Zeit der österreichischen Herrschaft, um die Italianität Veronas zu unterstreichen!

Völlig erschöpft gehe ich dann noch mal nach San Zeno zurück und setze mich auf die Terrasse eines Lokals. Hier gibt es für wenig Geld einen riesigen Salat, eine kleine Portion Pasta, viel Bier und zum Nachtisch Profiterol. Es ist jetzt ein richtig schöner Spätsommertag.

Als ich vor dem Dessert nach der Karte frage, sagt der Kellner, ein Junge, ganz erstaunt: „Aber Sie sprechen ja Italienisch!“. Ja, bitte? In welcher Sprache haben wir uns denn bisher unterhalten? Muttersprachler sind merkwürdige Wesen.

5. Oktober (Sonntag)

Die Fahrt nach Venedig, zur Fähre, ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe: grässlich. Obwohl ich 5 Stunden für 100 Kilometer habe, kommen mir zwischendurch Zweifel, ob ich es schaffe. Am Ende bin ich dann aber doch mehr als rechtzeitig da, mehr als zwei Stunden vor Abfahrt, und als es dann, um 12 Uhr losgehen soll, wird angekündigt, dass sich die Abfahrt um eine Stunde verschiebt. Der Grund: dichter Verkehr. Aber was ist damit gemeint? Dichter Verkehr auf dem Wasser? Da sollte genug Platz sein. Dichter Verkehr auf dem Land? Davon war auf der Straße nichts zu sehen. Vielleicht dichter Verkehr auf dem Schiff? Also viele Lastwagen? Als ich um 1 Uhr auf dem Deck stehe, werden jedenfalls noch jede Menge Lastwagen verladen. Einer nach dem anderen erscheinen sie oben an der Einfahrt, und jedes Mal glaubt man, dass es der letzte wäre – bis noch einer kommt. Dann kommt noch ein Sattelschlepper mit neuen Autos und zum Schluss noch ein PKW. Und dann kommen wieder Lastwagen. Einige von ihnen werden auf dem Oberdeck geparkt. Man kann vom Deck aus sehen, wie sie in ganz kleinen Abständen voneinander geparkt werden, und man fragt sich, wie die Fahrer überhaupt aus der Kabine herauskommen.

Man freut sich für jeden einzelnen, dass er es noch schafft, aber die Ungeduld wächst trotzdem. Dann steigt schwarzer Rauch aus dem Schiffsschornstein auf und man hört die dumpfe Schiffssirene, und es geht los. Die Bewegung ist so unmerklich, dass man sich an irgendetwas an Land orientieren muss, um sie überhaupt wahrzunehmen.

Auf dem Schiff wird griechisch gesprochen, und die meisten Passagiere sind Lastwagenfahrer. Sie scheinen sich untereinander zu kennen. Sie sitzen zur Hälfte in der Cafeteria und essen, die meisten mit einem Bier, und zur Hälfte draußen, im Schatten, mit einen Kaffee. Die Touristen sitzen in der Sonne. Obwohl sich alles an einem Deck abspielt, bleiben die meisten Sitze frei. Es scheint gerade mal ein paar Dutzend Passagiere zu geben. Wie sich das mit dem dichten Verkehr verträgt, versteht man nicht.

Auch bei den Pullmannsitzen, einem abgetrennten Raum, ist nicht viel los. Man kann sie vermutlich auch benutzen, ohne sie gebucht zu haben. Jedenfalls wird nicht kontrolliert, und die Leute setzen sich dahin, wo es ihnen am besten gefällt. Es gibt viele erfahrene Schiffsreisende. Sie haben Luftmatratzen oder Matten dabei und machen es sich auf dem Boden oder auf zwei Sitzen bequem. Wo übernachten aber die, die nur eine Deckpassage, also weder Sitz noch Kabine gebucht haben?

Ich laufe ein bisschen herum und gucke ab, wie man sich mit Strom versorgt. Man zieht den Stecker der Stehlampen raus! Keiner hat was dagegen, und ich habe einen ganzen Tisch, fast einen ganzen Raumteil, für mich alleine und lasse die Fahrt Revue passieren.

Um 7 Uhr geht es schon los, nach 12 Stunden Schlaf, fast ohne Unterbrechung. Schon nach ein paar Hundert Metern kommt eine Anzeige Richtung Venedig. Die verschwindet dann aber wieder, und ich muss rechts ranfahren, um nachzusehen, ob Vicenza richtig ist. Ist es. Ich habe Glück, dass ich einen Sonntag erwischt habe. Es geht über mehrere Zubringer, und dann kommt die Autobahn. Die Fahrt geht an Vicenza und an Padua vorbei, zwei Städte, die ich nicht so nahe an Venedig vermutet habe.

Die Sonne ist erst ein dunkelroter, riesiger Ball am Horizont, dann wird sie kleiner und ist nicht mehr so intensiv rot. Dann steigt sie auf und verliert ihre klaren Umrisse. Sie wird immer heller. All das geschieht in kurzer Zeit. Ein echtes Naturschauspiel.

Diesmal macht die Sonne es richtig. Ich fahre nach Osten, die Sonne geht im Osten auf, und ich fahre der Sonne entgegen. In den letzten Tagen hatte ich manchmal Zweifel an der Zuverlässigkeit der Sonne.

Kurz vor der Ausfahrt nach Venedig finde ich eine offene Tankstelle. Mit dem Tanken habe ich alles falsch gemacht. Obwohl ich es besser wusste, habe ich es verpasst, in Österreich zu tanken, weil ich in Deutschland noch einmal vollgetankt hatte. Das Benzin ist in Österreich billiger als in Deutschland und in Italien teurer als in Deutschland. Aber ich brauche Kleingeld – das Hotel hat mir die Tiefgarage nicht berechnet und damit meine Pläne durchkreuzt – und ich sehe mich schon ohne Benzin in irgendeiner verlorenen Ecke des Hafens von Venedig stranden. Jedenfalls habe ich jetzt die 7,90 klein, die ich an Mautgebühren bezahlen muss.

Der Tankwart hat auf meine Frage, wo es denn zum Hafen gehe, einfach „rechts“ gesagt. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Die Beschilderung ist uneinheitlich, und es gibt einen Porto industriale und einen Porto turistico und einen Porto und einen Interporto. Außerdem kann man die Schilder wegen der Sonne oft schlecht erkennen. Einmal ziehe ich mir den Zorn eines Autofahrers zu, als ich im letzten Moment die Richtung ändere, einmal bleibe ich auf einem Kreisverkehr stehen und lasse ein anderes Auto vorbei.

Es geht durch ein verlassenes Industriegebiet, immer Richtung Porto. Irgendwann erscheint auch ein Schild mit Traghetto. Fähre. Dann kommt eine unendlich scheinende Fahrt auf einem Damm durch die Lagune von Venedig. Am Horizont sieht man weiße Kreuzfahrtschiffe erscheinen. Das sind sicher die falschen.

Man kommt dann über verschiedene „krumme“ Wege in den Abfertigungsbereich und steht schließlich vor einer Uniformierten an einer Schranke. Ich nenne mein Ziel, Patras. „Non è qui. E in Marghera“. Als ob ich es geahnt hätte. Ich folge den komplizierten Erklärungen und komme wieder auf den Damm über die Lagune. Das Problem ist nur, dass Marghera nirgendwo ausgeschildert ist. Ich habe aber ein zweites Mal gefragt und erfahren, dass ich erst mal Richtung Autobahn fahren solle. Das tue ich auch, aber je länger es dauert, umso mulmiger wird mir. Es geht über eine breite, mit Seitenplanken abgesperrte Straße, wo man nicht halten kann. Und selbst, wenn man es könnte, wäre keiner da, den man fragen könnte.

Dann kommt eine Bushaltestelle. Da steht ein Mann. Er weiß Bescheid: Dritto. Tatsächlich erscheint nach ein paar Kilometern das Schild Marghera. Aber: Wohin in Marghera? Ich lande irgendwie im Zentrum. Von Schiffen nichts zu sehen. Von Meer auch nicht. Wieder versuche ich es an einer Bushaltestelle. Erst ein Paar, dann eine Frau. Keine Ahnung.

Ich versuche es einfach in der anderen Richtung, immer geradeaus. Und für einen Moment sehe ich das Hinweisschild Anek Lines. Geradeaus. Gut. Dann kommt ein Schild Richtung Ferries, aber ich verpasse die Ausfahrt, wende und komme in ein abgelegenes Viertel, ohne jede Beschilderung. Ein alter Mann, der erst meine Frage nicht versteht, gibt mir unendliche Auskünfte, die mit den Schiffen nichts zu tun haben. Ich bedanke mich höflich und versuche es auf gut Glück in derselben Richtung wie vorher. Rechts eine Tankstelle, und eine ganze Gruppe mittelalter Männer, die Kanister füllen. Genau meine Zielgruppe. Die Erklärungen sind messerscharf und ganz klar, mit kleinen Gedächtnishilfen. Mille grazie. Tatsächlich komme ich jetzt, an einem Kreisverkehr und an großen Öltanks vorbei, zur Anlegestelle. Geschafft.

Hier muss man erst einchecken. Rechts steht eine lange Schlange von Lastwagenfahrern, lauter Griechen. Vor mir ist in unserer Schlange nur ein Ehepaar aus Bayern dran. Hier geht alles schnell. Dann kann ich die Schranke passieren und werde in eine Spur eingewiesen. Links von uns die Lastwagen, rechts die Wohnwagen. Darunter ein österreichisches Paar, älteres Semester, mit einem bunt bemalten Wohnwagen, mit Sonne und Palmenstrand und ganz lieben, etwas naiven Aussprüchen, Übriggebliebene der Hippiegeneration.

Nach all der Aufregung bedauere ich es jetzt fast, schon so früh hier zu sein. Aber die Regeln besagen ohnehin, dass man zwei Stunden vor Abfahrt einchecken muss. Ist auch verständlich. Wie viele Autos wohin kommen will gut kalkuliert sein. Aber der  Service hier ist nicht existent. Es gibt gerade mal Toiletten, aber keinen Kiosk, kein Geschäft, keine Informationstafeln oder sonst was. Nur Kaffee aus dem Automaten.

Dann setzt sich die Schlange in Bewegung, anderthalb Stunden vor Abfahrt. Ich erinnere mich an Studentenzeiten, als ich auf solchen Fähren nach England gefahren bin. Es geht ganz nach unten. Überall stehen Männer, die einen lautstark einweisen. Ist auch nötig. Eine Kurve ist so eng, dass keiner sofort herum kommt. Alle müssen zurücksetzen und es dann im zweiten Versuch machen. Am Schluss muss ich rückwärts in die allerletzte Ecke des untersten Decks einparken.

Letzte Gelegenheit, zu überlegen, was man mitnimmt und was man im Auto lässt. Ich nehme nur das Nötigste mit. Dazu gehört aber eine Decke – ich bin vor der nächtlichen Kälte gewarnt worden – und Müsliriegel und Tabletten, die einen in einen Dämmerzustand versetzen. Später stelle ich fest, dass die meisten anderen ganze Reisekoffer mit an Bord nehmen. Aber man muss auf das Zeug ja auch aufpassen.

Hier wird ordentlich abkassiert. Aber das ist ja auch verständlich. Das ganze Zeug muss erst an Bord geschafft werden, und es muss Personal da sein, das mit dem mobilen Arbeitsplatz einverstanden ist. Der Kaffee ist jedenfalls gut, und das Kuchenstück, das es dazu gibt – eine Art Baklavas, sehr griechisch, sehr süß, etwas feucht – ist hervorragend.

Nach ein bisschen Lektüre und ein bisschen Internet – für 3 € bekommt man 2 Stunden Zugang – esse ich in dem Selbstbedienungsrestaurant zu Abend. Als ich aufstehe, ist es schon dunkel. Den Sonnenuntergang habe ich gar nicht mitbekommen.

In dem Raum mit den Pullmannsitzen ist reichlich Platz. Ich mache es mir, dem Beispiel der anderen folgend, aus zwei Pullmannsitzen ein provisorisches Bett, mit dem Anorak als Kopfkissen. Das geht erstaunlich gut. Wieder schlafe ich fast einmal rund um die Uhr.

5. Oktober (Sonntag)

Die Fahrt nach Venedig, zur Fähre, ist genauso, wie ich sie mir vorgestellt habe: grässlich. Obwohl ich 5 Stunden für 100 Kilometer habe, kommen mir zwischendurch Zweifel, ob ich es schaffe. Am Ende bin ich dann aber doch mehr als rechtzeitig da, mehr als zwei Stunden vor Abfahrt, und als es dann, um 12 Uhr losgehen soll, wird angekündigt, dass sich die Abfahrt um eine Stunde verschiebt. Der Grund: dichter Verkehr. Aber was ist damit gemeint? Dichter Verkehr auf dem Wasser? Da sollte genug Platz sein. Dichter Verkehr auf dem Land? Davon war auf der Straße nichts zu sehen. Vielleicht dichter Verkehr auf dem Schiff? Also viele Lastwagen? Als ich um 1 Uhr auf dem Deck stehe, werden jedenfalls noch jede Menge Lastwagen verladen. Einer nach dem anderen erscheinen sie oben an der Einfahrt, und jedes Mal glaubt man, dass es der letzte wäre – bis noch einer kommt. Dann kommt noch ein Sattelschlepper mit neuen Autos und zum Schluss noch ein PKW. Und dann kommen wieder Lastwagen. Einige von ihnen werden auf dem Oberdeck geparkt. Man kann vom Deck aus sehen, wie sie in ganz kleinen Abständen voneinander geparkt werden, und man fragt sich, wie die Fahrer überhaupt aus der Kabine herauskommen.

Man freut sich für jeden einzelnen, dass er es noch schafft, aber die Ungeduld wächst trotzdem. Dann steigt schwarzer Rauch aus dem Schiffsschornstein auf und man hört die dumpfe Schiffssirene, und es geht los. Die Bewegung ist so unmerklich, dass man sich an irgendetwas an Land orientieren muss, um sie überhaupt wahrzunehmen.

Auf dem Schiff wird griechisch gesprochen, und die meisten Passagiere sind Lastwagenfahrer. Sie scheinen sich untereinander zu kennen. Sie sitzen zur Hälfte in der Cafeteria und essen, die meisten mit einem Bier, und zur Hälfte draußen, im Schatten, mit einen Kaffee. Die Touristen sitzen in der Sonne. Obwohl sich alles an einem Deck abspielt, bleiben die meisten Sitze frei. Es scheint gerade mal ein paar Dutzend Passagiere zu geben. Wie sich das mit dem dichten Verkehr verträgt, versteht man nicht.

Auch bei den Pullmannsitzen, einem abgetrennten Raum, ist nicht viel los. Man kann sie vermutlich auch benutzen, ohne sie gebucht zu haben. Jedenfalls wird nicht kontrolliert, und die Leute setzen sich dahin, wo es ihnen am besten gefällt. Es gibt viele erfahrene Schiffsreisende. Sie haben Luftmatratzen oder Matten dabei und machen es sich auf dem Boden oder auf zwei Sitzen bequem. Wo übernachten aber die, die nur eine Deckpassage, also weder Sitz noch Kabine gebucht haben?

Ich laufe ein bisschen herum und gucke ab, wie man sich mit Strom versorgt. Man zieht den Stecker der Stehlampen raus! Keiner hat was dagegen, und ich habe einen ganzen Tisch, fast einen ganzen Raumteil, für mich alleine und lasse die Fahrt Revue passieren.

Um 7 Uhr geht es schon los, nach 12 Stunden Schlaf, fast ohne Unterbrechung. Schon nach ein paar Hundert Metern kommt eine Anzeige Richtung Venedig. Die verschwindet dann aber wieder, und ich muss rechts ranfahren, um nachzusehen, ob Vicenza richtig ist. Ist es. Ich habe Glück, dass ich einen Sonntag erwischt habe. Es geht über mehrere Zubringer, und dann kommt die Autobahn. Die Fahrt geht an Vicenza und an Padua vorbei, zwei Städte, die ich nicht so nahe an Venedig vermutet habe.

Die Sonne ist erst ein dunkelroter, riesiger Ball am Horizont, dann wird sie kleiner und ist nicht mehr so intensiv rot. Dann steigt sie auf und verliert ihre klaren Umrisse. Sie wird immer heller. All das geschieht in kurzer Zeit. Ein echtes Naturschauspiel.

Diesmal macht die Sonne es richtig. Ich fahre nach Osten, die Sonne geht im Osten auf, und ich fahre der Sonne entgegen. In den letzten Tagen hatte ich manchmal Zweifel an der Zuverlässigkeit der Sonne.

Kurz vor der Ausfahrt nach Venedig finde ich eine offene Tankstelle. Mit dem Tanken habe ich alles falsch gemacht. Obwohl ich es besser wusste, habe ich es verpasst, in Österreich zu tanken, weil ich in Deutschland noch einmal vollgetankt hatte. Das Benzin ist in Österreich billiger als in Deutschland und in Italien teurer als in Deutschland. Aber ich brauche Kleingeld – das Hotel hat mir die Tiefgarage nicht berechnet und damit meine Pläne durchkreuzt – und ich sehe mich schon ohne Benzin in irgendeiner verlorenen Ecke des Hafens von Venedig stranden. Jedenfalls habe ich jetzt die 7,90 klein, die ich an Mautgebühren bezahlen muss.

Der Tankwart hat auf meine Frage, wo es denn zum Hafen gehe, einfach „rechts“ gesagt. Die Wirklichkeit ist komplizierter. Die Beschilderung ist uneinheitlich, und es gibt einen Porto industriale und einen Porto turistico und einen Porto und einen Interporto. Außerdem kann man die Schilder wegen der Sonne oft schlecht erkennen. Einmal ziehe ich mir den Zorn eines Autofahrers zu, als ich im letzten Moment die Richtung ändere, einmal bleibe ich auf einem Kreisverkehr stehen und lasse ein anderes Auto vorbei.

Es geht durch ein verlassenes Industriegebiet, immer Richtung Porto. Irgendwann erscheint auch ein Schild mit Traghetto. Fähre. Dann kommt eine unendlich scheinende Fahrt auf einem Damm durch die Lagune von Venedig. Am Horizont sieht man weiße Kreuzfahrtschiffe erscheinen. Das sind sicher die falschen.

Man kommt dann über verschiedene „krumme“ Wege in den Abfertigungsbereich und steht schließlich vor einer Uniformierten an einer Schranke. Ich nenne mein Ziel, Patras. „Non è qui. E in Marghera“. Als ob ich es geahnt hätte. Ich folge den komplizierten Erklärungen und komme wieder auf den Damm über die Lagune. Das Problem ist nur, dass Marghera nirgendwo ausgeschildert ist. Ich habe aber ein zweites Mal gefragt und erfahren, dass ich erst mal Richtung Autobahn fahren solle. Das tue ich auch, aber je länger es dauert, umso mulmiger wird mir. Es geht über eine breite, mit Seitenplanken abgesperrte Straße, wo man nicht halten kann. Und selbst, wenn man es könnte, wäre keiner da, den man fragen könnte.

Dann kommt eine Bushaltestelle. Da steht ein Mann. Er weiß Bescheid: Dritto. Tatsächlich erscheint nach ein paar Kilometern das Schild Marghera. Aber: Wohin in Marghera? Ich lande irgendwie im Zentrum. Von Schiffen nichts zu sehen. Von Meer auch nicht. Wieder versuche ich es an einer Bushaltestelle. Erst ein Paar, dann eine Frau. Keine Ahnung.

Ich versuche es einfach in der anderen Richtung, immer geradeaus. Und für einen Moment sehe ich das Hinweisschild Anek Lines. Geradeaus. Gut. Dann kommt ein Schild Richtung Ferries, aber ich verpasse die Ausfahrt, wende und komme in ein abgelegenes Viertel, ohne jede Beschilderung. Ein alter Mann, der erst meine Frage nicht versteht, gibt mir unendliche Auskünfte, die mit den Schiffen nichts zu tun haben. Ich bedanke mich höflich und versuche es auf gut Glück in derselben Richtung wie vorher. Rechts eine Tankstelle, und eine ganze Gruppe mittelalter Männer, die Kanister füllen. Genau meine Zielgruppe. Die Erklärungen sind messerscharf und ganz klar, mit kleinen Gedächtnishilfen. Mille grazie. Tatsächlich komme ich jetzt, an einem Kreisverkehr und an großen Öltanks vorbei, zur Anlegestelle. Geschafft.

Hier muss man erst einchecken. Rechts steht eine lange Schlange von Lastwagenfahrern, lauter Griechen. Vor mir ist in unserer Schlange nur ein Ehepaar aus Bayern dran. Hier geht alles schnell. Dann kann ich die Schranke passieren und werde in eine Spur eingewiesen. Links von uns die Lastwagen, rechts die Wohnwagen. Darunter ein österreichisches Paar, älteres Semester, mit einem bunt bemalten Wohnwagen, mit Sonne und Palmenstrand und ganz lieben, etwas naiven Aussprüchen, Übriggebliebene der Hippiegeneration.

Nach all der Aufregung bedauere ich es jetzt fast, schon so früh hier zu sein. Aber die Regeln besagen ohnehin, dass man zwei Stunden vor Abfahrt einchecken muss. Ist auch verständlich. Wie viele Autos wohin kommen will gut kalkuliert sein. Aber der  Service hier ist nicht existent. Es gibt gerade mal Toiletten, aber keinen Kiosk, kein Geschäft, keine Informationstafeln oder sonst was. Nur Kaffee aus dem Automaten.

Dann setzt sich die Schlange in Bewegung, anderthalb Stunden vor Abfahrt. Ich erinnere mich an Studentenzeiten, als ich auf solchen Fähren nach England gefahren bin. Es geht ganz nach unten. Überall stehen Männer, die einen lautstark einweisen. Ist auch nötig. Eine Kurve ist so eng, dass keiner sofort herum kommt. Alle müssen zurücksetzen und es dann im zweiten Versuch machen. Am Schluss muss ich rückwärts in die allerletzte Ecke des untersten Decks einparken.

Letzte Gelegenheit, zu überlegen, was man mitnimmt und was man im Auto lässt. Ich nehme nur das Nötigste mit. Dazu gehört aber eine Decke – ich bin vor der nächtlichen Kälte gewarnt worden – und Müsliriegel und Tabletten, die einen in einen Dämmerzustand versetzen. Später stelle ich fest, dass die meisten anderen ganze Reisekoffer mit an Bord nehmen. Aber man muss auf das Zeug ja auch aufpassen.

Hier wird ordentlich abkassiert. Aber das ist ja auch verständlich. Das ganze Zeug muss erst an Bord geschafft werden, und es muss Personal da sein, das mit dem mobilen Arbeitsplatz einverstanden ist. Der Kaffee ist jedenfalls gut, und das Kuchenstück, das es dazu gibt – eine Art Baklavas, sehr griechisch, sehr süß, etwas feucht – ist hervorragend.

Nach ein bisschen Lektüre und ein bisschen Internet – für 3 € bekommt man 2 Stunden Zugang – esse ich in dem Selbstbedienungsrestaurant zu Abend. Als ich aufstehe, ist es schon dunkel. Den Sonnenuntergang habe ich gar nicht mitbekommen.

In dem Raum mit den Pullmannsitzen ist reichlich Platz. Ich mache es mir, dem Beispiel der anderen folgend, aus zwei Pullmannsitzen ein provisorisches Bett, mit dem Anorak als Kopfkissen. Das geht erstaunlich gut. Wieder schlafe ich fast einmal rund um die Uhr.

6. Oktober (Montag)

Als ich wach werde, ist es noch dunkel. Ich sehe ziemlich zerknautscht aus. Nach einer Katzenwäsche behelfe ich mir damit, dass ich meine Sachen in Ordnung bringe.

Draußen ist jetzt keiner. Es ist windig und es regnet, aber es ist überhaupt nicht kalt. Auf einer Seite sieht man am Horizont, dass es dämmert.

Drinnen saugt einer mit dem Staubsauger auf dem Rücken, wie einen Rucksack. Eine wunderbare Erfindung. Sollte es auch für privat geben. Staubsauger haben eine blöde Art, immer im Weg zu stehen.

Die Bar ist schon auf. Ich bestelle einen Kaffee und sehe im Fernsehen, dass es überall in Griechenland regnet – außer in Kreta. In Patras regnet es auch. Es ist aber überall ziemlich warm, so um die 20°.

Es gibt eine unendlich lange Reportage, mit Reportern vor Ort und zwei Moderatoren im Studio, über einen Massenunfall irgendwo in Griechenland, bei dem es 5 Tote und 10 Verletzte gegeben hat. Es sieht übel aus. Mehrere Lastwagen haben sich ineinander verschoben, und man sieht, wie Autos aufgeschnitten werden, um die Insassen zu bergen.

Ein Lastwagenfahrer setzt sich neben mich und fragt mich, ob ich Englisch spräche. Ob ich ihm erklären könne, was da passiert sei. Ich nenne ihm ein paar dürre Fakten, aber damit gibt er sich nicht zufrieden. Er will die Unfallursache wissen. Irgendetwas mit einer Mauer. Da muss ich passen. Unser Gespräch kommt nicht richtig in Gang, auch nicht, als ich ein paar Brocken Griechisch versuche. Dann stellt sich heraus, dass er kein Grieche ist, sondern Rumäne.

Er beginnt, mir die Welt zu erklären. Deutschland sei topp, starke Wirtschaft, Lokomotive, Autos, Merkel, 7:1 gegen Brasilien, deutsche Polizei streng, aber nicht bestechlich. Nur ein verstehe er nicht: Die Preise – dabei zeigt er auf das Bier, das vor ihm steht – seien dieselben in Deutschland und England wie in Rumänien und Griechenland, aber die Löhne nicht. Das sei nicht richtig. Am Für die Rumänen in Deutschland, die klauen, entschuldigt er sich. Die kämen einfach, weil sie arm seien. Der Islam sei gefährlich, die fangen mitten am Tag an zu beten, habe er selbst gesehen. Und die hätten auch die Twin Towers kaputt gemacht. Ich versuche ein paar Einwände zu machen und sage, wir hätten ein paar Millionen Muslime in Deutschland, die ausgesprochen friedlich seien. Dann lenke ich das Gespräch auf seine Arbeit.

Er hat im Lastwagen geschlafen. Er hat zwar eine Kabine hier auf dem Schiff, aber er muss unten irgendeine Batterie aufladen. Kopfschüttelnd erzählt er mir, dass die österreichischen Hippies, die er für Deutsche hält, draußen geschlafen hätten.

Er fährt jetzt nach Athen. Und dann? Dann weiß er noch nicht. Er bekommt an seinem Zielort immer erst Informationen, wohin es geht. Noch drei Wochen, dann hat er drei Wochen Urlaub. Er arbeitet für eine belgische Firma, die ihren Sitz in Brüssel und eine Niederlassung in Rumänien hat. Ich will wissen, wie er wieder nach Hause kommt. In einem Bully, mit acht Mann, von Brüssel nach Bukarest. 24 Stunden. Das sei ganz schön hart, aber danach wartete ja die Heimat auf ihn. Trotz seiner verqueren Weltsicht bin ich irgendwie gerührt, als ich mich von ihm verabschiede.

Gerne würde ich mehr über das Schiff erfahren: Wie viele Passagiere, wie viele Autos kann es mitnehmen? Es gibt eine Broschüre, aber in der steht nicht einmal, wann wir in Igoumenitsa, der Zwischenstation, ankommen. Im Nachhinein wird mir aber klar, warum die Beschilderung der Anek Lines in Venedig so miserabel war: Die Broschüre hat detaillierte Lagepläne für die Häfen von Patras, Heraklion, usw. aber nicht für Venedig. Stattdessen wird man darauf hingewiesen, sich vor der Abfahrt selbst zu erkundigen. Die italienischen Behörden änderten ständig und kurzfristig die Anlegestelle.

Inzwischen ist es hell geworden. Aber nicht so richtig. Das Meer ist grau, der Himmel ist grau. Die Lastwagenfahrer kommen noch nicht aus ihren Löchern, höchstens ganz vereinzelt. Warum sollten sie auch? Es ist gespenstisch leer auf dem vollen Schiff. Zur Zeit meiner Buchung waren schon alle Kabinen ausgebucht.

An der Theke sprechen mich zwei Syrer aus Dortmund an. Sie kommentieren den Preis der Zigaretten, die sie gerade gekauft haben: 2,70 €. Da spart man richtig Geld, wenn man ordentlich raucht. Ein Cappuccino kostet dagegen 3,20 €, und ist noch nicht einmal gut. In meinen Reisenotizen habe ich gerade gelesen, wie ich mich über 2,90 € für einen Kaffee am Flughafen in Zürich geärgert habe – vor elf Jahren, auf dem Weg nach Athen.

Dies ist meine achte Reise nach Griechenland, meine zweite nach Kreta. Die erste liegt aber schon mehr als zwanzig Jahre zurück. Da habe ich zum ersten Mal ein paar Notizen zu einer Reise gemacht, noch auf einer besseren Schreibmaschine mit einem kleinen Diskettenspeicher und einem Display, auf dem man sieben Zeilen sehen konnte. Ich war nach der Woche in Kreta mit den schwierigen Namen so durcheinander, dass ich durch die Notizen wenigstens festhalten wollte, in welchen Orten wir damals waren. Der alte Name von Heraklion war Candia, und das habe ich immer mit dem modernen Chania verwechselt. Außerdem, aber da schaffen auch die Notizen keine Abhilfe, verwechsle ich immer Chania und Rethymnon. Beide sind schöne Städte, beide in der Westhälfte Kretas.

Aus Langeweile lese ich mir die Notizen jetzt noch mal durch. Wir waren damals fast ausschließlich im Norden Kretas. Das ist auch einleuchtend für eine organisierte Reise: Die drei größten Städte, Heraklion, Chania und Rethymnon, liegen im Norden, ebenso Knossos. Und die beste Straße, die National Road, führt auch im Norden von West nach Ost. Wir waren aber auch in Phaestos und Gortys. Die liegen beide im Süden, westlich von Myrtos. Und in Orten, an deren Namen mir jetzt böhmische Dörfer sind: Aptera, Sitia, Toplou, Arkadi. Und wir haben, wie es sich für gute Touristen gehört, die Samaria-Schlucht durchwandert.

Die Fahrt auf dem Meer ist inzwischen rauer geworden. Hin und wieder gibt es einen richtigen Knall, so, als ob das Schiff auf ein Hindernis stieße. Aber es sind nur die Wellen. Außerdem gibt es keine Internetverbindung. Wir sind in einem Funkloch. Und vermutlich in Niemandsland. Wenn nicht, wüsste ich nicht, ob dies Italien oder Griechenland ist.

Gegen Nachmittag kommt Bewegung in die Sache. Auf einmal sehe ich mehr Passagiere an Deck als während der gesamten Reise. Dann kommt Land in Sicht. Flache, langgestreckte, kahle Berge, ohne jede Spur von Zivilisation. Wir nähern uns Igoumenitsa. Das befindet sich auf dem griechischen Festland, an einer Meerenge, genau zwischen dem unteren Ende der Adria und dem oberen Ende des ionischen Meers, gegenüber von Korfu, ziemlich am unteren, hinteren Ende des italienischen Stiefels. Die Strecke Ancona – Patras macht Zwischenstation in Korfu. Könnte was für den Rückweg sein. Aber wer denkt jetzt schon an den Rückweg?

Der ganze Pullmannraum leert sich schlagartig. Männer von der Besatzung kommen und nehmen eine Schnellreinigung vor. Jetzt sind auch wieder die begehrten Steckdosen frei, und ich kann Handy und Notebook aufladen.

Der Himmel ist immer noch grau, aber ganz hinten hellt es etwas auf. Und es regnet nicht mehr.

Um fünf Uhr sind wir wieder unterwegs. Ich gehe kurz raus und lasse mir den Wind um die Ohren blasen und mache ein paar Photos von dem Gischt auf dem grauen Meer, von den grauen, schwarzen und weißen Wolken und dem hellen Streifen am Horizont. Das hat was. Aber dann fängt es aber wieder an zu regnen, und ich flüchte nach innen. Dann kommt auch noch ein Gewitter, und bald ist es dunkel.

Die Fahrt zieht sich in die Länge. Und erinnert mich an Busreisen nach Spanien in der Studentenzeit. Die dauerten auch mehr als dreißig Stunden. Und dabei konnte man sich kaum bewegen. Da ist das Schiff die bessere Alternative. Die meisten waren genauso überrascht wie ich, dass die Fahrt so lange dauert, aber man unterschätzt die Entfernung: Es sind mehr als 1100 Kilometer Luftlinie von Venedig nach Patras! Mehr als ich bisher mit dem Auto zurückgelegt habe.

Die Fahrt zieht sich hin. Und zieht sich hin. Was immer ich auch tue, lesen, rausgehen, Photos ansehen, es kommt kein Land in Sicht.

Die Griechen sitzen vor den drei Fernsehern, wo eine Seifenoper läuft. Scheint witzig zu sein.

Ich mache noch ein paar Photos draußen. Das bestimmende Motiv sind die Wolken. Wie überhaupt auf der ganzen Fahrt. Oft ganz ungewollt. Ich photographiere ein Monument, und es wird ein gutes Photos wegen der Wolken im Hintergrund. Auf die ich gar nicht geachtet habe.

Die Lastwagenfahrer verschwinden allmählich zu ihren Fahrzeugen. Ich schleiche mich auch runter, aber das ist mein Deck nicht. Ich werde wieder nach oben geschickt. Da erkennt ein Paar aus Karlsruhe sieht mir meine Verwirrung an und erklärt, wo unsere Autos stünden. Sie wissen sogar, dass ich direkt vor ihnen stehe. Es sei noch viel zu früh zum Runtergehen.

Sie sind alte Hasen und Griechenlandkenner. Sie kennen auch Myrtos, aber andere Orte auf Kreta noch besser. Ich lasse mir die Gelegenheit entgehen, mir noch ein paar Tipps zu holen. Sie haben wegen der Verspätung beschlossen, heute am Strand zu schlafen. Hotel würde sich jetzt nicht mehr lohnen, für die paar Stunden. Ganz schön flexibel für solch ältere Herrschaften.

Als dann endlich Patras angekündigt wird, heißt es, wir sollten zu unserer eigenen Sicherheit noch weiter oben in der Lounge warten. Wir sind inzwischen die einzigen Passagiere auf dem „Gold deck“.

Als wir dann endlich nach unten kommen, sind unsere Autos auch die einzigen auf Deck A, dem untersten Deck. Man hat uns vermutlich dahin verfrachtet, weil wir die einzigen waren, die bis nach Patras mitgefahren sind. Außer Lastwagenfahrern und Fußgängern.

Beim Rausfahren gibt es ein ziemliches Durcheinander. Lastwagen setzen noch hin und zurück und fahren aus verschiedenen Spuren raus. Sie scheinen einen einzuquetschen. Wer hier Vorfahrt hat, ist nicht klar.

Es gibt keine Hinweisschilder. Also fahre ich einfach einem Lastwagen hinterher, der gerade vor mir fährt. Das erste, was ich auf griechischem Boden sehe, ist ein Lidl.

Es ist genau zwölf Uhr. Es waren anderthalb Tage auf der Fähre, 36 Stunden.

Durch die Dunkelheit geht es aufs Geratewohl in eine Richtung. Nach ein paar Hundert Metern kommt ein Hinweisschild Richtung Zentrum. Glück gehabt. Die Luft ist lau. Man kann mit offenen Fenstern fahren. Und man sieht auch noch ein paar Menschen auf der Straße und ein paar geöffnete Lokale. Gepriesen sei der griechische Tagesrhythmus.

Ich bleibe stehen und spreche einen Mann an, der gerade in einen Häuserblock abbiegt. Signomi. Er geht weiter. Ob er mich nicht gehört hat? Ich versuche es nochmal. Jetzt dreht er sich um. Ich stelle brav meine Frage, die auch einigermaßen fließend rauskommt. Er macht eine wegwerfende Handbewegung und geht weiter.

Ich fahre etwas weiter und frage den nächsten Passanten. Er scheint erst den Namen des Hotels, Achaia Beach, nicht zu verstehen. Dann aber erklärt er mir, wo es ist. Ich frage noch mal zur Sicherheit nach: Ja, an der zweiten Ampel rechts. Ich habe unaussprechliches Glück gehabt. Bei allen Wegen, die in Frage kommen, fast geradewegs zum Hotel!

Die zweite Ampel ist eine Fußgängerampel. Hier kann man nicht rechts abbiegen. Die nächste führt in ein Wohnviertel. Von Beach nichts zu sehen. Aber vielleicht ist es ja nur der Name. Andererseits sah das Hotel im Internet wie ein großer, moderner Bau aus. Der würde hier gar nicht hinpassen.

Ich komme an einen Platz, wo gerade ein junger Mann seinen Kiosk in der Mitte des Platzes schließt. Er nimmt kurz Rücksprache mit einer Frau, die noch in dem Kiosk sitzt und gibt mir dann genaue Auskunft.

Das erste Wort, das ich verstehe, ist Rio. Da denkt man normalerweise an was anderes, aber ich frage mich, woher der mein Auto kennt. Das steht hinter dem Kiosk. Dann begreife ich, dass er mir sagt, das Hotel sei nicht in Patras, sondern in Rio. Wenn man Rio hört, denkt man nicht unbedingt an Griechenland, aber genau das meint er. Er erklärt mir seelenruhig, ich solle hier oben rechts fahren und dann Richtung Athen, durch einen Tunnel durch und dann rechts abbiegen. Da sei das Achaia Beach, in Rio. Er spricht so wunderbar klar und deutlich, dass kein Zweifel bestehen kann, aber er sieht wohl mein verzweifeltes Gesicht und fügt beruhigend hinzu: Ist nicht weit, vielleicht zehn Minuten, fahren Sie ruhig. Besser kann man einem Fremden nicht helfen.

Halb beunruhigt, halb beruhigt, mache ich mich auf den Weg. Ich komme tatsächlich Richtung Athen, aber von einem Tunnel ist nichts zu sehen. Es geht immer weiter geradeaus, ich bin längst aus Patras raus. Das kann doch nicht richtig sein. Aber es besteht keine Wendemöglichkeit. Ich muss einfach weiter fahren. Dann bin ich plötzlich auf der Autobahn. Jetzt gibt es nur eins: nächste Abfahrt ab. Aber es kommt keine Abfahrt. Und es kommt keine Abfahrt und es kommt keine Abfahrt. Dann kommt ein Tunnel. Doch richtig? Dann kommt eine Baustelle: zwei Kilometer nur eine Spur. Ein Lastwagen vor mir, ein anderer hinter mir, und er hat ziemlich liberale Vorstellungen von Abstandhalten. Dann ist die Baustelle zu Ende. Es kommt noch ein Tunnel. Und noch ein Tunnel. Und dann kommt die Abfahrt: Patras. Was? Jetzt bin ich wieder da, wo ich herkomme?

Es geht auf einer einsamen, breiten Straße durch ein Industrieviertel. Dann kommen die ersten Anzeichen, dass es auf die Stadt zugeht. Eine Ampel ist rot. Zufällig sehe ich da ein Schild, auf dem Hotels steht. Rechts ab. Hat der Mann nicht gesagt, rechts ab? Ich biege rechts ab. Es ist eine kleine, unbeleuchtete Straße. Und dann kommt ein Schild: Achaia Beach. Ich folge dem Schild und es kommt – nichts. Ich muss ein weiteres Schild übersehen haben. Habe ich aber nicht. Ich bin richtig. Bald kommt ein weiteres Schild Achaia Beach. Ich folge ihm. Die Straße ist nur noch ein Weg. Man sieht nichts. Aber irgendwie hat man ein Gefühl von Meer. Und dann stehe ich am Strand. Auf Sand. Weiter geht es nicht. Durch die Büsche sieht man rechts Lichter. Ich setze zurück und fahre auf die Lichter zu: das Hotel! Achaia Beach!

Ich stelle mich auf den ersten besten Platz und gehe zur Rezeption. Ein sehr freundlicher Mann weist mich ein und teilt mir mit, wann das Frühstück ist. Er ist ganz davon angetan, dass ich versuche, Griechisch zu lernen, spricht aber selbst viel besser Deutsch.

Unter der Dusche zu stehen fühlt sich wie eine Erlösung an. Ich lege mich ins Bett und glaube, viel zu aufgedreht zum Schlafen zu sein. Nach zwei Minuten bin ich weg.

7. Oktober (Dienstag)

Am Morgen werde ich vom Regen wach. Er prasselt nur so auf Balkon und Dach.

Im Frühstücksraum sitzen zwei Griechen und eine ganze Herde von Leuten, die eine Sprache sprechen, die ich seit einer gefühlten Ewigkeit nicht mehr gehört habe: Deutsch. Dies ist ein reines Urlauberhotel, direkt am Strand.

Obwohl ich reichlich Zeit habe, mache ich mich früh auf den Weg nach Piräus. Erstens will ich unliebsame Überraschungen vermeiden, und wer weiß, wo sich die Anek Lines in Piräus versteckt, zweitens sind die Wetteraussichten für Piräus etwas besser.

Ich fahre noch mal ganz kurz zu der Stelle, wo ich gestern gelandet bin. Es ist wirklich direkt der Strand. Ich habe auf dem Sand gestanden, vor einer Strohhütte und neben übereinandergestapelten Liegestühlen.

Dem Gefühl folgend, lande ich auf einer Hauptstraße. Ich biege an einer Tankstelle ab. Das Benzin kostet etwa dasselbe wie in Deutschland. Aber es gibt einen Unterschied: Hier wird man bedient. Es soll ja Menschen geben, die so etwas schätzen. Man wird zu einer Zapfsäule herangewinkt und gleich bedient. Die freundliche junge Frau will mir das teurere Benzin verkaufen, aber ich lehne dankend ab. Sie kassiert auch gleich. Einen dicken Bündel Geldscheinen trägt sie lose in der Tasche ihres Overalls. Ich frage nach dem Weg und erfahre, dass es die andere Richtung ist. Bald kommen auch die ersten Schilder Richtung Athen.

Dann kommt eine Mautstelle. Hier in Griechenland wird vorher kassiert, und nicht von einem Automaten, sondern von einer Person: 2,50€. Hält sich ja noch in Grenzen. Dafür bekommt man aber auch nur eine einspurige Nationalstraße. Der Seitenstreifen wird, da, wo er existiert, als zusätzliche Spur genommen, und mir ist nicht immer wohl dabei, wenn ich überholt werde. Der Seitenstreifen endet manchmal abrupt und ist oft nicht befestigt. Da, wo man 60 km/h fahren muss, fahre ich 70 km/m, und ein Lastwagen fährt Staub aufwirbelnd an mir vorbei. Dann kommen Baustellen, eine nach der anderen, für mich jetzt schon ein vertrautes Bild, in allen vier Ländern.

Bei Kilometer 999 endet die Baustelle, und bei Kilometer 1000 hört es auf zu regnen. Bei Kilometer 1001 beginnt die nächste Baustelle. Dann kommt noch mal eine Maut. Und wieder folgen Baustellen.

Bei uns baut man ja vielleicht mal ein paar Kilometer, hier will man gleich hundert Kilometer Autobahn bauen, wie es scheint. Man sieht Baufahrzeuge, Bagger und Lastwagen, aber wenige Bauarbeiter.

Das Wetter ist weiterhin trübe. Die Vegetation ist ganz mediterran, mit Pinien, die sich bücken und biegen und Zypressen, die stocksteif und gerade dastehen. Dazu allerlei Kiefern und andere Nadelbäume. Ich sehe auf der ganzen Strecke keinen Laubbaum. Es ist aber ziemlich grün. Hin und wieder taucht rechts ein majestätischer Berg auf, mit grüner Kuppe, und hin und wieder taucht links das Meer auf.

Dann, auf der Höhe von Tripolis, beginnt plötzlich die Autobahn. Dreispurig, mit ebener Fahrbahn und guter Beschilderung.

Ich frage mich ob Tripoli, das ja vermutlich „Dreistadt‘ bedeutet, nach Tripolis im Nahen Osten abgeleitet ist oder umgekehrt, oder ob die Benennungen unabhängig voneinander entstanden sind.

Dann wird das Wetter besser und die Landschaft ändert sich. Die Berge sind schroffer und kahler, man sieht kaum noch einen Baum, nur noch Sträucher.

Bei Korinth kommt das Meer im Sonnenglanz voll zur Geltung. Man sieht sogar für einen Augenblick den berühmten, schnurgerade verlaufenden Kanal. Die Autobahn führt direkt über ihn her.

Dann wird noch einmal Maut kassiert, und dann kommt die Abbiegung Richtung Piräus. Jetzt wird es abenteuerlich. Die Beschilderung ist schlecht, auf kleinen Schildern, manchmal halb von Sträuchern verdeckt, und kommt oft erst im letzten Moment. Einmal lande ich an einer Tankstelle, weil ich zu früh abgebogen bin. Es gibt keine Beschleunigungsspur, und es ist kaum wieder auf die Schnellstraße zu kommen. Ich erinnere mich an eine ähnliche Situation in Deutschland vor ein paar Tagen. An der Ausfahrt von einer Raststätte, an der eine Baustelle war, stand ein Lastwagen und wartete darauf, dazwischen zu kommen. Hatte keine Chance. Beide Spuren waren voll. Es war überhaupt nicht abzusehen, wann er mal da raus kommen würde.

Dann bin ich plötzlich in einer Stadt, keine Ahnung, welche. Es geht meilenweit immer die kerzengerade Straße hinauf, zwischen parkenden Autos auf beiden Seiten. Dazwischen Mopeds, die rechts und links vorbeifahren, Autos, die einbiegen und Fußgänger, die die Straße überqueren. An beiden Straßenseiten sind Geschäfte, die Stadt ist rappelvoll, und die Beschilderung ist ganz verschwunden. Das kann doch nicht richtig sein, sage ich mir. Ich kann mir aber nicht vorstellen, wo ich eine Abbiegung verpasst haben könnte. Es geht immer weiter den Hügel rauf, und als ich fast oben angekommen bin, kommt wieder so ein Schild im allerletzten Moment: Piräus. Dabei sind wir doch vermutlich in Piräus. Aber soll mir gleich sein. Die enge Straße führt auf eine große, unübersichtliche Kreuzung. In der Ferne sieht man Schiffe. Die sehen ein bisschen zu gut für unsere Fähre aus, aber ich versuche es einfach mal. Als ich näher komme, steht auf einem der Schiffe tatsächlich ANEK. Irgendwie gelange ich in das Hafengebiet, habe aber das Gefühl, dass ich da gar nicht rein darf. Ich halte an dem Kiosk der Konkurrenz, Minoan Lines. Da zeigt man schroff auf das Schiff: Da hinten. Das hätte ich mir auch denken können. Ich gehe weiter und komme dann tatsächlich zu dem Kiosk von ANEK. Ich bin richtig hier. Und kann das Auto hier hinstellen.

Inzwischen ist es richtig schön. Ich packe die wichtigsten Dinge zusammen und gehe aus dem Hafengebiet hinaus. Dabei erwische ich ein wenig einladendes Viertel: heruntergelassene Eisenrollladen, leere Geschäfte mit schmutzigen Schaufenstern, Bürgersteige mit parkenden Autos und zerbrochenen Steinen, zwischen denen Gras wächst, einstürzende Dächer. Lauter dunkle Werkstätten und Verkaufshallen für Autozubehör, eine davon mit dem klingenden Namen Da Vinci. Dazwischen ein richtig gut aussehendes Fischgeschäft, ohne Fenster oder Tür.

Ich gehe an einer neobyzantinischen Kirche mit griechischer Flagge und gelber Flagge mit schwarzem Doppeladler zurück zur Anlegestelle.

Dort gibt es ein einfaches Lokal, mit ein paar einzelnen Tellern mit verschiedenen Gerichten, die aufgewärmt werden. Ich bestelle Pastitsio und griechischen Salat und Wein und Wasser und setze mich nach draußen auf die Terrasse, von einem großen Plane vor der Sonne geschützt.

Dann zieht sich die Sonne zurück, es wird kühler und es fängt an zu regnen. Und wie. Auch hier tut die Plane ihren Dienst. Zunächst noch. Dann flüchten alle nach Innen. Was jetzt runter kommt, ist die Sintflut. Ich erinnere mich unwillkürlich an andere Gelegenheiten, bei denen es so stark geregnet hat: in Florenz, mit herrlichstem Sommerwetter vorher und nachher – ich habe immer noch den Schirm, den wir damals gekauft haben – in Havanna bei der Suche nach einer Bank, in Bielefeld auf der Autobahn, als die Autos auf der Fahrspur stehen blieben, in Kamerun, in einem verlassenen Haus, nachdem die Familie plötzlich aufgebrochen war, um ein schreiendes Kind zum Arzt zu bringen, in Konz beim Stadtlauf, in der Sexta bei einem Fußballspiel, das 0:8 verloren ging, auf einem Zeltplatz in Barcelona, wo der Besitzer uns in der Küche übernachten ließ. Piräus kann sich da jetzt einreihen. In der Heimat schüttet es, nach einstimmigen Mitteilungen, ebenfalls. Schwacher Trost.

Dann geht es auf die Fähre. Hier geht es ganz anders zu als in Venedig. Keine Spuren, keine Einweiser, kein Kommando, dass es losgeht. Man soll einfach auf das Schiff fahren, irgendwann zwischen sechs und acht. Natürlich bin ich schon um sechs dabei.

Mit einem etwas flauen Gefühl fahre ich die steile Rampe auf das Schiff rauf. Es rumpelt unter dem Auto, von den vielen Metallmarkierungen auf dem Boden. Als ich oben ankomme, werde ich wieder zurückgeschickt: falsches Schiff. Es war mir gleich eine Spur zu vornehm vorgekommen. Es steht zwar Chania drauf, aber das muss ja nicht bedeuten, dass es nach Chania fährt. Tut es aber wohl.

Das Schiff nebenan ist richtig. Man wird erst rauf und dann runter geleitet. Ein Mann schreit unverständliche Wörter in verschiedenen Sprachen und fuchtelt wild mit den Armen herum. Als er noch lauter schreit, steige ich aus und sage ihm, es gebe keinen Grund zum Schreien. Ich sei zum ersten Mal hier und hätte keine Ahnung, wohin ich das Auto stellen müsse. Danach wird er etwas friedlicher, geht dann aber kopfschüttelnd von dannen, als er mich erledigt hat.

Hier ist es anders als auf dem anderen Schiff. Es gibt keinen getrennten Aufgang. Man geht einfach zwischen den einfahrenden Lastwagen her und bahnt sich dann den Weg nach oben.

Auf diesem Schiff ist alles anders. Es hat eine gediegenere Atmosphäre. Ein Heer von uniformierten Kellnern steht zur Begrüßung bereit, und einer leitet mich sogar zu meinem Liegesitz.

Auf diesem Schiff gibt es weniger Lastwagen und mehr private Passagiere. Es ist auch voller. Hier kann man die Lehnen zwischen den Sitzen nicht runterklappen und sich so ein Ersatzbett schaffen. Dafür wird von vielen der Boden als Schlafstelle genutzt.

Eine Großfamilie kommt rein und fragt mich nach meinem Sitz. Sie sprechen eine Sprache, die man hier eher nicht vermutet: Türkisch. Dann kommt eine ganze Sippe, die ebenfalls eine Sprache spricht, von der man kein Wort versteht, vielleicht Albanisch. Die Türken sind höflich, leise und rücksichtsvoll, die Albaner laut und ordinär.

In der Lounge hängen alte Werbeplakate, darunter eins, das Amerikaner nach Havanna lockt, mit einem tanzenden, leicht bekleideten Mädchen und dem Argument, dass es nur wenige Meilen von Key West entfernt sei. Das ist aus der Zeit vor der Revolution.

Im Gang hängt eine detaillierte Karte. Erst jetzt wird mir klar, warum man „umsteigen“ muss und die Schiffe nicht direkt von Venedig nach Piräus fahren: Man müsste um den ganzen Peloponnes herum. Oder durch den Kanal von Korinth. Aber der ist zu eng für die modernen Schiffe.

Schon in der Antike hat man versucht, dort einen Kanal zu graben, aber es ist bei Versuchen geblieben. Stattdessen hat man die Schiffe über das Land geschleppt, um nicht den ganzen Peloponnes umfahren zu müssen! Sagenhaft, wozu die Menschen damals schon in der Lage waren. Der Kanal macht den Peloponnes quasi zu einer Insel. Die Landenge hier war der einzige Landzugang vom Festland auf die Halbinsel. Daher die strategische Bedeutung von Korinth in der Antike.

Noch stellt sich keine Müdigkeit ein. Also gehe ich in die Bar. Ich bestelle ein kleines Bier und bekomme ein großes. Daraufhin bestelle ich noch ein großes. Danach kann ich schlafen.

8. Oktober (Mittwoch)

Bei einem Kaffee vor der Ankunft – wir haben eine knappe Stunde Verspätung – höre ich ein Gespräch zwischen einem englischen Paar, ein paar Tische weiter weg. Die beiden sprechen sehr leise, und ich verstehe kaum ein Wort. Trotzdem hört sich die Frau sehr englisch an. Da frage ich mich, ob man wohl aufgrund von stimmlichen Qualitäten zumindest einige Sprecher einer bestimmten Sprache zuordnen könnte. Dieselbe Frage habe ich Aber dann verzerrt man die Stimme eben. Man müsste es mit Sprachen machen, die man nicht kennt. Aber von deren Stimmen hat man dann auch keine Vorstellungen. Was wiederum dafür spricht, dass alles Einbildung ist. Trotzdem. Dass die Engländerin leise, die Griechin laut spricht, entspricht jedenfalls dem Klischee.

Die beiden sitzen vor einem Plakat des Benaki-Museums in Athen. Der Name des Museums erscheint in griechischer und lateinischer Schrift. Aber das moderne Griechisch hat keinen Buchstaben für /b/. Es ist frikatisiert worden: Aus dem klassischen beta ist ein vita geworden. Deshalb muss der Laut /b/ durch eine Buchstabenkombination wiedergegeben werden: μπ. Das wirkt sich auch auf die Aussprache aus. Es klingt immer so, als wenn man /mb/ sagt, als M-Benaki.

Längst sieht man die Lichter von Heraklion. Endlich kommt die Durchsage, dass man zu den Autos runtergehen sollte. Als ich vom Schiff fahre, um sieben Uhr, ist genau eine Woche seit dem Start in Koblenz vergangen. Ich bin in Kreta.

Kreta ist anders, griechisch und doch nicht griechisch. Kreta gehörte länger als Griechenland zum Osmanischen Reich, es war am Beginn des 20. Jahrhunderts eine kurze Zeit lang ein autonomer Staat,  und unter den Römern gehörte es zur Provinz Libyen. Afrika. Und die erste Hochkultur in Kreta, die der Minoer, gab es, bevor die ersten Griechen nach Kreta kamen.

In Heraklion weht ein laues Lüftchen. Man kann auch um diese Zeit schon mit offenem Fenster fahren.

Im Hafengebiet geht alles erstaunlich glatt. Es geht Richtung Agios Nikolaos. Das ist von Anfang an, vom ersten Kreisverkehr, an den man kommt, ausgeschildert. Es geht aus Heraklion heraus, auf eine gut ausgebaute Straße, und plötzlich ist Agios Nikolaos verschwunden. Unter den Alternativen sind Knossos und Archanes. Beides kommt mir falsch vor. Ich fahre rechts auf einen Feldweg, um in Ruhe die Karte zu studieren. Ausgerechnet in dem Moment kommt ein Auto hinter mir her und treibt mich weiter den Weg runter. Es gibt keinen Platz zum Wenden.

Als ich ihn los bin, sehe ich auf der Karte, dass Archanes durchaus richtig ist. Aber das ist der kürzere Weg, mit der schlechteren Straße. Für den Anfang habe ich den Tipp bekommen, den weiteren Weg über Ierapetra zu nehmen.

Ich fahre zurück und merke, dass ich wirklich eine Ausfahrt verpasst habe. Die Straße ist hervorragend. Es ist inzwischen hell geworden, die Sonne scheint, alles gut.

Dann wird, eher allmählich, aus der Schnellstraße eine Art besserer Landstraße, und dann bildet sich eine lange Schlange hinter einem Lastwagen. Dann kommt auch noch ein Bagger. Es geht im Schritttempo weiter.

Die Benzinpreise, merke ich am Rande, sind in Kreta noch höher. Sogar noch höher als in Italien.

Dann macht der Bagger Platz, und irgendwann ist dann auch die Gelegenheit, den Lastwagen zu überholen. Die Gegend ist sehr schön. Es ist erstaunlich grün.

Dann, in Agios Nikolaos, kommt das Meer, in der Sonne schimmern. An der Straße kleine, ruhige Urlaubsorte mit Angeboten in verschiedenen Sprachen. Hin und wieder sieht man Geschäfte, die Supermarkt heißen, aber nicht viel mehr als Tante-Emma-Läden sind. Irgendwo taucht eine alte Frau ganz in Schwarz auf. Man sieht sie noch, aber sie sind eine aussterbende Spezies.

Dann geht der Weg nach Ierapetra ab und führt vom Meer weg. Kurz vor Ierapetra kommt das erste Schild nach Myrtos, aber ich gerate irgendwie in den Ort hinein und muss nach dem Weg fragen. Kein Problem.

Norbert, Kreta-Experte, Ratgeber und Vermittler bei der Planung der Reise, ist durch seinen Bruder nach Myrtos gekommen. Der war mit einem Freund auf Kreta unterwegs, und nach vielen Herumreisen entschlossen sie, am nächsten Ort, der ihnen gefallen würde, zu bleiben: Myrtos.

Für die griechischen Städtenamen gibt es keine einheitliche Umschreibung. Ist es jetzt Myrtos oder Mirtos? Oder sogar Myrthos? Spielt vielleicht keine große Rolle, aber es kann schon mal passieren, dass man Ieraklion nicht findet, weil man es unter Heraklion sucht. Dazu kommt, dass sich die modernen Namen oft von den klassischen unterscheiden. Soll man denselben Namen benutzen, wenn man von antiken Tempeln spricht und wenn man von modernen Verkehrsproblemen spricht? Ich glaube, das erste Hinweisschild hatte Myrtos, aber sonst sieht man mehr Mirtos. Allerdings wird es auf Griechisch mit <y> geschrieben, Μυρτος, also bleibe ich auch auf Deutsch bei Myrtos.

Hinter Ierapetra geht es wieder ans Meer. Hier gibt es ganze Anlagen von Gewächshäusern, Gewächshäuser aus Holzgestellen mit hellen, undurchsichtigen Planen. Sie sind nicht gerade ein Schönheit, aber nicht so schlimm wie ich sie mir vorgestellt habe. Der letzte Ort vor Myrtos ist New Myrtos.

Es geht direkt am Meer entlang. Aus einer erhöhten Position sieht man auf die Bucht von Myrtos herunter. Ein schöner Anblick. Nicht nur deshalb mache ich noch einmal kurz Halt, sehe in Ruhe aufs Meer, atme durch und bin dankbar, dass alles gut gegangen ist. Eher zufällig entsteht dabei ein Photo, das dazu angetan ist, die arbeitende Bevölkerung in höheren Breiten neidisch zu machen.

Dann kommt das Ortseingangsschild. Noch mal ein Halt für ein Photo. Geschafft! 1300 Kilometer. Den größeren Anteil, ca. 1400 Kilometer, haben die Fähren.

Man kommt direkt in die engen Gassen des Ortes. Wohin jetzt? Irgendwo gibt es tatsächlich einen Hinweis auf einen Parkplatz. Damit ist wohl der Straßenrand am Ortsrand gemeint. Da lasse ich mein Auto.

Ich frage mich nach dem Kiosk durch. Es ist ein ganz kleiner Laden an einer Straßenecke, nur mit einem Schlitz, durch den ich eine Frau sehe. Das muss Dhespina, einer der beiden Töchter von Apostolos, dem Pater familias. Ich sage, wer ich bin und frage nach Villa Mare. Als er das hört, kommt einer der Männer, die am Kiosk stehen, auf mich zu und begrüßt mich ganz herzlich: Apostolos. Trifft sich gut. Er bietet mir einen Kaffee an und geht in das gegenüberliegende Lokal, um ihn zu besorgen. Der Kaffee wird serviert von Jana, aus dem Mirtos gegenüber. Die wird mir bei der Gelegenheit auch gleich vorgestellt. Inzwischen ist auch Maria eingetroffen, die Ehefrau von Apostolos. Sie spricht auch etwas Englisch. Apostolos spricht nur Griechisch, und das sagt er nicht ohne Stolz. Kommt mir gut zupass. Er ist Schreiner, aber auch Landwirt: Bananen, Rosinen, Oliven. Ich könne gerne mal zur Olivenernte mitkommen. Davon hat mir Norbert schon erzählt. Der ist gerade heute abgereist und ist jetzt gerade, wie Apostolos mir sagt, auf dem Flughafen in Chania. Er wird aber im Laufe der Zeit sicher hier noch auftauchen. Im Moment, erfahre ich, seien noch drei Freunde von Norbert hier: Monika, Barbara und Kunde. Ich frage noch mal nach, aber es bleibt bei Kunde. Das muss Günther sein.

Apostolos will wissen, wie lange ich bleibe. Ich antworte etwas ausweichend: Mal sehen, kommt drauf an. Ich will mich nicht allzu sehr festlegen.

Apostolos muss wegen eines Auftrags nach Ierapetra und bietet mir an, vorzufahren und mir den Weg nach Villa Mare zu zeigen. Wie alle Einsprachigen, hat er wenig Verständnis für die Schwierigkeiten von Ausländern mit der Sprache, und als ich ihm an einer Ecke folgen will, steigt er aus und zeigt fast verzweifelt nach oben: Da rauf!

Die kleine Straße mit Fahrrinnen führt ganz steil nach oben. Als ich halb oben bin, kommt schon ein sehr freundlicher junger Mann auf mich zugelaufen und weist mich ein – auf Deutsch. Ich bin auf halber Höhe zum Stehen gekommen, und jetzt tut der Rio sich schwer damit, wieder in Gang zu kommen. Die Räder drehen auf dem Sand durch, das Gewicht zieht den Wagen nach hinten. Dann geht es doch aufwärts. Ich soll bis ganz nach oben fahren, dort wenden und dann wieder herunterkommen. Dann kann ich gleich vor dem Haus parken. Als das auch bewältigt ist, gibt es noch eine Korrektur. Räder nach rechts. So machen es alle hier. Wenn ein Wagen sich löst, rollt er gegen die Mauer und nicht nach unten.

Der junge Mann bietet seine Hilfe beim Ausladen an. Das Zimmer ist noch nicht fertig. Aber wir können die Sachen schon mal in den kleinen Innenhof schaffen, eigentlich eher ein Vorhof. Der ist sehr schön, mit einer Pergola mit dichtem Bewuchs als Schattenspender über uns. Dann kommt Zoe, die zweite Tochter von Apostolos. Sie kümmert sich um Villa Mare, zusammen mit ihrem Freund. Der hat in Deutschland gelebt, in Wuppertal, und hat noch Verwandte in Velbert. Er spricht fließend Deutsch. Auch die kleinere der beiden Töchter lernt in der Schule jetzt Deutsch.

Dann schaffen wir die Sachen hoch. Wie in Patras ist die Dusche wieder wie ein Geschenk des Himmels. Das Zimmer ist winzig und sehr einfach. Allerdings soll ich noch das danebenliegende Zimmer dazu bekommen, sobald es frei ist.

Danach sehe ich mir den Ort an. Der ist wirklich sehr hübsch, sehr grün. Er besteht eigentlich nur aus den anderthalb Straßen des Ortes und der Strandpromenade. Da reiht sich ein Lokal ans andere, vielleicht sieben oder acht. Vereinzelt sitzen Gäste in den Lokalen, einige schon beim Bier. In einem Café sitzen auch ein paar griechische Männer, mit kurzen Hosen! Ob es Einheimische sind? Oder griechische Touristen? Das typische, meist dunkle Kafeneion, wo Männer, meist ausschließlich Männer, stundenlang sitzen und diskutieren und Tafli spielen, gibt es hier an der Strandpromenade sowieso nicht, aber auch im Zentrum sehe ich höchstens eins, das diesem Typ entsprechen könnte.

Myrtos ist zwar ein touristischer Ort, aber keiner für die großen Reiseunternehmer. Der Flughafen ist zu weit, und für große Hotels ist einfach kein Platz. Die meisten Urlauber sind Paare oder Einzelreisende, meist Deutsche, Holländer, Franzosen, Engländer. Die bleiben aber, wie Maria mir erklärt hat, nur bis Ende Oktober. Dann ist die Reisesaison zu Ende.

Auf der Hauptstraße gibt es auch Lokale, aber auch ein paar Geschäfte für die Einheimischen und zwei sogenannte Supermärkte für Einheimische und Touristen. Die haben vollgepfropfte Regale mit ganz engen Gängen dazwischen. Ich kaufe ein paar Sachen und gehe dann noch, vom Geruch angelockt, in die Bäckerei. Man sieht auf den ersten Blick nur Plätzchen, aber in einer anderen Vitrine gibt es auch pita, die griechischen Pasteten, und auf die habe ich es abgesehen. Ich nehme eine tiropita und dann auf Empfehlung noch eine spanakotiropita, mit Käse und Spinat.

Als ich von einem ganz kurzen Mittagsschlaf aufwache, bin ich völlig orientierungslos. Ich weiß nicht, in welchem Land ich bin, nur, dass ich in einem Zug bin.

9. Oktober (Donnerstag)

Als ich wach werde, höre ich fröhlich kreischende Kinder. Die Stimmen kommen von einer Grundschule, die sich genau unterhalb der Wohnung befindet. Später höre ich die Kinder beten und später, als ich in den Ort runtergehe, auf dem kleinen Schulhof herumtoben.

Ich ziehe die Laufschuhe an und versuche, eine Strecke zu finden. Gar nicht so einfach. Wälder gibt es nicht, und eine Straße, die von der Wohnung aus ortsauswärts führt, ist nach ein paar Metern zu Ende. Ich laufe ein bisschen durch den Ort. Das bringt es nicht. Es findet sich keine Strecke, und die Einheimischen gucken einem verständnislos nach. So was ist nur was für die verrückten Touristen. Auch die Strandpromenade ist keine gute Alternative. Dann entdecke ich eine Straße, zwischen Wohnung und Meer, die aus dem Ort herausführt. Der Beschilderung zufolge führt sich zu einer archäologischen Ausgrabungsstätte.

Der Bürgersteig endet am Ortsende. Von da an geht es am Rande der unbefestigten Straße entlang. Mir begegnen in der ganzen Zeit aber nur wenige Autos. Und die fahren ganz vorsichtig.

Eine Radfahrerin fährt an mir vorbei, auf einem Mountainbike, mit Helm. Das ist angesichts der Straße wirklich angesagt. Später kommen zwei Männer, ohne Helm. Die teilen meine Aversion gegen das Helmtragen. Offensichtlich sind alle drei Urlauber. Das Fahrrad ist kein Verkehrsmittel hier. Den Reiseführern zufolge ist Kreta kein gutes Terrain fürs Radfahren. Zu gefährlich. Unter Motorradfahrern gilt es als Geheimtipp.

Ich überhole eine junge Frau, die offensichtlich auf dem Weg zu einem Strand ist. Sie will vermutlich einen für sich alleine haben. Über zu viel Andrang kann man sich in Myrtos nicht beklagen. Am Ortsausgang gibt es ein paar Strände mit Liegestühlen, aber das ist alles sehr bescheiden. Auf der Strecke sehe ich dann noch ein paar einsame Buchten, aber ich kann mir nicht vorstellen, wie man über die steilen Felsen da überhaupt hinkommen kann.

Der Sand ist dunkel, anthrazit, manchmal bräunlich, an einigen Stellen richtig schwarz. Ist das vulkanisch?

Ich bin erst um halb neun losgelaufen, und es ist fast schon zu warm zum Laufen. Schatten gibt es überhaupt keinen. Die Vegetation ist sehr karg, kaum einmal ein Baum. Ein paar dornige Sträucher, ein paar Gräser, das ist alles. Es sieht auch alles sehr ausgetrocknet aus. Wenn der Regen kommt, und der kommt im Winter ganz ordentlich, nutzt das auch nicht viel. Durch die Erosion kann der Boden das Wasser nicht aufnehmen, und es läuft einfach wieder ins Meer. Hier hat man, wie woanders auch, jahrhundertelang die Bäume abgeholzt. Holz brauchte man für alles: Häuser, Schiffe, Brennmaterial, Kriegsgerät. Im Nord- und Osteuropa waren die Wälder vermutlich so groß, dass ihnen das nichts anhaben konnte, und in Deutschland hat es schon im 18. Jahrhundert ein großes Programm zur Wiederaufforstung gegeben. Sehr weitsichtig. Dem verdanken wir unsere Wälder.

Entschädigt wird man hier durch das Meer auf der einen Seite, in dem die Sonne glitzert, und die hohen Berge auf der anderen Seite, häufig mit quer in Schichten aufgeteilten Felsen. Wunderbar. Und wenn man genau hinsieht, kann man auch in einen kräftigen Dornenbusch Schönheit entdecken. Oder in einem Baum, der einsam oben auf einer gerade geschnittenen Felskante steht.

Nach einer Kurve hört die Asphaltierung der Straße auf. Sie wird zu einem Schotterweg. Jetzt bloß nicht fallen! Dann kommt aber wieder Asphalt.

Dann komme ich tatsächlich zu einem Ort: Tertsa. Am Ortsschild mache ich kehrt. Mehr als genug für den ersten Tag.

Nach dem Laufen spreche ich kurz mit Zoes Mann. Ich habe seinen Namen nicht aufgeschnappt. Kein Wunder, ist auch nicht gerade ein Nikos oder ein Kostas. Er heißt Charalampos, ‚Freude ausstrahlend‘, ein sehr passender Name.

Dann gehe ich in den Ort. Oberster Punkt auf der Einkaufsliste: Wasser. Außerdem gehe ich noch mal in die Bäckerei und lasse mir noch zwei weitere pita empfehlen, eine mit Käse, eine mit Hähnchen. Als ob sie mir die Frage von den Augen abliest, empfiehlt mir die junge Frau ein Lokal, weiter unten. Es heißt Akti. In dem Moment kommt ein junger Mann in die Bäckerei, ein moderner Adonis, und wechselt ein paar Worte mit dem Mädchen.

Ich mache mich gleich auf die Suche nach dem Akti, aber ich kann es nicht finden. Es soll das letzte Lokal auf der Straße sein, aber das ist das Platanos, über das ich auch schon in verschiedenen Foren gelesen habe. Genau in dem Moment kommt mir der Adonis entgegen, auf dem Rad. Ich halte ihn an und frage ihn nach dem Akti. Das sei am Strand, sagt er mir, das letzte Lokal auf der Strandpromenade.

Ich gehe hin und erinnere mich, dass mir das Lokal schon beim Laufen aufgefallen war. Es ist modern und sieht weniger einladend aus als die anderen, hat aber viel günstigere Preise. Es ist kein Mensch da. In dem Moment kommt eine gebückte alte Frau, ganz in Schwarz, aus dem Lokal. Ich frage sie, ob geöffnet ist, und sie sagt, sehr freundlich, ja, der junge Mann komme gleich. Und der kommt dann wirklich. Und wer ist es? Adonis! Jetzt sehe ich die Verbindung.

Ich bestelle einen Frappé und bekomme eine Flasche Wasser dazu und dann noch ein sehr leckeres, kleines Gebäck, auch aus der Bäckerei, alles inklusive. Es ist süßlich, hat einen schwierigen Namen, den ich schon wieder vergessen habe, als er ihn ausgesprochen hat, und ist besonders typisch für Ostern. Davon sind wir allerdings weit entfernt.

Der junge Mann heißt Manos. Er ist der Besitzer des Akti. Am Morgen macht er so gegen halb elf auf. Er hat in erster Linie Getränke. Auch den Winter über hat er geöffnet.

Auf dem Rückweg gehe ich noch einmal ganz langsam durch den Ort bis zum Ortseingang. Da stehen Schilder mit der Beschreibung von Wanderwegen von Myrtos aus. Es gibt auch geführte Wanderungen.

Überall laufen herrenlose Hunde herum, und die Katzen liegen wie tot im Schatten von Autos und Mülleimern.

Im Zentrum, gleich unterhalb von Villa Mare, gibt es einen einsamen, baumbestandenen Platz mit einer kleinen, alten Kirche und dem Museum des Ortes, mit eingeschränkten Besichtigungszeiten. Ein dicht bewachsener, großer Baum hat herunterhängende, gelbe Blüten. Am anderen Ende steht das Gegenstück dazu, ein Krüppel, der sich aber tapfer hält. Aus dem geraden Baumstamm biegt ein einziger lebendiger Ast nach schräg nach oben ab. Ein anderer Baum hat kleine gelbe, kugelartige Früchte, und ein anderer hat herunterhängende Zweige, wie eine Trauerweide. Der Ort ist wirklich erstaunlich grün, und das macht einen Teil seines Scharms aus. Im Zentrum sind es meist Bougainvillea, die die Fassaden schmücken, die meisten rot blühend.

Vom Balkon aus sehe über einige Dachterrassen mit Zisternen und Antennen auf das Meer. Davor das dicht bewachsenen Dach der Pergola von Villa Mare und – als Erinnerung daran, wo ich bin – die griechische Flagge von der Schule.

Am Nachmittag habe ich kurz Gelegenheit, in das andere Zimmer zu gucken. Da sind im Moment noch die Freundinnen von Norbert untergebracht, aber die reisen heute ab. Ich sehe zu meiner Erleichterung, dass es hier auch Kochgelegenheiten gibt, erfahre aber von ihnen, dass es die auch oben, im obersten Stockwerk, vor der Terrasse, gibt. Das ist eine Gemeinschaftsküche. Und die Terrasse oben ist auch für alle. Gut zu wissen.

10. Oktober (Freitag)

Als ich wach werde, ist es noch dunkel. Die Tage sind relativ kurz. Es wird erst nach sieben hell, und abends um sieben wird es wieder dunkel. Im Moment ist der Unterschied zu Deutschland und Kuba relativ klein, aber die Tage sind jetzt schon wieder ein bisschen länger als in Deutschland und ein bisschen kürzer als in Kuba.

Im Internet lande ich auf einer Seite, auf der eine Reiseagentur Reisen nach Kairo, Tel Aviv, Amman usw. anbietet. Unter den Reisezielen befindet sich auch ein Ort namens Βηρυτος – Viritos. Ich muss auf die englische Seite gehen, um herauszufinden, was das ist: Beirut.

Ebenfalls im Internet suche ich nach Spetses, einer Insel unter einem östlichen Zipfel des Peloponnes, gar nicht weit von Athen. Spetses ist wohl ein klassisches Urlaubsziel für Griechen und kommt in jedem Lehrbuch vor. Und dort spielt eine der Geschichten für griechische Lerner, durch die ich mich in diesen Tagen hindurchkämpfe, eine am Tag. Der Name Spetses kommt aus der Zeit, als die Insel von Venedig kontrolliert wurde und ist die korrumpierte Form von Isola delle spezie, ‚Gewürzinsel‘.

Dann geht es zum Strand, oder vielmehr ins Wasser. Es verlieren sich vier, fünf Personen am Strand und zwei, drei im Wasser. Etwas abseits macht eine elastische junge Frau Gymnastik, jedenfalls sieht es so aus. Aber es scheinen eher spirituelle Übungen zu sein. Sie stellt sich aufrecht, mit gefalteten Händen und blickt aufs Meer. Dann setzt sie sich, ebenso stockgerade, mit übereinandergeschlagenen Beinen, in Buddha-Haltung, auf den Boden und bleibt unbeweglich so sitzen. Später sehe ich sie schwimmen, mit starken, athletischen Armbewegungen.

Das Wasser ist klar, absolut durchsichtig, man sieht jeden Stein. Am Anfang ist es, wie immer, ein bisschen kalt, aber das lässt bald nach.

Am Strand stehen ein paar Umkleidekabinen einer Privatpension. Statt der üblichen Verbote steht dran: Beach Café. Changing rooms. Free for every body. Mit vermutlich unbeabsichtigtem Wortspiel.

Etwas oberhalb ist ein Schild, das darauf aufmerksam macht, dass im Sommer Caretta Caretta, Meeresschildkröten, hierher kommen, um ihre Eier zu legen. Wenn man welche entdeckt, soll man sich an die Gemeinde wenden, damit sie geschützt werden.

Ganz oben, oberhalb des Ortes, auf dem Berg, zum Meer ausgerichtet, sieht man eine Apartmentanlage. Das muss Mitropolis sein. Ich habe mich dieser Tage einmal in diese Richtung verirrt. So lernt man Orte kennen.

Ich gehe zum Akti, um einen Frappé zu trinken und dann zum Kiosk von Despina. Sie begrüßt mich überaus freundlich und fragt als erstes, ob ich schon am Strand war. Glück gehabt, ich kann bejahen. Im Wasser? Ja, im Wasser. Ich will zwei Ansichtskarten kaufen, aber sie besteht darauf, dass ich nicht bezahle. Eine sehr schöne Geste.

Ich muss mir überlegen, was ich dieser Tage mal hier kaufen kann. Briefmarken gibt es gegenüber.

Mein zweites Zimmer ist inzwischen fertig. Es ist geräumiger als das andere. Zoe und Charalambos bemühen sich rührend, mir zu helfen und alle meine Wünsche zu erfüllen. Nur für das Wäschewaschen gibt es keine einfache Lösung. Ein Waschsalon in Ierapetra hat kürzlich geschlossen. Und Reinigungen scheint es nicht zu geben. Die Antwort heißt: Mit der Hand waschen. Elegant braucht man ja hier nicht zu erscheinen.

Dann fahre ich nach Ierapetra. Ich fahre einfach so drauf los und habe mir keine Gedanken darüber gemacht, wie ich aus dem Ort raus und wie ich wieder rein komme. Beides klappt nicht auf Anhieb. Besonders bei der Rückkehr gibt es ein paar Situationen, wo Zentimeterarbeit erforderlich ist, wenn sich zwei Autos begegnen. Gott sei Dank sind alle sehr rücksichtvoll.

Auf dem Weg nach Ierapetra sehe ich einen Afrikaner am Wegesrand, mit langer Kutte, Fahrrad und Handy. Er schiebt das Fahrrad – die Straße steigt unablässig an – und hat das Handy unter die Schulter geklemmt, da er beide Hände zum Schieben braucht. Schönes Bild.

Ich frage mich, warum Kreta nicht, wie Sizilien, Anlaufpunkt für die Flüchtlinge aus Afrika ist. Liegt vielleicht nicht so günstig.

In Ierapetra stellen sich keifende Hunde mitten auf die Straße und weichen auch nicht aus, wenn Autos kommen. Sie scheinen nicht zu ahnen, dass im Zweifelsfall das Auto der Stärkere ist.

Ich gehe zuerst zu Lidl. Das mit den Einkaufswagen funktioniert hier ohne Münzen. Das Resultat: Die Einkaufswagen stehen auf dem ganzen Gelände rum. Den Menschen ist nicht zu helfen.

Bei Lidl finde ich längst nicht alles, was ich suche. Sahne scheint es nicht zu geben, und saure Sahne auch nicht. Macht nichts. Dann wird eben gegessen, was hier gegessen wird. Aber auch die Sachen für die Wohnung finde ich nicht.

Ich bezahle mit Geldkarte. Das ist hier nicht so gängig, wird aber akzeptiert. Und klappt dann auch im zweiten Anlauf. Es ist ein Experiment. Ob es sich rentiert? Oder ob es besser ist, einen größeren Betrag abzuheben und dann bar zu bezahlen?

Ich gehe in ein Café und schaue mich ein bisschen im Zentrum um. Das Zentrum des Zentrums ist gar nicht so leicht zu finden. An der Uferpromenade ist alles eine Nummer größer als in Myrtos. Es gibt Cafés mit großen Terrassen und Souvenirgeschäfte, in denen es alles gibt, was man nicht braucht – zu überhöhten Preisen.

Hier gibt es auch eine ganze Reihe von Banken sowie Reiseagenturen, vor allem Agenturen für die Fähren, in alle möglichen Richtungen. Auch auf einer südlich von Kreta liegende Insel, Chrissi, geht es von hier aus. Dahin kann man sich im Winter flüchten, wenn es einem hier zu kalt wird.

Die griechischen Wörter für Bank und Tisch, τραπεζα und τραπεζι, ähneln sich, beide scheinen etwas mit Trapez zu tun zu haben (was früher vielleicht einfach ‚Rechteck‘ bedeutete). Wie bei uns also eine Verbindung zwischen Möbelstück und Kreditinstitut. An den Tischen und Bänken wurden früher die Geschäfte gemacht.

In Ierapetra begegne ich auch meinen ersten Chinesen auf Kreta. Was betreiben sie? Natürlich ein Geschäft. Dort gibt es allerhand Ramsch. Aber auch hier finde ich nicht, was ich suche.

Ich setze mich wieder ins Auto und trete die Rückfahrt an. Dann komme ich an einem Spar vorbei. Hier finde ich alles, was ich gesucht habe, von Streichhölzern bis zur Wäscheleine. Dabei sind auch entsetzlich hässliche Sitzkissen für die Stühle auf dem Balkon – die letzten vier. Es stellt sich aber heraus, dass sie einen guten Verschlussmechanismus haben, besser als alle anderen, die ich kenne.

Auf dem Rückweg fällt mir der Unrat am Wegesrand mehr auf als vorgestern. Vor allem all das Plastikzeug fällt unangenehm auf, von Flaschen über Tüten bis zu abgerissenen Teilen der Planen der Gewächshäuser. Der Blick hinunter auf die Bucht von Myrtos ist aber wieder die reinste Wonne.

Zuhause spüle ich dann ein paar Sachen durch und betätige den Wasserkocher. Der hat schon bessere Zeiten gesehen, funktioniert aber. Dann kann ich mir zum ersten Mal eine Tasse Tee machen.

Als ich bei dem spartanischen Abendessen kurz aufstehe und in das andere Zimmer gehe, stoße ich dort auf eine Katze. Vermutlich vom Essen angelockt. Ich verscheuche sie, und sie zieht Leine. Katzen haben es gut. Sie können, auf leisen Pfoten, überall auftauchen, ohne bemerkt zu werden, und können ebenso gut verschwinden, ohne, dass man ihnen was anhaben kann. Und sie kommen überall hin. Natürliche Feinde scheinen sie nicht zu haben. Iltisse und Füchse fressen Hühner, aber wohl keine Katzen. Und die Hunde machen viel Aufsehen, sind aber keine echte Gefahr.

11. Oktober (Samstag)

Am Morgen sehe ich, dass ich über Nacht Besuch bekommen habe: Auf einem Balkonstuhl haben es sich auf dem hässlichen Sitzkissen gleich drei Katzen bequem gemacht.

Ich verschicke meine ersten beiden Ansichtskarten, eine davon an das Reisebüro, das alles organisiert und gebucht hat. Das Porto beträgt 60 Cent, viel mehr als bei uns. Die Briefmarken sind schön und ansehnlich. Der Briefkasten sieht nicht sehr vertrauenerweckend aus. Er ist verbeult, und es gibt keine Zeitangaben zur Leerung.

Die Müllabfuhr kommt nicht zu den einzelnen Häusern im Ort. Dafür wäre es vermutlich auch viel zu eng. Man wirft den Müll einfach in die am Ortsrand stehenden, großen Mülleimer.

Ein Geschäft, vor dem es besonders viele Bougainvillea gibt, heißt auch gleich so: Βουκαμβιλια. Hier gibt es Olivenöl, Kosmetik, Schmuck, Honig usw. Alles auf natürlich gemacht. Der typische Laden einer nordischen Auswanderin, die den Urlaubern ihren teuren selbstgemachten Kram andreht.

Wieder zuhause auf dem Balkon höre ich einen Lautsprecherwagen durch den Ort fahren, einen Verkäufer. Ich verstehe nur einzelne Wörter: Ελατε, ‚Kommen Sie‘, έχω, ‚ich habe‘, φρέσκο, ‚frisch‘. Aber was er hat, verstehe ich nicht. Das erinnert mich an die Lotterieverkäufer in Madrid. Plötzlich, eines Tages, verstand ich alles, was sie riefen. Jede Silbe. Bis dahin war alles Kauderwelsch gewesen. Es ging übergangslos, von einem Tag auf den anderen, und ohne fremde Hilfe.

Am Abend zuvor habe ich bei dem Versuch, die Wäscheleine zu entknäueln, Schiffbruch erlitten und am Ende aufgegeben. Statt einer Leine hatte ich ein Knäuel, das noch unlösbarer war als ursprünglich. Jetzt versuche ich mich nochmal daran. Eins ist sicher: Wenn Deutschland lauter Techniker wie mich hätte, wären wir ein Entwicklungsland. Nachdem das Knäuel zu einer Leine geworden ist, kommt die nächste Herausforderung: Die Leine zu einer Wäscheleine zu machen, mit den beiden Stangen der Markise als Fixpunkte. Am Ende hängen einige Stränge straff, andere schlaff kreuz und quer in der Gegend herum.

Dann kann ich mich der Wäsche widmen. Handwäsche. Da weiß man die gute, alte Waschmaschine zu schätzen. In der Wäsche befinden sich auch Socken. Die werden hier vorerst wohl nicht zum Einsatz kommen. Weniger Wäsche. Das ist tröstlich. Das Beste ist der Trockner, die griechische Sonne – gratis und effektiv.

In der griechischen Kurzgeschichte lese ich von einem Detektiv, dem nach einem ereignisreichen Tag tausendundzwei Bilder, χίλιες δυο εικόνες, durch den Kopf gehen, offensichtlich eine Zahl, die einfach für ‚viel‘ steht.

An die griechische Tastatur muss man sich erst gewöhnen, aber man sieht auch, wie viele Gemeinsamkeiten es gibt. Schließlich ist das lateinische Alphabet vom griechischen abgeleitet. Eine Schwierigkeit löst der Computer von alleine: Es gibt nur eine Taste für den Buchstaben, der unserem <s> entspricht, obwohl der im Griechischen zwei verschiedene Formen hat: <σ> <ς>. Wenn der Buchstabe am Wortende erscheint, ändert der Computer ihn automatisch in die zweite Form um!

Die Kurzgeschichte von heute heißt Το μοντελο που ηξερε πολλα – Das Model, das viel wusste. Das hat man das Gefühl: Da fehlt was. Im Deutschen. Es müsste heißen: Das Model, das zu viel wusste. Und so müsste man es auch übersetzen. Im Griechischen gibt es kein richtige Entsprechung für zu. Man sagt viel oder sehr viel und impliziert damit, in bestimmten Zusammenhängen, zu viel.

Nach der Lektüre widme ich mich der Küche. Da ist alles von einer leichten Schmutz- und Fettschicht überzogen. Jede Schublade, jeder Griff, jeder Löffel, jedes Glas ist fällig. Danach ist es zwar immer noch nicht gut, aber auf jeden Fall besser.

Bei der Putzaktion höre ich „Eine Halligfahrt“, eine Kurzgeschichte von Storm. Eine Frau, die zum ersten Mal von ihrer Hallig herunterkommt, wundert sich: „Mein Gott, ist die Welt doch groat. Und es jifft uck noch en Holland!“ Am Anfange der Erzählung sagt Storm, früher sei die Küste so dicht von Eichenwäldern besetzt gewesen, dass ein Eichhörnchen ohne Mühe von Ast zu Ast springen konnte, ohne den Boden zu berühren. Ist das romantische Verklärung der Vergangenheit oder stimmt das? Es ist jedenfalls, bis in den Vergleich zu den Eichhörnchen, genau das, was man über das mittelalterliche Spanien sagt – in Spanien.

Inzwischen habe ich herausgefunden, dass es nicht nur einen, sondern gleich drei kretische Vereine gibt, die in der höchsten griechischen Klasse spielen, einer aus Chania, zwei aus Heraklion. Sie kämpfen allerdings alle gegen den Abstieg. Der Club aus Chania ist ein Neuling, die beiden anderen, traditionelle Rivalen, sind schon länger oben mit dabei. Die Rivalität hat politische Hintergründe: Während der Militärdiktatur wurde bestimmt, jede Stadt dürfe nur noch einen Verein in der höchsten Liga haben. Da OFI in der Spielzeit höher stand, musste Ergatelis absteigen – und OFI konnte sich gleich bei Ergatelis bedienen und dessen beste Spieler verpflichten!

12. Oktober (Sonntag)

Erster Sonntag in Myrtos. Diesmal wache ich früher auf. Es ist noch kühl. Man hört Vögel gleich in der Nähe singen, und in der Ferne krähen Hähne. Die Katzen haben es sich wieder auf dem Stuhl bequem gemacht. Ich lasse sie, wo sie sind und gehe auf den anderen Balkon. Wohl dem, der’s hat.

Wo war ich eigentlich letzten Sonntag? Ich muss erst überlegen: Auf dem Weg von Verona nach Venedig, zur Fähre.

Heute ist ein historisches Datum, Tag der Entdeckung Amerikas. Ich habe dieser Tage noch gelesen, bei García Márquez, dass der Name Kolumbus – im Spanischen Colón – ganz unmittelbar colonialismo assoziiert. War mir bis jetzt nie bewusst geworden. Für García Márquez ist Kolumbus einer der Männer, die er am meisten verachtet. Ich bewundere ihn eher. Trotz allem.

Charalampos hat mich auf seine Website aufmerksam gemacht, schon mehrmals. Jetzt habe ich endlich mal Gelegenheit, reinzusehen. Sie ist sehr professionell gemacht, in mehreren Sprachen, darunter Russisch und Arabisch! Sie scheint eine religiös-philosophische Orientierung zu haben. Sie heißt auf Griechisch Πεμπτουσια. Das kenne ich nicht, und er kann sich nicht erinnern, was es auf Deutsch heißt: Quintessenz.  Erst jetzt, wo ich es schriftlich habe und die Bedeutung kenne, erschließt sich mir das Wort: πεμπτ, ‚fünf‘, und ουσια, ‚Wesen‘. Die Website erklärt das Wort: Die griechischen Naturphilosophen hatten vier Elemente als grundlegend für alles in der Welt herausgearbeitet: Feuer, Wasser, Luft und Erde. Aristoteles fügte dem ein fünftes hinzu (das er Äther nannte), das wesentliche Element, das völlig andere Eigenschaften hatte als die vier irdischen Elemente. Dieses fünfte Element wurde zum Synonym für das Wesen, den Kern einer Sache.

Am Morgen gehe ich wieder auf die Piste, eine halbe Stunde eher und mit Mütze. Die halbe Stunde wirkt sich kaum aus, aber die Mütze ist Gold wert. Diesmal sehe ich unterwegs nur ein Auto, dafür vier Läufer zwei Angler und eine tote Katze, mitten auf der Straße.

Allmählich müsste ich mich mal an den Koffer mit den Büchern machen. Der steht schweigend und vorwurfsvoll in der Gegend herum. Um den Platzmangel zu mildern, wandern ein paar Sachen erst mal wieder in den Koffer: Pullover, Trainingsanzug, Anorak. Zu optimistisch? Die kleinsten Möbel in der ohnehin kleinen Wohnung sind die Bücherregale, und da liegen noch Hinterlassenschaften von früheren Gästen drin. Die werden irgendwo anders zwischengeparkt, und dann erweisen sich die kleinen Regale als besser als der Schein.

Charalampos, der für seine Website ein Interview mit mir machen will, erklärt mir die Einzelheiten. Er scheint sich sehr für die Sache zu engagieren.

Das Villa Mare scheint gut zu gehen. Immer wieder kommen neue Gäste, auch unangemeldet. Die Haustür unten steht immer auf – ob das auch im Winter so bleibt – und da gibt es eine Telefonnummer, und man sich meldet, ist Charalampos im Umdrehen da.

Im Ort gibt es keine Post, aber man kann die Post einfach am Kiosk abgeben. Die kümmern sich darum. Das scheint auch für Einschreiben zu gelten. Toller Service.

Am Nachmittag sehe ich mitten im Ort eine Bananenstaude, mit einem Büschel Bananen, noch fast grün.

Vor dem Kiosk sitzt Maria mit einer anderen Frau. Sie fragt, ob ich mich nicht setzen wolle und lädt mich zu einem Kaffee von gegenüber, aus dem Mirtos ein. Sie spricht sehr deutlich, man könnte sie als Lehrerin verpflichten. Sie hilft mir auf die Sprünge, als ich nicht auf εγγονος komme, das Wort für ‚Enkel‘, und sie erklärt mir, was mit σεντονια gemeint ist, Bettlaken. Nur das Wort für ‚Interview‘, συνεντευξη, bekomme ich nicht αθς ιηρ heraus. Es ist das erste kohärente Gespräch, das ich zustande bringe.

Ich erfahre, dass Despina schwanger ist. Im Dezember kommt schon das Kind. Ich habe sie bisher nur durch den Sehschlitz des Kiosks gesehen und hatte keine Ahnung. I Dezember kommt schon das Kind. Ich frage, ob es ihr drittes Enkelkind ist. Nein, ihr viertes Despina hat schon eine Tochter, und die geht schon zur Uni, in Chania. Sie studiert Geologie. Maria ist noch nie in Deutschland gewesen, überhaupt noch nie im Ausland. Sie betont aber, dass Norbert sie immer wieder eingeladen habe. Im Moment hat sie aber noch ihre neunzigjährige Mutter zur Pflege zu Hause. Sie hat Alzheimer. Alle wohnen zusammen in einem Doppelhaus, auch Zoe und Jaralambos, obwohl die mit dem Auto zur Villa Mare kommen. Aber nur deshalb, weil sie immer viel zu transportieren haben.

13. Oktober (Montag)

Beginn der ersten „Arbeitswoche“ in Myrtos. Um der Bezeichnung gerecht zu werden, mache ich mich endlich an das Gutachten einer Bachelorarbeit, dem einzigen „Überhang“ von der Uni.

Zum Frühstück leiste ich mir ein Croissant. Die sind hier überdimensional und passen kaum auf einen großen Teller.

Dann aber geht es hinunter zum Strand. Ein fülliger Grieche mit bloßem Oberkörper kommt aus Richtung Tertsa den Strand entlang, mit einer Angel in einer und einer Handvoll silberner Fische in der anderen Hand. Lautstark wird er von einer griechischen Familie für seinen Fang gefeiert.

Der letzte Roman, den ich gelesen habe, Life of Pi, handelt von Tieren, von Tieren auf einem Schiff, um genauer zu sein. Es geht um das Überleben eines Jungen nach einem Schiffbruch in der Präsenz einer Hyäne, eines Zebras und eines Tigers auf einem Schiff im Pazifik. Der neue Roman, den ich jetzt anfange, A History of the World in 10½ Chapters, handelt wieder von Tieren, und wieder von Tieren auf einem Schiff. Gleich zu Anfang geht es um so praktische Dinge wie den Gestank, das Füttern und das Ausmisten – auf dem Schiff sind Nashörner, Nilpferde und Elefanten. Langsam schwant es einem, um welches Schiff es sich handelt – die Arche! Mit viel Witz werden die praktischen Aspekte behandelt, die, die der Mythos auslässt: Wie werden Feinde getrennt? Was passiert während der Brunft? Wie wurde die Auswahl vorgenommen? Wie reagierten die Tiere, die zurückgewiesen wurden? Und wie ernähren sich Noah und seine Familie? Indem sie Tiere schlachten natürlich. Und das, und nicht die Evolution, erklärt die Lücken im System. Mit viel Zynismus ist von Noah die Rede– Trunkenbold, Schleimer, schlechter Seefahrer – aber auch von seinem Gott und vor allem von den Menschen. So langsam schwant einem, dass der Erzähler ein Tier ist. Aber welches? Keins der großen Tiere, das wird klar, aber erst das letzte Wort des Kapitels liefert die Antwort: der Holzwurm!

Beim Abendessen liegen Edamer und Feta auf dem Tisch. Auf der Packung des Feta steht φετα (feta), auf  der Packung des Edamer steht σε φετες (se fetes), Das bedeutet ‚in Scheiben‘. Daher kommt Feta! Es heißt einfach ‚Scheibe‘! Dass die Klötze, in denen Feta verkauft wird, auch als Scheiben angesehen werden können, muss man sich erst klar machen, bei den dünnen Scheiben, in die wir heute den Käse schneiden, aber so ist es. Um die Bezeichnung Feta hat es Auseinandersetzungen gegeben, aber jetzt ist es klar: Der Begriff ist geschützt. Nur in Griechenland, und selbst da nicht in allen Regionen, kann der Begriff Feta benutzt werden.

14. Oktober (Dienstag)

Obwohl ich ausgeruht und ausgeschlafen bin (und seit einer Woche „gesund“ lebe), geht es mit dem Laufen immer noch eher schlecht als recht. Von der Leichtigkeit von einst ist jedenfalls nichts zu spüren. Diesmal begegne ich fast niemandem. Meistens hört man nur das Rauschen der Wellen. Ein Blickfang sind die schwarzen Felsen im Meer und die kretischen Ziegen an den Felswänden – brau, schwarz, schwarz-weiß.

Erst jetzt fällt mir auf, dass es zwischen Myrtos und Tertsa noch einen Ort gibt, Βατος/Vatos, nicht mehr als eine Ansammlung von Häusern, mit dem Ortsschild schräg zur Straße. Ein griechisches Lützelau, ohne Wald, dafür mit Meer.

Diesmal geht es gleich ins Meer, mit den Laufklamotten. Diesmal ist niemand am Strand. Wirklich keiner? Kann das sein? Dann kommt aber doch ein Ehepaar, das mir Gesellschaft leistet, und dann entdecke ich zwei auf den Liegen ausgestreckt, und zwei ein wenig weiter am Strand ausgestreckt und zwei Köpfe im Wasser, ein gutes Stück vom Strand entfernt. Dann kommt einer aus der Umkleidekabine und einer hinter einem Baum hervor. Doch nicht ganz allein.

Zuhause ist eine neue Matratze eingetroffen. Die ist ohne mein Zutun gekommen. Und ein Tisch, der als Schreibtisch fungieren soll. Darum hatte ich gebeten. Es ist gar nicht so leicht, die Matratze über die enge Treppe hinauf zu bugsieren, und der Tisch passt nicht durch die Tür und muss über den  Balkon des anderen Zimmers gehen. Unglaublich, wie die Leute es geschafft haben, dieses Haus überhaupt mit allem auszustatten.

Die griechischen Eier werden in den Kühlschrank gelegt, nicht gestellt. Und in ihre natürliche Position gebracht, sozusagen.

Kreter essen im Durchschnitt 200 kg Gemüse pro Jahr, Deutsche nur 80 kg, ein gewaltiger Unterschied. Das liegt an den Gegebenheiten. Wegen der rauen und bergigen Landschaft hat es in Kreta nie Rinderzucht gegeben, und bis heute halten sich wenige Bauern Schweine. Da war man auf Ziegen angewiesen, und die konnte man sich nur an Festtagen leisten.

Am Abend gehe ich zum ersten Mal zum Essen in ein Lokal, das Akti. Sieben Uhr, nicht gerade eine kretische Essenszeit, aber jetzt kann man noch am Meer sitzen. Die Sonne ist schon hinter den Bergen verschwunden, die sich scharf vor ihr abzeichnen. Am Horizont ein grau-rötlicher Streifen, und am Himmel vereinzelte dunkle Wolken.

Ich bestelle σουτζουκακια/Soutsoukakia, ein Gericht, das ursprünglich aus Kleinasien stammt und dessen Namen von einem türkischen Wort abgeleitet sein soll: Hackfleischröllchen in einer Tomatensoße mit vielen Kräutern, leicht pikant und auch leicht süßlich. Schmeckt sehr gut. Dazu gibt es Pommes frites und frisches Weißbrot. Die Portion ist klein und passt auf einen Frühstücksteller, aber satt ist man am Ende trotzdem. Zum Nachtisch gibt es auf Kosten des Hauses einen kleinen Teller Joghurt mit süßen Beeren, vielleicht Preiselbeeren.

Zuhause finde ich in der Dusche eine Kakerlake. Sie ist ziemlich groß und hat weit ausgreifende Beine und Fühler, so dass ich später erst einmal im Internet nachsehen muss, ob es wirklich eine Kakerlake ist. Irgendwie gelingt es mir, sie in ein Gefäß zu locken und auf dem Balkon in die Natur zu entlassen. Die der ihr zustehende Raum ist. Komischer Zufall: Am Nachmittag habe ich gerade eine Geschichte gelesen, die auf Protokollen von frühneuzeitlichen Gerichtsverhandlungen aus Besançon beruht und bei denen es um Holzwürmer geht. Sie sind angeklagt worden, in die Kirche eingedrungen zu sein und den Bischofssitz angeknabbert zu haben, mit dem Ergebnis, dass der Bischof einen bösen Sturz erlitt und seitdem nicht mehr zurechnungsfähig ist. Sie sollen exkommuniziert werden. Es gibt ein gelehrtes Hin und Her von Anklage und Verteidigung, mit vielen Bezügen auf die Bibel und auf die Geschichte der Kirche. Dabei geht es unter anderem darum, ob die Holzwürmer überhaupt Gottes Geschöpfe waren. Sie waren nicht auf der Arche, argumentiert die eine Seite, und sind eine Schöpfung des Satans. Am Ende werden die Holzwürmer exkommuniziert und aufgefordert, das ihnen nicht zustehend Terrain zu verlassen. Ich fordere hiermit die Kakerlaken auf, dem Beispiel der Holzwürmer von Besancon Folge zu leisten. Exkommunizieren kann ich sie nicht.

15. Oktober (Mittwoch)

Erste Woche in Kreta vorüber. Die ersten alltäglichen Handhabungen werden zur Routine: Lichtschalter finden, Spülschüssel wegstellen, Bett machen. Das Leben noch keine Routine.

Neben dem englischen Roman kommt jetzt auch die Bibel zur Lektüre hinzu. Immer noch Paulus. Der Erste Brief an die Thessalonicher, der älteste Text des Neuen Testaments.

Obwohl die letzten griechischen Erzählungen für Fremdsprachenlerner, die schwereren, nicht mehr richtig verstanden habe, lege ich sie jetzt alle zur Seite. Sie kommen in ein paar Monaten wieder dran. Jetzt krame ich erst mal die Bleistiftfabrik raus, die deutsche und die griechische Version. Ich stelle verwundert fest, dass ich eine ausführliche Inhaltsangabe und eine ganze Menge Notizen zu dem Roman habe. In einer der ersten Szenen beginnt die Braut während der Hochzeitsnacht an zu schluchzen und gesteht ihrem Ehemann, man habe ihn belogen. Der denkt an frühere Beziehungen oder an Erbkrankheiten. Es ist aber nur das Alter: Sie ist 29, nicht 21.

Von einem Freund bekomme ich eine wunderbare chinesische Erzählung geschickt. Sie stammt aus der Zeit um 400 vor Christus. Ein Wahrsager in Nordchina, nahe der Grenze, hat mehrere Pferde. Eines Tages rennt eins weg. Die Dorfbewohner kommen und bemitleiden ihn, aber er fragt: „Woher wisst ihr, dass das nicht ein gutes  Omen ist?“.  Etwas später kommt das Pferd zusammen mit einem schönen, starken Pferd von jenseits der Grenze zurück. Die Dorfbewohner gratulieren dem Wahrsager, aber er fragt: „Woher wisst ihr, dass das nicht ein schlechtes Omen ist?“ Einer seiner Söhne reitet das Pferd, stürzt und bricht sich das Bein. Die Dorfbewohner bemitleiden den Wahrsager, aber er fragt: „Woher wisst ihr, dass das nicht ein gutes Omen ist?“ Ein Jahr später fallen die Barbaren aus dem Norden ein. Alle Söhne des Wahrsagers greifen zu den Waffen und fallen im Kampf. Nur der nicht, der sich das Bein gebrochen hat.

Zum Strand geht es heute erst am Nachmittag. Da ist es richtig voll. Aber im Meer ist doch noch genug Platz. Von Gezeiten ist hier, im geschützten Teil des Mittelmeers, gar nichts zu merken.

Am Abend gehe ich ins Mirtos, das einzige Unternehmen, das hier ein richtiges Hotel betreibt. Das Lokal gehört dazu. Es liegt an der Hauptstraße, nicht an der Strandpromenade – da liegt das Hotel – nutzt aber am Abend auch den Platz in einer Stichstraße, die zum Meer hinunterführt, und stellt dort die typischen, kleinen, quadratischen Tische auf, die man überall in Griechenland sieht. Da setze ich mich hin.

Es ist mächtig was los hier, und Jana, die Besitzerin, die ich gleich am ersten Tag kennen gelernt habe, eine couragierte Frau, leistet tolle Arbeit, genauso wie ein schmächtiger Kellner, der ihr zur Seite steht: unermüdlich, schnell, effektiv. Der Hausherr lässt es dagegen langsam angehen. Er spielt mit seinem Smartphone herum, spricht mit einem Gast und beschränkt sich darauf, Jana! zu rufen, wenn man die Rechnung verlangt. Jana dagegen findet Zeit, mir zur Begrüßung und zum Abschied ein paar freundliche Worte zu sagen und sorgt auch dafür, dass ich zum Nachtisch ein kleines Stück Zitronentorte auf Kosten des Hauses bekomme.

Ich bestelle παπουτσaκια/papoutsakia, ‚Schühchen‘. Das sind gefüllte Auberginen. Zur der Füllung gehören Hackfleisch, Zwiebeln und Tomaten, aber diese hier haben auch Kartoffelpüree. Schmeckt gut, muss eine aufwendige Vorbereitung sein. Ich habe den Eindruck, dass die drei, die ich bekomme, unterschiedliche schmecken. Ich erwische die beste zuletzt. Der Name  παπουτσaκια erschließt sich nicht, wenn man sie so serviert wie hier, aber wenn die Auberginen längs aufgeschnitten werden, sehen sie wirklich wie Schühchen aus.

An der Fensterscheibe hängt eine Anzeige für einen organisierten Ausflug nach Spinalonga, die „Leprainsel“. Dort wurden seit 1903 die Leprakranken, die „Aussätzigen“, von denen die Bibel weiß, isoliert, und zwar bis 1957. Dass es sich um die Leprainsel handelt, wird auf dem Plakat allerdings nicht erwähnt. Der Ausflug kostet 38 €, ziemlich teuer, und man weiß natürlich nicht, wie gut die Erklärungen sind. Andererseits muss man ohnehin das Schiff und den Eintritt auf die Insel bezahlen und natürlich nach Agios Nikolaos kommen, den Abfahrtshafen. Mal sehen.

16. Oktober (Donnerstag)

Am Morgen weiß ich nicht, ob heute Donnerstag oder Freitag ist. Sicheres Indiz von ‚Feriengefühl‘. So müssen die Maler und Schriftsteller leben, die sich irgendwo ein schönes Plätzchen suchen und sich ihrer Kunst widmen. Nur mit dem Unterschied, dass sie dann auch manchmal was produzieren.

Wenn Autos beim Laufen überholen, hupen sie manchmal. Was bedeutet das: Warnung, Gruß, Dank? Für eine Warnung kommt das Hupen oft zu spät, ein Gruß passt nicht zur griechischen Mentalität, und Dank: wofür? Dass man nicht gerade mitten über die Straße läuft, aus eigenem Interesse?

Als ich zum Einkaufen in den Ort gehe, höre ich wunderbare Vokalmusik aus einem  der Häuser am Ende der Straße. Muss wohl eine Aufnahme sein. Als ich näher komme, sehe ich durch die schmutzigen Fenster des großen, unmöblierten Raums im Erdgeschoss – einen Chor! Was machen die hier? Wo kommen die her? Um diese Zeit?

Griechisch hat eine schwere Formenlehre, und viele der alltäglichen Wörter  – begrüßen, Teller, heute – sind nicht abzuleiten oder mit einer der gängigen europäischen Sprachen verwandt. Schön aber ist es, wenn man ganz alltägliche Wörter antrifft wie γαλα/gala, die bei uns nur in gelehrten Wörtern wie Galaxie vorkommen. Ähnlich ist es mit Εξοδος/Exodus, das für uns biblische Klänge hat, aber hier einfach ‚Ausgang‘ heißt und an jedem Supermarkt steht. Davon gibt es Hunderte.

Die Ausdrücke letztes Jahr und dieses Jahr fasst das Griechische jeweils in einem einzigen Wort zusammen: περυσι und εφετος. Ich kenne sie beide, aber: Was ist was? Beide werden in der Alltagssprache auf zwei Silben verkürzt: περσι und φετος.

Es ist immer noch warm, richtig sommerlich warm, aber es wird immer windiger. In den nächsten Tagen soll es sogar noch windiger werden. Der Wind zerrt an den Jalousien und die fahren mit einem quietschenden Geräusch rauf und runter. Es sind die Räder, die an den Stangen befestigt sind. Ich versuche es mit Öl, und für zwei Minuten ist Ruhe. Dann geht es wieder los, aber gedämpft. Zusammen mit den tropfenden Wasserhähnen und den schlagenden Türen eine ordentliche Geräuschkulisse, durch die man sich mehr als nötig ablenken lässt.

Abbuchung für den Einkauf bei Lidl bekommen. Keine extra Kosten. Das Zahlen mit der EC-Karte scheint gratis zu sein.

17. Oktober (Freitag)

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass Schwimmen, im Gegensatz zu Fußball, Radfahren, Gymnastik oder Wandern, nicht zum Abnehmen taucht. Kann das sein?

Warum in die Ferne schweifen? Die erste Sehenswürdigkeit in Kreta ist nur hundert Meter entfernt, das Museum von Myrtos. Es ist, wie ich schon im Internet vermutete, hauptsächlich das Werk eines Engländers, John Atkinson, der schon fast dreißig Jahre hier lebt. Er macht auch an den Stunden, an denen das Museum geöffnet ist, die Aufsicht.

Der Eintritt ist frei. Ich bin der einzige Besucher, bis eine Französin kommt, die die gleichen Fragen wie ich stellt und die er ebenso geduldig beantwortet. Bis dahin bekomme ich eine kleine private Einführung. Ich entdecke einen nördlichen Einschlag an seinem Englisch – passage, blunder, so – und liege da nicht ganz falsch: Lancashire. Die Geschichte der Ausgrabungen hier in der Gegend begann erst in den Sechzigerjahren, als eine Schulklasse irgendwo Scherben fand und die zu Gefäßen zusammensetzte. Der Lehrer war klug genug, zu sehen, dass sie da einen Schatz hatten und wand sich an die staatlichen archäologischen Stellen. Die hatten kein Geld, wohl aber die Briten, und die übernahmen die Ausgrabungen. Ergebnis: eine minoische Siedlung, Fournou Korifi. Später kam dann noch eine weitere hinzu: Pyrgos.

Oben an der Wand haben sie eine schöne Leiste, an der mit Bildern und Farben die verschiedenen Zivilisationen in Kreta dargestellt werden. Auch das ist das Werk Johns. Und unten ein haargenaues Modell von Fournou Koryphi, das er mit viel Liebe zum Detail und nicht ohne Stolz erklärt. Auch das ist sein Werk – und das seiner Frau, wenn ich das richtig verstehe. Er selbst ist kein Historiker und kein Archäologe, sondern Experte für Keramikherstellung, und da ist er hier natürlich genau richtig.

Besonders interessant an dem Modell ist ein kreisrunder Schacht. Oder besser gesagt, die Diskussion darüber, worum es sich handelt. Er, der Keramiker, sah den Schacht und sagte: Klar, Brennofen. Dann kam ein Historiker, und der sagte: Quatsch, ein Brunnen. Und dann kam einer, der sagte: Quatsch, ein Ölbehälter. Und dann kam einer, der sagte: Quatsch, ein Getreidespeicher.

Fournou Koryphi ist zwei Kilometer von Myrtos entfernt und ist eine frühe minoische Siedlung (2600-2200) mit neunzig Räumen und einer Umfassungsmauer. Wie so viele antike Siedlungen hier in Kreta wurde es zerstört, vermutlich durch ein Feuer, und dann aufgegeben. Das ist immer wieder rätselhaft, auch bei den großen Stätten wie Knossos. Manche glauben, dass das Feuer Folge eines Erdbebens ist, aber das ist immer noch kein Grund, die Siedlung gleich ganz zu verlassen. Es ist aber ein wiederkehrendes Thema bei den alten minoischen Zivilisationen. Es wurde eine Töpferscheibe gefunden, und es gab offensichtlich Werkstätten, ein Indiz für berufliche Spezialisierung.

Die Ausstellung ist klein, aber sehr beeindruckend. Es wurden Hunderte von Gefäße gefunden, davon 72 Pithoi mit einem Fassungsvermögen von 89 Litern! Der berühmteste Fund ist die Göttin von Myrtos, aber die ist nicht hier ausgestellt.

Hier sind man eine gute Schau von Gefäßen, kleine und große, sehr schön, sehr eben, viele mit Ausgüssen. Sie sehen aus wie Teekannen oder Teetassen. Auch verbrannte Getreidekörner sieht man.

Pyrgos ist ganz ähnlich, jedenfalls für den Laien, stammt aber aus einer späteren Zeit (2200-1400). Man identifiziert sechs verschiedene Perioden. Dreimal wurde es durch Feuer zerstört, allerdings nicht gleich aufgegeben. Man hat hier auch einen palastartigen Raum gefunden, vielleicht ein Indiz für größere soziale Differenzierung.

Im hinteren Teil des Museums sind landwirtschaftliche und häusliche Geräte ausgestellt, die museumsreif sind aber noch bis vor kurzem tagtäglich benutzt wurden. Liebevoll ist bei den meisten vermerkt, von wem das Exponat zur Verfügung gestellt wurde.

Es gibt auch noch eine Sektion mit Münzen und Geldscheinen (1911-1955). Auf den Geldscheinen sieht man sowohl Staatsmänner als auch antike Helden und Philosophen als auch Landfrauen. Die frühen Werte sind 10 oder 25 Drachmen, die späteren 10,000 oder 25,000 Drachmen. Und irgendwann ließ man die Tausend einfach beiseite und schrieb wieder 10 und 25 und Tausend als Wort darunter. Es gibt auch einen Geldschein aus der Zeit der deutschen Besatzung: 5 Reichspfennig.

Eine Frage der Französin bezüglich der Stockwerkhöhe – man geht von einstöckigen Bauten aus, aber John meldet leise Zweifel an – zu der Frage, warum die Kreter ihre Häuser an den Fels bauen. Verteidigungszwecke, heißt es meistens. John hat seine eigene Theorie: Regen. Im Winter regen es hier wie wild, manchmal drei Tage ohne Unterbrechung, und dann könne der Regen an den Felsen abfließen und die Häuser blieben im Trockenen. Wie dem auch sei, der Anorak muss irgendwann wieder aus dem Koffer raus.

Als ich nach Hause kam, sitzen Zoe und Jaralambos im Innenhof, beide rauchend. Sie laden mich ein, mich dazuzusetzen, und es kommt eine kuriose dreisprachige Unterhaltung dabei raus, die von Hölzchen auf Stöckchen kommt. Sie war noch nie im Ausland, aber er möchte ihr gerne mal seine zweite Heimat zeigen. Im Moment scheitert es noch an den Finanzen. Das Villa Mare geht zwar gut, aber es müssen viele Steuern bezahlt und die Familie ernährt werden. Jaralambos verdient jetzt mit seiner Internetseite. Er hat Tausende von Usern und Abertausende von Abrufen, jeden Tag, 17,000 alleine durch einen kürzlich veröffentlichten Artikel. Es scheint um so etwas wie Lebensberatung zu gehen. Einige Artikel werden dann auch von Pemptousia übernommen. Für die macht er hauptsächlich die Werbung.

Er ist ganz angetan davon, dass Oberhausen meine Heimatstadt ist. Soviel Begeisterung sieht man selten. Sie fragen nach den Entfernungen und wollen wissen, wie weit es von Trier nach Paris ist. Bei engem Budget empfehle ich eine organisierte Busreise, aber für die Kinder müsste auch Disneyland dabei sein.

Jaralambos ist ein πόντος, ein Pontosgrieche, ein Pontier, ein griechischer Ostfriese sozusagen, ein Abkomme der Griechen, die bis 1923 an der türkischen Schwarzmeerküste lebten. Der pontische Dialekt hat noch gewisse Merkmale des Altgriechischen, und er erzählt, dass seine Altgriechischlehrerin, obwohl sie nicht aus der Gegend war, seinen Dialekt besser verstehen konnte als die anderen. Das pontische Wort für zerreißen, sagt er, klinge dem deutschen Wort sehr ähnlich. Kann ich nur bestätigen. Zufall oder eine tief in der Sprachgeschichte begründete Verwandtschaft?

Zum Schluss zeigen sie mir noch ein wunderbares Photo mit Rahmen, das im Büro hängt. Es ist ein Geschenk von Norbert. Der war mit seiner ganzen Sippe hier, 15-16 Mann. Sie haben vermutlich das ganze Haus gemietet. Für das Photo, das das Villa Mare von vorne zeigt, haben sie sich auf verschiedene Etagen verteilt und stehen auf Balkonen und an Fenstern. Ganz, ganz oben, auf einem Vorsprung unter dem Dach, sitzt Norbert. Unten auf dem Photo steht Ευχαριστώ.

Am Nachmittag im Akti weht der Wind mir fast das Buch aus der Hand. Gehe ich doch lieber an den Strand. Auch hier herrscht heute ein anderes „Klima“. Es geht rauer zu. Statt Schwimmen ist Wellenreiten angesagt. Ich werde ein gutes Stück von der Stelle abgetrieben, an der ich ins Wasser gegangen bin. Ich versuche, zurückzuschwimmen. Keine Chance.

Am Strand sehe ich immer wieder drei Engländer, von denen einer, mit Bart und dunklem Haar, wie ein Grieche aussieht, die beiden anderen dagegen sehr englisch, einschließlich des Sonnenbrands auf Schulter und Rücken. Sie spielen mit Bällen im Wasser und haben einen Riesenspaß dabei. Immer wieder hört man sie laut lachen.

Am Computer stoße ich ungewollt auf eine Möglichkeit, Griechisch zu lernen. Ich habe bei der Suche nach griechischen Gerichten auf ein Video gestoßen, in der eine Frau die Zubereitung von Spanakotiropita zeigt. Der Vorteil: Man brauch sich nur auf eine Sprecherin zu konzentrieren, es gibt keine Überlappungen und Unterbrechungen; man sieht, was passiert und hört gleichzeitig, was passiert; man sieht die Ingredienzien am Anfang und dann, wenn sie zum Einsatz kommen; es wird immer die erste Person Plural im Präsens gebrauch: wir nehmen, wir vermischen usw.; viele Handhabungen wiederholen sich: mit Öl bestreichen, ausbreiten usw. Man muss nur die Geduld haben, das Video immer wieder anzusehen. Eins ist aber klar: Selbst machen werde ich die Spanakotiropita nie. Viel zu kompliziert.

Ich sollte, bevor es zu spät ist, mal anfangen, mir die Wörter aufzuschreiben, die mir fehlen. Nicht alle, sondern nur die, die man immer wieder braucht. Mein Lieblingsbeispiel ist dieser Tage. Wie oft ich das in den letzten Tagen schon vermisst habe. Dagegen ist Enkel ein unwichtiges Wort. Das habe ich nur einmal vermisst.

In A History of the World in 10½ Chapters streiten sich zwei englische Frauen, die den Berg besteigen wollen, auf dem Noahs Arche gelandet ist – durchaus umstritten, welcher – darüber, wie die Arche auf der Bergspitze gelandet sein könne. Die eine, die Skeptikerin, wendet ein, der Berggipfel müsse doch einen Riss in den Kiel der Arche getrieben haben, wenn sie dort aufgelaufen ist. Und sie müsste doch, als das Wasser sich zurückzog, nach hinten oder nach vorne gekippt sein. Ich erinnere mich an ein Bild aus meiner ersten Schülerbibel. Da balancierte die Arche elegant oben auf der Spitze, und man hat sich schon damals gefragt, wie sie denn dann aussteigen konnten. Die andere Frau in dem Roman, die Dogmatikerin, findet die Frage nicht sehr originell. Die hätten schon andere gestellt. Die Antwort sei ganz einfach die, dass die Arche nicht auf der Bergspitze gelandet sei – die Bibel behaupte das auch nicht – sondern in einer fruchtbaren Ebene unterhalb.

18. Oktober (Samstag)

Zu der täglichen Lektüre ist jetzt auch der italienische Roman hinzugekommen, den ich schon zweimal begonnen und nie beendet habe, L’amore quando tutto crolla. Den habe ich auf dem Kindle. Das hat den Vorteil, dass man auch bei schlechten Lichtverhältnissen gut lesen kann, mit vergrößerten Buchstaben. Man muss nur ständig umblättern.

Mit der Hilfe von Jaralambos habe ich jetzt endlich herausgefunden, wie man die Akzente im Griechischen schreibt. Es ist ganz einfach, wie bei uns, nur eine andere Taste: ö. ‚Akzent‘ heißt auch Griechisch τόνος/tonos, sowohl der geschriebene als auch der gesprochene.

Im Griechischen gibt es zwei Wörter für ‚Computer‘, das lateinische κομπιούτερ/kompjuter und das griechische υπολογιστής/ypologistes. Ich benutze immer  κομπιούτερ, obwohl ich das nicht unbedingt will und obwohl ich beide kenne. Anders ist es bei ίντερνετ/internet. Da fehlt mir das griechische Wort, obwohl unsere Griechischlehrerin es immer benutzt. Ähnlich ist es bei dem Wort für ‚Kino‘. Da bevorzugt sie κινηματογράφος/kinematografos gegenüber dem internationalen σινεμά/sinema.

Am Morgen ist es, wie immer, fast windstill. Komisch. Aber der Wind wird kommen. Das, was wir gestern hatten, wird leichte Brise genannt, das von vorgestern leichter Zug, heute kommt frische Brise.

Heute komme ich früher in die Puschen und ein Stück über Tertsa hinaus. In Myrtos sehe ich um diese Zeit nur einen alten Mann und eine nicht so alte Frau, die immer vor ihrem Haus sitzen. Sonst ist nur die Müllabfuhr unterwegs. Hier wandert alles zusammen in den Mülleimer. Statt sich aller Besserwessi darüber zu ereifern, sollte man froh sein, dass der Müll überhaupt gesammelt wird. Das war bis vor kurzem keine Selbstverständlichkeit. Ich bekomme das kurze Zeit später selbst vor Augen geführt: Am Eingang zu einem „Waldweg“, einer Art Piste, die einen Berg hinaufführt, hat man vor einer verlassenen Holzhütte alles Mögliche entsorgt, Tische, Teile von Gewächshäusern, Toilettensitze.

Zum ersten Mal komme ich durch Tertsa, einen noch kleineren, ganz gemütlichen Ort. Hinter Tertsa biegt die Straße vom Meer ab und führt die Berge rauf, unerbittlich. Es geht zwischen hohen Bergen hindurch. Hier ist es grüner. Dann kommen Bananenplantagen. Die Bananenblätter sind manchmal ganz, manchmal eingerissen. Sind da Insekten am Werk? Oder sind das verschiedene Arten? Oder verschiedene Wachstumsperioden? Dann kommen Olivenbäume, mit winzig kleinen Oliven, kein Vergleich mit dem, was man bei uns im Supermarkt in der Konserve kauft. Die Olivenernte ist im November oder Dezember, das ist nicht mehr so lange hin. Die Plantagen werden bewässert. Die Schläuche machen wilde, schwarze Muster auf den braunen Bergen. Manchmal kreuzen sie wie Elektroleitungen oben die Straße.

Hin und wieder gibt die Straße den Blick frei aufs Meer weiter unten – und auf die Gewächshäuser. Ohne, dass ich an einen weiteren Ort gelangt bin, mache ich kehrt. Auf dem Rückweg, kurz vor Myrtos, kommt ein Hund ziemlich aggressiv auf mich zu. Kurz bevor er mich zu fassen kriegt, kommt ein Grieche und wirft einen Stein nach ihm – der Hund verschwindet. Ob der Mann der Besitzer ist oder nicht, weiß ich nicht. Jedenfalls bin ich ihm dankbar.

Bei der Suche nach einem uralten griechischen Lied, einem nicht allzu sentimentalen Liebeslied, stoße ich auf diesen deutschen Text, der unkommentiert im Internet steht, aber zu der Melodie gesungen werden kann: Alle kleine Schweinchen haben rosa Beinchen und nen Ringelschwanz/Haben rosa Öhrchen, essen gerne Möhrchen, tanz den Schweinetanz.

Am Nachmittag geht es nach Ierapetra. Auf dem Weg fällt mir wieder ein Schild auf, auf dem Κωτσοβολος steht. Keine Ahnung, was das ist, eine Firma, eine Marke, ein Ort. Jedenfalls kommt in dem Wort viermal derselbe Laut vor, aber es gibt zwei Schreibweisen, mit Omega und mit Omikron. Hören tut man den Unterschied nicht. Das muss ein unendliches Problem für griechische Schulkinder, aber auch für Erwachsene sein. Für Ausländer sowieso.

In Ierapetra laufe ich in der Neustadt von einem zum anderen Geschäft wegen einer Glühbirne. Nirgendwo zu bekommen. Sehr hilfsbereit sind die Verkäufer auch nicht gerade. Am Ende laufe ich dann den Bauarbeitern fast noch über die frisch verlegten Platten an dem kleinen Platz, der so etwas wie das Zentrum der Neustadt ist. An dem Platz steht ein kleines Schild mit einer Warnung: ΠΡΟΣΟΧΗ ΕΡΓΑ ΔΕΝ – VORSICHT ARBEITEN NICHT. Was man nicht tun soll, kann man selbst entscheiden.

Eins der Geschäfte, in denen ich mein Glück versuche, heißt Γερμανός/Germanos. Da ist wohl ein Deutscher unter den Urahnen. Später sehe ich eine Art Süßwarengeschäft mit dem Namen Παπαδάκισ, ein Nachname mit einer typischen kretischen Endung.

Dann sehe ich noch das Spielwarengeschäft Mickey House, und zwei Geschäfte, deren Namen auf Griechisch gehalten und erst auf den zweiten Blick verständlich sind: ΠΟΠΑЇ und ΚΟΥ ΚΟΥ – POPEYE und KUKU.

An verschiedenen Stellen wird die Temperatur angezeigt. Das schwankt von 24° bis 32°. Gefühlt sind es eher 24°.

An einem etwas abgelegenen Platz trinke ich einen Kaffee, der wirklich wieder nur genau die Hälfte von dem kostet, was man an der Strandpromenade zahlt. In einer Konditorei nebenan esse ich auf der Hand ein kleines Blätterteiggebäck. Die freundliche Verkäuferin sagt mir, dass es Bugatsa (μπουγάτσα) heißt. Merken.

An einer Bank bekomme ich mit meiner Sparcard problemlos Geld. Man hat ja immer die Befürchtung, dass irgendwas nicht klappt, zumal ich einen großen Betrag eingebe, für die nächste Monatsmiete. Die Bank zuhause nimmt hierfür keine Gebühren. Vermutlich aber die griechische Bank. Wird man sehen.

Um in die Altstadt zu kommen, muss man ein ganzes Stück die lange Strandpromenade entlang gehen. Viele der Lokale hier und auch einige Souvenirgeschäfte werben auf Russisch für sich.

An Ende der Promenade steht ein venezianisches Kastell. Ierapetra war schon immer ein strategisch wichtiger Punkt. Das hat einen ganz einfachen Grund: Es liegt an der Stelle, an der Kreta am schmalsten ist. Der kürzeste Weg, wenn man vom Festland über Kreta nach Afrika wollte, führte also über Ierapetra.

Vom Kastell aus kommt man in die engen Straßen der Altstadt. Hier ist es ganz anders als in der Neustadt, sehr ruhig, sehr verwinkelt, sehr griechisch. Es gibt ein paar gut aussehende Fischgeschäfte, aber auch verlassene Ladenlokale und dunkle Geschäfte, bei denen man rätselt, was hier eigentlich verkauft wird. Die Häuser aber sind freundlich und hell, meist klein. Vor Armut ist hier nichts zu spüren. Vielleicht liegt es an der Landwirtschaft. Ierapetra liegt in einer sehr fruchtbaren Zone. Und die Gewächshäuser haben die Produktion noch erhöht.

Irgendwo steht eine der kleinen byzantinischen Kirchen mit dem typisch abgesenkten Bodenniveau, wie man sie auch mitten in Athen, in der Einkaufsstraße sieht. Dann stehe ich plötzlich vor einer Moschee. Sie ist eine der wenigen Überbleibsel aus der Osmanischen Zeit. Sie wird heute für Aufführungen genutzt, ist jetzt aber verschlossen. Davor ein schönes, polygonales Brunnenhäuschen, wie die Muslime sie für die Ablutionen benutzen, und dahinter ein schöner, unten an dem dichten Laubwerk gerade beschnittener Baum.

Das Napoleon-Haus finde ich nicht, suche es aber auch nicht gezielt. Napoleon soll hier auf seinem Ägypten-Feldzug Halt gemacht haben, aber Belege gibt es dafür nicht. Dafür aber jede Menge Anekdoten und eben das Haus, das als Napoleon-Haus ausgegeben wird.

Ich suche das Archäologische Museum, und die Frau, die ich danach frage, sieht mich wie einen Verirrten an und zeigt auf das Haus, vor dem ich stehe. Das ist wohl so etwas wie eine ehemalige Schule oder ein ehemaliges Amtsgebäude, einstöckig, das die Stadt zur Verfügung stellt.

Es ist ein kleines Museum, eigentlich nur ein einziger, langgestreckter Raum, durch zwei Nischen in der Mitte in zwei Teile geteilt. Der hintere Teil hat römische Exponate, der vordere alles, was zeitlich früher liegt.

Es geht gleich mit Funden aus Fournou Koryphi los, den ältesten des Museums, und damit ist die Verbindung mit Myrtos gleich hergestellt. Wieder gibt es Keramik in der Art der Teekannen, aber auch ein großes Pithos, eins von denen, von denen in Myrtos die Rede waren, die mit einem großen Fassungsvermögen. Sie wurden für Öl, Wein, Getreide, aber auch für Kleider benutzt und entweder mit einer Holzplatte oder mit Tuch verschlossen, das wiederum mit einer Kordel festgehalten wurde.

Vor allem aber gibt es zwei Verzierungsformen und auch die Erklärungen dafür. Einige Gefäße haben „Kordeln“, Wulste aus Ton, die genau das darstellen sollen: die Kordeln, mit denen die Gefäße festgebunden wurden. Bei anderen benutzte man Farbe. Die legte man oben an und ließ sie dann einfach den Bauch des Pithos runterlaufen – das imitierte die Flüssigkeit, den Wein oder das Öl, die an dem Gefäß herunterliefen. Moderne Kunst!

Aus anderen Fundorten hat man dann Exponate aus späteren minoischen Zeiten, darunter zwei stattliche minoische Göttinnen mit erhobenen Armen, schon ganz an die berühmten Exemplare aus Knossos erinnernd.

Das Museum hat zwei Prunkstücke, aus unterschiedlichen Zeiten. Eins ist eine römische Statue, erst vor kurzer Zeit von einem Bauern beim Pflügen gefunden und ist unglaublich gut erhalten. Sie hat ein Gewand schräg über den Körper geschlungen und trägt darunter ein Untergewand. Kopf und Füße sind blankgeputzt. Alle Finger und Zehen – die Finger der rechten Hand sind wohl nachträglich hinzugefügt worden – und das sorgfältig gebundene Haar mit zwei auf die Schulter fallenden Strähnen sind genau gestaltet. In der Hand hält sie eine Ähre – und auf dem Kopf ein Diadem mit Schlangen. Und auf ihr Gesicht fällt ein Schatten von dem Schleier! Sie als Persephone identifiziert worden – daher die Ähre – und stammt aus dem 2. Jahrhundert. Sie steht an der Spitze einer ganzen Reihe von stattlichen römischen Statuen, alle kopflos.

Das zweite Prunkstück ist ein Larnax, ein Totenbehältnis aus Ton. Davon gibt es hier eine ganze Reihe. Es gibt zwei Typen, beide aus zwei Teilen bestehend. Der erste Typ ist rechteckig und steht auf Füßen, und der Deckel hat die Form eines Satteldachs. Der zweite Typ steht direkt auf der Erde, ist abgerundet und hat auch einen abgerundeten Deckel. Der erste Typ erinnert an eine Truhe, der zweite an eine Badewanne. Die Toten wurden gebeugt in das Larnax gelegt, mit den Knien an die Brust gezogen

Die Larnakes sind unterschiedlich groß und unterschiedlich dekoriert. Die meisten haben Dreiecke, Kringel, Schleifen und Schachbrettmuster, einige haben auch Zweige mit Blättern. Das Prachtstück, das aus Episkopi stammt (XIII), hat figürliche Darstellungen, Tiere, Menschen und Geräte. Man sieht ein Wagenrennen, mit drei Männern auf einem Wagen und drei Zuschauern mit erhobenen Händen, Ausdruck der Begeisterung oder Anfeuerungsgeste. Das Tier, das den Wagen zieht – nicht zu identifizieren – ist, wie alle Tiere, im Profil dargestellt, mit einem einzigen, riesigen, runden Auge. In einer anderen Szene sieht man eine Kuh, vielleicht eine Hirschkuh, ihr Junges säugen. In den anderen Szenen scheinen die Jungen auf dem Rücken der Mutter zu reiten. Das ist aber ein Missverständnis. Die vermeintlichen Jungen sind tatsächlich Hunde, die in der Jagd verwendet werden. Männer mit Lanzen stehen daneben. Die gejagten Tiere sind wohl Steinböcke.

Ich bin die ganze Zeit allein im Museum, zusammen mit dem Wärter, der brummig am Eingang sitzt und Kreuzworträtsel löst und sich geräuschvoll die Nase hochzieht. Als ich gehe, geht er erleichtert vor die Tür, vielleicht um zu rauchen, vielleicht, weil er Besucher nicht ausstehen kann.

Ich kann mir aufgrund einer gönnerhaften Spende aus der Heimat einen Großeinkauf leisten. Den will ich bei Spar machen, und mache ihn auch, aber erst, als ich im Geschäft bin, merke ich, dass ich im falschen Spar bin, nicht dem großen, lichten, modernen, in dem ich letzte Woche gelandet bin. Macht nichts. Ich bekomme alles Mögliche für den Haushalt, von Handtuchhaken bis zur Bratpfanne. Am Ende bleiben noch 2,13 € übrig. Davon kaufe ich mir in Myrtos eine Melapita. Kostet 2 €. Was mache ich nur mit den 13 Cent?

Am Abend gehe ich ins Akti, weil ich den ganzen Tag über nichts Substantielles gegessen habe: einen Keks, ein Gebäck, eine Pita. Trotzdem habe ich keinen Hunger. Komisch.

Im Akti bestelle ich Σπετσοφάι/Spetsofai. Davon hatte ich mir eigentlich mehr versprochen. Statt eines Wursteintopfs mit Reis, Zwiebeln, Tomaten und Paprika bekomme ich eine paar Scheiben gebratener Wurst mit etwas Tomatensoße. Eine Enttäuschung. Das Brot hier schmeckt wieder gut. Ich frage, woher sie das bekommen. Aus der Bäckerei. Da haben sie mir dieser Tage ein anderes Brot verkauft. Das hat mir gar nicht geschmeckt.

Als ich nach Hause zurückgehe, so um halb zehn, sind an einem erleuchteten Platz immer noch Kinder. Sie spielen nach Herzenslust, um diese Zeit. Kein Wunder: Es ist hell, der Platz ist geschützt, und es ist warm.

19. Oktober (Sonntag)

Der Wind macht nicht, was von ihm erwartet wird. Gestern Abend hielt er sich zurück, heute Morgen macht er sich bemerkbar. Aus dem Weg zum Mülleimer bläst er mir den Sand in die Augen. Auf dem Rückweg wird ein Plastikstuhl auf einem Balkon durch die Gegend gestoßen und fliegt fast runter. Dann bleibt er aber mit zwei Beinen am Geländer hängen.

In der Bäckerei kaufe ich das Weißbrot, das sie im Akti haben. Und das mir so gut geschmeckt hat, im Gegensatz zu dem labbrigen hier aus der Bäckerei dieser Tage. Schmeckt auch nicht. Einzige Erklärung: Sonntags wird nicht gebacken.

Unter den Blumen auf der Pergola in der Wohnung entdecke ich eine einzelne blaue Blüte. Bisher habe ich sei noch nie gesehen. Blau kommt in der Natur nicht so oft vor. Eigentlich komisch.

Da ich mich jetzt doch noch auf ein Gutachten für eine Bewerbung eingelassen habe, ist die heute dran. So was will man immer schnell vom Tisch haben.

In der Wohnung liegen kleine paketartige Geräte mit Steckern, offensichtlich dazu da, in die Steckdose gesteckt zu werden. Ich dachte, sie wären für das Aroma, aber tatsächlich sind sie gegen Mücken. Ob sie auch gegen Fliegen helfen? Ich versuch‘s mal.

20. Oktober (Montag)

Ich suche mal eine andere Route zum Laufen, die Straße nach Vianos, aber das ist eine vielbefahrene Straße, und ich lasse das bald sein. Zufällig sehe ich einen kleinen asphaltierten Weg, der davon abgeht: ideal zum Laufen. Wie zu Hause im Tiergarten, nur dass es hier keinen Wein gibt, sondern Apfelsinen, Oliven und Granatäpfel. Die Granatäpfel sind teilweise angeknabbert. Sie scheinen bei Vögeln beliebt zu sein.

Nach einer Abbiegung ist man plötzlich in der Wildnis. Hohe Berge im Hintergrund. Plötzlich kommt links, ganz für sich allein, eine kleine quadratische Kirche in Sicht, ganz in Weiß. Sie besteht fast nur aus dem Raum unter der Kuppel.

Rechts steht ein Boot auf einer Art Trockendeck, woanders ein Anhänger mit Kanistern und Bündeln daneben. Auch das sieht merkwürdig aus vor den hohen Bergen, hier in der Wildnis.

Dann kommt ein größeres Gebäude in Sicht. In großen Lettern stehen vier Wörter dran. Davon verstehe ich nur εργαστάσιο, ‚Fabrik‘. Dann kann ich in einem anderen Wort den Wortteil ‘Holz‘ identifizieren, ξυλό. Und dann dämmert es mir: es ist die Holzfabrik von Apostolos, und die beiden anderen Wörter sind einfach Βεληβασάκης Απόστολος – Velivasakis Apostolos. Wieder ein typisch kretischer Nachname, genauso wie gestern in Ierapetra, genauso wie der des Bürgermeisters auf dem Begrüßungsschild am Eingang des Ortes: Πρατικάκης – Pratikakis.

Dann kommen Gewächshäuser. An einem steht schräg über dem Eingang ein Kreuz: Dank für reiche Ernte? Bitte um gutes Gedeihen? Abschreckung von bösen Geister? Abschreckung von Dieben? Alles gleichzeitig?

Bald führt der Weg auf eine Straße, und ich kehre einfach um. An einem Feld, wo es auch Granatäpfel gibt, ist hoch an einem einzelnen, schräg nach oben wachsenden Ast irgendetwas festgebunden. Es könnte genauso gut eine Kartoffel wie eine tote Ratte sein. Abschreckung für die Vögel?

Danach gehe ich gleich zum Strand runter. Da ist heute wirklich nur ein einziges Ehepaar, und die gehen gerade. Ich habe das Meer wirklich für mich alleine. Die Köpfe, die hinten im Wasser gelegentlich auftauchen, sind Bojen.

Zuhause sitzen Zoe und Jaralampos im Innenhof. Ich setze mich zu ihnen. Ich frage nach einer Pflanze, die sie mir dieser Tage mit einer Blume in ein Glas gestellt hat. Sie weiß, was ich meine. Es wächst gleich hier, vor unseren Augen. Man benutzt es beim Kochen. Auf Griechisch heißt es δενδρολίβανο, aber sie kennen das deutsche oder englische Wort nicht. Erst durch eine zweite Bezeichnung im Griechischen wird es klar: Rosmarin.

Sie erklären mir, wie das mit den Kirchen hier geht. Es gibt eine ganze Reihe für so einen kleinen Ort. Es gibt nur eine Pfarrei, und die Gottesdienste werden immer nach Gelegenheit in der einen oder der anderen Kirche abgehalten, oft abhängig vom Patrozinium der Kirche.

Dann widme ich mich der Lektüre. Im Vorwort zu Relato de un náufrago berichtet García Márquez, wie es zu der Erzählung kam. Als junger Journalist wurde er, gegen seinen Willen, von der Redaktion seiner Zeitung aufgefordert, ein Interview mit Luis Alejandro Velasco zu führen, einem Seemann, dem einzigen Überlebenden eines Schiffsunglücks. Er hatte sich eine ganze Woche ohne Nahrung an einem Floß festgeklammert und hatte überlebt. In Kolumbien hatte er einige Berühmtheit erlangt und war in Fernsehshows aufgetreten und hatte in Werbefilmen mitgemacht. Die Sache war refrito, ‚ausgekocht‘ sozusagen, sie bot nichts Neues mehr, dachte Márquez. Außerdem hatte sich Velasco selbst der Redaktion angeboten und gefragt, wie viel Geld er für ein Interview bekommen würde. Als Márquez dann mit dem jungen Mann sprach – der war gerade mal zwanzig – war er überrascht von der Distanz, mit der er über seine Erlebnisse sprach und die Selbstironie, zu der er fähig war. Noch überraschter war er, als er ihn bat, den Sturm zu beschreiben, der das Schiff zum Kentern gebracht hatte. Die Antwort war: Es gab keinen Sturm. Wie, es gab keinen Sturm, das Schiff ist doch gekentert? Ja, aber es gab keinen Sturm. Dabei war das die offizielle und bis dahin einzige Version der Geschichte gewesen. Márquez stellte Nachforschungen an und bekam Bestätigung von den meteorlogischen Stationen: Februar, karibischer Frühling, alles ruhig, kein Sturm. Es stellte sich heraus, dass das Schiff nicht wegen eines Sturms gekentert war, sondern weil das Schiff überladen und die Ladung falsch verteilt war, ein grober Verstoß gegen die Regeln. Außerdem hatte das Schiff Handelsware an Bord – Kühlschränke, Radio usw. – und das hätte es als Zerstörer, als Schiff der kolumbianischen Marine nicht haben dürfen. Und außerdem handelte es sich um Schmuggelware – das Schiff war zur Reparatur in den USA gewesen. Drei gravierende Verstöße zusammen. Kein Wunder, dass die Regierung alles daran tat, dass die Wahrheit nicht an den Tag kam.

Am frühen Nachmittag gehe ich zum Periptero, um Maria guten Tag zu sagen. Sie lädt mich zu einem Granatapfel ein. Man isst nur die Kerne, sonst nichts. Die werden hier einfach mit den Fingern aus dem Fruchtfleisch gepuhlt. Schmecken gut, sehr süß. Ich lerne bei der Gelegenheit das Wort für Granatapfel: ρόδι – rodi.

Als ich gerade davon erzähle, wie ich am Morgen an der Fabrik vorbeigekommen bin, erscheint Apostolos selbst. Er habe mich vermisst, jeden Abend sitze er hier von acht bis elf und schwätze mit den Leuten. Ob ich denn nur arbeite?

Ich erzähle, dass ich gerade einen Granatapfel gegessen habe, und ein besseres Stichwort konnte es für ihn nicht geben. Er erzählt stolz, was er alles anbaut, wie viele Tage er wie viele Stunden mit der Ernte verbringe, dass er auch in Vianos Oliven habe, dass er keine Chemikalien verwende, dass seine Bananen kleiner als die von Chiquita seien, aber leckerer. An Selbstbewusstsein fehlt es ihm nicht. Ich erfahre bei der Gelegenheit, dass die zerrissenen Bananenblätter, über die ich mich so gewundert habe, vom Wind zerrissen werden. Und dass es dieses Jahr eine reiche Olivenernte gebe, während letztes Jahr ein Schuss in den Ofen war. Wenn ich nicht verstehe oder er Zweifel hat, ob ich verstehe, setzt er seine Englischkenntnisse ein: Understand? Big! Bananas!

Am Ende wird beschlossen, dass ich ihn gleich begleite, mit dem Auto, und dann zu Fuß zurückgehe, weil er noch im Garten zu tun hat. Gesagt, getan. Der Garten liegt tatsächlich genau an dem Weg, den ich heute Morgen beim Laufen entdeckt habe. Hinter einem einfachen Drahtverhau findet sich das, was man perfekt mit Kraut und Rüben beschreiben kann. Von „Beeten“ kann keine Rede sein, alles scheint da zu wachsen, wo es zufällig wächst, und dazwischen gibt es ein paar staubige Trampelpfade – die man als Fremder aber kaum erkennt. Aber es ist erstaunlich, was da alles zum Vorschein kommt: Bohnen, Salat, Gurken, Paprika – ich mache große Augen, als er die irgendwo unter einem Blatt auf der Erde hervorzieht – Melonen, Apfelsinen, Zitronen, Kürbisse, Auberginen. Die Apfelsinen, das hat er schon vorher angekündigt, sind noch in einem frühen Reifestadium, aber jetzt schmeckten sie am besten. Er pflückt eine, schält sie und gibt mir ein Stück. Sie schmeckt wirklich nicht schlecht, aber etwas reifer ist mir doch lieber.

Dann kommen die Bananen. Er hebt ein riesiges Bananenblatt zur Seite und es kommt ein dickes, großes Bündel von Bananen zum Vorschein. Und davon gibt es dann bestimmt ein Dutzend an unterschiedlichen Stellen, alle in einem unterschiedlichen Reifezustand, alle ziemlich klein. Er gibt mir eine zum Probieren. Schmeckt gut, aber anders als die bei uns.

Er nimmt einen Schlauch und wässert die Bananen. Wie häufig sie denn Wasser bräuchten, will ich wissen. Jeden Tag. Das Wasser kommt aus einem großen Plastikkanister, einer Art Zisterne, die man vermutlich auf einen Anhänger laden kann.

Zum Schluss kommt noch der Hühnerkäfig. Da sind auch ein paar ganz ungewöhnliche Exemplare, vielleicht Truthähne. Er füttert sie alle mit Körnern und mit Salat. Proteine, sagt er. Ob ich wisse, was Proteine sind. Er gibt mir noch Eier mit auf den Weg nach Hause. Ohne Chemikalien! Alles natürlich!

Zu all dem, was ich aufgelistet habe, kommt noch das hinzu, was ich nicht erkenne und auch nicht verstehe. Dann wird er schnell ungeduldig. Diese merkwürdigen Fremden, die die einfachsten Wörter nicht verstehen. Kennt doch jedes Kind. Als wir vor einem Beet stehen, greift er entnervt zu seinen Englischkenntnissen und erklärt mir, was da angepflanzt wird. Ich höre so etwas wie Schieps. Keine Ahnung, was das sein soll. Dann fällt der Groschen: Chips. Er meint Kartoffeln! Wunderbar. Ich glaube nicht, dass er versteht, warum ich das zum Lachen finde. Ohne es zu wollen, hat er mir den Rest des Tages aufgehellt.

21. Oktober (Dienstag)

Für heute ist besonders gutes Wetter angesagt, für die nächsten Tage nicht. Ist das ein Grund fürs Wegfahren oder fürs Hierbleiben? Ich nehme es als Grund fürs Wegfahren. Es geht nach Spinalonga.

Für die 50 Kilometer bis Agios Nikolaos brauche ich mit dem Auto eine Stunde. Das geht. Und die Fahrt, hoch und runter, mit den grünen Hügeln im Vordergrund, dem blauen Meer dahinter, den fast schwarzen Bergen im Hintergrund, den Brücken und Schluchten, und das alles bei strahlendem Sonnenschein, ist ein Genuss. Vorsichtig muss man bei den vielen Kurven trotzdem sein.

In Agios Nikolaos folge ich den Hinweisschildern zum Öffentlichen Parkplatz, aber aus der engen Straße setzt eine deutsche Touristin ihren Leihwagen rückwärts heraus, ziemlich ungeschickt, und mit den Händen fuchtelnd, um mir zu sagen, dass man da nicht durchkommt. Ich lasse sie raus und fahre dann trotzdem rein. Keine fünfzig Meter weiter steht ein Tankwagen, der durch ein Kellerfenster Öl einführt. Ich stelle mich seelenruhig dahinter und schalte den Motor aus. Das Warten hat sich gelohnt. Als der Tankwagen fertig ist, finde ich sofort eine Parkplatz, direkt am Meer, und gratis.

Agios Nikolaos hat keine historischen Sehenswürdigkeiten und ist trotzdem ein Touristenmagnet. Das liegt in erster Linie an seiner schönen Lage an einer durch einen felsigen Landvorsprung in zwei Teile geteilten Bucht. Die kann man vermutlich eher von weiter oben genießen, aber hier unten merkt man auch sofort, was den Ort ausmacht: Überall stößt man auf Wasser. Da, wo man Auto steht, ist der Strand. Agios Nikolaos hat einen Strand mitten in der Stadt! Etwas weiter davon, aber abgetrennt, ist der Yachthafen. Wenn man dann durch die Innenstadt geht, stößt man am anderen Ende wieder auf Wasser: der Hafen. Und daneben befindet sich ein See! Das ist der rätselhafte Voulismeni-See. Er soll angeblich keinen Grund haben, und es wird kolportiert, Cousteau habe vergeblich versucht, bis auf den Grund vorzustoßen. Deutsche Panzer sollen im Zweiten Weltkrieg im See auf Nimmerwiedersehen verschwunden sein, genauso wie ein Lastwagen, der von ein paar Jahren in dem See landete. Es gibt Spekulationen, dass er unterirdisch mit dem Meer verbunden ist. Nach dem Vulkanausbruch auf Santorini tauchten in dem See plötzlich tote Hochseefische auf. Seine Farbe ist aber deutlich anders, eher türkis, als das blaue Wasser im Hafen. Heute ist der See mit dem Hafenbecken durch einen Kanal verbunden, der von den Türken gebaut wurde. Er dient als Fischerhafen.

Das Schiff, eine Kreuzung aus Fähre und Ausflugsboot, liegt im Hafen, direkt vor zwei großen, weißen Kreuzfahrtschiffen. An Bord herrscht ein großes Sprachengemisch. Mir gegenüber sitzt erst eine Familie, die man Russisch, mal Französisch miteinander spricht. Sie werden abgelöst von drei Frauen, die Schwedisch sprechen. Am Rand sitzt ein Ehepaar, das mal Französisch, mal Griechisch miteinander spricht. Überhaupt scheinen die Griechen, die unter den Passgieren sind, Auswanderer zu sein.

Unterwegs nach Spinalonga macht das Schiff kreisende Bewegungen, und auf einmal wird der Anker geworfen. Es war zwar die Rede davon, dass es einen Zwischenhalt zum Baden geben würde, aber auf den Felsinseln der Umgebung ist nicht ein Meter zu entdecken, der als Badestrand benutzt werden kann. Als ich es kapiere, sind die ersten schon im Wasser. Es wird nicht an Land, sondern hier, mitten in der Bucht geschwommen. Die meisten bleiben an Bord und beobachten die Schwimmer. Am meisten amüsiert sich ein kleines holländisches Mädchen, das auf dem Rücken des Vaters schwimmt und sich hin und wieder löst und sich mit zappelnden Bewegungen über Wasser hält und dabei vor Vergnügen kreischt.

Auf Spinalonga gibt es keinen Kiosk, kein WC, kein Café. Da freut sich der Wirt des Schiffes. Nach dieser Ankündigung formiert sich dort sofort eine Schlange. Ich bin dabei und esse zur Abwechslung einen Burger. Schmeckt gar nicht schlecht.

Dann kommen wir nach Spinalonga, der Leprainsel. Die Insel ist kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe. Wir fahren einmal um die Insel rum. Die Seite zum offenen Meer hin ist anders als die Seite zum Festland hin, wo es kaum Zeichen von Bebauung gibt. An der Spitze der Insel, hoch oben, die Reste des venezianischen Kastells, mit einer runden Bastion zum Meer hin.

Der Name Spinalonga bezeichnet sowohl die Insel, um die wir gerade geschifft sind, als auch die (viel größere) Halbinsel, an deren Spitze sie liegt. Streng genommen ist die Halbinsel auch keine Halbinsel mehr, seitdem französische Ingenieure einen Kanal durch die Landenge stießen, unten, wo sie mit dem Festland verbunden war.

Die Terminologie führt manchmal zu Verwechslungen. Zu allem Übel ist der offizielle Name heute nicht mehr Spinalonga (Σπιναλόγκα), sondern Kalydon (Καλυδών), und das war auch der alte, antike Name. Der Name Spinalonga, ‚langer Dorn‘, kommt von den Venezianern. Der lange Dorn verläuft parallel zum Festland, nur durch eine schmale Passage von ihm getrennt. Oben, als Fortsetzung des Dorns, liegt die Insel. An der musste man vorbei, wenn man nach Elounda wollte, auf dem Festland auf Höhe des unteren Ende des Dorns gelegen. Die Insel bewachte also die Einfahrt in diese schmale Meerespassage. Das erklärt die Präsenz des mächtigen Kastells.

Der Name Spinalonga soll auf ein Missverständnis zurückgehen, nämlich volksetymologisch abgeleitet von stin Elounda (στην Ελούντα), ‚nach Elounda‘.

Bevor wir an Land gehen, bekommen wir noch ein paar Erklärungen, nach Sprachen getrennt. Bei uns macht das eine Griechin, die mit dem Rhythmus eines Maschinengewehrs auf uns einredet, in phantastischem Deutsch. Alles sehr informativ, aber zu viel auf einmal. Am Ende sagt sie: Ich hör jetzt auf mit meinem Geschreie. Weg mit Ihnen!

Am Eingang der Insel zahlt man 2 € Eintritt und geht dann einmal um die Insel herum. Viel zu sehen gibt es nicht – ein paar Grundmauern, ein paar Treppen, die ins Nichts führen, ein paar verschlossene Kirchen, einen Friedhof, Reste der Bastionen, ein Tor. Es geht hier mehr um die Atmosphäre und um die Geschichte. Auf der dem Meer zugewandten Seite sind ein paar Häuser erhalten bzw. renoviert worden. Hier gibt es allerhand Erklärungen an Tafeln, aber kaum Ausstellungstücke. Dass so wenig erhalten blieb, hat zwei Gründe: Die Leprakranken rissen Teile der venezianischen Mauer ab, um für sich bessere Lebensbedingungen zu schaffen, und als man die Leprakolonie auflöste, wollte man von dieser Vergangenheit nichts mehr wissen und beseitigte viele Zeugnisse aus der Zeit.

Als Kreta selbständig wurde, sammelte man hier alle Leprakranken aus ganz Kreta ein. Die entschädigte  und „sperrte“ sie auf der Insel ein. Sie durften sie nie verlassen. Das hört sich grausam an, aber das Schicksal der Leprakranken vorher war sicher nicht besser. Die meisten waren „Ausgestoßene“ und vegetierten in Wäldern und am Rande von Orten vor sich her. Hier wurden sie allerdings auch sich selbst überlassen. Und die völlige Isolierung beruhte auf einer Reihe von Missverständnissen über die Krankheit: Inkubationszeit, Vererbbarkeit, Ansteckungsgefahr. Aber man wusste es schlicht nicht besser.

Als dann Kreta zu Griechenland kam, wurden auch aus anderen Teilen Griechenlands Leprakranke hierher gebracht, darunter ein junger Athener Jurastudent, der sich dann hier daran machte, durch Eingaben und Streiks und durch Organisation das Leben hier erträglicher zu machen. Er gründete eine Bruderschaft und setzte auf die Solidarität unter den Kranken. Mit durchschlagendem Erfolg. Den Leprakranken wurde eine Art Sozialhilfe bewilligt, und zwar eine relativ großzügige. Das machte sie für die Kaufleute der Umgebung plötzlich interessant. Gute Kundschaft. Die Kaufleute waren clever genug, zu erkennen, dass sie zwar von den Leprakranken profitierten, dass aber die Leprakranken von ihnen abhängig waren und verkauften ihre Waren zu völlig überhöhten Preisen. Die Waren wurden per Schiff hierher gebracht, und dann durch eine Lücke in der Mauer auf die Insel geschafft. Die Händler betraten die Insel nicht. Das Geld, das sei einnahmen, wurde  desinfiziert. Der Kessel für das Desinfizierungsmittel heute noch heute in einem Raum neben der gut erhaltenen Pforte am alten Hafen. Später, als auch Verwandte die Leprakranken besuchen konnte, wurden auch sie desinfiziert, wenn sie die Insel wieder verließen. Heute weiß man, dass die ganze Desinfizierung Blödsinn war. Sie beruhigte aber.

Durch die Initiativen des jungen Mannes wurde aus dem Ghetto allmählich ein Dorf mit allem Anschein von Normalität. Es gab Werkstätten, Bäckereien (in einigen Häusern sieht man noch Backöfen), Gemüsegärten, Tavernen und auch eine erste medizinische Versorgung. Auch die alten Zisternen wurden erneuert. Die stammten noch von den Venezianern. Es gibt nämlich auf der ganzen Insel kein Wasser. Die Venezianer hatten bereits ein ausgeklügeltes System von miteinander verbundenen Zisternen, durch die jedes Haus mit Regenwasser versorgt wurde!

Einen besonderen Ruf erwarb sich ein Arzt, Dr. Grammatikakis, der die Kranken 25 Jahre lang behandelte, ohne selbst zu erkranken. Ebenfalls einen besonderen Ruf erwarb sich ein Pope, der Eheschließungen unter den Kranken vornahm, was eigentlich verboten war. Viele Paare bekamen Kinder. Keins von denen war je von Lepra befallen. Sie durften zuerst nicht auf der Insel bleiben, sondern kamen nach Athen. Das änderte sich später.

Verschiedene Konfessionen lebten zusammen und teilten sich dabei eine der Kirche. Die war zweischiffig. Ein Schiff wurde von den Orthodoxen, das andere von den Katholiken benutzt!

Der Friedhof liegt ganz oben, nahe der venezianischen Bastion. Man sieht eine Reihe von gleichen Steinplatten, eine an die andere gereiht, unter der die Toten begraben wurden. Nach einer gewissen Zeit wurden die Gebeine, der orthodoxen Tradition folgend – die das Verbrennen von Leichen verbietet – entnommen, in Wein gewaschen und ins Beinhaus gebracht.

Dann geht es wieder zum Boot. Auf dem Rückweg sehen wir noch, vom Schiff aus, den Eingang zu einer Höhle, angeblich die Höhle eines berüchtigten Piraten, und eine Insel, auf der eine geschützte Ziegenart, die Kri Kri lebt, von denen aber nichts zu sehen ist. Die beiden Punkte sind wohl eher für die Broschüren.

In und um Agios Nikolaos gibt es noch einiges zu sehen, aber dafür muss man nochmal wiederkommen. Ich will noch nach Myrtos kommen, bevor es dunkel wird.

Auf dem Rückweg verfahre ich mich an der gleichen Stelle wie bei der Ankunft auf Kreta, vor zwei Wochen, an einer Baustelle, und drehe auch an der gleichen Stelle um. Da steht vor mir ein Umzugswagen mit der Aufschrift Μεταφορές. Die Kamera ist glücklicherweise zur Hand.

Man sieht auf dieser Strecke immer auffällig viele Pickups. Die scheinen für die kleinen Landwirte und Bauunternehmer besonders geeignet. Heute habe ich einen von VW vor mir. Wusste gar nicht, dass die sowas herstellen. Sonst sieht man meistens Ford oder Toyota. Außer Pickups sieht man auch viele Kleintransporter und motorisierte Leiterwagen.

Nicht zu übersehen: Zwischen Ierapetra und Myrtos gibt es, unerwartet wegen der Nähe des Meeres und dem dörflichen Charakter von Myrtos, jede Menge Autohändler, Werkstätten, Tankstellen, Waschanlagen, Ersatzteillager. Ich brauche mein Auto dann doch nicht, wenn mal was dran sein sollte, nach Athen zu bringen.

Zoe verdient sich ein kleines Extra, indem sie meine Hosen und Hemden wäscht. Alles andere mache ich per Hand. Als ich nach Hause komme, liegt die Wäsche frisch gewaschen und gebügelt auf dem Bett. Die Wohnung ist geputzt, das Bett neu bezogen, die Vase mit frischen Blumen aufgefüllt. Die Handtücher und Bettdecken sind so kunstvoll arrangiert, wie man es in einem Vier-Sterne-Hotel erwarten würde. Das ist ein Photo wert.

22. Oktober (Mittwoch)

Für heute ist der erste Regen angesagt, aber am Morgen sieht es noch nicht danach aus. Beim Laufen ist auch noch nichts von sinkenden Temperaturen zu spüren, aber dann später beim Einkauf doch. Jetzt fühlt es sich richtig kühl an. Beginnt jetzt der kretische Herbst?

Weiß getünchte Häuser mit blauen Türen, Balkonen und Fensterläden: das Griechenlandklischee. Manchmal gibt es so etwas wirklich, aber dann ist da oft ein Souvenirgeschäft drin. Ich finde zwei andere Dinge eher typisch: den einzelnen, oft verlassen, manchmal kaputten Stuhl, der vor Häusern oder am Wegesrand steht und die schmalen Außentreppen, über die man in das obere Stockwerk gelangt. Bei den Treppen sehe ich sogar eine Verbindung zu den alten minoischen Traditionen, auch wenn das etwas weit hergeholt erscheint: Die zweistöckigen minoischen Gebäude hatten überhaupt keinen Zugang im Untergeschoss. Man gelangte über eine Leiter nach oben und von dort nach unten!

Charalampos erklärt mir, als ich ihn nach einer Karte für das Handy frage, diesen Unterschied: η κάρτα heißt ‚Telefonkarte‘, ‚Geldkarte‘, oder ‚Ansichtskarte‘, το χάρτι ‚Papier‘, ‚Dokument‘ oder ‚Spielkarte‘), ο χάρτης ‚Landkarte‘. Drei verschiedene Genera, um die Sache noch komplizierter zu machen! Alle diese Wörter sind ursprünglich abgeleitet von χάρτης, das dann über das Lateinische und das Französische in die europäischen Sprachen kam und als κάρτα wieder zurückkam! Aber auch χάρτης ist nicht originär. Es ist abgeleitet von einem ägyptischen Wort, und das bezeichnete das Blatt der Papyrusstaude!

Man sieht auch, wie flexibel das deutsche Wort Karte ist. Aber auch, wie kompliziert die Relation zwischen den Sprachen ist. Die Karte im Lokal, die Speisekarte, heißt auf Griechisch κατάλογος! Und die Karte fürs Konzert, die Eintrittskarte, heißt εισιτήριο!

23. Oktober (Donnerstag)

Gestern hat es tatsächlich zum ersten Mal geregnet, aber so undramatisch, dass ich es erst nachher an der nassen Straße gemerkt habe. Heute sieht die Sache anders aus: Noch als es dunkel ist, werde ich vom Regen geweckt, und als er hell wird, sieht es aus wie an der Nordsee. Als ich dann aber die Fenster aufmache, ist es immer noch angenehm warm. Die Temperatur scheint gar nicht zu dem Bild zu passen.

Streng genommen hat die Wohnung gar keine Fenster, sondern Türen, Türen, die auf den Balkon führen. Trotzdem spreche ich intuitiv davon als Fenster. Auf Englisch heißen sie French Windows!

Beim Bäcker erwische ich endlich das richtige Brot: χωριάτικο ψωμί, frei mit Landbrot zu übersetzen. Das würde sogar trocken schmecken.

Ich gehe kurz zum Meer runter. Eine Handvoll Menschen, aber keiner traut sich ins Wasser. Wohl zu gefährlich. Es sieht gleichzeitig verlockend und furchterregend aus.

Am Abend am Kiosk sehe ich dann am Fernsehen, wie es in ganz Europa regnet, auch in ganz Griechenland, außer in Kreta, und dass es in Deutschland und England Sturmfluten gegeben hat. Da sind wir ja noch gut weggekommen.

24. Oktober (Freitag)

Manchmal flackert in der Wohnung das Licht, und dann flackert auch das Licht. Manchmal geht es auch kurz aus. Wie heute. Ich merke gar nicht, dass es gar nicht mehr wieder kommt, bis ich an den Kühlschrank gehe. Strom aus. Ich fummele ein bisschen an den Sicherungen herum. Nichts. In dem Zusammenhang fällt mir das wunderbare griechische Wort für ‚Strom‘ ein: ρεύμα [revma], also Rheuma sozusagen. Als ich zum Laufen gehe, kommen mir Zoe und Charalampos entgegen. Sie wissen längst Bescheid: Der Strom ist überall ausgefallen. Ich bin aber zur richtigen Zeit weg. Als ich wiederkomme, haben wir wieder Rheuma.

In den Uni-Mitteilungen wird zur Teilnahme an einer wissenschaftlichen Studie aufgerufen. Es werden Gutscheine unter den Teilnehmern verlost. Das Thema: Die Nutzung von Kaffeemaschinen.

Der italienische Roman ist nicht unbedingt einer, den man weiterempfehlen muss. Sehr schön das Ambiente, das der Reichen und Schönen Mailands, und auch ein paar authentisch klingende Dialoge. Auch die unbekannte Topographie Mailands Aber sehr flache Charaktere, eine unnötige Nebenhandlung (manchmal hatte ich den Eindruck, beim Kindle auf die falsche Stelle gedrückt zu haben, so willkürlich kam die daher), eine klischeehafte Geschichte (reiches Töchterlein verliebt sich in armen Studenten), ein abruptes Ende (wieder habe ich am Kindle herumgefummelt, um zu sehen, ob da noch was kommt). Dabei hat der Roman lauter vielversprechende Themen, aber irgendwie enden sie alle im Nichts.

Im Laufe des Tages mache ich ein paar Versuche, in einem „Reisebüro“, das hier von einer Deutschen und einer Österreicherin geführt wird, Informationen zu bekommen. Das haben mir die Griechen empfohlen. Erst am Abend habe ich Erfolg. Die Österreicherin bietet geführte Wanderungen an, jede Woche dasselbe Programm, aber jetzt ist es dafür schon etwas zu spät, sie improvisiert, und die Wanderung, die ich mir ausgeguckt hatte, fällt aus. Nächste Woche soll sich aber das Wetter wieder beruhigen, und dann soll ich nochmal nachfragen. Ob es mit einer Wanderung durch die Schlucht noch klappt, ist offen.

Am Ende bekomme ich auch die Broschüre mit den Wanderungen in der Gegend um Myrtos. Die Österreicherin hat selbst die Wege markiert.

Ich gehe zum Essen ins Mirtos, zu Jana. Es ist alles anders als noch vor gut einer Woche, als ich zum ersten Mal da war. Keiner sitzt mehr draußen, es nicht sehr voll und es gibt keine Speisekarte mehr. Jetzt geht es nach klassischer griechischer Sitte: Man guckt in die Töpfe. Ich entscheide mich für Schweinefleisch, eine Art Schweinhaxe, das beste Fleisch, das ich seit langem gegessen habe: außen kross gebraten, innen weich.

Es ist stürmisch, aber noch trocken. Das Meer wütet, und der Wind hat einen kleinen Teppich vom Balkon in die Äste eines Baumes geweht. Als ich dann zu Hause bin, fängt es wüst an zu regnen. Sogar die Katzen haben woanders Unterschlupf gesucht.

25. Oktober (Samstag)

Im Internet stoße ich auf ein Photo von dem Strand von Myrtos vom Februar 2008: ganz und gar mit Schnee bedeckt!

Da ich sowieso wegen des Handys nach Ierapetra muss, gehe ich gleich noch mal ins Museum. Diesmal ist statt des grimmigen Mannes eine freundliche Frau da.

Aus der ältesten Periode gibt es, neben der Töpferware, die ich beim ersten Mal schon gesehen habe, auch Artikel aus Stein, teils aus weichem Material – Chlorite, Steatite – teils aus hartem – Marmor, Alabaster. Die Geräte wurden sowohl für rituelle als auch für praktische Zwecke genutzt. Es gibt Öllampen, Mörser, Stößel, Gießformen, Stehlampen, die Schneiden einer Axt und den Kopf eines Hammers.

Als Gegenstück zu den Terrakotta-Särgen aus Episkopi, den Larnakes, gibt es aus einer späteren Epoche (ab dem 8. Jh.) Grabstätten aus Vrona, in denen die Toten verbrannt wurden. Manchmal flackert in der Wohnung das Licht, und dann flackert auch das Licht. Das geschah an Ort und Stelle, also in dem von Steinmauern begrenzten Grab. In dem hier ausgestellten wurden ein Erwachsener und ein Kind verbrannt. Unter den Grabbeigaben befindet sich eine Fibel aus Bronze und Perlen aus Terrakotta, aber auch Trinkgefäße. Es könnte sein, dass die in den Beerdigungsritualen selbst benutzt und dann den Toten mit auf den Weg gegeben wurden.

Aus der späteren Zeit (4. Jh. v. Chr.) sieht man eine sehr gut erhaltene Amphore, auf der ein Mann dargestellt wird, der sich zum Krieg rüstet. Das würde man ohne Erklärung allerdings nicht erkennen. Die Schulter ist von Palmetten geschmückt. Er wird flankiert von einem alten Mann, vielleicht seinem Lehrer, und einer Frau, vielleicht einer Göttin.

Ganz in der Nähe eine plastische Tonvase. Sie stellt einen alten Mann dar. Der Ausguss ist oben, über seinem Kopf, und seine angewinkelten Arme dienen als Griffe. Der Mann hat einen prächtigen Schmerbauch, einen wilden Bart, kurze Beine, aber einen überdimensionalen Kopf. Antike Witzfigur.

Aus der römischen Zeit stammt eine unscheinbare Steinsäule, oder die Rest davon, aus dunklem Titan. Man sieht gar nicht, dass sie beschriftet ist, und zwar zu beiden Seiten. Sie belegt aber die damalige Bedeutung von Ierapetra, denn der Text ist eine Vereinbarung der Stadt mit dem König Antigono von Mazedonien.

Gegenüber eine Steintafel, ebenfalls römisch, die ebenfalls einen Text enthält, ebenfalls auf Griechisch. Es ist eine Inschrift, die Titus Claudius Aristagoras ehrt, der dafür gesorgt hat, dass zerstörte Gebäude in Ierapetra wiederaufgebaut wurden, und zwar aus der eigenen Schatulle, auch ein Zeichen für die Bedeutung von Ierapetra.

Obwohl die Wettervorhersage für heute nicht so doll war, fühlt es sich jetzt wieder richtig warm an. Es ist auch am Morgen sehr windstill, obwohl sich das im Laufe des Tages wieder ändert.

Ich versuche wegen des Handys mein Glück bei Γερμανός, dem „Deutschen“, aber da werde ich schon wieder weggeschickt, als ich meine Frage noch nicht zu Ende gestellt habe. Mit Windows geben die sich erst gar nicht ab. Ich werde zu Wind geschickt, nicht weit entfernt, auch in der Innenstadt. Da bedienen zwei sehr freundliche junge Männer eine sehr gemischte Kundschaft. Sie zeigen sich sehr geduldig mit mir und richten mir den „griechischen“ Teil des Handys ein.

Auch in einem ziemlich vollgestopften, aber hellen Schreibwarenladen, der auch Bücher führt, werde ich gut bedient, diesmal von einer älteren Dame. Sie macht alles richtig. Sie antwortet auf Griechisch, holt mir Briefpapier und Umschläge aus einer Schublade und versteht sogar meine unbeholfene Frage, ob sie Linienpapier habe. Nein, hat sie nicht, aber sie trennt einfach ein Blatt von einem liniierten Block ab und legt ihn unter das Briefpapier. Geht. Ich kaufe dann auch noch zwei ziemlich kitschige Geburtstagskarten.

Im Supermarkt – wo man sich ähnlich hilfsbereite Verkäuferinnen wünscht – mache ich eine Art Wochenendeinkauf. Gemüse und Obst sind spottbillig, Käse, wenn es kein griechischer Käse ist, auffällig teuer.

Kuriose Erfahrung auch: Die Kartoffeln sind hier dreckig, d.h. sie haben Erde an der Schale, wie früher bei uns. Und außerdem sind sie härter!

Als ob das griechische Wort für Zucchini, κολοκυθάκια, nicht schon schlimm genug wäre, hier haben die Zucchini auch noch solche Formen, was es ist. Das Wort ist von ital. zucco, ‚Kürbis‘, abgeleitet, eine Diminutivform, und das Wort ist ein Hinweis darauf, dass es sich bei den Zucchini um Kürbisfrüchte handelt!

An der Gemüseabteilung frage ich eine Verkäuferin auf Griechisch, ob ich ihr das Gemüse zum Wiegen geben soll Sie versteht meine Frage und antwortet: Yes.

Es soll ja Menschen geben, die ihrem Verein die Treue halten, auch wenn er irgendwo in den Niederungen der Vierten Liga herum dümpelt. Und auch dann noch mitzittern, wenn es um nichts mehr geht. Wenn diese Menschen dann eine Reise tun, können sie heute auch aus der Ferne das Geschehen mitverfolgen und sich über den aktuellen Spielstand unterrichten lassen. Das war früher anders. Rückblende: Deutschland spielt in der EM-Qualifikation in Albanien. Das Spiel wird nicht im Fernsehen übertragen. (Auch später gibt es meines Wissens keine Fernsehbilder von dem Spiel.) Das Spiel wird auch nicht im Radio übertragen. Aber nicht nur das: Es gibt auch keine Zwischenergebnisse. Und als das Spiel aus ist, gibt es immer noch kein Ergebnis. Wir sitzen gespannt vor dem Radio und warten auf Neuigkeiten. Es gibt Nachrichten, Musik, ein bisschen Hockey, ein bisschen Pferdesport. Immer noch nichts aus Tirana. Dann kommen die ersten Nachrichten, aber nicht bestätigt: Einer Meldung zufolge hat Deutschland 8:1 gewonnen, einer anderen Meldung zufolge ist das Spiel 0:0 ausgegangen. Wir können beides nicht so recht glauben. Vielleicht stimmen ja beide nicht. 2:0 oder 3:1 oder so was waren unsere Tipps. Dann verdichten sich die Gerüchte langsam: Das 0:0 soll stimmen. Dann kommt die Bestätigung, Stunden nach dem Spiel: 0:0. Deutschland ist ausgeschieden.

26. Oktober (Sonntag)

Überall holt einen die Geschichte ein, auch hier. Im Zweiten Weltkrieg, 1944, ordneten die deutschen Besatzer von Myrtos an, alle Einwohner müssten den Ort verlassen. Viele weigerten sich, und das führte zu einem Massaker, bei dem achtzehn Menschen umkamen und das Dorf zerstört wurde. Im Zentrum des Ortes soll ein Denkmal daran erinnern. Das habe ich bisher noch nicht gesehen. Bezeichnenderweise findet sich diese Information auf der englischen, nicht aber auf der deutschen Version von Wikipedia. So konstruieren wir unsere Geschichte.

Obwohl die Gegend schon in der minoischen Periode besiedelt war, ist das jetzige Myrtos ein relativ junger Ort, aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Vorher gab es hier einen Hafen, von dem aus die Bewohner der höher gelegenen Zonen ihre Waren nach Ierapetra verschifften. Ansiedeln wollte man sich hier unten aber nicht, aus einem ganz einfachen, einleuchtenden Grund: Piratenangriffe!

Heute das Laufen immer weiter hinausgezögert. Die Strafe folgt auf dem Fuße: zum ersten Mal nass geworden, und gleich so richtig. Und Vorsicht: Rutschgefahr! Der Regen schlemmt Schlamm auf die Straße, und da bieten Turnschuhe keinen guten Halt. Und werden außerdem immer schwerer.

Unterwegs läuft eine Ziege vor mir quer über den Weg. Für die Besucher sind sie ein guter Anblick, aber für die Natur sind sie eher schädlich. Sie sind sehr gefräßig, und das vernichtet dann auch den Rest der ohnehin durch Rodung, Brandung und Erosion in Mitleidenschaft genommenen Vegetation.

Auf dem Rückweg habe ich auf dem nicht asphaltierten Teilstück plötzlich den Eindruck, mich verlaufen zu haben. Alles sieht so verlassen und trostlos aus. Dann erinnere ich mich an das, was mir die bayerische Frau in dem kleinen Touristenbüro dieser Tag gesagt hat: Nicht auf die Berge gucken, immer am Meer orientieren. Myrtos liegt am Meer. Und das Meer ist an meiner Seite. Gott sei Dank!

Paulus besteht in dem Brief an Timotheus darauf, dass diejenigen, die die Gemeinde leiten, nur eine Frau haben dürfen. Das lässt viele Deutungen zu: Dürfen sie nicht in Polygamie leben? Dürfen sie keine Konkubinen haben? Müssen sie ihrer Frau treu sein? Oder dürfen Sie sich als Witwer nicht wiederverheiraten? Und was bedeutet das für die anderen, die nicht Leiter der Gemeinde sind?

Am Abend gehe ich zu Jana ins Mirtos. Im Fernsehen läuft Fußball. Wobei laufen das falsche Bild ist. Die Spieler stehen auf dem Rasen herum und frieren. Das ganze Spielfeld ist in Nebel gehüllt, und das Spiel unterbrochen. Die Fans haben bengalische Feuer gezündet.

Der Kellner sagt etwas von καλό δρόμο, und ich verstehe ihn nicht. Dabei ist es ganz einfach. Es bedeutet ‚guter Weg‘. Beide Wörter sind hinlänglich bekannt. Nur: Ich merke nicht, dass es zwei Wörter sind. Die Wörter verschmelzen ineinander, und der zweite Akzent scheint wegzufallen. Genug, um mich zu täuschen. Als ich später Apostolos davon erzähle, versteht er nicht, was ich meine. Er glaubt, er müsse mir erklären, was καλό δρόμο bedeutet.

Irgendwann komme ich dann auf dem Nachhauseweg auf Dromedar. Ob das was damit zu tun hat? Ja, es ist griechisch und kommt von ‚laufen‘, ‚rennen‘. Das Dromedar ist das ‚Rennkamel‘.

27. Oktober (Montag)

Heute stehen die beiden Ausgrabungsstätten gleich hier in der Nähe auf dem Programm. Zuerst geht es nach Pyrgos, gleich hier vor dem Ortseingang. Es geht steil auf den Hügel rauf, über einen Pfad, zwischen Olivenbäumen und vertrockneten Gräsern. In einer Viertelstunde ist man oben. Kommt aber verschwitzt an. Auf halber Höhe haben sie noch mal ein großes Hinweisschild angebracht. Alle Achtung. Aber was ist das erst gegen die Minoer, die hier oben schon vor 4000 Jahren Steine hochgeschleppt haben.

Oben hat man einen schönen Blick, auf das Tal mit den Bergen im Hintergrund auf der einen und das Meer auf der anderen Seite, aber von den minoischen Resten nimmt man erst mal kaum was wahr. Steine liegen hier sowieso überall rum. Langsam aber profiliert sich dann doch einiges heraus: Grundmauern, eine Art gepflasterter Hof, Säulenstümpfe, eine Art Treppe. Die führt allerdings von der anderen Seite den Hügel rauf. Die Minoer kamen anders hier an als die modernen Besucher. Der gepflasterte Hof gehört zu einem Landhaus, aus der späteren Epoche, und das befand sich ganz weit vorne auf dem Felsplateau, dem Meer zugewandt. Die anderen Gebäude stammen aus einer früheren Zeit und waren wohl nach hinten ausgerichtet. Irgendwo liegt da vernachlässigt eine Säule auf dem Boden. Ob die mit Bedacht da liegen gelassen wurde? Man würde sie auf Anhieb eher für römisch halten, aber ob die Römer sich überhaupt um Myrtos gekümmert haben?

In der Ferne, landeinwärts, sieht man einen Bagger und einen Lastwagen. Was hier wohl gebaut wird? Erst denke ich an eine Straße, aber: wofür? Und warum so weit oben? Wohnungen? Eine Ferienanlage?

Runter geht es auf dem gleichen Weg. Unten steht eine der kleinen, auf Stelzen stehenden Kapellen, die man hier oft am Wegesrand sieht. Und gegenüber der Wegweiser zu der Ausgrabungsstelle, der nach unten statt nach oben zeigt.

Jetzt geht es auf einem bequemen, erst schönen, dann immer schäbiger werdenden Feldweg in einem großen Bogen zur Hauptstraße zurück. Die Beschilderung ist alles andere als eindeutig, und die Beschreibung in der Broschüre der Österreicherin viel zu knapp. Ich scheine immer weiter ins Gebirge hineinzukommen, und auch der Tipp der Bayerin, sich immer am Meer zu orientieren, nutzt hier nicht so viel, weil die Sicht von den Bergen zu allen Seiten verstellt ist. Dann kommen in einem Tal Gewächshäuser in Sicht und ein Verbotsschild an einem Abhang: keinen Müll hinunterwerfen. Man hört ein quietschendes Geräusch. Das kommt von den Gewächshäusern. Die können wohl oben einen Spalt geöffnet werden. Und das geschieht in diesem Moment.

Mutig setze ich dann meinen Weg zwischen dumpf bellenden Hunden und schrill schreienden Gänsen fort und komme schließlich auf die Landstraße. Ich muss beide Richtungen ausprobieren, um zu finden, wo die Ausgrabungsstätte ist. Dann kommen riesige Schilder, aber kein Weg. Ich kehre wieder um und merke dann, dass die Schilder einen hier direkt den Berg raufschicken. Aus der Wanderung wird eine Kraxelei. Dann schlägt man sich durch stacheliges Gebüsch. Da trifft es sich gut, dass ich die Sandalen gegen Wanderschuhe getauscht habe.

Das eigentliche Gelände, ebenfalls auf einem vorspringenden Hügel gelegen, ist mit einem Drahtzaun umgeben, und man wird aufgefordert, das Tor wieder hinter sich zu schließen. Sagt sich so leicht. Ich kann den Riegel zwar öffnen, aber nicht mehr schließen. Er sitzt fest. Erst versuche ich es mit Drehen, dann mit Schlagen, erst mit der bloßen Faust, dann mit Taschentüchern als Dämpfer. Kein Erfolg. Die Werkzeuge, die ich dabei habe, taugen alle nichts: Kamera, Kuli, Kamm. Und dann fällt es mir siedend ein, hier, an einer prähistorischen Ausgrabungsstätte. Das  älteste Werkzeug der Menschheit liegt hier in hundertfacher Ausführung frei herum: ein Stein. Funktioniert sofort.

Hier ist die Aussicht vielleicht noch majestätischer, aber man kann noch weniger mit den alten Steinen anfangen. Man kann höchstens an den Grundmauern ablesen, wie beengt man hier gelebt haben muss, oben auf dem Felsplateau. Immerhin gab es hier eine ganze Siedlung. Neben den Räumen für die Sippe gab es auch Gemeinschaftsräume, die auch kultisch genutzt wurden. Hier wurde die berühmte Göttin von Myrtos gefunden, die jetzt im Museum in Agios Nikolaos ist.

Kurioses Photomotiv beim Blick nach unten: das winzige byzantinische Kirchlein, ganz einsam, dahinter das Meer, davor die Gewächshäuser.

Von hier oben erkennt man auch den Weg, den John mir im Museum in Myrtos gezeigt hat. Der ist viel bequemer, und den nehme ich für den Rückweg. Warum die Hinweisschilder nicht hier stehen, weiß der Kuckuck. Ich muss auf der Landstraße zurück, und auf dem Weg komme ich dann an der Stelle vorbei, an der ich eigentlich hätte ankommen müssen. Ich muss einen Umweg gegangen sein.

Am Ortseingang von Myrtos fällt mir wieder ein eisernes Schwarzes Brett auf, vor dem ich dieser Tage einen Rollerfahrer gesehen habe, der davor abstieg und in Windeseile ein einziges Blatt auf das Schwarze Brett klebte: eine Traueranzeige. Das ist griechischer Usus.

In der Bäckerei sagt mir die Verkäuferin, dass morgen geschlossen ist: Feiertag. Es ist der Tag des Nein, ein nationaler Gedenktag. Dieser Tage hatten mir Charalampos und Zoe gesagt, die Geschäfte seien geöffnet. Aber das gilt vielleicht nur für die Märkte.

Als ich ihre Erklärung nicht sofort verstehe, sagt die Verkäuferin, in völliger Fehleinschätzung der Schwierigkeiten: closed. Es ist nicht so, dass ich das griechische Wort nicht kenne, ich habe es nicht verstanden! Und selbst wenn ich es verstanden hätte, hätte ich vielleicht nicht verstanden, was wann geschlossen ist.

Das Monument an das Massaker durch die deutsche Wehrmacht steht, so habe ich es mir erklären lassen, an dem Platz mit dem Museum. Es besteht nur aus einer Steinplatte. Daneben eine griechische Fahne. In die Steinplatte sind die Namen der von den Deutschen getöteten Bewohner von Myrtos eingemeißelt. Als Datum wird der 15. September 1943. Ob sich hier noch jemand daran erinnern kann? Es handelte sich offensichtlich um Repressalien, nachdem kretische Partisanen deutsche Soldaten getötet hatten.

Als ich zuhause ankomme, viel später als ich dachte, bin ich verschwitzt und gerädert. Die Wanderung sind laut Beschreibung gerade mal sieben Kilometer, und der Großteil der Strecke war flach. Warum ist das so anstrengend?

28. Oktober (Dienstag)

Heute ist Feiertag, nationaler Gedenktag, man würde sagen griechischer Nationalfeiertag, aber da gibt es noch einen anderen, im März. Heute Επέτειος του «Οχι» [Epetios tou Ochi], der ‚Jahrestag des Nein‘. Das Nein galt Mussolini. Der wollte, nachdem er schon länger versucht hatte, das neutrale Griechenland zu provozieren, endlich die Erlaubnis, griechisches Territorium zu betreten Stützpunkte zu errichten. Das hätte das Ende der griechischen Neutralität bedeutet. Metaxas sagte „Nein“. In dieser verkürzten Form ist jedenfalls das Gespräch, auch durch die Schlagzeile einer Zeitung befördert, in das kollektive Bewusstsein der Griechen eingegangen. Das Ultimatum wurde Metaxas am 28. Oktober 1940 um drei Uhr morgens in seiner Villa überbracht. Schon am nächsten Tag (oder sogar am selben Tag) gab es überall in Griechenland Demonstrationen, die Metaxas, der bis dahin nicht überall beliebt war, in seinem Nein zu unterstützen.

Heute wird der Tag mit Paraden gefeiert. Ich fahre am Vormittag nach Ano Vianos, auf gut Glück. Die Fahrt ist ganz anders als die nach Ierapetra. Es gibt keine Dörfer, keine Cafés am Straßenrand, keine Unternehmen. Die Strommasten sind die einzigen Zeichen der Zivilisation. Es geht immer nur bergauf, in Serpentinen, in die einsame kretische Bergwelt. Dies ist das Dikti-Gebirge, das Gebirge, das dafür verantwortlich ist, dass es in Myrtos und Umgebung trockener und wärmer ist als nördlich des Gebirges.

Unterwegs steht an einer Mauer ΡΙΖΑ. Das kann denjenigen, der lateinische Buchstaben gewöhnt ist, verwirren. Es sind griechische Buchstaben und die stehen für RISA, ein Dorf.

Die Fahrt ist weiter als ich dachte, viel weiter als nach Ierapetra, und plötzlich wird mir bei dem Blick auf die Benzinnadel ganz mulmig. Ich habe die ganze Zeit in Kreta noch nicht ein einziges Mal getankt, und jetzt wird es Zeit. Der Gedanke, hier oben in der Einsamkeit liegen ohne Benzin liegen zu bleiben, ist nicht so verlockend. Und dann kommt plötzlich, mitten auf dem Weg – eine Tankstelle! Keine Fata Morgana. Es ist wirklich eine Tankstelle. Aber die ist stillgelegt, was ich erst merke, als ich schon vor der Zapfsäule stehe.

Dann sieht man in der Ferne Ano Vianos. Es ist ein ganz normales Dorf, vielleicht so groß wie Myrtos, aber der erste Eindruck ist sehr positiv. Vielleicht liegt es einfach an der Fahrt durch die Einsamkeit. Am Ende des Ortes finde ich einen Parkplatz.

Ich gehe zurück über die Hauptstraße. Zu beiden Seiten der Straße sitzen die Menschen vor den Häusern und Cafés und warten auf die Parade. Die Straße ist mit griechischen Fahnen und griechischen Wimpeln geschmückt. Aus den Lautsprechern, die ganze Straße runter verteilt, erklingt Marschmusik. Die kommt aus der Kirche.

Die meisten sind ganz normal gekleidet, einige aber auch im Sonntagsstaat. Die älteren Frauen ganz in Schwarz, die jungen Frauen aufgemotzt, als wollten sie auf die Piste gehen. In jedem Fall bin ich der einzige in kurzer Hose.

Einige der ganz kleinen Kinder tragen die traditionellen Uniformen der griechischen Wachsoldaten mit dem weißen Rock, der Schürze und den Schnabelschuhen mit Quasten. Bei den Kindern sieht die Sache nicht so lächerlich aus wie bei den Soldaten.

Am Anfang des Dorfes steht eine riesige Platane mit dickem, ausgehöhltem Baumstamm, eine Sehenswürdigkeit für sich. Rundherum die Stühle der Cafés, alle besetzt.

Ich gehe ein bisschen durch den Ort, abseits der Straße. Hier ist jetzt keiner, alle sind unten. Es gibt ein paar verlassene Häuser – Landflucht ist auch hier ein Thema – aber nicht viele. Hier gibt es viel Wasser und daher eine gut gehende Landwirtschaft.

Gegenüber der Kirche finde ich einen Platz in einem Café, und bald schon beginnt die Parade. Keine große Angelegenheit. Es sind ausschließlich Schulkinder, die paradieren, sehr zu Freude der Zuschauer und zum Stolz der Eltern. Die Schulkinder sind alle uniformiert, aber nur insofern, als sie alle ein weißes Hemd oder eine weiße Bluse und eine blaue Hose tragen, manchmal eine Jeans. Sie versuchen, mit der Marschmusik im Schritt zu gehen, aber vergebens. Sie verschwinden dann in der Kirche.

Als sie wieder herauskommen, versammeln sie sich um ein Podest, vor dem mehrere Popen stehen, in festlichem Weiß, einige mit schwarzen Umhängen. Es sind viel zu viele für so ein kleines Dorf, aber ich habe am Eingang des Dorfes ein paar alte Busse gesehen, mit denen Kinder und vielleicht auch Popen aus anderen Dörfern angekarrt worden sein müssen. Die Popen tragen in einem Singsang Gebete vor. Ich finde, dass ich genug gesehen habe, und, da die Straße wieder frei ist, gehe ich zum Auto, um zurückzufahren. Als ich das Auto aufschließe, fällt mein Blick zufällig nach unten, auf eine Tankstelle! Da geht es als erstes hin. Nur notdürftig auftanken, hier ist das Benzin noch teurer als in Ierapetra, fast 2 €!

Als ich dann zurück durch das Dorf fahre, erheben sich plötzlich alle zu beiden Seiten der Straße und stehen stramm. Es erklingt gerade die Nationalhymne!

Auf dem Rückweg sehe ich, was ich auf dem Hinweg nicht gesehen habe, gleich am Rande der Straße auf einem vorspringenden Platz, das Mahnmal von Ano Vianos. Es erinnert an ein Massaker der deutschen Wehrmacht, ähnlich dem von Myrtos, aber noch schlimmer, auch eine Vergeltungsaktion gegen die Partisanen. Erhöht, auf einer Säule, ein Gefangener mit gesenktem Kopf, vor oder nach der Exekution. Über ihm schwebt ein Engel, der aussieht wie die Nike der griechischen Klassik. Aus dem Siegesengel ist ein Todesengel geworden. An der Seite, vor der Säule, die Silhouetten mehrerer Männer in unterschiedlicher Haltung, auf denen die Namen der Toten eingraviert sind. Sie sehen aus, als würden sie zur Exekution abgeführt. Und wiederum vor diesen eine Steintafel, auf der in drei Sprachen, auch Deutsch, ein bewegendes Gedicht eingraviert ist, das uns ermahnt, der Toten zu gedenken und ihnen dankbar zu sein, wenn wir hier das Lichte genießen und ohne Angst umherlaufen können. Auch wegen der Lage auf dem erhöhten Felsvorsprung und dem Blick in die tiefen Täler ein beeindruckendes Mahnmal.

Weiter unten, auf dem Weg nach Myrtos, fahre ich noch über eine holprige Straße bergauf nach Ano Symi, ein Dorf, das bei dem Massaker zerstört und nicht wiederaufgebaut wurde. Man kann die Mauerreste von der Straße aus sehen, aber kann nicht zwischen ihnen umhergehen. Sie sind mit einem Maschendrahtzaun geschützt. Besonders merkwürdig wirken, auf der anderen Seite des einstigen Dorfes, vier oder fünf nebeneinander an einem Hang liegende Häuser, die alle baugleich sind und alle die gleiche Form als Ruine haben. Man hat nicht den Eindruck von zerstörerischer Wut, sondern von planvollem Vorgehen.

Als ich auf einem der Feldwege irgendwann wenden muss, stehe ich auf einmal vor einem Feld mit lauter weißen Kästen mit Schlössern und Luftlöchern. Ein Moment Rätselraten, was das ist, aber dann bestätigt das Summen den Verdacht: Bienenkörbe.

In Myrtos sehe ich von oben aus dem Auto noch einige Unentwegte im Wasser, aber mir ist nicht danach.

29. Oktober (Mittwoch)

Der Himmel ist halb bedeckt, aber es ist noch ziemlich warm. Ich kann nicht widerstehen und gehe noch mal ins Meer. Der Strand ist um die Mittagszeit sogar ziemlich voll, dreißig-vierzig Leute, die sich auf verschiedene Stellen verteilen, aber im Wasser ist keiner. Es ist aber noch nicht zu kalt.

Am Strand sind immer nur Ausländer. Ich habe mal Zoe und Charalampos gefragt, ob sie auch mal zum Strand gehen. Antwort: keine Zeit. Das scheint mir aber eine Ausflucht zu sein. Sie sind so nah dran, und außerhalb der Hochsaison auch nicht so sehr mit der Villa Mare beschäftigt. Ich habe eher den Verdacht: Man tut das nicht. Vielleicht aus Scham, vielleicht aus Ablehnung dieser nutzlosen Sinnenfreude. Ich weiß auch nicht, ob die Kinder schwimmen können, aber Kinder können sich ja auch am Strand vergnügen, ohne ins Wasser zu gehen. Oben auf der Kippe über dem Strand steht immer ein älterer Grieche mit langem Bart, der aufs Meer zu schauen scheint. Stundenlang. Sieht es sich wirklich das Meer an? Oder die halbnackten Touristen?

An der Strandpromenade ist es schon sehr ruhig. Nur noch wenige Lokale haben Gäste, einige räumen schon Tische und Stühle weg und wickeln Plastiktüten um die Lampen. Das Akti ist zu. Ich bestelle meinen Kaffee bei Jana und setze mich an den Kiosk zu Maria und den zwei älteren Frauen, die immer bei ihr sitzen. Ich erfahre, dass vorgestern Apostolos‘ Geburtstag war und dass Norbert angerufen hat, wie jedes Jahr. Wir sprechen über den Heimatort von Apostolos, dessen Namen ich mir nicht merken kann: Keratokampos. Eine der Frauen hilft mir, mit Gesten: kampos, ‚Feld, kerato, ‚Horn‘. Der Ort, wo Ziegen weideten.

Die beiden ziehen sich bald zum Mittagessen bzw. Mittagschlaf zurück. Ich frage Maria, was man wünschen kann, wenn sich jemand hinlegt. Ganz einfach: καλό ύπνο – ‚Guten Schlaf!‘

Ich frage nach dem Kiosk und was am meisten verkauft wird: Zigaretten. Es ist der einzige Ort in Myrtos, wo man Zigaretten kaufen kann. Sie haben ein Monopol. Die Griechen rauchen, und die Ausländer nehmen gleich ganze Stangen mit, weil der Tabak hier billiger ist.

Der Kiosk ist, wenn ich das richtig verstehe, im Besitz der Mutter, die ihn als eine Art Entschädigung bekommen hat, weil ihr Mann im Krieg war. Die Lizenz für den Kiosk läuft aus, wenn die Mutter stirbt.

Ich erzähle von der Fahrt nach Ano Vianos und komme nicht auf das Wort für ‚Kurve‘. Maria hilft mir auf die Sprünge: στροφή, ‚Strophe‘. Das Gedicht macht eine Wendung, eine Kurve, wenn eine neue Strophe anfängt!

Als ich mir am Abend mein Essen brutzele, steht plötzlich die Katze hinter mir. Schlimm genug, dass sie mir mein Essen wegnehmen will. Noch schlimmer der Schrecken, den sie mir einjagt.

30. Oktober (Donnerstag)

Beim Laufen diesmal eine andere Strecke gewählt, landeinwärts statt am Meer entlang. Irgendwo sehe ich ein Pappschild Richtung Sarakini Gorge, eine der Schluchten, die man jetzt, bei dem „schlechten“ Wetter, nicht durchwandern soll, aber an der nächsten Kreuzung steht nur noch ein Holzpfahl, ohne Schild. Ich irre ein bisschen in der Gegend herum und komme dann über die Landstraße nach Myrtos zurück. Da muss es bessere Wege geben.

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass 12° eine gute Temperatur zum Laufen ist. Bei jedem Grad mehr wird man etwas langsamer. Es wurde aber nicht erklärt, ob das auch in der umgekehrten Richtung gilt. Ist 12° die ideale Mitte und zu beiden Seiten geht es bergab? Oder geht wird man bei unter 12° sogar noch schneller?

Kreta ist groß, jedenfalls größer, als man meinen könnte. Ich bin bisher aus Lassithi, unserem Bezirk, noch nicht hinausgekommen. Lassithi ist einer von vier Bezirken. Alle anderen sind nach einer Stadt benannt, Heraklion, Rethymnon und Chania, alle an der Nordküste. Nur Lassithi, der östlichste Bezirk, ist nicht nach einer Stadt benannt, sondern nach einer Hochebene. Vorläufig will ich mich auch weiter in dieser Gegend umsehen.

31. Oktober (Freitag)

Beim Laufen an der Holzfabrik vorbeigekommen und dort reingeschaut. Vorne verschlossen, hinten eine kleine Tür. Ein Arbeiter ist an einer Sägemaschine und schneidet Holzplatten. Apostolos ist in Ierapetra.

Auf dem Rückweg sehe ich von hinten eine alte Frau mit langem Rock, wie sie sich den Berg raufmüht, eine Holzkiste in der Hand, einen Leinenbeutel auf dem Rücken und einen riesiges Bündel grüner Äste auf der Schulter. Ein Stück des alten Griechenlands, das man ohne Bedauern verschwinden sieht.

Danach noch mal kurz ins Meer. Es ist immer noch warm genug, aber wirkt bei dem bedeckten Himmel nicht mehr grün oder blau, sondern grau. Als ich nach Hause gehe, fängt es an, zu regnen. Macht nichts. Bin sowieso nass.

In White Teeth, das im multiethnischen London spielt, versucht Alsana, eine Bengalin, eine in der Tradition verankerte Frau, ihre (nur zwei Jahre jüngere) Nichte Neena, eine junge, moderne Frau, von den Vorteilen der bengalischen Heiratssitten zu überzeugen: Als ich ihn heiratete, kannte ich ihn nicht, ich hatte ihn noch nie gesehen. Aber ich mochte ihn. Er hatte ein hübsches Gesicht, eine angenehme Stimme, war groß und gut gebaut für einen Mann seines Alters. Und er fächerte mir mit der Zeitung zu. Er gefiel mir. Jetzt, wo ich mehr über ihn weiß, gefällt er mir immer weniger. Also: Was ist besser? Ihn zu kennen oder ihn nicht zu kennen?“ Jahre zuvor hatte dieser Samad, Asanas späterer Ehemann, eine Unterhaltung mit seinem Kriegskameraden Adam. Über seine Ehefrau. Im Laufe des Gesprächs erst merkt Adam, dass diese Ehefrau noch gar nicht geboren ist. Aber der Ehevertrag steht. Er ist entsetzt: „Bei uns ist es Sitte, dass man die Frau kennt, die man heiratet“. – „Ja“, sagt Samad, „bei euch ist es auch Sitte, dass Gemüse zu kochen, bis es auseinanderfällt. Das heißt nicht, dass es eine gute Idee ist“.

In der Bleistiftfabrik fragt sich Markos, warum er Sofia geheiratet hat. Sie ist eine Schönheit, aber sie gefällt ihm nicht. Und er liebt sie nicht. Wegen des Geldes hat er sie auch nicht geheiratet. Das hat er selbst. Er weiß wirklich nicht, warum er sie geheiratet hat. Vielleicht war sein Gedanke: Ich heirate, dann ist auch das erledigt.

Manchmal gibt es vom Zimmer aus schöne Sonnenuntergänge zu sehen, aber sie passieren jetzt, nach der Rückkehr zur Winterzeit, beängstigend früh, so um sechs.

Am Abend spreche ich bei Jana mit Apostolos. Ich gratuliere nachträglich zum Geburtstag und frage ihn, ob in Griechenland der Namenstag nicht wichtiger ist. Ja, sagt er, Geburtstag ist was für kleine Kinder.

Es stellt sich heraus, dass er auch Wein macht. Und zwar aus eigenen Trauben! Der Groschen fällt langsam bei mir. Erstens habe ich seine Trauben noch nicht gesehen – und auch sonst noch keine – aber selbst dann kann ich mir gar nicht vorstellen, dass man das auch noch im Nebenberuf macht. Doch, sagt er stolz, ich bin Chemiker!

1. November (Samstag)

Vor einem Monat ging die Reise los. Innsbruck, Verona, die Fähre, Patras, die Ankunft in Myrtos, scheint eine Ewigkeit her zu sein.

2. November (Sonntag)

Zum ersten Mal eine lange Hose aus dem Schrank geholt. Wegen des Wetters, aber auch, weil die Besichtigung einer Kirche auf dem Programm steht, der Panagia Kera, bekannt für ihre Ausmalung.

Gleich am Ortsausgang von Myrtos kann ich ein Paar aus Hamburg mitnehmen. Sie wollen nach Ierapetra, aber als sie erfahren, dass ich weiter fahre, fahren sie gleich nach Agios Nikolaos mit. Sie sind seit drei Wochen auf Kreta unterwegs, per Anhalter und mit dem Bus. Sie sind Rucksacktouristen und haben viele Wanderungen gemacht. Überall hätten sie dafür beifällige Kommentare bekommen. Das sei anders gewesen, sagt sie, als sie vor ein paar Jahrzehnten mit dem Rucksack in Kreta unterwegs war.

Sie sind gestern noch durch die Sarakina Schlucht gewandert. Das sei trotz des Regens kein Problem finden sie. Auch ihnen sind die völlig isoliert in der Gegend rumstehenden kleinen Kirchen ins Auge gefallen und auch sei fragen sich, wer die wohl dahin gestellt hat und wer sich um sie kümmert.

Außerdem ist ihnen am Ausgang von Myrtos eine merkwürdige Felsformation aufgefallen. Sie sehe wie eine Uhr aus. Ob ich was davon wüsste. Nee, keine Ahnung.

Unterwegs entdecken sie auf einmal den Eingang zu einer Schlucht. Ich bin hier schon ein paar Mal hergefahren, aber habe ihn  bisher immer übersehen. Sieht großartig aus. Ein senkrechter, hoher Schlitz, der eine Felswand in zwei Teile teilt.

Als ich unterwegs tanke, macht der Tankwart ein sehr erfreutes Gesicht, als ich ihm das Trinkgeld gebe. Er hat das Wechselgeld in meiner Hand gesehen und geglaubt, er würde fünf Euro bekommen. Und dann bekommt er nur einen.

In Agios Nikolaos lasse ich die beiden raus und fahre Richtung Kritsa weiter. Bald kommt die Kirche in Sicht. Kleine Kirche mit Kuppel, davor Zypressen, im Hintergrund eine wilde Berglandschaft: Kreta-Klischee.

Der erste Eindruck ist etwas enttäuschend. Ich hatte mir die Kirche größer und die Ausmalungen heller vorgestellt und besser erhalten. Aber es lohnt sich, genauer hinzusehen.

Außen sind die mächtigen Stützpfeiler bis auf den Boden hinuntergezogen. Das gibt der Kirche etwas Gedrungenes, Bodenständiges, fast etwas Plumpes, obwohl sie drei Schiffe hat. Die Mauern sind nicht weiß, sondern gelb-bräunlich.  Ob die Schiffe später angebaut wurden, weiß man nicht, aber man hat nicht den Eindruck.

Trotz des kleinen Raums gibt es viel zu sehen, weil praktisch die ganze Kirche ausgemalt ist, Apsis, Kuppel, Gewölbe, Wände. Einige Fresken sind schlecht erhalten, andere kann man wegen des Lichts nicht gut erkennen. Das Licht dringt nur durch ein paar kleine Schlitze vorne und hinten und durch die offen stehenden Türen ein.

Die Kunsthistoriker sagen: Mittelschiff traditionell, mit konventionellen, hieratischen Figuren, Seitenschiffe moderner, mit stärker individualisierten Figuren. Da muss man schon genau hinsehen. Die Details machen den Scharm der Sache aus.

In der Apsis sieht man eine Auferstehung. Die Jünger stehen unter Bäumen, eins, wie es heißt, für die byzantinische Malerei ungewöhnliches Motiv. Ist aber wohl auch in der westlichen Welt nicht so gängig.

In der Kuppel vier Szenen aus dem Leben Jesu, mit einer besonders schönen Taufe. Jesus steht nackt und etwas hilflos im Jordan herum. Und harret der Dinge, die da kommen werden.

An der Wand im Westen das Jüngste Gericht, schlecht zu erkennen. Aber man sieht Sünder, die wie in einer Hängematte aufgehängt werden, mit zusammengebundenen Beinen.

An den Seiten des Mittelschiffs, in Rechtecken eingefasst, verschiedene Szenen aus der Bibel. Gut zu erkennen das Abendmahl, bei dem Judas in die Schale mit dem Fisch greift. Greift er nach Jesus? Auf dem Abendmahltisch liegen auch Möhren! Der Tisch ist perspektivisch etwas hilflos dargestellt. Er scheint senkrecht zu stehen.

Darunter ein Portrait des Hl. Georg, das genauso viel Raum einnimmt wie oben eine ganze Szene und deshalb besonders zur Wirkung kommt. Daneben, an einem Pfeiler, auch das für eine orthodoxe Kirche ungewöhnlich, ein Portrait von Franz von Assisi, mit Tonsur und Franziskanerkutte.

Genauso der Tisch auf dem Fresko daneben, der von Herodes Gelage. Man sieht Salome mit dem Kopf des Johannes oben rechts ins Bild kommen und gleichzeitig unten rechts, wie der Kopf abgeschlagen wird.

Gegenüber eine schöne Geburtsszene mit einem nachdenklichen Josef am unteren Bildrand, abseits des Geschehens. Es sieht aus, als ob er eine Sonnenbrille träge. Maria liegt erschöpft im Zentrum des Bildes, und unten macht sich irgendwer daran, in einem Bottich das Kind zu waschen.

Darüber der Kindesmord, mit Kinderleiben auf den Lanzen der Soldaten aufgespießt.

Das nördliche Seitenschiff  ist dem Hl. Antonius geweiht. Aber hier sieht man in erster Linie ganze Apostelfiguren, eine neben der anderen. Darüber eine witzige Szene. Petrus mit dem Schlüssel in der Hand, in voller Bewegung, mit fliegendem Kleid, auf dem Weg, die Himmelspforte aufzuschließen. Darüber eine Reihe von Heiligen, die die Seelen der Verstorbenen auf dem Schoß haben.

Gegenüber, schon an die Westwand anschließend, ganz ungewöhnlich, die Darstellung des Stifterehepaars, mit Zögling in der Mitte, die einzigen wirklichen weltlichen Figuren in der Kirche. Sie sind nach der Mode der Zeit gekleidet.

Das südliche Seitenschiff ist Anna geweiht. Hier gibt es eine schöne Verkündigungsszene. Maria ist in sich zusammengesackt, sie weiß, dass sie schwanger ist, aber nicht, wie sie es Josef beibringen soll. Der sitzt abseits und hat ihr den Rücken zugewandt. Grüblerisch. Er sieht noch nicht, dass von hinten der Engel auf ihn zukommt und ihm die Nachricht bringen wird: Alles in Ordnung. Ist nur der Heilige Geist gewesen.

Als ich wieder aus der Kirche hinausgehe, ist immer noch kein Mensch zu sehen. Der Aufseher liest ein Buch. Hier kommen im Sommer Busladungen voll Touristen her.

Ich fahre nach Kritsa, nur einen Kilometer weiter, ein Dorf, das zu den schönsten in Kreta zählen soll. Eine ziemliche Enttäuschung. Eine sich langsam hochschlängelnde Straße mit lauter Souvenirgeschäften (ohne Kunden), in denen es vor allem gestickte Decken gibt. Ein paar Gassen, die von dieser Straße abgehen, das ist alles. Ich sehe keine besonders schönen Häuser und empfinde keine besonders schöne Atmosphäre. Die Lage des Ortes an dem Berghang ist noch das Beste.

Auch hier, wie in Vianos, eine alte Platane im Zentrum des Dorfes. Die hier hat sogar ein Schild, das besagt, dass sie 1880 von dem Schuster des Ortes gepflanzt wurde.

Ein kleiner Platz nahe dem Ortseingang ist nach Melina Mercouri benannt. Sie spielte die Hauptrolle in einem Film, der hier, in Kritsa gedreht wurde. Der Schauplatz des Films war Kleinasien, aber Kritsa war mit seinen alten Häusern und kleinen Gassen ein sehr geeigneter Drehort. Fast alle Bewohner des Ortes spielten in dem Film mit. Melina Mercouri war der einzige Star unter ihnen. In dem Film geht es um die „Kleinasiatische Tragödie“, eine schmerzhafte Erinnerung im kollektiven Gedächtnis der Griechen.

Ich fahre weiter nach Lato, den Ruinen einer antiken Stadt, ganz oben auf dem Berg gelegen. Hier oben weht ein frischer Wind. Es fühlt sich herbstlich an.

Hier ist viel mehr erhalten als in den archäologischen Städten rund um Myrtos, aber das ist auch keine Überraschung. Es ist viel jünger. Auch hier hat man zwar Keramik aus der Zeit der Minoer gefunden, aber die Stadt ist jünger, aus dem 4. Jahrhundert vor Christus.

Selbst mit dem Auto ist es mühsam, hier hochzukommen, und man fragt sich, warum man hier, so weit weg vom Meer und so hoch oben eine Stadt errichtet hat. Wegen der schönen Aussicht? Nein, es gibt wirklich eine Erklärung: Verteidigung! Die natürliche Schutzfunktion wurde durch Verteidigungsanlagen noch verstärkt. Hier oben war man sicher, und von hier oben konnte man die Passage von Zentralkreta nach Ostkreta kontrollieren.

Es sind zum Teil mannshohe Mauern erhalten, aus unbearbeiteten, teils riesigen Steinblöcken, die so miteinander verbunden wurden, dass sie eine gerade Fläche ergaben.

Bei dem Aufstieg zur Agora kommt man an ehemaligen Werkstätten vorbei. Bei den Ausgrabungen hat man die genau identifizieren können: Bäckereien, Töpfereien usw.

Die Agora, der zentrale Platz, liegt zwischen zwei Bergrücken. Auf der Agora befanden sich zentrale Einrichtungen, darunter eine tiefe Zisterne, die man noch gut sehen kann. Zur Agora gehörte auch eine Treppe. Die diente nicht nur als Zugang zu den Wohnvierteln auf dem einen Bergrücken, sondern auch als Versammlungsort. Auch von der Treppe ist noch einiges übriggeblieben.

Bei den Häusern gab es noch eine besondere Form des Zugangs. Wegen des steil ansteigenden Geländes konnte man die höher gelegenen Häuser nur über das Dach der darunter gelegenen erreichen!

Auf dem anderen Bergrücken sieht man die Reste eines quadratischen Tempels mit einer rechteckigen Vorhalle und verschiedene andere Strukturen, die ich nicht identifizieren kann. Es gab auch ein Theater, aber das kann ich nicht lokalisieren. Leider. Es gibt eine Plattform, direkt am Abgrund, mit grandioser Aussicht, aber hier passten keine 350 Zuschauer hin. Vielleicht war das die Spielstätte selbst. Gefährlicher Arbeitsplatz für die Schauspieler!

Es sieht so aus, als wäre Lato nicht zerstört, sondern aufgegeben worden. Man weiß aber nicht warum. Vielleicht wurde ihnen das ständige Raufkraxeln dann doch zu dumm. Sie siedelten sich dann dort an, wo ursprünglich Latos Hafen lag: im heutigen Agios Nikolaos.

Die Dorer, die hier in Lato ihre Stadt errichteten, waren von einem anderen Schlag als die Minoer – oder die Gegebenheiten waren einfach anders. Jedenfalls ist es bis heute noch nicht geklärt, warum man bei den Minoern keine Verteidigungsanlagen gefunden hat. Und warum sie ihre Städte, jedenfalls die bedeutenden, einfach in die Ebene gebaut haben, wo sie schutzlos waren.

Hab ich was zum Nachdenken für den Rückweg. Der führt an Lidl vorbei. Auch Agios Nikolaos hat einen Lidl. Der Parkplatz vor dem Geschäft ist voll besetzt. Auch sonntags ist geöffnet.

Wenn man sich dem Meer nähert, wird es immer wärmer, und als es auf Myrtos zugeht, ist es fast wieder sommerlich warm.

4. November (Dienstag)

Immer wieder verblüffend: die Regelmäßigkeit, mit der das Wetter im Laufe des Tages schlechter wird. Morgens ist es sonnenklar, mittags bewölkt, abends trüb, und wenn es dunkel ist, regnet es dann meistens. Wenn man morgens wie Wäsche aufhängt, ist sie mittags trocken.

Am späten Vormittag fahre ich nach Ierapetra, für ein paar Besorgungen. Dort sehe ich in der Einkaufsstraße eine Skulptur, die mir bisher noch nicht aufgefallen ist, eine Lesende darstellend, so wie die in Füssen, aber nicht ganz so nixenhaft. Sie ist ganz dünn, hat das dichte Haar streng zu einem Zopf zusammengebunden und ist tief in das Buch versenkt, das sie auf dem Schoß hält. Ihre Kniekehlen sind wie angeschwollen. Wenn ich das Schild richtig verstehe, stellt sie die Tochter des Bildhauers dar.

Auf der Suche nach einem Internetcafé komme ich am Hafen vorbei und am Kastell. Auf der einer Internetseite, die von einem schon lange hier lebenden deutschen Ehepaar betriebenen wird, habe ich gelesen, dass Ierapetra nach dem Abzug der Venezianer strategisch an Bedeutung verlor. Die Osmanen hatten andere Schwerpunkte. Im Laufe der Zeit verlandete dann der Hafen. Das erklärt wohl auch, dass von dem Kastell nur noch der Rohbau erhalten ist.

Gleich an der Strandpromenade gibt es Internetcafé. Es ist duster und menschenleer. Ich versuche, zwei Briefe auszudrucken, aber es kommen immer unterschiedliche Befehle aus dem PC. Schließlich frage ich eine junge Frau, was das los ist. Nein, Drucker haben wir nicht, sagt sie mir. Der Mann, der mich erst bedient hat, hat ja gesagt.

In einem zweiten Internetcafé geht es auch nicht, aber die verweisen mich wenigstens an den Buchladen nebenan. Das ist der Buchladen, in dem mich dieser Tage eine ältere Frau so freundlich bedient hat. Sie ist jetzt wieder da, bittet mich, zu warten, kommt nach zwei Minuten zurück und führt mich zu einem Grafikbüro in der Nähe. Dort lassen sie mich die drei Seiten drucken.

Ich gehe dann wieder in den Buchladen und kaufe eine Glückwunschkarte. Gestern habe ich zufällig mitbekommen, dass Despina, die Betreiberin der Kiosk in Myrtos, die ältere Schwester von Zoe, heute heiratet, standesamtlich.

Ich mache mich dann auf den Weg zur Post. Die ist außen groß und modern, drinnen klein und eher schäbig, eine merkwürdige Mischung aus neu und alt. Moderne Schalter und Schilder, aber alte Aktenschränke und Ordner, Stapel von Kartons und kleine Postfächer aus Eisen, die wie aus der Nachkriegszeit aussehen.

Es sind genauso viele Angestellte wie Kunden da, aber es geht langsam vorwärts. Eine Angestellte sitzt tief versunken an ihrem Arbeitsplatz und vermeidet, hochzusehen, eine geht hin und her und verschwindet immer wieder in einem Kabüffchen, eine packt geräuschvoll und umständlich ein Paket für eine Kundin, und nur die letzte kümmert sich um die Kunden. Das Warten lohnt sich aber. Ich habe die Briefe falsch frankiert. In einem Kiosk in Myrtos, wo ich die Briefmarken gekauft habe, hat man mir gesagt, Briefe und Karten kosteten dasselbe. Stimmt nicht.

Als ich dann nach einigem Suchen endlich die im Reiseführer genannte Konditorei finde und reingehe, um etwas Gebäck für Despina zu kaufen, treffe ich auf – Despina. Zusammen mit Zoe und Charalampos. Ich weiß nicht so recht, was ich sagen und wie ich mich verhalten soll und weiß nicht, ob der frischgebackene Ehemann auch dabei ist, also verdrücke ich mich bald wieder und suche eine andere Konditorei. Die finde ich auch. Auch die ist sehr gut ausgestattet, nur nicht so zentral gelegen. Erst bin ich über die Preise etwas irritiert, aber dann stellt sich heraus, dass es immer Kilo-Preise sind. Ich bekomme ein kleines Geschenk und frage dann, umständlich nach meinen Notizen kramend, nach drei Spezialitäten, von denen ich auf der Internetseite des deutschen Ehepaars gelesen habe. Er hat alle drei. Ich frage, ob ich jeweils nur eins bekommen könnte. Ja, kein Problem.

Zuhause verputze ich dann eins nach dem anderen. Als erstes ein Stück Kalitsounia [καλιτσούνια], runde, mit Mizithra, kretischem Käse gefüllte, süße Törtchen, die im Backofen zubereitet werden. Der Käse schmeckt nach Quark. Die Kalitsounia habe ich schon oft gesehen, auch in der Bäckerei in Myrtos, hatte aber keine Ahnung, was das ist. Sie hießen auch Lychnaraki [λυχναράκι], ‚Lämpchen‘, und sie sehen tatsächlich wie die Öllämpchen aus dem Archäologischen Museum aus. Dann gibt es Xerotigana [ξεροτήγανα], in Öl gebackene, ganz lockere Kringel mit Honig und Zimt. Und zum Schluss Stafithota, ein hartes Gebäck mit einer Füllung. Alle schmecken gut, ich habe keinen Favoriten, aber es war keine gute Idee, alle drei hintereinander zu essen.

Gestern hat mir Charalampos eine kleine Unterweisung in das Handy gegeben, mit dem zweiten Chip. Alles stellte sich als sehr kompliziert heraus, man muss erst festlegen, für was man das Guthaben verwenden will, und als es ans Internet geht, ist nicht mehr genug da und ich muss erst mal aufladen. Als wir dann am Ende der Erklärungen sind, habe ich noch nicht einmal meine erste Frage gestellt. Scheiß Technik.

Ich frage nach der genauen Bedeutung eines Ausdrucks, der aus drei Wörtern besteht, vertue mich aber mit einem Vokal in einem der Wörter. Er kann das Wort beim besten Willen nicht verstehen. Wie kann das sein? Frustrierende Lernerfahrung, eine von vielen.

5. November (Mittwoch)

Das Leben in Griechenland ist nicht unbedingt billig. Produkte aus dem Land, vor allem Obst und Gemüse, sind sehr günstig, aber alles, was eingeführt werden muss, ist eher teuer. Vor allem Käse aus anderen Ländern ist teuer.

Was man hier überhaupt nicht findet, sind Drogerien. Man kauft die Artikel, die wir in Drogerien kaufen, vermutlich in der Apotheke oder im Supermarkt. Vermutlich gehören viele Artikel, die wir in der Drogerie kaufen, eher zur Kategorie „Luxus“. Die Regale im Supermarkt sind wirklich ganz gut bestückt, aber so etwas wie Salbe für Verletzungen oder Abschürfungen ist da nicht zu finden.

Ein schönes Wort ist γυμνός [jimnos]. Es heißt ‚nackt‘. Wenn man in der Antike Gymnastik trieb (und damit war Sport ganz allgemein gemeint), dann war man nackt. Das war, der Legende zufolge, nicht immer so. Eines Tages hatte sich eine Frau als Mann verkleidet und Zugang zu den Spielen verschafft – als Kampfrichterin. Frauen war die Teilnahme nicht erlaubt. Als die Sache aufflog, beschloss man, dass künftig alle, Sportler wie Kampfrichter, nackt antreten sollten. Wäre kurios, sich das heute vorzustellen, z.B. bei einem Fußballspiel: 22 Spieler, ein Dutzend Ersatzspieler, Trainer und Betreuer, Zuschauer, das Polizeimusikcorps, der Oberbürgermeister und der Sparkassenvorsitzende auf der Ehrentribüne – alle nackt!

Das alte und das neue Griechenland in einem: Die alte Frau sitzt immer noch auf dem einsamen Stuhl vor ihrem Haus. Aber sie telefoniert, mit dem Handy natürlich!

Am Abend im Mirtos ist im Salat eine Pflanze, die ich noch nie gesehen habe, sieht er wie ein Kraut aus. Sie heißt γλιστρίδα [glistrida], lasse ich mir sagen, auf Deutsch Portulak, was mir genauso wenig sagt.

6. November (Donnerstag)

Paulus empfiehlt Timotheus, da der oft Magenschmerzen hat, er solle nicht nur Wasser, sondern hin und wieder auch Wein trinken! Guter Tipp.

Ein trüber Tag, und zwar von Beginn an. Die Wolken sind allerdings weiß, und am Mittag kommt wenigstens die eine oder andere Lücke in das Wolkenfeld.

Am Abend sehe ich mir noch mal das Video mit der Zubereitung der Spanakotiropita an. Ich verstehe immer noch herzlich wenig, aber doch jedes Mal ein ganz klein bisschen mehr. Mühsam. Ganz am Ende kommt eine kurze Passage, wo ich gar nichts verstehe, kein einziges Wort. Das liegt nicht an den Wörtern, daran, dass ich die Wörter nicht kenne. Das ist das kleinere Problem. Wenn ich den Text gedruckt sähe, würde ich das meiste verstehen. Ich kann einfach kein einziges Wort identifizieren, eine ununterbrochene Folge von Lauten stürzt auf mich ein. Dabei ist eigentlich klar, was der Inhalt ist – grob gesprochen. Man sieht die fertige, aber noch nicht gebackene Spanakotiropita, und der nächsten Sequenz sieht man sie, nachdem sie aus dem Ofen herausgeholt worden ist. Es handelt sich also vermutlich um die Instruktionen, bei welchen Temperaturen man die Spanakotiropita wie lange im Ofen backen muss. Ich spiele die Passage immer wieder. Als erstes begreife ich, dass das erste Wort ein Verb sein muss, das erkennt man an der Endung: 1. Person Plural. Das Verb kenne ich wirklich nicht, aber die Frau spricht so deutlich, dass ich es identifizieren und nachschlagen kann: ψήνω [psino]. Das heißt ‚braten‘, ‚grillen‘, ‚kochen‘. Dann konzentriere ich mich auf die Zeit. Ich verstehe ώρα [ora], ‚Stunde‘. Dann, beim nochmaligen Hören, fällt der Groschen: eine bis anderthalb Stunden. Die ungenaue Angabe macht das Verstehen schwer, und auch meine falsche Vorstellung: Ich habe nicht gedacht, dass es so  lange dauert. Dann verstehe ich φούρνος, ‚Ofen‘, und merke, das davor ein Adjektiv steht. Ich kenne es zwar nicht, aber es muss ‚vorgewärmt‘ heißen. Dann kommt noch ein Zusatz, den ich nicht verstehe, irgendwas mit ‚von oben‘. Und bis zum Schluss verstehe ich die Temperatur nicht. Was nach hundert kommt, bleibt ein Rätsel. Dann sehe ich auf der Website nach: 180-200°. Noch mal hören. Immer noch schwer zu verstehen. Obwohl ich weiß, was gesagt wird!

7. November (Freitag)

Vor dem Unterrichtsbeginn wird in der Schule unter der Villa Mare gebetet. Das Gebet kommt hier oben nur als ein amorphes Gemurmel an. Ich kann kein Wort verstehen, keine Silbe. Und trotzdem weiß man, was es ist: das Vaterunser. Es ist vermutlich der Rhythmus, der in allen Sprachen irgendwie gleich ist.

Mitten auf der Straße von Myrtos nach Tertsa liegt ein Stein, ein Felsbrocken. Das nennt man wohl Steinschlag. Das kann man nur von Glück sagen, dass man im entscheidenden Moment nicht gerade an der Stelle war. Schutzengel. Als ich zurück komme, ist der Stein weg. Das besorgen hier die Menschen selbst. Alle Achtung.

War mir bisher noch nicht aufgefallen. Auf dem ganzen Weg ganz leise, aber an einer Stelle, wo die Felsen dicht an der Straße hoch aufragen, wird das Rauschen der Wellen als Echo zurückgeschlagen. Es hört sich so an, als wenn das Meer an der andere Seite wäre, hinter den Felsen!

Immer noch ist der eine oder andere Tourist zu sehen, aber jetzt hat auch das Lokal am Ende der Strandpromenade seine Stühle und Tische reingeholt. Nebenan stehen sie noch, aber da ist kein einziger Gast. Auch die Liegestühle sind hereingeholt. Am Strand liegt noch ein Einziger.

Nachdem das Akti zum wiederholten Mal zu ist, gehe ich ins Mirtos auf einen Kaffee. Als ich bezahlen will, wird das abgeschlagen: auf Kosten des Hauses. So ein guter Kunde bin ich gar nicht.

Der Kiosk ist wieder zu. Dieser Tage war er schon tagsüber zu, aber dann am Abend geöffnet, aber mit dem Schild Ενοικιάζεται – Zu Vermieten. Man hat niemanden mehr, der auf den Kiosk aufpasst. Die Familie ist zu sehr in anderen Dingen eingespannt.

Als ich einen Pflaumenkern vom Balkon aus mit Schwung wegwerfen will, prallt er gegen den Eisenpfahl der Markise und fällt wieder auf den Balkon zurück. Ich versuche es ein zweites Mal, diesmal in eine andere Richtung. Der Pflaumenkern schlägt mit Wucht gegen einen Gegenstand: mein Auto.

Unten in der Villa Mare, wo vorher eine Italienerin wohnte, die wohl hier in Myrtos lebt – vielleicht nur saisonbedingt – und in einer Pizzeria arbeitet, wohnt jetzt ein Grieche, offensichtlich ein Tourist. Er ist außer mir jetzt der einzige in dem ganzen Haus. Ich habe mich mal oben auf der Terrasse und in der Gemeinschaftsküche umgeschaut, aber auch da ist alles zusammengeräumt.

Bei der Durchsicht der Photos der letzten Tage bleibe ich bei einem aus Kritsa hängen. Ein unscheinbares Motiv, ein eher zufällig gemachtes Photos. Und ausgerechnet das ist das allerbeste. Es ist einfach ein Fenster mit zugeklappten Blendläden, mattgrün. Das ist alles. An der Wand um das Fenster herum Risse, abgeblätterter Putz und einige notdürftige mit grauem Spachtel ausgebesserte Stellen. Sieht aus wie ein Gemälde. Die Farbe scheint mit groben Pinselstrichen aufgetragen, fast impressionistisch, und die Blendläden und die rostigen Haken scheinen aus der Oberfläche hervorzutreten.

8. November (Samstag)

Das Ausgrabungsfeld von Gournia kann man von der Straße aus sehen, sehr gut sogar, denn aus irgendwelchen Gründen haben die Minoer entschieden, ihre Stadt auf den Hang eines Hügels zu legen. Obwohl längst nicht die ganze Stadt ausgegraben worden ist, heißt es, es gebe keinen besseren Ort, um sich ein Bild von einer minoischen Stadt zu machen. Da ist was dran. Die Mauern sind zwar meist nur kniehoch und bestenfalls mal schulterhoch erhalten, aber man kann durch die „Straßen“ von Gournia gehen und sich ein Bild von der Lage, der Größe und der Aufteilung der Stadt machen. Hier heißt „Straße“ aber nicht mehr als eine Passage zwischen zwei Mauern, auf der gerade mal zwei Menschen nebeneinander passen.

Alles ist sehr irgendwie rechtwinklig angelegt, die Häuser genauso wie die Straßen. Die Häuser sind winzig klein, aber es gibt unendlich viele davon. Hier sollen eintausend Menschen gelebt haben, eine ganze Menge.

Die Beschriftungen sind sehr gut und man erfährt, was in den Häusern gefunden worden ist. Vor Ort ist allerdings nichts. Alles in Museen verschwunden. In einem Haus wurden Werkzeuge gefunden – Säge, Axt, Meißel, Waage, Schwert – sowie ein steinerner Schmelzofen, was zu der Annahme führt, dass hier Bronze hergestellt wurde.

In einem Haus wurde eine Weinpresse gefunden, mit Platz für ein Gefäß darunter, das die Flüssigkeit der aus dem Ausguss der Presse kommenden Flüssigkeit der zerdrückten Trauben auffing, ein 3500 Jahre alter Vorläufer einer Weinpresse, wie sie bis vor kurzem noch in den kretischen Dörfern benutzt wurden.

In einem Haus mit einer Bank am hinteren Ende des Raums hat man drei Statuetten von Göttinnen gefunden, mit Schlangen und Vögeln als Beiwerk, mit erhobenen Armen, wie um die Gläubigen zu segnen. Es soll sich um einen Fruchtbarkeitsritus gehandelt haben. Im Boden unter der Bank gab es eine Vertiefung, in der die Opfergaben dargebracht – vermutlich verbrannt – wurden.

Irgendwo steht mitten auf der Straße aufrecht ein fest verankerter Stein, senkrecht. Auch das war ein sakraler Stein, wie man aus der Position und aus vergleichbaren Steinen in anderen minoischen Städten weiß.

Oben ist der Hügel ganz flach, und hier befand sich der Palast. Der Begriff „Palast“ ist in der ganzen minoischen Zivilisation problematisch. Tatsächlich weiß man nicht, welchen Zweck diese Bauten hatten, für die sich der Begriff „Palast“ eingebürgert hat. Die Vorstellung vom Palast kommt von Evans, dem britischen Archäologen, der Knossos ausgegraben hat. Er nahm einfach an, dass das, was er das gefunden hatte, der Palast des Königs Minos war. Seitdem nennt man den zentralen öffentlichen Bau der minoischen Städte Palast.

Der Palast hier war doppelstöckig, wie übrigens alle Häuser, und hatte unten Lagerräume und Baderäume und oben Werkstätten, Archive und Wohnräume. Schon das hört sich nicht sehr nach Palast an.

Was hier gefunden wurde, kann auf sakrale Zwecke hindeuten, ist aber eher ein Mischmasch: Gefäße für Waschungen, eingravierte Siegel, eine bronzene Doppelaxt – eins der Symbole der minoischen Kultur –  und steinerne Stierhörner, auch ein Motiv, dem man immer wieder begegnet.

Der Name Gournia ist abgeleitet von den Wasserbassins, die man hier überall gefunden hat zum Sammeln von Regenwasser. Der eigentliche Name der Stadt ist unbekannt.

Auch, wenn hier von Fundstücken noch nichts zu sehen ist und man es aufgrund der Ruinen kaum annehmen würde, hier bin ich zum ersten Mal mitten in der minoischen Hochkultur. Die Stadt wurde 1600-1500 gebaut und gehört damit zu der Glanzzeit der minoischen Kultur, der Späten Palastzeit. Die Frühe Palastzeit endete mit einer Katastrophe, vermutlich einem Erdbeben, um 1700. Danach wurden alle Paläste wieder aufgebaut, prächtiger als zuvor.

Und auch diese Zeit ging mit einer Katastrophe zu Ende, um 1450. Dabei wurde auch Gournia zerstört. Aber was führte zu dieser Katastrophe? Früher hatte man meist den Vulkanausbruch von Santorini als Ursache vermutet. Er muss wirklich von unvorstellbaren Ausmaßen gewesen sein, einer der stärksten, von denen man Kenntnis hat. Santorini liegt einhundert Kilometer von Kreta entfernt. Diese Erklärung ist aber umstritten. Auch hier könnte ein Erdbeben der Grund gewesen sein, oder ein durch ein Erdbeben ausgelöstes Feuer.

Aber hier kommt auch noch ein ganz anderer Faktor ins Spiel: die Mykener. Ich komme selbst bei der Lektüre immer durcheinander, aber das liegt wohl daran, dass so viel ungeklärt ist. Jedenfalls sind die Mykener die ersten Ausländer, die in Kreta eine Rolle spielten (vorausgesetzt, die Minoer waren Einheimische). Die Mykener kamen vom griechischen Festland und eroberten Kreta und übernahmen die Macht. Und zerstörten die minoischen Städte. So jedenfalls die traditionelle Annahme. Aber vielleicht war es gar keine gewaltsame Eroberung, sondern eher eine massive Einwanderung und eine Vermischung mit der einheimischen Bevölkerung. Vielleicht waren die Mykener die Katastrophe von 1450, vielleicht waren sie aber schon da und selbst Opfer der Katastrophe.

Als ich noch einmal eine kleine Runde über den Hügel mache, fallen mir die Pflanzen auf, die sich hier auf dem trockenen, sandigen Boden ihre karge Existenz verdienen: Kakteen, Olivenbäume, Dorngebüsch und winzig kleine violette Blumen, die es an verschiedenen Stellen zu Hunderten gibt.

Die ganze Zeit bin ich alleine in dem Ausgrabungsfeld gewesen, aber als ich wieder zum Ausgang zurückgehe, höre ich Stimmen. Hört sich Spanisch an. Als ich näher komme, bin ich sicher, dass es Spanisch ist, aber erst als ich an zwei von ihnen vorbeikomme, verstehe ich das erste Wort, gleich ein ordentlicher Kraftausdruck, von denen, die sich ganz negativ anhören, aber ganz positiv gemeint sein können, wie hier. Und wovon sprechen sie? Von den Minoern? Von den Ausgrabungen? Von der Endlichkeit alles Irdischen? Vom Essen!

Ich fahre nach Agios Nikolaos weiter, um dort ins Archäologische Museum zu gehen. Aber es ist geschlossen. Einfach so, ohne weitere Begründung: Heute geschlossen. Na ja, läuft nicht weg, und jetzt weiß ich wenigstens, wo es ist. War gar nicht so einfach zu finden. Keine Beschilderung, und die Touristeninformation ist auch geschlossen.

Es ist wirklich eher Museumswetter, auch wenn es, der Anzeige am Stadteingang zufolge, 22° warm ist. Fühlt sich kälter an. Und nicht einmal die Touristen tragen kurzärmlige Hemden. Feiglinge. Ich bin der einzige.

Die Stadt macht einen ganz anderen Eindruck als vor zwei Wochen bei der Fahrt nach Spinalonga. Trüber Himmel, kaum jemand unterwegs, viele Geschäfte geschlossen, einige Souvenirgeschäfte geöffnet mit gelangweilten Verkäufern davor, die selbst nicht mehr glauben, noch was verkaufen zu können, riesige Straßencafés mit Plastiküberdachung, in denen sich drei, vier Griechen verlieren.

Aber wieder fallen mir die vielen russischen Schilder auf, die jetzt gar keinen Adressaten mehr haben. Exkursionen, Souvenirs, Essen, Reiseführer: alles wird auf Russisch angeboten. Manchmal muss man zweimal hinsehen, ob es Griechisch oder Russisch ist. Die Alphabete sind sich doch ziemlich ähnlich, vor allem, wenn Großbuchstaben verwendet werden oder fremde Namen wiedergegeben werden.

In der Fußgängerstraße, mit Sicht auf den See, steht die Statue eines Roussos Koundouros – tolle Kombination von Vokalen. Die Statue zeigt einen modernen, schlanken, vergeistigten Mann in merkwürdig weiten Kleidern und klobigen Schuhen. Ich habe den Namen noch nie gehört, aber das Internet weiß Bescheid: Er ist ein kretischer Filmregisseur, der erste in Griechenland, der sich ganz auf Dokumentarfilme konzentrierte. Einige der Filme, zum Beispiel einer, der zeigt, wie Menschen über glutheiße Asche gehen, kommen ohne Schauspieler aus. Roussos war ausgebildeter Arzt, gab aber den Beruf für das Filmemachen auf. Als die Junta an die Macht kam, ging er ins Ausland, aber nicht dahin, wo die meisten seiner Kollegen hingingen, sondern nach Kamerun! Er half dort bei dem Aufbau einer Medienlandschaft.

Auf dem Rückweg verpasse ich die Gelegenheit, einen Pickup zu überholen und habe ihn dann eine ganze Zeitlang vor mir. In regelmäßigen Intervallen spuckt er dicke, schwarze Abgaswolken aus dem Auspuff heraus. Das kommt bei uns so gut wie nicht mehr vor.

Ich frage mich, wie ich vorher immer den Eingang zu der Schlucht übersehen haben kann, den die Hamburger mir gezeigt haben. Gerade auf dem Rückweg ist er nicht zu übersehen, man hat ihn minutenlang vor Augen. Die Schlucht hat den sonderbaren Namen Xa. Am Morgen habe ich versucht, ein Photo davon zu machen, aber der Eindruck schwindet doch mächtig auf dem Photo. Es ist zu dunkel, zu trüb.

In Ierapetra mache ich dann aber doch noch ein gutes Photo: zwei Richtungshinweise, nur ein paar Schritte voneinander entfernt. Auf dem einen steht Mirtos, auf dem anderen Myrtos. Heute vor genau einem Monat bin ich auch hierhergefahren, zum ersten Mal.

Das Meer ist heute ganz schön aufgewühlt. So habe ich es auf dem Weg Richtung Myrtos noch nicht gesehen. In der Nacht hat sich das schon mit einem manchmal etwas unheimlichen Rauschen angekündigt.

9. November (Sonntag)

9. November – immer ein besonderes Datum in Deutschland, politisch und privat. Hier nicht.

Am Morgen habe ich die Gelegenheit, mit dem Mann zu sprechen, der unten eingezogen ist. Er sitzt vor seiner Wohnung und nimmt sein Frühstück ein – Kaffee und Zigarette. Er ist aus Saloniki und bleibt, wenn ich das richtig verstanden habe, den ganzen Winter hier. Ich dachte, er wäre Tourist. Ich habe gesehen, wie er morgens in sein knallgelbes Auto steigt, eine Karte rausholt und losfährt. Aber er ist wegen der Arbeit hier. Ich bin aber nicht sicher, was er macht. Irgendwas mit Häusern. Ob er Architekt ist? Oder Zimmermann? Dann denke ich mir, dass er vielleicht einfach technisch begabt ist und an seinem eigenen Ferienhaus hier arbeitet, aber ich glaube, er hat von Häusern gesprochen, nicht von Haus.

Gestern im Supermarkt etwas für den Haushalt aufgerüstet, Besteck und Geschirr , und dabei eine kleine kulturelle Erfahrung gemacht. Die Teller waren in einem Karton verpackt, ohne jede Aufschrift. Auf dem Preisschild stand, außer dem Preis, nur die Zahl 7. Als ich den Karton auspacke, finde ich sechs kleine und einen großen Teller. Kurios. Man isst vermutlich eher von kleinen Tellern und benutzt den großen zum Auftragen von Speisen. Auch das mit der 7 ist wohl eine typisch griechische Einrichtung.

10. November (Montag)

Erst dieser Tage, als ich durch die Gegend gefahren bin, ist mir aufgefallen, dass es hier keine Laubverfärbung gibt, jedenfalls so gut wie keine. Es gibt so gut wie keine Laubbäume. Man weiß nicht, ob man das vermissen soll oder nicht.

Die Fahrt zu dem Museum in Agios Nikolaos hätte ich mir sparen können. In einem Internetforum gibt es schon ein paar ältere Beiträge, die sich darüber beschweren, dass man vor verschlossenen Türen stand, und auf einer guten Internetseite zu Kreta steht, das Museum sei vorübergehend wegen Renovierung geschlossen. Das erklärt aber nicht, dass auf der Internetseite des Museums nichts steht und auch nichts an der Touristeninformation von Agios Nikolaos. Und noch weniger, dass auf dem Schild an dem Museum steht: Closed today. Wenn man am nächsten Tag wiederkommt, stimmt es natürlich wieder – das ist die alte Kamelle mit Morgen Freibier – aber man  fühlt sich doch auf den Arm genommen. Was den nächsten Museumbesuch angeht, habe ich jetzt erst mal im Internet nachgesehen. Gott sei Dank – im Winter nur sonntags geöffnet.

Ein Brite erwähnt auf seiner Internetseite, ein Freund habe noch am 15. November in Myrtos im Meer gebadet, und auf der Internetseite des deutschen Ehepaars aus Ierapetra steht, das gehe noch bin Dezember. Heute, richtig schöner, sonniger, windstiller Sommertag, riskiere ich es auch noch mal. Inzwischen ist sogar die Umkleidekabine abgebaut. Wusste gar nicht, dass die mobil war. Schlechtes Omen? Außerdem: kein Mensch zu sehen. Ich versuche es trotzdem, heldenhaft. Erster Eindruck ziemlich übel, aber dann geht es. Man muss sich nur mehr bewegen. Im Laufe der Zeit kommen dann noch drei weitere, die sich die Tapferkeitsmedaille verdienen. Lauter Männer natürlich. Einer wird von seiner Frau gefilmt, als Beleg für die Heimat, ein anderer kommt von den Dauerurlaubern, die mit ihren Wohnwagen, insgesamt drei, oben über dem Meer am Ortsausgang stehen.

Als ich nachher am Museum vorbeikomme, steht die Tür offen, und ich gehe kurz rein, um John zu begrüßen und von meinen bisherigen Besichtigungen zu berichten. Er ist überrascht, dass ich das Museum in Ierapetra gut fand. Ist aber lange nicht mehr drin gewesen. Dass die Mykener in Gournia waren, ist für ihn klar. Er sagt sogar erst, es wäre eine mykenische Gründung, macht dann aber, bei meinem langen Gesicht, einen halben Rückzieher. Er erwähnt dann Knossos und wie wenig es ihm gefällt mit seinen Besucherhorden – im Sommer – und den erhöhten Wegen, die man eingebaut hat und die die Sicht auf wichtige Dinge nehmen. Trotz aller Kritik verteidigt er Evans und seine Ausgrabungen. Es sei leicht, ihn zu kritisieren, aber man müsse ihn von seiner Zeit her verstehen und seine Verdienste sehen. Volle Zustimmung.

Zadie Smith, die sich in White Teeth über Gegner und Befürworter eines wissenschaftlichen Zukunftsprogramms lustig macht – über die Zeugen Jehovas, über eine militante Tierschutzgruppe, über eine fundamentalistische muslimische Aktionsgruppe, aber auch über die Forscher und ihren fundamentalistischen Rationalismus – „verteidigt“ alle die in einem Interview. Sie empfinde keine Verachtung für sie. Sie sei eher von ihnen beeindruckt, davon, dass sie zwischen der Leere zur einen und der Leere zur anderen Seite etwas finden, das sinnstiftend ist. Sie seien von ihrer Sache überzeugt. Wenn man das konsequent zu Ende dächte, müsse man allen unterstellen, dass sie sich selbst nicht für schlecht halten, auch Massenmörder oder Kriegsverbrecher nicht. Es hilft nicht, sagt sie, von ihnen als böse Menschen zu denken. Es gehe darum, zu verstehen, wie sie ihr  Verhalten rationalisieren.

11. November (Dienstag)

In Büchern über Kreta ist immer wieder von der Tamariske die Rede. Es gibt sie in so vielen Varianten, als Strauch aber auch als Baum, dass ich sie trotz der Photos im Internet, in der Natur nicht identifizieren kann, zumal sie jetzt nicht in Blüte stehen. Ich habe erst die vereinzelt ganz allein auf der Bergkuppe stehenden Bäume in Verdacht, aber das sind wohl eher Akazien. Die Tamarisken finden sich eher in Meeresnähe. Sie können salzhaltigen Boden gut vertragen. Manchmal stehen sie auf einem Hügel, und zwar einem Hügel, den sie selbst geschaffen haben. Wenn sie ihre Blätter abwerfen – es sind Blätter, auch wenn es nicht danach aussieht – sammeln die Sand und Schmutz um sich und formen den Hügel. Die Tamariske muss dann tunlichst darauf achten, dass sie schneller wächst als der Hügel.

Unterwegs ein Photomotiv, aber keine Kamera: ein verdorrter Baum auf einer Wiese stützt eine alte, rostige Antenne. Kurz darauf noch eins: Ein Baum beugt sich von einem Felsvorsprung ganz tief zum Wasser runter.

In der griechischen Mythologie kommen die Olympier erst an die Macht, nachdem sie die Titanen, das ältere Göttergeschlecht entmachtet haben. Vielleicht verdichtet der Mythos hier die historische Wirklichkeit: die Machtübernahme durch die Mykener um 1500 oder durch die Dorier um 1000. Schließlich nahm die Geschichte der Olympischen Götter in Kreta ihren Anfang.

12. November (Mittwoch)

Am Abend im Mirtos sitzt am Nebentisch ein Holländer, der schon seit zwanzig Jahren hier lebt und fließend Griechisch spricht. Er ist sehr schlank, hat langes Haar und einen Bart und extrem starke Brillengläser. Man sieht ihn oft schon vormittags mit einer Flasche Bier im Ort. Jetzt hat er zwei Flaschen Bier auf dem Tisch stehen, unterschiedliche Marken, aus denen er abwechselnd trinkt, allerdings sehr bedächtig. Er ist auch ein guter Kunde von Apostolos am Kiosk: Zigaretten. Er hat ein griechisches Pendant, auch bärtig und langhaarig, mit dem er oft im Ort sitzt und der auch jetzt ihm gegenüber sitzt. Beide rauchen auch hier, im Restaurant, aber nicht viel, und es stört überhaupt nicht. Die Tür steht auf, dafür ist es noch warm genug, und der Rauch verzieht sich.

Zum Nachtisch gibt ein Gebäck, dessen Name ich nicht ganz mitbekomme, Kornos oder so. Selbstverständlich selbst gemacht, nicht gekauft, dumme Frage. Es erinnert mich ein bisschen an den Hundekuchen aus Kindertagen.

13. November (Donnerstag)

Fieses Wetter, der bisher unschönste Tag in Myrtos. Am Morgen dunkle Wolken, die dann aber im Laufe des Vormittags aufhellen. Aber nur ab und zu einen Sonnenstrahl durchlassen. Trotzdem noch 20° Höchsttemperatur.

95% der Landmasse Kretas sind Gebirge! Und davon sind zwei Drittel mindestens 700 Meter. Die drei größten Gebirge sind die Lefka Ori, die ‚Weißen Berge‘ im Westen, das Psiloritis-Gebirge im Zentrum (das früher Ida-Gebirge hieß) und das Dikti-Gebirge im Osten. Alle haben Berge, die über 2000 Meter hoch sind. Von uns aus liegen sie alle im Westen, und ich habe bisher nur bei der Fahrt Nach Ano Vianos durch das Dikti-Gebirge einen Vorgeschmack von ihnen bekommen.

Kreta war frühe keine Insel. Es war mit dem Peloponnes und durch die Inseln am äußersten südlichen Rand der Ägäis wie Karpathos und Rhodos mit Kleinasien verbunden. Man kann den virtuellen Bogen noch heute auf der Landkarte gut nachvollziehen. Dann geschah ein weltbewegendes Ereignis: Das Mittelmeer kam. Und begrub alles unter sich, was nicht hoch genug war. Kreta war hoch genug.

14. November (Freitag)

Heute ist es wieder schöner. Am Vormittag setze ich mich eine Zeitlang auf eine Bank – die Bank – an der Uferpromenade. Wind, Sonne, Wellen, Weite – da kann man ganz drin versinken. Für viele ist das Meer ja ein Sehnsuchtsort, vor allem für die, die weit weg davon leben. Die, die näher dran sind, bewahren eher eine respektvolle Distanz. Auf mich wirkt die unendliche Weite auch immer etwas bedrückend. Es erinnert mich an eine Passage aus dem Oblomow, in der der Erzähler über das Meer nachsinnt. „Es macht den Menschen nur traurig; wenn man es anblickt, möchte man weinen. Das Herz wird unruhig und zaghaft angesichts der unübersehbaren Wasserfläche; der durch die Einförmigkeit des endlosen Bildes ermüdete Blick findet keine Stelle, wo er ausruhen könnte. Das Brausen und das wütende Gebrüll der Wogen sind einem empfindsamen Ohre nicht angenehm: die Wogen wiederholen immer ihr vom Anfange der Welt sich gleichbleibendes Lied, das einen düsteren, rätselhaften Inhalt hat; und immer hört man in diesem Liede dasselbe Stöhnen, dieselben Klagen, die wie die eines zur Qual verdammten Ungeheuers klingen, und durchdringende, unheilverkündende Stimmen.“

15. November (Samstag)

Heute beim Laufen früh am Morgen zum ersten Mal auf eine ganze Herde von Ziegen gestoßen. Sie wechseln im Laufe des Tages wohl den Standort. Ob sie morgens zum Trinken ans Wasser runter kommen? Hab aber noch keine am Ufer gesehen. Als ich auf sei zukommen, stieben sie auseinander und laufen in alle Richtungen davon. Wenn die wüssten! Wenn die wüssten, wie ich vor ihnen davonlaufen würde!

In What Is the What konvertiert der Held, ein junger Sudanese, zum Christentum, vor allem unter Anleitung eines jüngeren Onkels. Der Vater ist gegen das Christentum, aus zwei Gründen: Erstens erlaubt es die Polygamie nicht und zweitens, und jetzt kommt es – hat es eine Schrift. Das ist ihm suspekt: „Geh du nur zu Deiner Buchreligion, du wirst schon wieder Verstand annehmen und zurückkommen.“

Zum ersten Mal an der Käsetheke kretischen Käse gekauft, aber den Namen schon auf dem Weg zurück wieder vergessen. Schmeckt gut, sehr würzig, aber nicht gerade billig. Ganz allmählich lassen sich die Verkäufer darauf ein, Griechisch mit mir zu sprechen und manchmal korrigieren sie sich selbst, wenn ihnen Englisch rausrutscht.

Statt  εδώ [edo], ‚hier‘, sagt man oft από εδώ [apo edo]. Der Bedeutungsunterschied ist schwer zu fassen, es macht das ganze etwas vager, wie ‚hier vorne irgendwo‘. Im der verbundenen Rede wachsen die beiden zusammen und dabei entfällt ein Vokal, damit nicht zwei zusammenstoßen: απ‘ εδώ. Man hört das als ein Wort apodo. Genauso bei der Abschiedsformel να είστε καλά [na iste kala]. Auch hier fällt ein Vokal weg, und man hört να‘στε καλά [naste kala]. Ich erinnere mich, dass ich irgendwann mal gefragt habe, was wohl naste heißt.

Im Internet stoße ich auf einen Beitrag, in dem von Internett die Rede ist. Na ja, manchmal stimmt’s ja. Komischerweise korrigiert mein Rechtschreibprogramm das nicht.

Auch im Internet stoße ich auf das Kreta-Forum und stelle auch gleich eine Frage. Nach wenigen Stunden schon mehrere Antworten. Unglaublich, welche Experten sich hier tümmeln. Sie schicken sich gegenseitig Photos von den hinterletzten Winkeln der Insel, als Bilderrätsel, und fast immer finden sie die Antwort, manchmal mit ein paar Hilfen. Auch sonst, ob es um praktische Dinge geht – vom Telefonieren bis zum Käse – lauter Experten. Es gibt aber auch Seiten zu Geschichte und Kunst und dabei eine sehr kontroverse Debatte über die Minoer und die Zerstörungen und alle die späteren Invasionen – wenn es denn welche war. Das Wort Besatzung, κατοχή [katochi], wird wohl nur für die deutsche Besatzung angewandt. Nur die wird von den Kretern als solche angesehen.

16. November (Sonntag)

Nach Myrtia, dem Standort des Museum Kazantzakis, südlich von Heraklion, gibt es einen kürzeren und einen längeren Weg. Ich wähle den kürzeren, durch die Berge.

Das Museum, viel gerühmt, sehr modern, ist in seinem Elternhaus in Myrtia. Der Ort hieß allerdings zeit seines Lebens gar nicht Myrtia, sondern Varvari. Das klang der Militärjunta zu „unhellenisch“ und erinnerte zu sehr an Barbaren, und so setzten sie die Änderung des Namens durch. Jetzt soll es Bewegungen geben, den alten Namen wiederherzustellen.

Kazantzakis ist im Ausland in erster Linie durch Alexis Sorbas bekannt, aber hier gilt er als der kretische Dichter überhaupt.

Hier haben wir wieder einen kretischen Nachnamen mit der typischen Endung – akis. Es ist ein Diminutiv, mit einer Bedeutung wie ‚der Kleine von‘, entspricht also ungefähr der Endung –son in Andersson oder Thomson. Der populären kretischen Vorstellung zufolge wurden den Kretern diese Namen als Spottnamen von den Osmanen gegeben. Die Kreter stellten die Sache dann auf den Kopf und nannten sich selbst voller Stolz so. Das ist aber ziemlich sicher eine Legende – und wohl auch chronologisch falsch. (Im Internet werden allerdings Ausländer, die eine nüchternere Deutung vorschlagen, von Kretern wütend beschimpft). Diese Namen sind einfach Patronyme wie so viele andere auf der Welt – und in Griechenland – nur eben mit der spezifisch kretischen Endung.

Noch hier in Myrtos höre ich den Singsang der orthodoxen Priester, über Lautsprecher aus der Kirche, dann folgt die Fortsetzung im Autoradio und dann in Ano Vianos, an dem Denkmal, wo die Stimmen von ganz unten den Berg hochkommen.

Die Fahrt geht die schon bekannten Serpentinen nach Ano Vianos rauf, aber die Straße ist passabel und hat nur ganz gelegentlich Schlaglöcher. Danach kommt man auf eine Ebene, und die Straße wird immer besser, streckenweise richtig gut ausgebaut, mit Seitenstreifen und manchmal sogar Überholspur! Es ist gar nicht mehr so weit Richtung Heraklion, als es rechts abgeht – gute Beschilderung! – und in das  abgelegene Myrtia.

Es ist überall sehr grün, und die Fahrt lohnt sich auch wegen einiger wunderbarer Ausblicke in die weiten, fruchtbaren Täler und auf die Hänge. Hier sehe ich auch zum ersten Mal Wein, teils auf Feldern, aber meist an Hängen. Die Landschaft erfordert es. Die Hänge sind allerdings nicht so steil wie an der Mosel, und die Parzellen sind kleiner. Komischerweise ist das Laub noch nicht abgefallen und auch nicht entfernt worden, ist aber gelb und braun.

Als ich in Myrtia ankomme, frage ich mich, wie aus einem so abgelegenen Kaff so ein kosmopolitischer Mann erwachsen kann, aber die Frage beantwortet sich bald von selbst: Er stammt gar nicht von hier. Er ist hier gar nicht geboren, sondern in Heraklion. Dies ist eigentlich nicht sein Elternhaus, sondern das seines Vaters.

In einer der schmalen Straßen, durch die man ohnehin kaum durchkommt, steht ein Lieferwagen, mit Lautsprecherdurchsagen. Als ich später zu Fuß vorbeikomme, sehe ich, dass der Plastikbehälter verkauft. Griechische Tupperparty.

Neben dem Museum, gleich am zentralen Dorfplatz gelegen, ist ein Kafeneion, aber ich traue mich nicht hinein. Man kann durch die Glasscheiben sehen. Lauter alte Männer, die völlig reglos herumsitzen, keine Tür steht offen, und man sieht auch keine Kellner oder irgendwen, der etwas trinkt.

Also gehe ich in das moderne Museumscafé. Hier ist man sehr freundlich, und ich bin noch der einzige Gast. Zu dem Kaffee gibt es κουλουπάκια. Ich bestelle sie, obwohl ich keine Ahnung habe, was es ist. Es sind ganz einfach Kekse, verschiedener Machart. Erst später fällt mir auf, dass es wieder dieselbe Verkleinerungsform ist. Die Grundform, κουλούρι, bezeichnet die Sesamkringel, die es sonst in Griechenland immer am Straßenrand zu kaufen gibt. Hab ich hier noch gar nicht gesehen.

Das Museum ist gut, aber so gut nun auch wieder nicht. Ich hatte nach all den Lobeshymnen Gott weiß was erwartet. Aber die Form der Präsentation wiederholt sich doch stark, und die Ausstellungsstücke sind zwar interessant, aber auch nicht ungewöhnlich.

Dafür entschädigt Kazantzakis. Leben und Werk, beides beeindruckend, vor allem die Vielfalt. In einem Raum sind an einer ganzen Wand Bilder von den Figuren angebracht, mit denen er sich auseinandergesetzt hat. Darunter sind Nietzsche, Jesus, Dante, Lenin, Homer, Buddha, El Greco! Die Ausstellung beweist, dass das kein leeres Gerede ist. Besonders angetan hatte es ihm der Hl. Franziskus. Vor dem Museum steht eine moderne Skulptur eines deutschen Bildhauers, die Franziskus spindeldürr mit weit nach vorne gebeugtem Körper und übergroßem Kopf zeigt. An den Füßen – und durch die Waden hindurch! – verlaufen irgendwelche Stränge. Man fragt sich, was die darstellen: Wurzeln? Fesseln?

In den Vitrinen hinter dem Eingang gibt es persönliche Objekte: eine Postkarte aus Samarkand an seine Schwester, eine sehr ordentlich geführte, längliche Kladde aus der Schulzeit, Photos der ersten und der zweiten Frau – die erste ist eindeutig schöner – eine Schale für Nüsse, die er beim Schreiben immer neben sich hatte und eine falsche Annonce, in der seine Hochzeit mit Galatea verkündet wird, mit dem Zweck veröffentlicht, die Zungen zum Schweigen zu bringen, die sich über die beiden ausließen.

Kazantzakis studierte in Athen und Paris, aber das Fach, was man angesichts seiner späteren Karriere am wenigsten erwarten würde: Jura. Er scheint allerdings auch zu Studentenzeiten schon fremd gegangen zu sein, denn in Paris studierte er bei Bergson und schrieb seine Abschlussarbeit über Nietzsche. Beide nichts für Juristen. Bergsons Philosophie kann man später in dem ungestümen und naturhaften Alexis Sorbas wiederfinden.

Zumindest in der ersten Lebenshälfte mischte er überall mit: als Freiwilliger in den Balkankriegen, in einer Mission, Griechen aus dem Kaukasus wieder in die Heimat zu bringen, im Kampf gegen die türkische Besatzung, später als Minister in der griechischen Regierung und als Mitglied der Sozialistischen Partei. Oben ist dann ein Brief an den Vorsitzenden dieser Partei ausgestellt (1947), in dem er mitteilt, dass er fortan das Leben eines Intellektuellen führen wolle.

Den Nobelpreis hat er nicht bekommen, obwohl er vorgeschlagen worden war. In dem Jahr ging der Preis an Camus, und Kazantzakis sagte, der habe ihn hundertmal mehr verdient als er selbst.

Der Rest des Erdgeschosses ist einem einzigen Werk gewidmet, der Odyssee, dem Werk, das er selbst als sein Opus magnum ansah und das diesen Namen wirklich verdiente: 33333 Zeilen! Ein Epos, das sich als die moderne Fortsetzung von Homers Odyssee versteht, eine Reise ohne Wiederkehr, ein Epos über Migration und Flucht. Der dramatische Ausgangspunkt ist der, dass Odysseus sich nach ein paar Jahren in Ithaka bei der trauten Familie langweilt und sich wieder auf die Reise macht. Einige können es einfach nicht lassen!

Wie viel ihm selbst das Werk bedeutet, sieht man an zwei Briefen. In einem sagt er, er habe nichts erreicht, wenn die Odyssee nichts tauge, in dem anderen sagt er, die Odyssee sei sein größter Versuch, seine Seele zu retten.

Die Erstausgabe ist zu sehen, ein Buch wie ein Klotz, nur in kleiner Auflage erschienen, dann aber auch andere Ausgaben und Übersetzungen in Englisch, Französisch und Deutsch.

Auf dem Weg ins Obergeschoss drei Büsten von drei verschiedenen Künstlern, aber alle ähneln sich sehr. Er sieht immer ernst aus, mit dem streng nach hinten gekämmtem Haar und tiefen Furchen auf der Stirn. Ein Adonis war er nicht.

Oben gibt es ein bisschen Sorbas-Kitsch – Zigaretten, Biergläser, Weißwein – aber auch interessante Informationen. Es gab wirklich einen Zorbas, und der hieß auch so. Kazantzakis und Sorbas sind sich zum ersten Mal auf dem Athos begegnet! Und sie hatten tatsächlich, genauso wie in dem Roman, ein gemeinsames Projekt für eine Mine, das völlig scheiterte. Hier ist ein Brief von Zorbas ausgestellt, in dem er aus seinem Leben berichtet.

Ich wusste nicht, dass es so ein direktes Vorbild für den Romanhelden gab. Auch wusste ich nicht, dass die Musik zu dem Film von Theodorakis ist.

Interessant die Titel der Übersetzungen. Man sollte meinen, dass es gar nicht so viel Spielraum gibt, aber der Originaltitel ist Βίος και πολιτεία του Αλέξη Ζορμπά, was gar nicht so leicht zu übersetzen ist: Leben und Lebensart des Alexis Sorbas. Klingt fürchterlich. Daher ist häufig nur der Name übrig geblieben, manchmal mit einem Zusatz: Zorbas the Greek, Alexis el griego. Auch nicht so toll. Die portugiesische Ausgabe heißt O Bom Demónio – Der gute Teufel.

Auch interessant der englische Titel Greek Passion, ein Buch über Passionsspiele in einem griechischen Dorf, noch unter der Herrschaft der Osmanen. Der griechische Titel geht aber ans Eingemachte: Ο Χριστός Ξανασταυρώνεται, ‚Christus nochmal gekreuzigt‘! Das Buch wurde auch zum Film und zur Oper umgearbeitet. Kazantzakis sah keine Aufführung des Stücks, wohl aber den Film von Jules Dessin in Cannes.

Auch unglaublich herausfordernd das Thema von Ο τελευταίος πειρασμός – Die letzte Versuchung. Am Kreuz hängend, sinnt Jesus darüber nach, wie die Welt, wie sein Leben gewesen wäre, wenn Gottvater es ihm erspart hätte, zu sterben. Hier werden gängige Vorstellungen aufgebrochen, und das Buch hat Kazantzakis nicht viele neue Freunde in der orthodoxen Kirche gemacht.

Es gibt dann eine eigene Abteilung zu den Übersetzungen. Überwältigend! Dante, Swift, Pirandello, Nietzsche, Plato, Goethe, Darwin, Bergson, Shakespeare, Jules Verne. Kazantzakis war der Meinung, eine wörtliche Übersetzung zerstöre den Rhythmus des Originals.

Irgendwo heißt es, seine große Liebe habe Kreta gegolten. Vielleicht. Aber da war er fast nie. Ein längeres Zuhause hatte er in Antibes, aber meist war er auf Reisen: Frankreich, Italien, Schweiz, Österreich, Deutschland, Kaukasus, Sinai, China, Japan, Ägypten, Tschechoslowakei, Spanien, Naher Osten, Zypern, Sowjetunion, England, Holland. Er finanzierte seine Reisen mit Reiseberichten für eine Athener Zeitung. Der Glückliche!

Dazu kamen längere Aufenthalte in England, Frankreich, Italien, Sowjetunion, Schweiz und Deutschland, wo er auch starb, in Freiburg. Beigesetzt wurde er in Heraklion.

Kazantzakis war zeit seines Lebens ruhelos, auch spirituell, immer auf der Suche, und wurde am Ende immer illusionsloser. Sein berühmtestes Zitat ist als Epitaph auf seinem Grabstein zu finden: Δεν ελπίζω τίποτα. Δε φοβούμαι τίποτα. Είμαι λέφτερος – Ich hoffe nichts. Ich fürchte nichts. Ich bin frei.

Als ich aus dem Museum herauskomme, ist es richtig warm geworden. Ich setze mich ein bisschen auf den Platz vor dem Museum und laufe durch das Dorf. Dabei entziffere ich einen Straßennamen, Buchstabe für Buchstabe: Οδος δον κιχωτη. Der Groschen fällt pfennigweise: Straße des Don Quijote. Man ist hier im Dorf dazu übergegangen, alte Straßennamen auszutauschen gegen solche, die irgendeinen Bezug zu Kazantzakis haben.

Bei der Runde durch das Dorf sehe ich mich umzingelt von Wörtern, die ich nicht kenne und von denen ich das Gefühl habe, dass ich sie kennen müsste.

17. November (Montag)

In einem uralten Sketch aus dem griechischen Schattentheater erfährt Karagiosis, der sympathische Schurke des Schattentheaters, dass Chatziavatis, sein Freund und Gegenspieler, einen Griechischlehrer sucht. Sofort bietet Karagiosis, immer auf der Suche nach Geld, seine Dienste an. Er könne ihm Griechisch beibringe. Chatziavatis sagt, nein, nicht für ihn. Er wollte eine Schule eröffnen. Bänke, Tafel, Kreide habe er bereits, nur noch keinen Lehrer. Ja, wer denn aber die Schüler seien, will Karagiosis wissen. Deutsche Touristen. Was die denn mit Griechisch anfangen wollten, will Karagiosis wissen. Hätten die denn keine eigene Sprache. Doch, erhält er zur Antwort, aber eine reiche ihnen anscheinend nicht aus.

Zu den wenigen Dingen, die ich „auf der Straße“ aufgeschnappt habe, gehört μισό λεπτό [miso lepto], der Ausdruck, den die Griechen gebrauchen, wenn sie einen bitten, zu warten. Wörtlich bedeutet es ‚eine halbe Minute‘, eine ungewöhnlich präzise Angabe. Das erinnert mich daran, dass ich mich als Kind immer gewundert habe, wenn die Erwachsenen am Telefon Eine Sekunde sagten, und dann nach einer Sekunde immer noch nicht zurück waren.

18. November (Dienstag)

Ein Schiff wird kommen, in der deutschen Version von Lale Andersson gesungen, wird im griechischen Original von Melina Mercouri gesungen, und zwar in Ποτέ Την Κυριακή –Sonntags nie!, einem Film von Jules Dassin, ihrem damaligen Ehemann. Das Lied, das ich immer als Sehnsuchtslied einer Frau verstanden habe, die auf ihren Mann wartet, also einem ganz bestimmten Mann, ist im Film das Lied einer Prostituierten, die auf irgendeinen Mann wartet, einen Mann, der sie heiratet und mit ihr Kinder zeugt – vier. Das dürfte aus dem Text, weder dem griechischen noch dem deutschen, hervorgehen, sondern nur aus dem Kontext des Films.

Melinas Mercouris Name wird im Griechischen auf der zweiten Silbe betont. Man ist so sehr die deutsche Betonung auf der ersten Silbe gewohnt, dass einem die griechische Aussprache fremd vorkommt. Ein gutes Beispiel für die Anpassung fremder Wörter an die Betonungsmuster der eigenen Sprache.

Melina Merkouris berühmtestes Zitat – Ich bin als Griechin geboren – ist auch der Titel ihrer Autobiographie. Das vollständige Zitat lautet: Γεννήθηκα Ελληνίδα και θα πεθάνω Ελληνίδα. Ο Παττακός γεννήθηκε φασίστας και θα πεθάνει φασίστας Ich bin als Griechin geboren und werde als Griechin sterben. Herr Pattakos ist als Faschist geboren. Er wird als Faschist sterben. Der Anlass dafür war die Aberkennung ihrer griechischen Staatsbürgerschaft durch die griechische Regierung in der Zeit der Militärjunta. Pattakos war der griechische Innenminister. Merkouri lebte damals im Exil in Frankreich und hatte keine gültigen Papiere mehr, was ihr große Schwierigkeiten bei internationalen Reisen eintrug.

Obwohl das Griechentum schon im Titel der Autobiographie in den Vordergrund gestellt wird, wurde sie, soweit ich das herausfinden konnte, nicht auf Griechisch geschrieben, sondern auf Englisch! Das erinnert an  die Aufrufe der irischen Nationalisten zur Verwendung des Gälischen, auf Englisch geschrieben!

So warm wie heute wird es dieses Jahr wohl nicht mehr. Es haben sich sogar noch ein paar Sonnenanbeter am Strand eingefunden – wo die wohl herkommen? – und einer hat sich ins Wasser gewagt. Inzwischen sind auch die Wohnwagen verschwunden, und die Umzugskabine ist abgebaut worden. Wusste gar nicht, dass die mobil war. Im Mirtos erfahre ich, dass es tatsächlich im Winter kein anderes Lokal hier gibt, dass Essen anbietet. Die meisten haben ganz geschlossen, in den anderen gibt es Kaffee und bestenfalls ein paar mezedes. Die Besitzer des Mirtos sind auf Reise, in Costa Rica! Dhespina hat das Regime übernommen. Sie bestätigt mir, was ich im Internet gelesen habe: Das Lokal wurde erst von kurzer Zeit von den Besitzern wieder übernommen, nachdem es vier Jahre lang verpachtet war und den Bach heruntergegangen ist. Im Internet ist man voll des Lobes über diese Neuerung. Die Küche wird in höchsten Tönen gelobt, vor allem im Vergleich zu den Jahren zuvor.

19. November (Mittwoch)

Griechenland hat wenige große Städte, und die einzige Millionenstadt ist Athen. Es gibt viele Städte, die 50,000 – 60,000 Einwohner haben, aber nicht so viele, die um die 200,000 Einwohner haben, wie bei uns. Heraklion ist mit 160,000 schon die viertgrößte Stadt, Patras die drittgrößte. Die kleinste griechische Gemeinde ist nicht weit von hier, die Gemeinde auf der Insel Gavdos, südlich von Kreta.

Der „Schreibtischstuhl“, den sie mir hier gegeben haben, ist eine einzige Absage an die Bequemlichkeitskultur. Überhaupt sind kretische Stühle merkwürdig unbequem, wie die mit den kleinen, quadratischen Sitzflächen, die vor den Kneipen und Häusern stehen. Komisch, dabei sitzen sie doch den ganzen Tag (in der Gegend) herum. Es heißt immer, die Kreter würden so alt wegen der guten Ernährung. Ich glaube, sie werden so alt, weil sie die Frauen die ganze Arbeit tun lassen.

Ob es auch an dem kretischen Akzent liegt, dass ich so wenig verstehe, habe ich noch nicht herausgefunden. Es gibt kaum vernünftige Beschreibungen, und beim Hören kann ich die Unterschiede nicht identifizieren. Auch die ausgezeichneten Reiseführer haben nichts darüber.

Ich versuche, mir vorzustellen, ob es einem Ausländer etwas nützt, zu wissen, dass im Rheinland ich wie isch klingt. Kann man dann „rückwärts“ denken? Zu den wenigen Details, die ich bisher erfahren (aber nur im Sinne von ‚gehört‘) habe, gehört eine andere Aussprache von όχι, ‘nicht‘. Das müsste man doch heraushören können, es muss doch oft isoliert vorkommen.

Ich habe aus den ziemlich vagen Kommentaren im Internet den Verdacht, dass es sich in erster Linie um einen zusätzlichen Laut handelt, wie der, der bei uns durch sch wiedergegeben wird. Den gibt es in den anderen Versionen des Griechischen nicht. Und der würde dann an die Stelle von ch treten, in beiden Versionen, ich und ach. Eventuell gibt es noch einen weiteren kretischen Laut, entweder wie der in tsch oder wie der in tz. Aber das ist natürlich alles viel zu vage, um hilfreich zu sein.

Meine ewige Feindschaft zur Technik bekommt heute wieder neue Nahrung: Ich soll ein Video drehen, gehe zur Bedienungsanleitung auf die Homepage der Marke und finde Bedienungsanleitungen für alle Typen – außer für meins. Dann merke ich, dass man die Seite runterscrollen muss, aber auch da ist meins nicht dabei. Und da soll man nicht an Verschwörungen glauben.

Nachdem ich bisher jeden Tag die Milch für den Milchkaffee verschüttet habe, frage ich mich, ob es an mir oder an den griechischen Töpfen liegt. Ich entscheide mich für die griechischen Töpfe.

Als ich den Bäcker frage, ob er keine Spanakotiropita mehr habe, antwortet er: Οχι, δεν βγάζω, mit einem Verb, das ich hier nicht erwartet hätte und das so etwas wie ‚herausnehmen‘ heißt. Es taucht aber in allen möglichen Kontexten auf und bedeutet auch (Geld) ‚verdienen‘‚ (Kleidung) ‚ausziehen‘, (Hund) ausführen‚ (Zeitung) ‚herausgeben‘, (Vorsitzenden) ‚wählen‘, (Zahn) ‚ziehen‘, (Rede) ‚halten‘ und vieles andere bedeutet. Man müsste sich so ein Verb in allen Einzelheiten einverleiben, vielleicht wäre das effektiver als von allem etwas. Blöderweise ist es natürlich so unregelmäßig, wie man sich ein Verb nur vorstellen kann. Die Spanakotiropita, das war ja der Anlass der ganzen Sache, gibt es im Winter nicht. Auch hier wird das Angebot immer dünner.

20. November (Donnerstag)

Im Internet ein bisschen nach griechischer Musik gesucht und dabei auf zwei Lieder aus einem Konzert mit Theodorakis gestoßen: großes Orchester, großer Chor, junger Solist und Theodorakis als Dirigent. Keine leichte Kost, aber sehr beeindruckend, getragene, majestätische Musik, von Theodorakis komponiert. Es geht immer um die Heimat, um Schöpfung, Natur, aber auch Verderben. Wörter wie Abgrund, Tod, Blut kommen genauso vor wie Vulkan, Myrte, Adler.

Die Texte stammen in beiden Fällen von Odysseas Elytis. Elytis ist einer von zwei griechischen Nobelpreisträgern, in erster Linie durch seine Lyrik bekannt. Er stammte auch aus Kreta. Auch das glaubt man an den Texten durchzuhören.

Theodorakis muss inzwischen steinalt sein. Unglaublich, was der alles mitgemacht hat: Exil, Krieg, Folter, Besatzung, Haft. Er musste nach dem Krieg im Griechischen Bürgerkrieg bei der Hinrichtung seiner Kameraden zusehen. Im Krieg hatte er als Partisan gegen die deutsche Besatzung gekämpft und war auch da schon inhaftiert und gefoltert worden.

21. November (Freitag)

Millionen von Menschen schicken sich tagtäglich Bilder, Videos, Nachrichten, mit ein paar Clicks ist es in der Regel getan. „Ganz einfach“ heißt es, wenn man danach fragt, wie es geht – meine absolute Lieblingsantwort. Nichts ist einfach. Jedenfalls nicht für mich. Heute genauso wenig wie jemals zuvor. Nachdem das bestellte Geburtstagvideo endlich – eher schlecht als recht und nach unendlichen Umwegen – im Kasten war, begann erst die eigentliche Tortur. Das Handy weigerte sich, das Video zu verschicken. Zu lang. Anderthalb Minuten. Andere Leute schicken sich Videos, die Stunden dauern. Dann kam das große Rätselraten bei der Übertragung des Videos vom Handy aufs Notebook und von Handy bzw. Notebook auf den Laptop. „Diese Datei wird von dem System nicht unterstützt“. (Welches System?) „Stellen Sie sicher, dass der bei dem Kauf mitgelieferte Datenträger eingelegt wird“. (Beim Kauf wurde kein Datenträger mitgeliefert). „The custom error module does not recognize this error.“ (Der Irrtum erkennt den Irrtum nicht?). “Die Anfrage an e-mail 2010 konnte wegen Zeitüberschreitung nicht gesendet werden” (Wer hat die Zeit überschritten?) Irgendwann war dann die Datei auf Netbook und auf Laptop, konnte aber von denen entweder nicht gelesen oder nicht versendet werden. Auch der Versuch, die Datei als Zip-Datei zu versenden, schlug elend fehl. Ich habe andere Menschen dabei beobachtet, wie sie eine Zip-Datei an eine Mail anhängten. In Sekundenschnelle war die raus. Bei mir dreht sich das Rädchen und dreht sich und dreht sich und dreht sich und dreht sich. Ich lasse es sich weiter drehen und mache mir einen Kaffee und komme zurück – und es dreht sich immer noch.

Am Vormittag bei strahlendem Sonnenschein nach Tertsa gefahren, in die Taverne am Ortseingang, dort, wo ich beim Laufen kehrt mache. Die Taverne hat den kuriosen Namen Βρέξει – Λιάζει. Zwei ganz einfache, in die Holztafel eingeritzte Bilder erklären die Bedeutung: ‚Es regnet – Die Sonne scheint‘. Der Wirt sitzt zusammen mit einer Gruppe von Männern draußen und serviert mir einen Kaffee auf der Terrasse. Ich lasse mir die Sonne auf die Nase scheinen. Ob es denn hier abends auch was zu essen gibt, will ich wissen. Ja, keine große Auswahl, aber irgendetwas haben sie immer, auch im Winter.

Ich gehe dann noch in das Dorf, das wirklich nur aus den Häusern an dieser Straße besteht. Auf der Straße spielen ein paar Erwachsene mit einem Jungen, am Straßenrand sitzen Männer und tun, was sie immer tun – nichts. Sie sind aber hier nicht so stur wie in Myrtos. Alle grüßen freundlich. Am Straßenrand ein kleines Cafe namens Λαμπρός. Ich dachte, das hieße ‘Blitz‘. Dann wäre es eine kuriose Ergänzung zu der Taverne am Ortseingang. Es heißt aber so etwas wie ‚glänzend‘, ‚leuchtend‘. Mit der Übersetzung erschließt sich aber der Name nicht.

Als ich daran vorbeikomme, bietet mir ein Mann freundlich einen Stuhl an. Da kann ich nicht nein sagen und trinke noch einen Kaffee. Eine Frau fragt, ob ich hier Ferien mache. Ich erzähle, dass ich den ganzen Winter bleibe. Man kennt die Villa Mare natürlich und die Vermieter. Der Mann erzählt, dass er Giorgos heiße und aus Patras stamme. Er bittet mich hinein, weil er mir etwas zeigen will. Ein Photoalbum. Eine erstaunliche Angelegenheit. Erst glaube ich, er wäre Koch, aber das ist nur ein Hobby, eine Nebenbeschäftigung. Eigentlich ist er, oder war er, Chauffeur, und ist dabei richtig herumgekommen: Kiew, London, Mailand. Er hat Photos mit dem aktuellen griechischen Ministerpräsidenten und mit Kohl und George Bush. Wie es zu den Begegnungen gekommen ist, verstehe ich nicht ganz, aber er muss wohl irgendwelche griechischen Prominenten chauffiert haben. Bei dem Photo mit Kohl erscheint er allerdings als Koch – Kohl schaut nicht ihn an, sondern an ihm vorbei auf das Spanferkel hinter ihm.

Als ich meine Kaffee auf habe, führt er mich noch auf den keine zehn Meter entfernten Strand. Hier stehen Tische und Stühle unter einer großen Plastikplane, die „Terrasse“ des Cafés. Das muss im Sommer eine Goldgrube sein.

In Myrtos gibt es in der Bäckerei heute die leckeren Kalitsounia. Man bestellt nach Gewicht, und um eine Vorstellung zu bekommen, kaufe ich auf gut Glück ein halbes Kilo. Das sind sieben Stück. Etwas viel, aber jetzt weiß ich Bescheid für spätere Bestellungen. Im Internet steht irgendwo, dass die Kalitsounia unter Auslandsgriechen das Mitbringsel überhaupt ist.

In dem Supermarkt frage ich nach dem kretischen Schnittkäse von dieser Tage, und obwohl eine andere Verkäuferin da ist, kann sie mir helfen: Der Käse, den ich gekauft habe, ist aus Schafs- und Ziegenmilch! Es handelt sich um Graviera, einem Käse, der in ganz Griechenland hergestellt wird, aber besonders in Kreta. Äußerlich kann man ihn gut an den sich kreuzenden Einkerbungen auf der Schale erkennen, die ein Muster bilden.

Im Mirtos nehme ich mir zum ersten Mal Zeit, die wirklich garstige Einrichtung anzusehen. Ein paar schöne bemalte Holztafeln an den Wänden – alles andere ist Schrott. Und ein unsägliches Durcheinander. Dorfkneipenatmosphäre. Aber die Touristen sitzen in den Monaten, wo sie hier sind, ohnehin draußen. Auf den Tischen steht aber immer eine kleine, ganz dünne Vase mit einem frischen Kraut als Dekoration, heute Basilikum.

Dhespina fragt mich, ob ich Wasser trinken wolle, und ich muss sie die Frage wiederholen lassen. Dann verstehe ich auf einmal, warum ich nicht verstanden habe: Auch das Wasser bekommt die Diminutivendung: statt νερό ist es νεράκι, statt Wasser ist es Wässerchen, und so steht es auch auf der Rechnung! Dazu kommt die Aussprache. Zum ersten Mal kann ich in einem einzelnen Wort deutlich die kretische Aussprache oder besser die Abweichung von der Standardsprache erkennen: Das /k/ ist keins. Wie genau der Laut beschaffen ist, der es ersetzt, ist mir aber immer noch nicht klar, vermutlich ein Affrikat, entweder /ts/ oder /tS/ – oder eine Mischung davon, wenn es so etwas gibt.

22. November (Samstag)

Ich brauche eine neue Mine für meinen Kuli, und bevor ich mich auf den Weg nach Ierapetra mache, sehe ich schnell das Wort im Internet nach, einem frei zugänglichen Wörterbuch, das mir schon sehr gute Dienste geleistet hat. Sofort werde ich fündig: νάρκη. Ich habe das Wort schon notiert, als ich mir einfällt, vielleicht die Seite weiter runter zu scrollen. Da kommt dann noch mal Mine und noch mal Mine, und erst die dritte ist die richtige, die Kulimine: ανταλλακτικό. Fast hätte ich im Schreibwarengeschäft gefragt, ob sie eine Sprengladung für meinen Kuli haben.

Die unansehnlichen Orte zwischen Myrtos und Ierapetra liegen alle direkt am Meer. Trotzdem wird hier nichts touristisch genutzt. Statt Strandkörben Zapfsäulen. Warum das so ist, keine Ahnung. Vielleicht gibt es auf dieser Strecke einfach keinen Strand. Komisch, dass so ein zufälliges Detail dann den ganzen Charakter eines Ortes bestimmt.

Immer wieder vergesse ich es, wenn ich zuhause bin, immer wieder unterwegs werde ich dran erinnert: zwei fast identische Wörter auf zwei Firmenschildern auf der einen und auf der anderen Seite der Straße: εμπόριο und εμπόρeia. Scheinen aber beide dasselbe zu bedeuten: ‚Handel‘. Alle Aufregung umsonst.

In der Schreibwarenhandlung bekomme ich meinen Sprengstoff für 50 Cent. Fahrt hat sich gelohnt. Wieder ist man hier freundlich und hilfsbereit. Als ich mich bei den Büchern nach neuem Lesestoff umsehe, kommt die ältere Dame auf mich zu und fragt, ob sie mir helfen könne. Ich erkläre ihr etwas umständlich, dass es nicht gut sein muss, nur verständlich. Sie empfiehlt mir zwei Bücher, einen Erzählband von einer kretischen Schriftstellerin und einen Roman über die Ausgrabungen in Knossos. Hört sich beides gut an, aber ich entscheide mich dann doch für das, das ich zufällig in der Hand halte. Das scheint leichter zu sein. Es ist von einer jungen Schriftstellerin aus Athen, Ιφιγενεια-Ειρηνη Τεκου. Es ist ihr erster Roman. Er erzählt von zwei Schwestern, die in im kosmopolitischen Smyrna aufwachsen, aber durch politische Umstände getrennt werden. Zuhause versuche ich, im Internet was über die Autorin zu finden, aber es gibt viele Formen, den Namen lateinisch zu transkribieren. Ich finde nichts. Unter dem griechischen Namen ist sie aber vertreten, und es gibt eine Reihe sehr guter Rezensionen auf den Buchseiten.

Dann komme ich endlich mal auf den Samstagsmarkt von Ierapetra. Ist in aller Munde, lohnt sich aber kaum. Ein Straßenmarkt, im vorderen Teil Obst und Gemüse, aber auch Honig, Rosinen und Nüsse, offensichtlich alles hier aus der Gegend, im hinteren Teil Klamotten und Kleinkram. Hier sieht alles nach Ramsch aus. Alles ist unglaublich billig. Die teuersten Schuhe kosten 25€, und viele Kleidungsstücke gibt es schon für 2€ oder 3€. Kurios, wie schlecht die Griechen sich kleiden, vor allem die Frauen, vor allem im Vergleich zu Italien und Spanien. Alles sieht nach Freizeitkleidung schlechter Qualität aus. Aber vielleicht „zählt“ die Straße einfach nicht. Fein macht man sich nur, wenn man in die Kirche geht oder eingeladen wird. Ganz abgesehen von dem finanziellen Aspekt.

Ich kaufe haufenweise Obst und Gemüse, alles lecker, alles günstig. Die Apfelsinen darf man nicht nach ihrem Äußeren beurteilen. Sie sind fast gelb, fast wie Zitronen, aber schmecken phantastisch.

Auf dem Rückweg bremst ein Auto vor mir ziemlich plötzlich ab. Der Fahrer lässt ein winziges Kätzchen die Straße passieren. Katzen wie Hunde laufen hier meistens frei  herum, wahrscheinlich sind die meisten herrenlos. Im Internet habe ich eine große Aktion gesehen, in der dazu aufgefordert wird, Katzen und Hunde einzufangen und kastrieren zu lassen. Zu ihrem Wohl. Na ja, das würden die Hunde und Katzen vielleicht anders sehen. Typischerweise ist dies eine Initiative von Ausländern.

Ich entscheide spontan, an einer Abbiegung Richtung Anatoliki zu fahren, einem verlassenen Dorf, das jetzt wieder bewohnt wird und inzwischen zu einem Ausflugsziel geworden ist. Nach ein paar Minuten ist man in der griechischen Berglandschaft. Dann kommt eine Abzweigung, ohne Beschilderung, und bald darauf noch eine. Ich gebe auf und fahre zurück. Demnächst noch mal mit Karte.

23. November (Sonntag)

Der neue griechische Roman spielt in Istanbul. Erst hatte ich bei der Lektüre Zweifel, da ich im Internet irgendwas von Smyrna gelesen hatte. Das auch vorkommt, aber nicht der Schauplatz ist. Aber sozusagen der Ausgangspunkt. Geschichtlich gesehen jedenfalls. Die Sache ist so: Bei der „kleinasiatischen Katastrophe“ war der „Austausch“ der Bevölkerung zwar durchgreifend, aber nicht komplett. In Istanbul blieben die Griechen, und auf den Inseln auch, und die Türken blieben auch in einem bestimmten Teil von Griechenland. Dann ereignete sich in den 50er Jahren das, was in dem Roman der Katalysator der Geschichte der beiden Schwestern ist und ihre Trennung zur Folge hat: In Istanbul gibt es Angriffe auf Griechen, auf griechische Wohnungen, vor allem aber auf griechische Geschäfte und Einrichtungen. Es gab zwar nicht sehr viele Tote, aber Einschüchterung, Terrorisierung, Verwüstung. Es hört sich ein bisschen wie die Kristallnacht an. Und das war der Anlass, dass der dreißig Jahre zuvor begonnene Bevölkerungsaustausch in einem zweiten Schritt komplettiert wurde: Alleine aus Istanbul wanderten 100,000 Griechen aus und ließen sich in Griechenland nieder. Eine kleine Großstadt.

24. November (Montag)

Im Russischen gibt es einen schönen Ausdruck, den man gebraucht, wenn man jemanden loben will: молоде́ц [maladez]. Manchmal mit ‚Prachtkerl‘ übersetzt, aber das gibt eher die wörtliche Bedeutung wieder als die Funktion. Im Deutschen würde man vielleicht so etwas wie Gut gemacht! sagen oder Respekt! Schwer, eine Entsprechung zu finden. Im Griechischen gibt es ein ganz ähnliches Wort, auf das ich jetzt wieder gestoßen bin: παλικάρι [palikari]. Die wörtliche Bedeutung ist dieselbe, und der Gebrauch ist wohl auch ähnlich. Kuriose Parallele. Die mich daran erinnert, wie einmal zwei Mütter, die mit ihren kleinen Kindern zu Besuch waren, überrascht feststellten, dass das Wort für ‚Puppe‘ gleich ist auf Russisch und auf Griechisch: ку́кла und κούκλα [kukla]. Sehen sogar ähnlich aus.

Trotz Übersetzung auf Englisch und auf Deutsch will eine Zeile aus einem der von Theodorakis vertonten Gedichte von Elytis keinen Sinn ergeben. Bis ich auf die Idee komme, das Wort κλήμα [klima] nachzuschlagen. Es heißt ‚Weinrebe‘. Jetzt wird die Sache langsam klarer. ‚Weinrebe‘ und ‚Klima‘ sind im Griechischen Homophone, unterscheiden sich aber in der Schreibung: κλίμα bzw. κλήμα.

Eine schwierige, aber tief bewegende Analyse von Kazantzakis Buch über Christus am Kreuz beginnt so: „As the wheel of life turns, sometimes one finds oneself at the very bottom. These are moments in one’s life when emptiness engulfs it. As it devours the flesh, it plunges one’s existence into an abysmal darkness, weakening the already wounded BODY thereby propelling the SPIRIT to awaken from its deep slumber. Usually prompted by such inevitable events in life like an incurable disease, an excruciating physical or emotional pain, an utter loneliness or a self-imposed isolation, it immerses the BODY in a deeply rooted SUFFERING, tingling the SPIRIT and enabling its possibility to flap its wings. As the BODY succumbs, the SPIRIT struggles to come out, as it seeks the LIGHT”. Dieser Analyse zufolge stellte Kazantzakis die offizielle kirchliche Lehre des Fleisch gewordenen Geistes auf den Kopf und machte daraus das Geist gewordene Fleisch. Christus musste als Mensch, wie alle Menschen, Angst und Schmerz erleiden. Jesus ist der beispielhafte Mensch, der seine körperliche Schwäche überwindet, indem er Abstand nimmt von weltlichem Glück und seinen Geist so formt, dass er eins mit Gott wird. Das kam bei der Kirche nicht gut an.

So schlecht wie angekündigt ist das Wetter nun auch wieder nicht. Man kann auf dem Balkon und an der Strandpromenade sitzen. Da unten kommt ein Engländer vorbei und berichtet, er sei im Wasser gewesen. Kalt? Ein bisschen kalt.

Unter den Photos ist eins, das ich dieser Tage von einem Plakat in Ierapetra gemacht habe. Es wirbt für eine Aufführung von Aschenputtel. Die heißt auf Griechisch Σταχτοπούτα. Für einen Spanier muss das klingen wie Aschenhure.

25. November (Dienstag)

„Meine Brüder“, heißt es im Jakobusbrief, „nicht so viele von euch sollten Lehrer werden, ihr wisst ja, dass wir Lehrer vor Gottes Gericht strenger beurteilt werden als die anderen“. Die Warnung kommt zu spät für mich.

Ungemütlicher Tag: graues Meer, graue Wolken, frischer Wind, ein paar Tropfen Regen. Trotzdem: kein Vergleich mit einem trüben Herbsttag bei uns. Der Himmel hat blaue Stellen, es gibt auch weiße Wolken, und hinter denen kämpft die Sonne ums Durchkommen. Und ganz hinten, am Horizont, ein schnurgerade weißer Streifen auf dem Meer, vom Sonnenlicht. Geht doch noch.

Am Abend muss ich tatsächlich zum ersten Mal einen Pullover herausholen. Vor allem der Wind ist kalt.

Auf dem Weg zum Mirtos höre ich Basketball spielende Jungen. Ein Wort, das man dabei alle paar Sekunden hört, ist μαλάκα. Das ist mit ‚Blödmann‘ ziemlich harmlos übersetzt.

Im Mirtos gibt es Bohnen. Ganz einfaches Gericht, aber sehr, sehr lecker. Mit ganz winzigen Stückchen Zwiebeln und Paprika und mit Tomaten. Zum Nachtisch gibt es den leckeren griechischen Jogurt mit (vermutlich) Sultaninen. Sie sind nicht so trocken wie bei uns die Rosinen und passen gut zum Jogurt.

26. November (Mittwoch)

Durch eine weitergeleitete Nachricht über den gesundheitlichen Nutzen von Schokolade auf Statistiken gestoßen, die den Schokoladenkonsum der verschiedenen Länder vergleicht. In einer Statistik liegt Deutschland an zweiter, Griechenland an zweiletzter Stelle. Entspricht auch meinen Beobachtungen hier. Die Supermärkte sind knapp mit Schokolade ausgestattet, man sieht sie kaum in den Einkaufswagen, und eine Schokoriegelkultur wie bei uns gibt es überhaupt nicht. Auch bei dem Nachtisch, den ich regelmäßig im Mirtos bekomme, war Schokolade bisher noch nicht vertreten, und auch nicht in dem Gebäck, das ich in der Bäckerei gekauft habe (da gibt es allerdings Schokoladenplätzchen). In der Statistik stehen Norwegen, England, Estland auch weit oben, Spanien, Italien und Bulgarien weit unten. Es scheint wirklich ein Nord-Süd-Gefälle zu geben. Leider gibt es keine vollständigen (kaum Osteuropa) noch zuverlässige Statistiken – irgendwo ist Deutschland „nur“ im oberen Mittelfeld. Aber die Tendenz stimmt. Allerdings können auch diese Statistiken lügen: Die Schweiz steht ganz oben, aber da kaufen auch Ausländer ihre Schokolade.

Man soll nie auf die Wettermeldungen achten. Nachdem für heute nur eine Stunde Sonnenschein angekündigt war, habe ich alle Ausflugspläne verschoben. Als wir dann um zehn Uhr schon drei Stunden Sonnenschein hinter uns hatten, habe ich mich dann noch auf den Weg gemacht, auf den Weg nach Selakano, wo es einen der wenigen erhaltenen Wälder auf Kreta gibt.

Der einzige Hinweis auf den Wanderweg ist ein Hinweisschild ohne Hinweis. Ist dennoch ein Hinweis, wenn man den Reiseführer hat.

Hier oben ist es sonnig, aber frisch, und je höher ich komme, umso kälter wird es. Vor allem bläst ein Wind, der oben fast eisig ist. Auch als ich auf die Sonnenseite des Berges komme, wird es nicht viel wärmer.

Es handelt sich zwar laut Reiseführer um eine „bequeme Rundwanderung“, aber der Weg ist nicht gerade eben und vor allem steinig. Wanderschuhe wären besser gewesen als Turnschuhe.

Der Wald hat fast ausschließlich Nadelbäume, und entsprechend ruhig ist es hier. Keine Singvögel. Irgendwo höre ich ein Krächzen, das von Krähen stammen könnte, aber von viel kleineren, grauen Vögeln kommt. Dann fliegen Elster quer über den Weg, erst paarweise, dann scharenweise.

Wieder nehmen die Ziegen, deren Glocken man schon von weit her hört, vor mir Reißaus. Tu euch doch gar nichts. Auch die wilden Ziegen später, pechschwarz, laufen aufgeregt davon. Die Schafe lassen es etwas gemächlicher angehen, aber auch sie räumen den Weg. Sie sehen gut genährt aus, obwohl es hier fast nichts zu knabbern gibt.

Der Wald ist längst nicht so dicht wie bei uns, und auch nicht so schön. Der Boden ist entweder dicht mit Nadeln bedeckt – da wächst gar nichts – oder felsig. Trotzdem wachsen die Bäume um die Felsen herum oder, was großartig aussieht, aus den Felsen heraus.

Mit meinem botanischen Kleingehirn würde ich das hier alles unter „Kiefern“ und „Pinien“ fassen, aber dafür ist die Vielfalt eigentlich zu groß. Der Klassiker ist ein Nadelbaum mit langen, dünnen Nadeln, die nur nach oben wachsen. Es gibt aber auch ganz andere, darunter einen, wo die dicht zusammenstehenden, dunklen Nadeln wie Spinat aussehen oder Grünkohl. Es gibt auch einen Laubbaum, mit ganz kleinen, fetten, dunklen Blättern.

Manchmal sieht man Baumskelette. Eins davon, etwas vom Wegrand entfernt, da, wo die davorstehenden Bäume Durchblick gewähren, sieht aus wie ein riesiges Tierskelett, wie das einer Giraffe.

Dies ist zwar ein Rundweg und der müsste mich also an den Ausgangspunkt zurückbringen, aber es hat ein paar Abzweigungen gegeben, bei denen ich mich auf gut Glück entschieden habe. Die Beschreibungen im Reiseführer scheinen mit meiner Strecke nicht übereinzustimmen. Allerdings sehe ich wohl die vielen bunten Bienenkästen am Rande.

Schilder gibt es so gut wie keine, höchstens mal eins zu einer Quelle, und dann ein fast unleserliches zu einem Ort, den ich nicht kenne. Hin und wieder erscheint ein roter Punkt an einem Felsen, und hin und wieder gibt es kleine Holzschilder mit einem Pfeil – aber der zeigt immer in die entgegengesetzte Richtung.

Die Orientierung habe ich längst verloren, und unterwegs begegne ich niemandem und sehe kein Anzeichen von Zivilisation. Ich habe aber einen Anhaltspunkt: die Zeit. Laut Reiseführer sind es zehn Kilometer und zweieinhalb Stunden. Es ist also immer noch genug Zeit, den Weg einfach zurückzugehen. Trotzdem wird mir etwas mulmig. Dann habe ich aber noch einen Anhaltspunkt: Irgendwann geht es wieder bergab.

An einer Biegung kommt man endgültig aus dem ohnehin nicht sehr dichten Wald heraus und blickt auf ein tief unten liegendes Tal. An dessen Ende glaubt man Häuser zu entdecken. Der Weg wird breiter, und es wird wieder wärmer. Und dann stehe ich ziemlich plötzlich vor dem Auto.

Ich will über Males zurückfahren, um nach Anatoli zu kommen, das ich dieser Tage vergeblich gesucht habe, aber ich lande wieder in Mythi. Das ist ein winziger Ort, aber er sieht irgendwie einladend aus, mit Dorfbrunnen und Platane. Hier geht die Wanderung durch die Schlucht von Mythi los und auch ein anderer Wanderweg, der Minoan Trail. Der Legende nach soll hier Minos seinen Leuten Geschichten erzählt haben, daher der Name des Ortes. Tatsächlich weiß man von Minos nicht einmal, ob er existiert hat. Es wird angenommen, dass es vielleicht eher ein Titel als ein Eigenname war.

In einer Taverne erklärt mir ein etwas verwirrt wirkender junger Mann, Mama sei nicht da. Das ist die Antwort auf meine Frage, ob es etwas zu essen gebe. Ich versuche es nebenan, und da ist eine junge Frau, die auch erst nein sagt, aber dann hinzufügt, ob ich auch mit  μακαρόνια [makaronia] zufrieden wäre. Das sind nicht etwa Makkaroni, sondern Nudeln ganz allgemein, meistens aber Spaghetti. So ist es auch hier. In Windeseile hat sie Brot, Wasser und einen Teller Spaghetti aufgetragen, draußen auf der Terrasse, unter einer Plane. Hier unten ist es wieder richtig schön warm.

Ich fahre dann wieder zurück, um doch noch nach Males zu kommen. Die Fahrt an den hohen, schroffen Felsen direkt an der Straße vorbei ist wirklich spektakulär, und man bereut nicht, sie ein zweites Mal zu fahren. Ich mache jetzt auch ein paarmal Halt und mache Photos.

Dann kommt man wieder in den Ort, der tatsächlich Christos heißt und von wo die Schotterpiste nach Selakano abbiegt, bei der ich am Morgen ein paarmal überlegt habe, umzukehren: Das kann doch nicht richtig sein. War es aber.

Diesmal erwische ich aber die Abbiegung nach Males, und auch auf dieser Fahrt gibt es wunderbare Ansichten von Bergen und Felsen und Tälern, alles im hellen Sonnenschein. Über Males komme ich dann nach Anatoli. Ich parke am Ortsausgang, und als ich an einem Café stehenbleibe, kommt sofort eine Frau auf mich zu und schließt eigens für mich auf. Drinnen riecht es muffig, aber es gibt einen guten, starken Kaffee, der bis zum Abend nachwirkt.

Ich gehe dann in den Ort. Den besichtigt man als „Geisterstadt“. Hier wohnt bzw. wohnte fast keiner mehr, aber es tut sich was. An einigen Stellen wird sogar gebaut. Der Ort erlebt wohl eine Art Renaissance. Dennoch: Der obere, den Bergen zugewandte Teil, vom unterem, dem Meer zugewandten durch die Dorfstraße abgetrennt, ist praktisch leer. Alle Häuser sind verlassen. Unten bietet sich in den unregelmäßigen, schmalen Gassen ein ganz merkwürdiges Bild: Zwischen aufgegebenen Häusern stehen ganz schmucke bewohnte Häuser. Muss ein komisches Gefühl für die Bewohner sein. Etwas über 100 sind es noch, früher waren es mal fast 2,000.

Ein Hund, der mich vorher aufgeregt aus einer Gasse verscheucht hat, folgt mir dann ganz brav bis zum Auto. Auf dem Rückweg mache ich noch kurz Halt in Kalamafka, vor allem wegen eines hohen Felsvorsprungs mit einer Kapelle oben drauf. Ich will eigentlich nur ein Photo machen. Als ich gerade das Fenster runter lasse, steht auf einmal ein Mann neben mir und sagt: Yes, please. Ich weiß nicht, ob ich das als freundlich oder als aufdringlich einordnen soll. Ich sage ihm, ich wolle nur einen Blick auf den Ort werfen, mache mein Photo und fahre nach Hause. Rechtzeitig, um vor der Dunkelheit anzukommen. Mit mehr als einer Sonnenstunde im Gepäck.

27. November (Donnerstag)

Paradox: Durch eine Mail aus Deutschland erfahren, dass ein havariertes Flüchtlingsschiff vor der Küste Kretas von einem Schiff der griechischen Marine abgeschleppt wird, nach Ierapetra, vor meiner Haustür! Es sieht so aus, als bestehe keine Gefahr, dass das Schiff kentern könne, aber es ist sehr windig und deshalb schwierig, die Flüchtlinge an Bord zu nehmen.

In Ierapetra ist von all dem aber nichts zu sehen. Man sieht keinen Menschenauflauf, keine Rettungswagen, keine Journalisten, kein Aufnahmelager. Ich gehe einmal ganz an der Küste entlang und dann den Kai bis zum Ende, nichts zu sehen. Auf der Kaimauer stehen ein paar Schuljungen und zeigen in die Ferne, nach außerhalb des Ortes. Und verpassen keine Gelegenheit, sich gegenseitig als malaka zu verunglimpfen. Später höre ich dann doch ein paar Rettungswagen. Auch die fahren stadtauswärts. Aber wo ist das Schiff? Später im Autoradio ist in den Nachrichten von der Havarie die Rede und in einem anschließenden Interview auch, aber das geht alles zu schnell für mich.

Es ist wieder ein richtiger Sommertag, geeignet für T-Shirt und Sandalen. Man kann sich sogar auf eine Bank am Hafen in die Sonne setzen. Die Temperatur wird irgendwo mit 15°, woanders mit 22° angegeben. Es fühlt sich eher nach 22° an.

Danach gehe ich dann ein bisschen durch die Stadt. Mir fällt auf, wie unendliche viele Apotheken es gibt. An einer Stelle in der Hauptstraße sind zwei nur durch ein anderes Geschäft getrennt. Überall blinkt das grüne Kreuz. Die vielen Apotheken bedingen vermutlich die fehlenden Drogerien, oder umgekehrt.

Ich gehe ins Veterano, das zentrale Stadtcafé, und besorge mir das typische kretische Gebäck. Die Frau, die mich da bedient, macht alles richtig. Sie bleibt bei Griechisch, spricht sehr deutlich, stellt Fragen, erklärt. Unter anderem erklärt sie stolz, dass die Stafithota (die ich jetzt von den Xerotigana unterscheiden kann) ohne Ei und Butter gemacht werden. Wusste gar nicht, dass man so Gebäck machen kann.

28. November (Freitag)

Heute geht es nach Sitia, noch weiter östlich, aber an der Nordküste gelegen. Von dem Namen der Stadt ist vielleicht der der Region, Lassithi, abgeleitet, mit italienischem Artikel.

Es geht erst ein ganzes Stück an der Küste entlang, und dann landeinwärts in die Berge. Die Straße an der Küste ist manchmal nur durch den Strand vom Meer entfernt. Man könnte durch eine Lücke zwischen den Bäumen direkt ins Meer fahren. Hier sieht man Schilder mit dem Aufdruck Spring Paradise, Hotel Blue Sky, Autovermietung. Alles für die Sommergäste. Alles jetzt geschlossen.

Dann kommt die Einsamkeit der Berge, wie so oft völlig übergangslos, sobald man die Küste verlässt. Man sieht kaum einen Menschen, kaum ein Haus. In dieser Wildnis ist in einen Felsen säuberlich in großen Lettern PASOK eingeritzt, der Name der sozialistischen Partei. Etwas weiter sehe ich zum ersten Mal Menschen bei der Olivenernte. Ein Mädchen steht unter einem Baum, auf einem breiten, auf den Boden ausgebreiteten Netz, ein Mann fährt mit der Schublade eine Ladung weg. Es ist echte Handarbeit.

Dann kommt Sitia in Sicht, etwas irreführend die „Weiße Stadt“ genannt. Die Häuser sind eher pastellfarben, und reihen sich dekorativ am Berghang hintereinander auf.

Mit der weiten Bucht erinnert die Stadt etwas an Agios Nikolaos, sehr schön, mit kleinen Ausflugs- und Fischerbooten im Hafen, stämmigen Palmen, mit dem Berg mit den vom venezianischen Kastell überragten Häusern auf der einen und dem nackten Berg auf der gegenüberliegenden Seite der Bucht.

Es heißt, dies sei keine touristische Stadt, aber am Hafen reiht sich ein Lokal an das andere, alle jetzt mit einer Winterterrasse, die im Sommer offen ist und mit mehrsprachigen Speisekarten.

Die Touristeninformation am Hafen ist geschlossen, wie immer in Griechenland ohne jedes Hinweisschild auf Öffnungszeiten. Ein älterer Mann spricht mich an und bringt mich zum Archäologischen Museum. Unterwegs lässt er sich über Griechische und über andere Sprachen aus, ohne die Gelegenheit zu verpassen, mich noch einmal daran zu erinnern, wie viele griechische Lehnwörter wir in unseren Sprachen haben. Das darf nie fehlen. Er ist aber sehr gebildet und erklärt die Herkunft einiger Wörter wie Palästina, Apotheke, Humor. Palästina soll von pali, ‚wieder‘ und einer altgriechischem Form von sein kommen und so etwas wie ‚ich bin wieder da‘ bedeuten (was mir etwas weit hergeholt erscheint), Humor ist ursprünglich Saft (das moderne griechische Wort, klingt noch ähnlich, ist mir nie aufgefallen) und Apotheke soll von Gift kommen (was mir total einleuchtet).

Als er hört, dass ich in Myrtos bin, sagt er mir, ich müsse unbedingt in das Lokal ganz in der Mitte gehen, da, wo auch die Einheimischen hingingen. Er kommt nicht auf den Namen. Mirtos, sage ich. Nein, so hieße das nicht. Es geht eine ganze Zeit hin und her und ich versuche ihm begreiflich zu machen, dass es hier nur diese eine richtige Dorfkneipe gebe. Nein, das Lokal habe den Namen einer Frau. Katerina, sage ich. Nein, auch nicht. Dann fällt es ihm ein: Φωτεινή! Ich sage, wohl etwas zu heftig, das gebe es nicht, das könne nicht in Myrtos sein. Doch, er sei oft da gewesen. Irgendwann lassen wir es dann dabei bleiben und ich verspreche, mich zu erkundigen.

Als wir dann fast am Archäologischen Museum angekommen sind, wechselt er auf Deutsch. Er spricht tatsächlich sehr gut Deutsch und es ist mir jetzt etwas peinlich, dass ich so auf Griechisch beharrt habe. Er kennt Trier, weiß, dass Saarbrücken nicht weit ist und weiß sogar von dem alten Trierer Postulat, älter als Rom zu sein. Damit entlässt er mich ins Museum.

Das Museum ist in einem Bungalow untergebracht, fast am Ortsausgang, umgeben von Autowerkstätten. Es ist hell und hat gute Beschreibungen, aber man muss Geduld haben. Ich bin die ganze Zeit der einzige Besucher, und man lässt mich auch alleine, da alles in Vitrinen ist.

Das wertvollste Stück des Museums – das ich aber nicht als solches erkannt hätte – steht gleich am Anfang, abgesondert von dem Rest. Es ist eine Jünglingsstatuette. Sie ist sehr groß und sehr schlank, mit langen, feinen Zehen und Fingern, vermutlich das Schönheitsideal der Zeit abbildend. Die Statue ist aus Nashornelfenbein und sehr fein gearbeitet, mit genau modellierten Muskeln und Sehnen und einem länglichen, geflochtenen Zopf am Kopf. Die Augen sind aus Felskristall, und an den Füßen sieht man Reste von Sandalen aus ganz feinem Gold. Die Figur stammt aus der spätminoischen Zeit und wurde, wie alle Exponate hier, hier im Osten Kretas gefunden, in diesem Fall in Palekastro.

Schon ganz früh, in vorgeschichtlicher Zeit, gab es Kontakte nach außerhalb von Kreta, vor allem zu den Kykladen. Bei der Keramik ist unter den ganz frühen Funden ist ein winziges Modell eines Schiffs, wirklich wie eine Nussschale aussehend. Sollten sie wirklich mit solchen Schiffen über das Meer gefahren sein? Unglaublich. Aus den Kykladen wurde schon in der Jungsteinzeit Obsidian eingeführt, aus dem Schneiden gefertigt wurden, und die Gräber eines frühminoischen Friedhofs in Hagia Photia, ganz hier in der Nähe, sind wie die auf den Kykladen: ein Vorraum trennte das eigentlich Grab ab, das mit einer Mauer verschlossen wurde. Unter den Grabfunden sind Dutzende von Weihrauchbrennern, mit schön eingeritzten Mustern an der Oberfläche. Der Friedhof wurde schon 2,500 v. Chr. aufgegeben!

Auch toll die Funde aus einem Schiffswrack. Das Schiff fuhr von Kreta nach Kreta, von einem Ort an einen anderen. So wurde der Kontakt zwischen den Palästen gepflegt. Es gibt eine große Menge von riesigen Amphoren, die hier gefunden wurden. Mit deren Hilfe betrieb man Warenaustausch. Auf einem Bild sieht man, wie die Amphoren, in Reihen übereinander, an der Schiffswand befestigt waren, mit Schnüren oder Lederbändern an der Wand befestigt und untereinander verbunden!

An der Keramik aus der Vorpalastzeit kann man schön die Entwicklung ablesen: Im Laufe der Zeit werden die Gefäße immer unterschiedlicher in Form und Größe, Zeichen der Spezialisierung und der sozialen Distinktion. Die ersten Gefäße haben keinen Griff, dann gibt es einen Griff, dann zwei, dann Schnabel, dann Deckel. Die Dekorationen sind erst geometrisch, dann floral, und die Farben ändern sich aus: von schwarz und hellbraun über gemasert bis zu weißer Farbe auf dunklem Grund.

Häuser bestanden schon damals aus Stein. Nur das Dach und die Zwischenwände waren aus Riet.

Beeindruckend auch die Sammlung von Siegeln, gefunden in dem Friedhof von Petras. Auch hier große Bandbreite. Erst einfache Zylinder aus Nashorn, dann Siegel aus weichen Materialien wie Steatite, dann aus harten Materialien wie Agate oder Amethyst und dann aus Edelmetall und später, nach der zweiten Katastrophe, wieder zurück zu den weichen Materialien! Man sieht Siegel mit Darstellungen von Hunden, Löwen und hybriden Wesen, aber auch mit Hieroglyphen. Das Gold wurde importiert, aber in Kreta verarbeitet! Auch die Funktionen waren unterschiedlich: Eigentum markieren ist wohl die zentrale: „Das gehört mir, lass die Finger davon!“.  Es galt aber auch als Garantie für Qualität, Gewicht, Herkunft – ganz „moderne“ Konzepte. Man will schließlich wissen, was man sich da einhandelt. Und dann konnten Siegel auch eine Autorisierung bedeuten, Zugang zu Orten oder Dienstleistungen gewähren, wie ein moderner Ausweis. Und neben all den praktischen Funktionen entwickelten sie dann auch magische Funktionen und wurden als Glücksbringen getragen, teils zu Armreifen oder Halsketten aneinandergereiht. Daher auch die Funde in den Gräbern.

Auch bei den Kochutensilien kann man schön die Verschiedenheit sehen: flache, offene Tonschalen und hohe, nach oben sich verengende Töpfe dienten unterschiedlichen Zubereitungsformen. Besonders schön sind zwei „Grills“, die Formen des modernen Grills um Jahrtausende vorwegnehmend. Woher weiß man, dass diese Vorrichtungen zum Kochen dienten? Überall wurden Speisereste gefunden. Auf einem der Grills sogar ein Kaninchenkopf.

Viele der Funde aus der Palastzeit stammen aus Zakros, einem der vier großen minoischen Zentren, ganz im Osten. Er hatte den gleichen Grundriss wie die anderen Zentren, aber im Gegensatz zu denen war der nicht geplündert worden, als man ihn entdeckte.

Ein weiteres Schmuckstück der Ausstellung ist eine Pyxis, eine Art Schatulle, die vermutlich einer Priesterin gehörte und zum Aufbewahren von rituellen Objekten diente. Die Pyxis ist ziemlich klein, weiß, es sieht wie Elfenbein aus, aber ich bin nicht sicher. Auf der Oberseite, nicht ganz erhalten, sieht man eine Gottheit, auch weiblich, und zwar deren Epiphanie. Deshalb taucht sie zweimal auf, einmal von Himmel herabsteigend, einmal auf der Erde angekommen. Vier Menschen treten auf sie zu.

Auch die Votivfiguren stellen fast ausschließlich weibliche Gottheiten dar, meistens mit über der Brust gekreuzten Händen. Viele der Figuren ähneln sich. Das liegt daran, dass man inzwischen Gussformen hatte und so in die Massenproduktion eintreten konnte.

Aus Zakros und Petras gibt es schließlich Dutzende von Schrifttäfelchen mit Zeichen der Linear A-Schrift, aus der Bronzezeit. Sie ist nicht entziffert, aber man hat das Zeicheninventar ungefähr beschreiben können. Es gibt ca. 100 unterschiedliche Zeichen, und es handelte sich vermutlich um eine Silbenschrift. Einige der Zeichen sind identisch mit denen von Linear B (entziffert), aber sie können völlig andere Bedeutungen gehabt haben. Es könnten sogar zwei verschiedene Sprachen sein, die mit den verschiedenen Schriften wiedergegeben wurden. Man kann einige Zeichen „erkennen“, aber ob sie wirklich darstellen, was sie zeigen, weiß man natürlich nicht. Einige Zeichenkombinationen, glaubt man, stehen für Wein Vieh, Getreide. Immer wieder kann man Zahlen erkennen, oft ganz primitiv: IIII. Und die Anordnung lässt wirklich so etwas wie Listen vermuten, für Handel oder Inventar.

Als ich wieder aus dem Museum komme, ist es richtig schön sonnig und warm. Man kann sich auf die Steinbänke am Hafen in die Sonne setzen. Im T-Shirt. Ende November. Nicht schlecht.

Hier, am Hafen, gibt es eine seltsame Installation, in einem großen, begehbaren, aber jetzt verschlossenen Glaskasten mit seltsamen hieroglyphenartigen Zeichen außen. Drinnen liegt eine runde Steinplatte. Und draußen steht, dass es sich um einen „minoischen Rechner“ handele.

Ganz in der Nähe das Denkmal für Kornaros, einen Renaissancedichter, der als einer der wichtigsten Kretas gilt. Er wird immer als der Verfasser des Erotokritos genannt, heute Schulstoff, mit Zeilen, die jedes kretische Kind auswendig kennt. Das Denkmal ist eine bizarre Installation aus verschiedenen Elementen: dem Kopf des schlafenden (oder toten) Dichters (oder des Helden eines Werkes) im Relief auf einer Marmorplatte, Bronzeplatten, die Szenen aus einem Werk darstellen (sieht eher mittelalterlich aus, mit fahrenden Rittern und Minnesängern), einem eisernen, flachen Modell des Kastells von Sitia und einer modernen Skulptur mit einem vergoldeten, zum Himmel zeigenden Pfeil. Da müsste man das Werk kennen, um einen Zusammenhang zu entdecken.

Ich klettere dann die steilen Straßen zum Kastell hoch, das hier nicht, wie in Ierapetra, direkt am Meer liegt. Was die strategische Überlegung dabei war, kann  ich mir nicht erklären. Sitia ist eine ganz und ganz venezianische Stadt. Die Venezianer wollten hier ihr viertes Standbein auf Kreta errichten, aber das scheiterte an Erdbeben und Bränden. Die Stadt verfiel dann und wurde erst von den Türken wieder aufgebaut. Auch die hatten große Pläne mit Sitia, aber die scheiterten an der kretischen Unabhängigkeit.

Verwirrung bei der Bezeichnung des Kastells: Ich frage nach κάστρο, die Leute sagen φρούριο, und oben steht Καζάρμα. Das scheint aber hier als Eigenname verwendet zu werden, obwohl es wie Kaserne klingt und wohl von italienisch caserma abgeleitet ist.

Viel zu sehen gibt es nicht. Selbst die 2 € Eintritt scheinen noch zu viel. Man sieht, dass es sich noch um ein durch und durch mittelalterliches Kastell handelt, rechteckig, mit geraden Mauern. Das Tor führt in den Innenhof, und erst hinten im Innenhof befinden sich die eigentlichen Räume, auf zwei Stockwerken. Von oben hat man einen schönen Blick auf die Stadt und den Hafen. Im Innenhof gibt es eine Wiese voller Gänseblümchen und zwei sehr schöne Bäume. Das ist fast sehenswerter als die Mauern.

Mit der Frau, die hier den Eintritt kassiert – man fragt sich, was sie den ganzen Tag macht – habe ich wieder eins der obligatorischen Gespräche, bei der die Griechen ganz ihre Verwirrung zeigen angesichts von Fremden, die Griechisch sprechen wollen. Ich grüße, ich frage, ob man das Kastell besichtigen kann, ich sage, dass ich eine Eintrittskarte haben will und frage nach dem Preis, alles auf Griechisch, und sie sagt. Two euros. Als ich dann sage, ich verstünde nicht, wiederholt sie Two euros. Als ich dann sage, ich spräche kein Englisch, fällt ihr Gesicht zusammen: Was macht man mit einem Fremden, der kein Englisch spricht? Sie sieht regelrecht hilflos aus. Ich sehe sie an und sage dann in fragendem Ton: Ελληνικά. Worauf hin sie sagt, Ach, Sie sprechen Griechisch. Auf Englisch.

Nach dem Kastell frage ich mich nach dem Folkloremuseum durch, aber als ich dort ankomme, ist es geschlossen. Wieder keine Information zu Öffnungszeiten.

Also mache ich mich auf den Weg zum Kloster Toplou, dem zweiten Ziel, berühmt für seine Ikonen. Die Landschaft wird immer dramatischer und die Höhenunterschieden zwischen Tal und Berg immer größer. Mitten in der Einsamkeit taucht dann auf einmal Toplou auf. Auf der einen Seite der Straße eine kleine Kapelle, auf der anderen ein Ensemble von Gebäuden: eine renovierte Windmühle, Wirtschaftsgebäude, Kloster, Kirche mit Turm und Museum. Alles ziemlich klein und festungsartig aussehend. Die Atmosphäre ist ganz unwirklich. Alles sieht wie ausgestorben aus. Ich traue mich kaum durchs erste Tor. Kein Mensch, kein Laut. Man kommt in einen gepflegten Innenhof. Man hat das Gefühl, im Mittelalter zu sein, obwohl das Gebäude jünger ist. Es geht dann durch noch ein Tor. Da ist ein Schild mit Öffnungszeiten. Denen zufolge müsste jetzt geöffnet sein. Es gibt einen ganz schmalen, aber stockfinsteren Gang, und da traue ich mich nicht rein. Vielleicht ist besser, nach der Mittagspause wiederzukommen.

Also geht es erst weiter nach Vai. Schon der Name ist ungewöhnlich für griechische Verhältnisse. Ich kenne sonst gar keinen Ort mit einem einsilbigen Namen. Die griechische Schreibweise sieht noch komischer aus: Βάι. Eigentlich ist dies kein Ort, sondern nur der Name des Strands, eines Palmenstrands, eines der ganz wenigen in Kreta. Der Palmenwald selbst ist abgesperrt. Nachdem Hippies und wilde Camper hier ihr Unwesen getrieben hatten, griffen die Behörden einfach ein und zogen einen Zaun um den Wald. Der Strand ist aber, mit seinen Palmen, frei zugänglich. Es gibt einen Parkplatz mit markierten Stellflächen. Aber kein Auto. Ich muss selbst lachen, als ich mich genau in eine der markierten Flächen stelle. Hier gibt es Erfrischungsstände, Duschen, Toiletten, Imbissbuden. Alles geschlossen. Am Strand ist dann aber tatsächlich jemand: eine junge Frau mit drei jungen Männern, alle sonnengebräunt, weiß gekleidet und mit Astralkörpern. Der Strand  ist wirklich wunderbar: ganz, ganz klares, durchsichtiges Wasser, ganz feiner, heller Sand, sehr dekorative Palmen auf der einen und Felsen auf der anderen Seite der Bucht. Man kann zwischen den Felsen auf eine Aussichtsplattform hinaufkraxeln. Zum ersten Mal habe ich eine ganz schwache Erinnerung, zum ersten Mal kommt mir etwas bekannt vor. Ich müsste all dies kennen von der ersten Kretareise, vor vielen Jahren. Wir haben vermutlich sogar in Sitia übernachtet, da am selben Tag auch noch Kato Zakros auf dem Programm stand und das alles von Heraklion kaum zu machen ist. Aber es nichts, nicht mehr da, bis auf einen Kletterweg zwischen Felsen am Meer.

Auf dem Rückweg nach Toplou mache ich an einem Restaurant Halt, aber auch das ist geschlossen. In Toplou steht jetzt vor der Einfahrt ein Auto, das vorher nicht da war, und aus einem Raum in ersten Stock kommt Musik – sehr profane Musik. Aber wieder kann ich niemanden erreichen, auch mit den Türklopfern und meinen Rufen nicht. Ich fahre in die Weinkellerei auf der anderen Seite der Straße. Auch die gehört dem Kloster, genauso wie der Palmenstrand von Vai und weite Anbauflächen der Umgebung. Hier schelle ich bei der Weinprobe. Es wird sogar geöffnet. Ich beschreibe mein Anliegen, und der Mann greift sofort zum Handy. Nach einem kurzen Gespräch sagt er mir, in triumphierenden Ton: Geschlossen. Auf meine Frage, wann denn geöffnet sei, sagt er: το καλοκαίρι – im Sommer.

Auf dem Rückweg lande ich unfreiwillig in Palekastro, ein stiller Ort, der aber auch viele Individualtouristen anzieht. Er liegt zwar nicht am Meer, aber nicht weit von Vai und hat außerdem eine große Ausgrabungsstätte. Von all dem ist aber jetzt nichts zu merken. Von den vier im Reiseführer empfohlenen Lokalen sind die ersten drei geschlossen, aber im vierten bekomme ich etwas zu essen. Trotz eines Missverständnisses: Die Wirtin will wissen, welches Souvlaki ich will, ob Schwein oder Hähnchen, und ich meine, sie will wissen, ob ich Souvlaki oder Hähnchen will. Klappt aber irgendwie doch.

Ich bin der erste Gast, aber dann kommt eine Frau und fragt mit unverkennbar italienischem Akzent, ob es etwas zu essen gebe. Dann holt sie ihre Begleiter, den Freund und die Nonna, die nicht mehr so gut zu Fuß ist und kein Englisch kann. Sie kümmern sich liebevoll um sie, helfen ihr die Treppen rauf, rücken ihr den Stuhl zurecht, erklären, welche Speisen es gibt und bestellen für sie eigens Brot ohne Sesam.

Auf dem Weg zum Auto sehe ich am Ortsrand einen blauen Metallkasten mit vielen kleinen Schließfächern und der Aufschrift Ελληνικά Ταχυδρομεία – Griechische Post. Kann eigentlich nur bedeuten, dass der Briefträger nicht in jedes Haus geht, sondern die Post hier deponiert, wo sie von den Adressaten abgeholt werden kann.

Ierapetra sieht wie ausgestorben aus. Und es ist schon merkwürdig dunkel. Dabei ist es gerade fünf Uhr, als ich hier durch komme. Auch in dem Supermarkt, wo sonst immer viel Betrieb ist, ist es sehr ruhig. Als ich raus komme, beginnt es zu regnen. Und das ist der Moment, in dem ich mich an die Wäsche erinnere, die ich draußen hängen habe. Und das ist das Zeichen für den Himmel, die Schleusen so richtig zu öffnen.

29. November (Samstag)

Das Wort des Tages ist λάσπη, ‚Schlamm‘. Der gestrige Regen hat Steine und Schlamm auf die Straße gespült, und ich muss beim Laufen aufpassen, dass ich nicht einsacke oder ausrutsche. Sagenhaft, und das auf einer normalen Straße. Ich muss mir für die Zukunft alternative Strecken ausdenken, sage ich mir, aber siehe da: Auf dem Rückweg kommt mir ein Bulldozer entgegen. Der beseitigt den Schlamm. Das letzte Stück ist schon wieder frei. Trotzdem komme ich mit schweren, klumpigen, verdreckten Schuhen nach Hause.

Der Kaffee im Mirtos wird heute wieder von Jana serviert. Sie ist von der Reise zurück. Costa Rica habe ihr gut gefallen: grün, nicht gefährlich. Sie haben eine Rundreise gemacht, selbst organisiert, alle zwei Tage an einem anderen Ort. Sie kann Italienisch und deshalb viele spanische Wörter ableiten, aber keinen Zusammenhang verstehen. Wir kommen auf Fremdsprachen zu sprechen und sie sagt, wie alle, dass das schelle Sprechen ein Hindernis sei für Ausländer. Und die Dialekte. Ich lasse mich auf keine Diskussion ein, erfahre aber zum ersten Mal eine lexikalische Variante des kretischen Griechisch: aus εδώ [edo] wird επάε [epe] oder επά [epa]. Der kleine Mann, der immer im Mirtos ist, schaltet sich ein und sagt, was alle Griechen sagen, alle, wenn es um Fremdsprachen geht: dass es unzählige griechische Wörter in allen anderen Sprachen gibt. Man versucht sich dann gegenseitig zu übertreffen: Tausende! – Zehntausende!

Ich frage, wie das Mirtos früher geheißen habe. Genauso. Dann erzähle ich, etwas umständlich, von dem Fremden in Sitia, der mir ein Lokal in Myrtos empfohlen habe, in das ich unbedingt gehen solle. Sie zählt ein paar Lokale auf, das gesuchte ist nicht dabei. Ich sage, dass es sich wie ein weiblicher Vorname anhörte. Katerina? Nein, auch nicht. Eher klassisch. Dann fällt es ihr wie Schuppen von den Augen: Φωτεινή! Ja, so hieß es. Hab ich aber noch nie gehört. Des Rätsels Lösung: Photini ist der Name von Janas Mutter. Die hat früher das Mirtos betrieben, und die Dorfbewohner nannten es natürlich nicht Mirtos, sondern nach der Wirtin: Wir gehen zu Photini.

Jana nutzt die Gelegenheit, anhand der Bilder hinter der Theke die griechische Namenstradition zu erklären: Auch ihre Tochter heißt Photini, wie ihre Mutter; ihr Sohn heiß Giorgos, wie der Vater des Mannes.

Jana hat mir den Mund wässrig gemacht mit der Ankündigung, heute gebe es Stifado. Der stammt aus der Zeit, als man noch zu Hause das Brot backte und den Stifado gleich mit in den Ofen setzen konnte. Der braucht eine lange Garzeit. Eigentlich ist es ein Schmortopf, hier im Mirtos gibt es eine abgespeckte Version davon, nur Fleisch und Zwiebelgemüse, zu gleichen Teilen. Wein, Lorbeer und verschiedene Kräuter gehören dazu. Die Kartoffeln gibt es hier als Beilage – als Pommes frites – eigentlich gehören sie in den Schmortopf. Man macht den Stifado aus verschiedenen Fleischsorten, Jana macht ihn mit Kaninchenfleisch. Das Fleisch ist ganz zart, die Soße sehr lecker. Nur das mit den Pommes frites als Beilage gefällt mir nicht.

In der letzten Zeit hört man hier im Haus laute Stimmen, frühmorgens und spätabends. Da ich noch weniger als sonst verstehe, nehme ich an, dass es ein griechischer Dialekt ist, aber nein, es muss eine andere Sprache sein. Am Abend klopft es dann laut an meiner Tür, so energisch, dass ich glaube, die Polizei stehe vor der Tür. Ich mache auf. Es sind drei oder vier verdutzt aussehende Männer, die nur Sorry über die Lippen bringen. Sie suchten vermutlich nach ihren Kumpeln, die hier in einem anderen Zimmer untergebracht sind. Albanische Gastarbeiter?

30. November (Sonntag)

Zwei neue, ganz einfache Ausdrücke gelernt in den letzten beiden Tagen, nützlich: έτσι als Antwort auf eine Frage, warum man etwas gemacht habe, ‚nur so‘, und εγώ, ‚ich‘ als Antwort auf danke.

Die Wetterlage verschlechtert sich. Den ganzen November ist es allmählich bergab gegangen, und im Dezember wird es hin und wieder einstellige Temperaturen geben. Die durchschnittliche Tiefsttemperatur ist dann aber immer noch 10°. Heute ist es warm, aber sehr windig, erst später kommt die Sonne raus. Morgen soll vorerst der schönste Tag sein, vielleicht noch mal eine Gelegenheit für einen Ausflug. Wenn man den Daten trauen kann, ist die Wassertemperatur im Dezember immer noch 18°.

Heute auf das Wort αποστροφή gestoßen und gelernt, dass es ‚Abscheu‘ bedeutet. Was hat der arme Apostroph getan, solch eine Bedeutung zu erlangen? Auf Griechisch heißt es απόστροφος – andere Betonung, andere Endung.

1. Dezember (Montag)

Im Autoradio erwische ich immer nur lokale Sender. Die haben meistens Musik, dazwischen Höreranrufe und Werbung, kaum Nachrichten. Die Musik ist praktisch immer griechisch. Soll mir recht sein. In der Werbung verstehe ich immer wiederkehrende Wörter wie Angebot, Produkte, Preise, aber nie den gesamten Werbespot. Oft bleibe ich an einem Wort hängen, und dann verpasse ich den Rest. So geht es mir heute bei ανταλλακτικά.Das kommt so oft vor, dass ich es behalte und später nachschlagen kann. Es bedeutet ‚Ersatzteile‘.

Ein besonderes Phänomen sind Zahlen. Die sind überall präsent. Ich verstehe sie alle, brauche aber zu lange, um sie zu verarbeiten, und schon habe ich wieder den Rest verpasst. Zahlen gibt es für Maße, Preise, Telefonnummern, Einheiten.

Als ich bei den Höreranrufen καλό μήνα höre, ‚guten Monat‘, merke ich, dass heute der 1. Dezember ist. Ein ungewöhnlicher Gruß. Ich kenne keine Sprache, in der man sich einen guten Monat wünscht. Hier im Radio höre ich es aber ein paarmal. Scheint nicht ungewöhnlich zu sein.

Unterwegs sieht man immer wieder alte Männer, immer alleine, oft mit Spazierstock, am Rande der Straße in der kretischen Wildnis. Was machen die hier? Sind es Spaziergänge? Warum suchen sie sich dann keine schöneren Wege aus? Oder gehen sie wirklich bis zum nächsten Ort?

Wieder komme ich heute an mehreren geschlossenen Tankstellen vorbei. Noch öfter aber an geöffneten. Alle Naselang gibt es eine. Das erklärt wohl auch, dass so viele geschlossen sind. Es gibt einfach zu viele. Ist das schlechte Planung oder Folge der Wirtschaftskrise? Ausgerechnet in dem Ort, wo ich eine suche, in Pyrgos, gibt es keine. Ich muss umkehren und lerne dabei das Wort μονόδρομος, ‚Einbahnstraße‘. Völlig einleuchtend.

Wieder auf der Hauptstraße finde ich dann aber sofort eine, in der Nähe eines Kreisverkehrs. Ich brauche dringend eine, nicht weil das Benzin knapp ist, sondern weil ich nur noch einen Hunderter habe, einen εκατοστάρικο, und den bekommt man sonst kaum gewechselt. Größere Scheine gewechselt zu bekommen ist weiterhin ein Problem, wenn auch nicht mehr so akut wie zu Zeiten der Drachme. Oft gehen Verkäufer nach nebenan, um zu wechseln oder greifen in ihre Privatschatulle. Aber einen Kaffee mit einem Hunderter zu bezahlen, das traut man sich doch nicht. An der Tankstelle klappt es dann problemlos. Als ich feststelle, dass ich keinen Kuli bei mir habe, gehe ich in die Tankstelle und frage, ob sie Kulis verkaufen. Nein, tun sie nicht, sie haben nur ανταλλακτικά. Der Mann sucht auf irgendeinen Schreibtisch herum, fischt irgendwo einen Kuli raus und drückt ihm mir in die Hand. Einfach so. Ohne Bezahlung.

An der Tankstelle steht auf einem Schild: κυριακή ανοικτά – sonntags geöffnet. Auf den ersten Blick nichts Besonderes, aber jetzt fällt mir auf, das Κυριακή auch ein Wort ist, dass drei verschiedene Buchstaben für /i/ benutzt: Ypsilon, Jota, Eta. Ein besseres Beispiel als Zürich. Dann frage ich mich, warum das Adjektiv im Plural steht, Neutrum Plural. Oder ist es das Adverb? Und dann fällt mir noch die Variation bei ανοιχτά auf: Es kann wahlweise <k> oder <x> haben, und entsprechend gibt es auch zwei Formen der Aussprache: /k/ und /x/. Das kommt in einer ganzen Reihe von Wörtern vor. Dazu gehören auch gestern und außer. Eigentlich ist das weiter kein Problem, aber ich bin beim Zuhören schon mal über  ανοικτό gestolpert, weil ich ανοιχτό erwartet hatte. Und die neue Form kam mir wie ein unbekanntes Wort vor.

Bei der Weiterfahrt passiere ich ein Schild, das einen Bezug zu den Straßenbaumaßnahmen zu tun hat, die hier von Seite des Staates durchgeführt werden. Oben auf dem Schild steht Ελληνική Δημοκρατία – Griechische Republik. Das heißt also, dass Demokratie das griechische Wort für ‚Republik‘ ist und gleichzeitig auch noch ‚Demokratie‘ bedeutet! Und wie benennt man Demokratien, die keine Republiken sind?

Die Fahr geht heute, unter Ausnutzung des letzten schönen Sonnentages, Richtung Westen, nach Gortyn (bzw. Gortys bzw. Gortyna) und Phaistos (bzw. Festos). Die Fahrt zieht sich hin, obwohl es bis zum ersten Ziel gerade mal achtzig Kilometer sind.

In Gortyn sind statt Touristen die Gärtner präsent, mit Rasenmäher und Heckenscheren. Was den beiden zum Opfer fällt, wird verbrannt. Mitten auf dem archäologischen Ausgrabungsfeld. Als Tourist bin ich da eher störend.

Gortyn war die römische Stadt auf Kreta. Die Römer bauten sie groß aus und machten sie am Ende zur Hauptstadt einer Großprovinz, zu der Kreta und Libyen gehörten! Wie kam Gortyn zu der Ehre? Ganz einfach, sie hatten die Römer bei der Eroberung Kretas unterstützt!

Gortyn war vorher schon wichtig, aber ausnahmsweise waren die Minoer hier nicht mit von der Partie. Es gibt zwar steinzeitliche Funde, aber zur Stadt wurde Gortyn erst bei den Dorern. Zur römischen Zeit hatte es dann 300.000 Einwohner – eine Weltstadt!

Überall auf dem Grabungsfeld sind Bereiche abgesperrt, mit weiß-roten Bändern. Das gilt leider, leider auch für die Titus-Basilika. Man kann sie nur durch den Bauzaun sehen. Von hier aus kann man die Mauertechnik nur erahnen – große Quader, die zusammengefügt werden und nur durch ihre Position die Statik erhalten, auch bei Rundungen und Gewölben. Wahrscheinlich war die Basilika außen flach gedeckt. Erst innen sah man dann die Gewölbe. Der Eindruck muss umso größer gewesen sein.

Von der Kirche ist nur noch die Apsis erhalten, und wohl ein kleines Teil des Mittelschiffs. Auf dem Hof davor liegen Säulen und Kapitelle in der Gegend herum. Diese Kirche ist gar nicht römisch, sondern ein Nachfolgerbau, schon aus der byzantinischen Zeit. Es gab hier aber einen Vorgängerbau, und der begründet die historische Bedeutung des Gebäudes. Paulus war hier und ließ Titus hier als Bischof zurück. Daher der Name. Was allerdings mit Bischof gemeint ist, ist alles andere als klar. Hat nichts mit dem heutigen Konzept zu tun. Jedenfalls begann vor hier, also schon im 1. Jahrhundert, die Christianisierung Kretas.

Das zweite Schmuckstück von Gortyn ist das Odeon, nur ein paar Schritte entfernt, ein Saal für musikalische Aufführungen. Irgendwo lese ich in diesem Zusammenhang etwas von einem Dach. Ich dachte immer, Odeon und Theater, sowohl bei den Griechen wie bei den Römern, wären Freilufteinrichtungen gewesen, aber das ist wohl ein Irrtum. Es ist einiges erhalten: Sitzreihen, Bühnenaufbau und Orchestra, mit farbigen Marmorplatten.

Ich frage mich, wie die beiden Veranstaltungsräume, Kirche und Odeon, sich miteinander vertragen haben. Das Odeon ist zwar älter, aber bestimmt haben die beiden nebeneinander existiert. Ging man dann erst zur Messe und war fromm und dann nach nebenan und hörte sich zotige heidnische Lieder an? Oder war man in zwei Lager geteilt?

Das wichtigste Teilstück des Odeons haben die Römer aber unfreiwillig hinterlassen. Ganz hinten, die Quader, die die Stützmauer des Odeons bilden. Leider ist die durch Gitter abgesperrt und man kann die Quader nur durch die Gitter ansehen und photographieren. Gar nicht so einfach. An der einen Seite ist es zu hell – die Sonne scheint direkt darauf – an der anderen zu dunkel. Ich habe aber Glück, und zumindest eins der Photos ist so gut, dass man die Schrift gut erkennen kann.

Die Quader tragen nämlich Inschriften, und die sind sowohl wegen ihrer Form als auch wegen ihres Inhalts ganz besonders. In ihnen ist der Rechtskodex von Gortyn eingemeißelt, in dichten Buchstabenfolgen und eng zusammenstehenden Linien. Die Schrift ist so angeordnet, wie der Ochse das Feld pflügt, nämlich von links nach rechts und dann von rechts nach links! Bustrophedon! Folgerichtig zeigen die Buchstaben in jeder zweiten Zeile in die andere Richtung, sind also spiegelbildlich ausgerichtet: aus Є wird Э. Der Text, einem dorischen Dialekt, wurde Jahrhunderte vor den Römern verfasst. Und die konnten ihn vermutlich nicht lesen. Und dachten sich: Was sollen wir mit dem ollen Zeug? Nehmen wir für die Mauer, bevor wir das Zeug auch noch wegräumen müssen.

Der Gesetzestext regelt Ehe, Scheidung, Vermögensangelegenheiten, Erbschaft, also Fragen, die auch in einem modernen Rechtskodex geregelt werden. Dazu das Verhältnis von Freien und Sklaven, einschl. der Frage der „Mischehen“. Dabei sind die Regelungen sehr präzise: Eine Vergewaltigung kostet etwa 1.200 Obolen. Aber nur, wenn der Vergewaltiger ein Freier ist. Wenn der Vergewaltiger ein Sklave ist, kostet sie 2.400. Wir haben es mit einer patriarchalischen Gesellschaft zu tun, aber immerhin: Im Gegensatz zu den griechischen Stadtstaaten wir Athen hatte hier Frauen und Sklaven wenigstens Rechte!

Beeindruckt gehe ich noch ein bisschen über das Gelände. Leider ist auch der Bereich abgesperrt, wo die immergrüne Platane steht. Unter der soll Zeus mit Europa den Minos gezeugt haben!

Vorne am Eingang gibt es eine Reihe von großen, qualitätsvollen römischen Statuen, leider auch hinter Gitter und meist kopflos. Bei einer Frauenstatue sieht man, wie eine Kordel unter der Brust vorne einen Doppelknoten bildet und das Gewand zusammenschnürt, so dass es sich zusammenzieht.

Frei zugänglich steht vor diesem „Museum“ die Sitzstatue eines bärtigen Mannes, der wie ein Philosoph aussieht, aber einen Kaiser darstellt, Antoninus Pius.

In der Cafeteria bekomme ich einen grauenvoll schlechten Kaffee für 2 € und 8 Ansichtskarten für 2,40 €. Das ist so wenig, dass ich glaube, falsch verstanden zu haben und zur Sicherheit einen Zehner bereit halte.

Wie groß Gortyn war, erschließt sich einem, wenn man das eigentliche Museum verlässt und die Durchgangsstraße überquert. Jenseits davon streckte sich die römische Stadt bis in das heutige nächste Dorf hin. Die moderne Straße führt mitten durch die antike Stadt! Hier liegen zwischen Olivenbäumen römische Steine in der Gegend herum. Die Orientierung ist aber schwer, und als ich von einem Bauarbeiter barsch zurückgepfiffen werde, als ich durch ein offenes Tor auf einen Grabungsplatz gehe, gebe ich auf.

Wieder fast an der Straße finde ich dann durch Zufall noch eine ganz andere Kuriosität. Einer der Olivenbäume enthält einen römischen Stein, Teil einer Säule vermutlich. Der Stein muss irgendwie in die Nähe der Olive geraten sein, vielleicht durch ein Erdbeben, und der Olivenbaum hat sich dadurch nicht einschüchtern lassen und ist um den Stein herum gewachsen. Man schätzt den Baum auf 1,600 Jahre!

Weiter geht die Fahrt nach Phaistos, praktischerweise ganz in der Nähe gelegen, aber ganz erhöht. Das widerspricht der minoischen Gewohnheit. Es wird ja sonst immer betont, dass die Minoer keine Feinde hatten und ihre Paläste ungeschützt in die Ebene bauten. Wie dem auch sei, Phaistos ist einer der Big Four.

Oben angelangt, bin ich mal wieder der einzige Besucher auf dem ganzen Gelände. Auf den ersten Blick sieht man nicht so viel, aber das täuscht etwas. Die Orientierung fällt schwer. Nicht umsonst wurden die minoischen Paläste mit dem Labyrinth in Verbindung gebracht. Nicht, dass man sich hier zwischen den kniehohen Mauern verirren könnte, aber was wo war, ist schwer nachzuvollziehen. Es gibt Höfe, Vorratskammern, sakrale Orte, Treppen und den eigentlichen Palast, alles irgendwie willkürlich angeordnet und heute meist nur durch die Beschriftungen als solche zu identifizieren. Wenn schon der Begriff Palast problematisch ist, dann sind es noch mehr solche Benennungen wie Megaron des Königs oder Megaron der Königin. Hier gibt es sogar einen des Prinzen. Man hat einfach gesagt: der größte für den König, der zweite für die Königin, der dritte für den Prinzen.

Zur Verwirrung kommt hier noch hinzu, dass man zwischen altem und neuem Palast unterscheiden muss und der neue nicht einfach auf dem Mauern des alten errichtet wurde. Die wichtigsten Funde stammen aber alle aus dem alten Palast, so dass man spekuliert, dass sich bei dem neuen Palast die zentralen Einrichtungen gar nicht mehr hier, sondern in Agia Triada, hier ganz in der Nähe, befanden.

Es dauert eine Zeit, bis ich überhaupt den zentralen Hof entdeckt habe, ein großer, rechteckiger Platz mit Säulenstümpfen zu beiden Seiten. Das Ende ist regelmäßig, auch wenn es hinten nicht so aussieht. Das liegt daran, dass das hintere Ende irgendwann den Berghang heruntergestürzt ist. Dieser zentrale Platz hat eine Nord-Südausrichtung, wie die von allen minoischen Palästen. Also doch etwas Orientierung.

Im Megaron des Königs und im Megaron der Königin kann man noch etwas von der alten Pracht erahnen, aber beide kann man nicht betreten. Dahinter liegen kleine, abgetrennte Vorratsräume. In einem von ihnen wurde der berühmte Diskos von Phaistos gefunden, das rätselhafteste Schriftstück der alten minoinschen Zeit.

Er ist natürlich nicht hier. Wie fast alles ist er ins Museum gewandert. Hier ist man richtig froh, als man in einem kleinen Raum drei riesige, schön dekorierte Pithoi für Wein und Öl entdeckt, in situ gefunden, in einem Magazinraum zwischen Zentralhof und Westhof. Nicht hier geblieben sind die 7,000 Tontäfelchen, die man auch hier gefunden hat.

Der Westhof hat zwei monumentale Treppen, aber sie hatten ganz unterschiedliche Funktionen. Die eine war eine Art Zuschauerbühne. Von hier aus verfolgte man die Prozessionen. Der gepflasterte Prozessionsweg verläuft quer über den gesamten Westhof und führt dann in den Palast. Die andere Treppe war der Aufgang zum neuen Palast. Den betrat man durch eine Vorhalle, die von einem Pfeiler gestützt wurde. Davon ist nur noch der flache Sockel erhalten. Das gibt eine Ahnung davon, wie wenig man tatsächlich sieht und wie viel von der Phantasie ergänzt werden muss. Die bautechnische Qualität kann man aber daran ablesen, dass die Stufen der Treppe zum besseren Ablauf des Regenwassers gewölbt sind!

Am Rande des Westhofs befinden sich vier große Schächte, wie Brunnen aussehend. Deren Funktion ist nicht bekannt.

Vor der Mauer des alten Palastes befindet sich ein heiliger Schrein, in drei kleine Räume geteilt durch Begrenzungsmauern. Dort befindet sich eine Bank. Die diente zum Mahlen. Und was wurde da gemahlen? Das heilige Brot! Das Christentum lässt grüßen.

Von hier oben sieht man zu einer Seite auf die weite, fruchtbare Messara-Ebene, zur anderen Seite auf die kargen Berge des Psiloritis-Gebirges, dem antiken Ida-Gebirge. Hier soll in einer Höhle Zeus geboren worden sein. Die Aussicht ist jedenfalls prächtig, zumal an einem klaren, sonnigen Tag wie heute. Die Minoer wussten, wo es schön war.

Toll, wie die Archäologen Phaistos lokalisiert haben. Es wird bei Homer erwähnt, deshalb wusste man von seiner Existenz. Strabo gibt dann die Entfernung nach Gortys, die Entfernung nach Matala und die Entfernung zum Meer an. Und mit diesen Koordinaten machten sie sich an die Arbeit und fanden es!

Die Mittagszeit ist vorbei, der Hunger meldet sich. Auf dem Rückweg mache ich an einem Lokal am Rande der Landstraße halt. Es heißt Μύλος, und so steht auf dem Gelände auch eine Mühle. Draußen steht auf einer Schiefertafel, dass es das Lokal geöffnet ist und dass es hier traditionelle griechische Kost gibt. Darunter ein Schild, das auf den Parkplatz hinweist: Open. Ich will reinfahren. Beides ist geschlossen, Lokal und Parkplatz.

Da die Fahrt ohnehin durch Agii Deka führt, mache ich da auch noch kurz Halt. Ein unscheinbares Dorf, aber unterhalb der Straße gibt es um die Kirche herum einen ganz schönen Platz. Agii Deka, man kann es sich kaum vorstellen, war früher Bischofssitz. Dann muss die Dorfkirche also quasi die Kathedrale gewesen sein. Sie ist leider verschlossen. Ich würde sie gerne wegen der antiken Spolien besichtigen. Hier hat man Granitsäulen aus dem römischen Gortyn geklaut und sie falsch herum aufgestellt, so dass aus ihren Basen Kapitelle wurden!

Es gibt aber noch eine Kapelle am Ortsrand, und die ist geöffnet. Die Kapelle heißt wie der Ort, Agii Deka, also die ‚Zehn Heiligen‘. Die sind hier – angeblich – begraben. Die Kapelle wurde 1927 gebaut, nachdem man einen Teich umgegraben und tatsächlich die Knochen von zehn Menschen gefunden hatte, samt einer Marmorplatte. Der Fund schien die Legende zu bestätigen, nach der hier zehn früher kretische Märtyrer enthauptet worden waren. Die Steinplatte, so interpretierte man, war die Platte, auf der die Märtyrer knien mussten, bevor sie enthauptet wurden. In der Gruft unter der Kapelle sieht man einige der schlichten Gräber der zehn Heiligen. In der Kapelle sieht man eine Ikone, mit den Märtyrern in drei Reihen, den Namen im Nimbus tragend: Agathopus, Basilides, Gelasius, Evaristus, Eunician, Euporus, Zoticus, Theodulus, Saturninus, Pompeius.

Auf dem Rückweg komme ich durch ein nie enden wollendes, lebendiges Straßendorf, Kappariana. Ich mache einfach Halt und gehe in die nächstbeste Gaststätte. Sieht von außen gut aus, von innen eher wie eine Imbissbude. Es gibt aber eine richtige Speisekarte und sogar nach hinten hin eine Terrasse, mit schönem Blick auf die grüne Messara-Ebene. Obwohl ich der einzige Gast bin, kann ich frei von der Karte wählen. Ich bestelle Saganaki, panierten, gebratenen Käse als Vorspeise und danach Kaninchen. Schmeckt gut, auch wenn das Kaninchenessen etwas mühsam ist. Beide Wirtsleute sprechen, wie überhaupt alle heute, Griechisch mit mir. Kein Wort Englisch am ganzen Tag!

Im Radio höre ich ein Lied, in dem immer wieder Madame, Madame, Madame vorkommt, aber auf Griechisch. Das reimt sich dann mit aller Macht mit Tram, Islam, Tamtam, Imam, Adam, Vietnam, van Damme.

Als ich schon ein gutes Stück Richtung Myrtos bin, biege ich kurz von der Hauptstraße ab, um ein Photo zu machen. Da ich irgendwo ein Schild sehe, fahre ich einfach weiter, einen immer schlechter werdenden, steil abfallenden Schotterweg entlang, die Felsen links und den Abgrund rechts von mir. Das letzte Stück ist eigentlich nur was für Jeeps. Ich habe ständig das Gefühl, das gleich die Achse bricht. Die Fahrt zieht sich hin, und ich vertraue nur darauf, dass es hier Richtung Meer geht. Müsste also grob richtig sein. Und irgendwann kommt das Meer dann auch in Sicht. Trotzdem ist mir nicht wohl dabei. Schweißgebadet erreichte ich schließlich Vatos, ganz in der Nähe von Myrtos, ein Weiher, auf meiner Laufstrecke. Das Stück auf der Straße nach Myrtos kommt mir jetzt wie eine Rennstrecke vor.

2. Dezember (Dienstag)

Als ich dieser Tage in Sitia einen Fremden nach dem Weg fragte, lächelte der freundlich, legte seine Hand auf meine Schulter und drehte mich in die richtige Richtung. Ich hatte nach dem Denkmal für einen kretischen Dichter gefragt, und vermutlich freute er sich einfach, dass ein Ausländer sich dafür interessierte. Der leichte körperliche Kontakt, Hand auf die Schulter oder Hand auf den Oberarm, ist Teil der griechischen nonverbalen Kommunikation, und völlig akzeptabel, auch bei Fremden, wie hier. Im Mirtos legt Jana beim Abschied oft die Hand auf meinen Oberarm, wenn ich das Lokal verlasse und wünscht eine gute Nacht.

Eine andere Besonderheit der nonverbalen Kommunikation ist die Form der Kopfbewegung, wenn man zustimmt. Manchmal heißt es, bei den Griechen (und bei den Bulgaren!) signalisiere man Zustimmung, indem man den Kopf schüttelt. Das ist meines Erachtens blühender Unsinn. Mit Kopfschütteln hat die Bewegung nichts zu tun. Es handelt sich eher um eine ganz leichte seitliche Bewegung des Kopfes, so als wollte der Richtung Schulter. Das ist tatsächlich nicht so eindeutig für uns, und es hat Situationen gegeben, wo ich einen Moment lang auf der falschen Fährte war.

Bei den letzten beiden Ausflügen habe ich alternative Energieformen gesehen, einmal Windräder, sehr schön in einer langen Reihe auf einer Bergkuppe in der Einsamkeit der Thripti-Berge thronend. Und dann Sonnenkollektoren, irgendwo im Süden Zentralkretas. Von beidem, Wind und Sonne, haben sie reichlich.

Als mir die Doppelbedeutung von δημοκρατία, ‘Demokratie‘ und ‚Republik‘ nochmal durch den Kopf ging, habe ich mich gefragt, wie denn wohl die DDR auf Griechisch heißt. Demokratische Deutsche Demokratie? Nee, da haben sie einen anderen Terminus eingebaut, von λαός, also von ‘Volk‘. Das ergab die Λαοκρατική Δημοκρατία της Γερμανίας. Die DDR hieß auf Griechisch also ΛΔΓ – LDG.

3. Dezember (Mittwoch)

Eine neue Erfahrung: beim griechischen Frisör. Ich wundere mich, dass es überhaupt in Myrtos einen Frisör gibt. Aber nicht nur das, er nennt sich sogar Coiffeur. Es ist offensichtlich ein Ein-Mann-Betrieb. Es gibt nur einen „Behandlungsstuhl“.  Im Moment ist es aber überhaupt kein Betrieb. Die Tür steht sperrangelweit auf, aber es ist keiner da – weder Frisör noch Kunden. Ich rufe irgendetwas – was ruft man bei solchen Gelegenheiten? – aber es meldet sich keiner. Der Holländer kommt an dem Laden vorbei und holt auf meine Frage hin höchstpersönlich den Coiffeur.

Ich bekommt ihn mit viel Mühe dahin, Griechisch mit mir zu reden, jedenfalls teilweise, aber wenn er das tut, brabbelt er in einem fort und ich muss die Ohren spitzen, um wenigstens ein paar Wörter zu verstehen und zu raten, was er meint. Er stammt jedenfalls aus Myrtos und hat auch noch nie woanders gelebt. Es sei gut hier, meint er. Kalt sei es nie. Na hoffentlich. Ob er denn Kunden habe, will ich wissen. Ja, klar, haufenweise. Sie kämen sogar aus Ierapetra. Und die Touristen, im Sommer, kommen die auch? Ja, klar, das seien die besten Kunden. Die würden nicht reden. Da ist er bei mir an der falschen Adresse. Was für ein Auto ich hätte, will er wissen. Ein koreanisches. Er weiß nicht, was das ist. Daraufhin sage ich, ein asiatisches. Ach so, sagt er, ein japanisches. Ja, so etwa, sage ich. Das Argument, dass die billiger seien als die deutschen Autos, nimmt er zwar irgendwie hin, aber ganz überzeugt ist er nicht. Die deutschen Autos … Er selbst hat einen Fiat. Die Operation ist in Windeseile beendet. 12 €. Das sind bestimmt Ausländerpreise. Aber er hat die Sache gut gemacht.

Heute ist es richtig duster, von Beginn an. Fast unheimlich. Der bisher unschönste Tag. Ich fahre zur Bank nach Ierapetra und suche bei der Gelegenheit die Touristeninformation. Ich habe etwas von einem Theater gelesen und will wissen, was für ein Programm es da gibt. Die Touristeninformation, direkt am Ufer gelegen, ist natürlich geschlossen. Das Meer ist stürmisch, die Wellen brechen an der Kaimauer, und das Wasser spritzt den ganzen Kai entlang.

Ich frage mich zum Theater durch. Am Ende gerate ich an zwei Schulmädchen, die mir sagen, ich sei gerade dran vorbeigelaufen. Sie begleiten mich, und nach ein paar Schritten sind wir da. Das ist das Theater? Ach nee, das ist das Kino, meinen sie. Sie führen mich aber noch um die Ecke und zeigen dann auf ein modernes Gebäude mit dicken, schräg zulaufenden Pfeilern. Das ist das Theater. Praktisch nicht als solches zu erkennen. Unten gibt es ein paar moderne Skulpturen, aber keine Kasse, keine Schilder. Ich gehe rauf, ein Stockwerk nach dem anderen.  Ganz oben sind Büroräume. Ich gehe vorsichtig rein und frage, ob es hier Karten für das Theater gebe. Für welches Theater, werde ich gefragt. Ich glaub ich spinne, wo sind wir denn hier? Oder gibt es hier ein Problem mit dem Wort Theater? Glücklicherweise weiß ich den Namen: Melina Mercouri. Ja, die Karten gibt es hier, aber nicht im Vorverkauf, nur am Tag der Vorstellung.

Ich sehe mir dann noch das Kino an. Da ist nur ein Film angekündigt, vermutlich amerikanisch, und der läuft nur von Freitag bis Montag. Es gibt noch eine Art Puppentheater am Sonntag, aber es ist nicht rauszufinden, ob das hier ist.

Wo ich schon einmal da bin, gehe ich wieder in die Pizzeria an der Moschee. Diesmal schmeißt der Sohn den Betrieb. Wieder bin ich alleine, und wieder wird für mich die „Terrasse“ auf dem Platz aufgeschlossen. Man sitzt hier, wie an vielen Stellen in Griechenland, unter einer festen Plane, die Licht und Sonne durchlässt. Und tatsächlich stellt sich für kurze Zeit die Sonne ein.

Zweimal geht eine junge Frau an dem Lokal vorbei, nicht sehr schlank, mit ganz eng anliegenden Klamotten, einer Stretchhose und einem Kapuzenpulli, der Pulli in Rot, die Hose in Lila. Das erinnert mich an eine kleine Begebenheit aus der Jugendzeit. Der Vater eines Freundes, der bei uns allen beliebt war, schüttelte einmal den Kopf, als er mich sah. Was das denn für ein Aufzug wäre? Ich hatte keine Ahnung, was er meinte. Ich trug eine Hose und einen Pulli. Grün und Blau! Grün und Blau! Man kann alles miteinander kombinieren, aber doch nicht Grün und Blau! Und ausgerechnet das sucht ihr euch aus. So als hätten wir es darauf abgesehen, alle Normen zu verletzen. Dabei steckte da gar keine Absicht dahinter. Ein paar Jahre später las ich dann in der Zeitung, welche die Modefarben des Jahres werden würden: Grün und Blau. So würde es vermutlich auch mit Rot und Lila gehen. Würde ich sagen, das trägt man doch nicht, würde mir das Mädchen wahrscheinlich sagen, dass das die Modefarben des Jahres seien.

Als ich aus Ierapetra herausfahre, sehe ich sie noch ein drittes Mal. Es ist wärmer geworden. Sie hat den Kapuzenpulli ausgezogen. Jetzt ist die Kombination Grau und Lila.

4. Dezember (Donnerstag)

Ich fahre noch mal zu dem netten Wirt in Tertsas, aber der ist nicht da. Seine Tochter erzählt, er sei bei der Olivenernte. Nur heute? Nein, das dauere noch eine ganze Weile. Sie macht ein Gesicht, so als wolle sie sagen: Gut, wenn das vorbei ist.

Ich fahre einfach weiter, immer Richtung Westen. Die Straße an der Küste ist zu schlecht, also fahre ich in die Berge. Jetzt sieht man, dass die Olivenernte voll im Gange ist. Überall stehen Pickups und Autos mit Anhängern mit prall gefüllten Säcken. Irgendwo habe ich gelesen, dass die Olivenbäume ein Viertel der Fläche Kretas einnehmen. Eine unglaubliche Zahl.

Weiter oben wachsen aber keine Olivenbäume mehr. Hier ist wieder völlige Einsamkeit, und dann wieder, mitten in dieser Einsamkeit, eine weiße Kirche am Berghang.

Ich will eigentlich nach Arvi, lande aber in Kalami. Das sieht von Ferne aus, als wenn eine Bombe draufgefallen wäre. Lauter verfallene oder nicht fertig gebaute Häuser. Der Ort liegt am Berghang, aber das ist auch das einzige, was mit der Beschreibung in dem Reiseführer übereinstimmt. Das ist mir ein Rätsel. Dann merke ich, dass der Reiseführer von Kalami in Westkreta spricht, einem ganz anderen Ort.

Ich fahre zur Küste runter, nach Sidonia. Es liegt direkt am Meer. Der Strand, breit und mit Sand und feinen Kieseln, ist eigentlich richtig gut, aber man stört sich, völlig irrational, an der schwarzen Farbe. Es ist heute wieder ein richtig schöner Tag, hell, warm, mit viel Sonnenschein, und die Sonne lässt das Meer glitzern.

Ich versuche mein Glück in einer Taverne, und da gibt es tatsächlich etwas zu essen. Man kann auf der Terrasse draußen sitzen und sich die Sonne ins Gesicht scheinen lassen. Es ist wirklich so warm wie an einem Sommertag.

Nach dem Essen spreche ich noch ein bisschen mit der Köchin. Sie fragt ganz interessiert nach Myrtos und ob es da Touristen gebe. Nee, jetzt auch nicht, aber im Sommer ist es voll. Es liegt einfach besser, Sidonia liegt abseits, ist schwerer zu erreichen. Hier kommen wohl eher griechische Ausflügler hin.

Es stellt sich heraus, dass sie Bulgarin ist. Sie spricht fließend Griechisch, obwohl ich mir einbilde, eine slawische Intonation herauszuhören. Sie ist schon lange hier, wie lange genau, verstehe ich nicht, bei ihrem Redefluss. Sie spricht viel von Preisen und will mir, glaube ich, sagen, dass man in Bulgarien viel mehr für sein Geld bekommt als hier.

Auf dem Rückweg höre ich im Radio, was ich am Morgen gelesen habe: Καλό μεσημέρι. Wörtlich übersetzt: ‚Guten Mittag‘. Das kommt im Lehrbuch nicht vor. Ist aber hilfreich, wenn man das Gefühl hat, dass es für Καλημέρα zu spät und für Καλησπέρα zu früh ist.

5. Dezember (Freitag)

Bellende Hunde – das ist für mich ein anderes Kennzeichen Kretas. Sie wissen, wie schreckhaft ich bin und lauern mir an allen Ecken auf.

Bettelnde Hunde (und bettelnde Katzen) sind die andere Seite der Medaille. Sie sehen dich aus treuen Augen an und hoffen, etwas von Essen abzubekommen. Für sie bedeutet der Winter Fastenzeit. Im Sommer bekommen sie von den Tellern der Touristen sicher öfter etwas ab.

Ein bettelnder Hund steht auch heute während der gesamten Mahlzeit in Tertsa vor mir. Ich versuche, ihn zu ignorieren. Die Tochter des Hauses, die gekocht hat, steht rauchend in der Sonne und sagt: Sommer! Ja, das sei wirklich ungewöhnlich, diese Temperaturen um diese Zeit.

Zum Kaffee gehe ich nach nebenan. Der Wirt, mit Bartstoppeln, Knollennase und Zähnen, die meiner Zahnärztin Alpträume bescheren würden, setzt sich neben mich, als ich nach dem Baum frage, unter dem ich sitze. Nein, natürlich sei das keine Platane. Komische Idee. Auf so was können nur Städter kommen. Das sei ein Benjamin, eine Art Feigenbaum, wenn ich das richtig verstehe. Wir sprechen über die üblichen Sachen, Essen, Dialekte, Touristen. Er ist sehr freundlich, sehr gesprächig und baut in das Gespräch immer kleine Versatzstücke von Deutsch ein – Keine Ahnung! Alles klar! – alle in perfekter Aussprache. Dabei kann er nur einzelne Ausdrücke, die er von den Kunden gelernt hat.

Kretisch, das habe ich jetzt auch schon ein paarmal gehört, sei dem Altgriechischen ähnlich. Als Beispiel nennt er Huhn. Das heiße hier nicht κότα, sondern όρνιθα. Das ist das Wort, was unserer Ornithologie zugrunde liegt.

Als ich von dem schönen Wetter in Myrtos spreche, muss er schnell noch darauf hinweisen, dass es im Tertsa noch schöner ist. Myrtos gut, Tertsa besser. Herrlich, wie der Lokalpatriotismus sich auch noch in diesen hintersten Winkel seinen Weg bahnt.

Er ist ein echter Einheimischer. Tertsa, erklärt er mir, sei kein richtiges Dorf, es sei ein Weiher und gehöre zu Gdochia, weiter hinten, landeinwärts. Da wohnt er. Er betreibt die Taverne zusammen mit seiner Frau, im Sommer haben sie zusätzlich einen Kellner und eine Frau in der Küche.

Was bei ihnen auf den Teller käme, sei alles traditionelle kretische Kost. Darunter ist auch ein Gericht, das τραχανά heißt. Keine Ahnung, was das ist, ist aber notiert. Dann spricht er von einem Gemüse, das er κουτσά nennt oder so ähnlich. Nachdem ich hartnäckig dabei bleibe, dass das Bohnen seien, stellt er resigniert das Reden ein und holte einfach welche. Sehen für mich wie Bohnen aus. Man könne sie einweichen und dann zu einer Paste machen. Die Mühe wolle er jetzt seiner Frau aber nicht zumuten. Bei einer anderen Gelegenheit könne ich sie gerne probieren. Abgemacht!

Unter Entzugserscheinungen leidend – kein Internet – fahre ich am Nachmittag nach Ierapetra und suche lange vergeblich ein Internetcafé. Ich bin da schon mal gewesen und habe nur eine Frage gestellt. Sie waren sehr nett. Als ich es endlich finde, stellt sich heraus, dass es gar kein Internetcafé ist. Meine Erinnerung hat mich in die Irre geführt. Dann gehe ich doch noch in das andere Internetcafé, an dem ich heute schon ein paarmal vorbeigelaufen bin, dem, wo sie beim letzten Mal so unfreundliche waren. Diesmal ist es besser, aber die Tastatur ist so schlecht und die Beleuchtung so unzureichend, dass ich bald die Geduld verliere.

Es ist erstaunlich viel los auf den Straßen und in den Lokalen, auch in denen an der Strandpromenade, aber noch mehr in denen im Zentrum. Die Bars, in denen vor allem die jungen Leute sind, sehen ganz „ungriechisch“ aus: hell, viel Glas und Aluminium und Licht. Unsere Vorstellung von einer gemütlichen griechischen Taverne ist für sie vermutlich eine Horrorvorstellung.

Als ich an einem Mann vorbeikomme, der am Straßenrand auf einer Kiste sitzt und auf etwas wartet, fällt mir auf, dass ich hier noch keinen Bettler gesehen habe – keinen einzigen. Woran liegt das?

In der Stadt gibt es etwas Weihnachtsbeleuchtung und etwas Weihnachtskitsch, einen aufblasbaren Schneemann und einen mechanischen Weihnachtsmann, der nickt, wenn man vorbeigeht. Irgendwie passt das alles nicht. Bilden wir uns jedenfalls ein. Andererseits ist es in Palästina auch nicht so kalt gewesen wie bei uns, Schnee hat keinen gegeben und auch kein Alpenpanorama.

Im Theater ist noch nichts los, und da die Vorstellung erst um 9.30 beginnt, gehe ich aus Verlegenheit noch mal essen, in eine Pizzeria an der Strandpromenade. Auch hier gibt es den Bauernsalat. Er sieht, ganz egal ob Pizzeria oder Taverne, ob dörflich oder städtisch, immer gleich aus, so als wäre er genormt: kleine Schüssel mit ganz grob geschnittenem Gemüse, vor allem Tomaten und Gurken, und oben drauf eine Scheibe Schafskäse mit Oregano. Dazu gibt es Pizzabrot. Dann Pasta und Kaffee, und das alles für 14,50 €.

Dann wird es Zeit für das Theater. Es ist ein moderner Raum, mäßig groß, ganz in Rot, mit sehr bequemen, breiten Sitzen. Das Parkett, in zwei Teile geteilt, ist am Ende ungefähr halb voll. Fast nur junge Leute. Bei uns ist Theater eine Seniorenveranstaltung. Aber vielleicht ist dies so etwas wie die alternative Szene. Viele Schauspieler begrüßen vorher Zuschauer, die Schauspieler bewegen selbst die Requisiten, und das Stück wird wohl auch nur heute aufgeführt. Außerdem braucht man keinen Eintritt zu bezahlen. Nur um eine kleine Spende wird gebeten.

Wenn es eine Laientruppe ist, dann machen sie das hervorragend. Sehr gut einstudiert, sehr gut gespielt, sehr gute Sprechtechnik, keine Hänger, kein Durcheinander bei den vielen Szenenwechseln, perfekte Koordination zwischen Licht und Ton und Schauspiel. Es ist eigentlich zu gut für eine Laientruppe.

Es gibt Brechts Furcht und Elend des Dritten Reiches. Es ist eine lose Folge von Szenen, nur verbunden durch den zeitgeschichtlichen Hintergrund. Es gibt Trommelwirbel, Lieder, Musik im Hintergrund, Tanzeinlagen, Pantomimen, Slapstickeinlagen, Ausschnitte aus Hitlerreden im Volksempfänger, Filmszenen von Nazikundgebungen. Eine Pantomime ist besonders gelungen, wo zwei Nazi-Schläger jemanden verprügeln und die Szene in Zeitlupe dargestellt wird.

Ich verstehe so gut wie gar nichts. Nicht einmal erraten kann ich, worum es in den einzelnen Szenen geht, außer in einer, wo ein paranoides Ehepaar Angst hat, ihr Sohn, der ausgegangen ist, werde sie anzeigen. Dann kommt er zurück. Er hat sich nur ein Brötchen gekauft.

Als ich zum ersten Mal in Griechenland im Theater war, habe ich nur einen Satz verstanden: Δεν καταλαβάινω τίποτα. – Ich verstehe nichts. Das kann ich diesmal locker verdoppeln, selbst wenn man die unübersetzt bleibenden Ausdrücke nicht mitzählt: Heil Hitler! Achtung! Eins, zwei, drei! Auch das Dritte Reich, το Τρίτο Ράιχ, kann man verstehen, und  Mein Kampf, Ο Αγών μου. Sonst ist die Ausbeute gering. Aber macht nichts.

6. Dezember (Samstag)

Am Morgen mache ich mich auf den Weg zur Olivenernte. Ich kurve an der Fabrik herum, finde aber niemanden. Dann stoße ich doch auf einen anderen Bauern, sehr jung, den ich fragen kann. Als ich nochmal absichern will, ob ich richtig verstanden habe, fällt mir jenseits nicht ein. Ich will wissen, ob ich die Straße noch überqueren muss. Sobald ich im Auto sitze, fällt mir auf der anderen Seite ein. Das hätte genauso gut gegolten. Wir verstehen uns aber auch mit abgebrochenen Sätzen und ein paar Gesten.

Apostolos begrüßt mich wieder sehr freundlich. Kommt auf mich zu und schüttelt mir die Hand. Er lässt auch sofort von der Arbeit ab und erklärt mir, wie die Sache funktioniert. Wenn ich nicht auf Anhieb verstehe, wird er ungeduldig, aber wenn ich so tue, als hätte ich verstanden, merkt er das. Im Laufe des Vormittags wundere ich mich immer wieder darüber, wie er glaubt, mir helfen zu können, nämlich indem er in sein Griechisch die Wörter water und kaputt einfließen lässt.

Gleich am Anfang habe ich mächtige Schwierigkeiten, als es um einen surrenden Motor geht, der die ganze Zeit läuft. Am Ende aber verstehe ich: Das ist eine Art Transformator, der die Stromstärke regelt, nämlich reduziert. Wenn die Geräte, mit denen die Oliven gepflückt werden, zu stark sind, tut das den Oliven nicht gut.

Dann bekomme ich gleich so ein Gerät in die Hand gedrückt. Es ist wie ein langstieliger Besen, dessen unterer Teil, der ein paar Widerhaken hat, sich dreht. Den zieht man durch die Äste, und die Oliven fallen runter, und wie! Bei den vollen Bäumen wie dichter Hagel, und man muss aufpassen, dass man sie nicht ins Auge bekommt.

Die fallen auf die grünen Matten, die hier überall übergangslos ausgelegt sind. Die ersten Ermüdungserscheinungen zeige ich schon nach zwei Minuten, aber ich lasse mir nichts anmerken. Das Gerät ist nicht ganz leicht, und man muss es eben immer nach oben halten. Die Oliven ganz oben am Baum erreicht man auch so kaum, aber ich habe da einen kleinen Vorteil gegenüber den anderen, weil ich größer bin. Ich denke an Lewin und wie er den russischen Bauern beim Heumähen hilft und sich nicht abhängen lassen will und so, literarisch gestärkt, schaffe ich es bis zur Frühstückspause.

Die beiden Helfer sprechen überhaupt nicht mit mir, sondern dirigieren mich mit Pfiffen und Zeichen, die meist nur eins bedeuten: Weg da! Später stellt sich heraus, dass sie Albaner sind. Sie kommen, ebenso wie viele Bulgaren, zur Olivenernte hierher, um ordentlich Geld zu machen. Sie sprechen aber ganz ordentlich Griechisch, genug jedenfalls, um die lauten Anweisungen des Chefs zu verstehen.

Langsam lichtet sich der erste Baum. Dann steigen die beiden Albaner mit einer Säge in den Baum und schneiden die leeren Äste ab, nicht alle, aber so, dass genug Luft und Licht dran kommt. Dann, so erfahre ich, können die Olivenbäume jedes Jahr Frucht tragen, wenn nicht, nur jedes zweite Jahr.

Dann gibt es eine Frühstückspause. Wie spät sie morgens anfangen, will ich wissen. So gegen acht, früher geht nicht, weil es trocken sein muss. Die Olivenernte dauert ca. anderthalb Monate, genau vierzig Tage – solange es nicht regnet. Bei Regen fällt die Veranstaltung aus. Sonst wird jeden Tag gearbeitet, auch sonntags: Die Olivenernte verträgt keine Pause. Ob auch Weihnachten gearbeitet wird, wage ich gar nicht zu fragen.

Die modernen Geräte gibt es seit 10-15 Jahren. Vorher wurden die Oliven mit Stöcken von den Bäumen heruntergeschlagen. Das kann nur bedeutet haben: weniger Olivenbäume oder mehr Arbeiter. Vermutlich war die ganze Familie beteiligt.

Nach der Pause zeigt mir Apostolos sein Revier. Hinten den Olivenbäumen ist eine dicht bewachsene Wiese mit Obstbäumen, und für einen flüchtigen Moment habe ich das Gefühl, im Garten Eden zu sein. Hier stehen Orangenbäumen, dicht mit Früchten besetzt. Sie tragen von jetzt bis Mai Frucht, eine verdammt lange Zeit. Dann kommen Mandarinen- und Zitronenbäume, und dann Granatäpfelbäume. Wir essen eine Mandarine, aber die ist mir noch viel zu sauer. Lieber bis Mai warten.

Dann kommen andere Olivenbäume. Erst welche mit kleinen, dunklen Oliven. Die wir ernten, sind klein und hell. Diese, die dunkleren, seien die besseren, erklärt er mir. Weniger Wasser. Das soll gut sein?

Dann kommen große Oliven. Hab ich in der ganzen Zeit hier noch nicht gesehen. Die werden gegessen und nicht zu Öl verarbeitet. Sie sind auch dunkel und sehen genauso aus wie die bei uns im Supermarkt in Gläsern.

Dann zeigt er mir noch eine Schnecke. Er lockt sie aus ihrem Haus, indem er sie am Bauch kitzelt – falls das der Bauch der Schnecke ist. Jetzt noch zu früh, aber im März sind die reif. Dann kommen sie auf den Teller.

Dann zeigt er mir etwas, was er von einem Olivenbaum gepflückt hat und fragt mich, was das sei. Ein Stein? Falsch. Eine Frucht? Falsch. Er wirft die unidentifizierte Sache auf den Boden und klopft sie auf. Zum Vorschein kommen zwei winzige Tierchen. Raupen. Schmetterlingslarven. Oder das, was die Raupen sind, bevor sie Raupen werden. Noch nicht länglich, sondern eher wie kleine Fliegen aussehend. Sie schlüpfen im Mai. Und was ist mit den beiden? Kaputt. Drinnen warm, draußen kalt, bedeutet er mir in bestem Ausländergriechisch.

Dann kommt der zweite Arbeitsschritt, derweil die Albaner sich an die nächsten Bäume machen. Jetzt geht es darum, die Oliven aus den abgeschnittenen Ästen zu klopfen. Das erinnert mich daran, wie früher bei uns zuhause Teppiche geklopft wurden, und so ähnlich sieht das Werkzeug auch aus, nur aus Plastik. Selbst da kommen noch mal Hunderte und Hunderte von Oliven zum Vorschein.

Ich habe zwar nicht, wie Lewin, einen ganzen Tag durchgehalten, sondern nur einen Vormittag, aber das war ein Erlebnis.  Was mir fehlt, ist das Sichten und Verpacken der Oliven.

7. Dezember (Sonntag)

Heute geht es ins Puppentheater. Ich bin das einzige Kind, das ohne seine Eltern gekommen ist. Die Sache wird auf einer improvisierten Bühne in einem Kino gezeigt, gleich gegenüber dem Theater von gestern. Auch das ist sehr, sehr gut gemacht, absolut professionell: große, originelle Figuren, tolle Szenenwechsel, gute Sprechtechnik, ein paar Requisiten – Burg, Baum, Obstschale- durch die Gegend fliegende Zahlen, Buchstaben und Gegenstände, magische Schleier, wechselnde Beleuchtung.  Das ist meilenweit von dem Kasperletheater unserer Kindertage entfernt. Nur die Reaktionen der Kinder sind noch genauso wie früher, trotz der elektronischen Revolution. Sie begeistern sich am meisten für die Slapstickeinlagen und für verzerrte Sprache. Allerdings interessieren sie sich vermutlich weniger für die Geschichte. Die hat einen ideologischen Einschlag. Es wird indoktriniert. Es geht um irgendein altes Kastell, das früher zwischen Türken und Griechen umstritten war und jetzt von irgendwelchen bösen Ausländern – die Figuren tragen Anzug und Zylinder und sind gesichtslos – gekauft werden soll. Aber die standhaften Griechen sind nicht käuflich. Sie weisen das Geld zurück und bewahren ihr Erbe. Soviel kann man erraten auch wenn man wenig versteht. Aus den paar Brocken, die ich verstehe, reime ich mir zusammen, dass die Ausländer auch noch gleich Land und Meer kaufen und Tante-Emma-Läden durch Supermärkte ersetzen wollen.

Am besten verstehe ich die Passagen, wo das Kind mit dem Burggeist spricht, schön langsam, Wort für Wort. Für den großen Zusammenhang reicht es aber nicht. Ich habe auch den durchgehenden Lärmpegel im Zuschauerraum bei einer Kindervorstellung unterschätzt. Trotzdem ging es schon besser als vorgestern im Theater. Bei einzelnen Wörtern wird immer deutlicher, dass das kretische Griechisch ganz einfache Wörter „verzerrt“, meist durch einen Laut, den die anderen Varianten nicht haben: /tʃ/. Dadurch kling kai wie tsai und, wie ich dieser Tage bei der Olivenernte hörte, als mir gesagt worden, wo die Apfelsinen lägen („Da hinten“) eki wie etsi.

Erst später merke ich, dass das Stück einen historischen und einen folkloristischen Hintergrund hat. Ohne den ist es ohnehin schwer zu verstehen. Es geht um das Kastell in Frangokastello hier auf Kreta, das einmal heldenhaft von Griechen gegen übermächtige türkische Angreifer verteidigt wurde. Die Griechen leisteten so lange Widerstand, bis die zahlenmäßig weit überlegenen Türken ihnen freien Abzug gewährten. So die griechische Darstellung. Diese Verherrlichung der eigenen Geschichte hat eine lange Tradition. Auch die Perser waren immer viel mehr und viel besser ausgerüstet und kriegten doch ständig eins auf die Mütze. Ein moderner Historiker hat mal das Schlachtfeld von einer dieser Schlachten nachgemessen und festgestellt, dass so viele persische Soldaten, wie die Geschichte erzählt, da gar nicht drauf gepasst hätten.

Der andere, folkloristische Aspekt des Theaters ist eine Erscheinung, bei der man am Jahrestag der Schlacht im Morgengrauen die toten kretischen Soldaten an den Ort des Geschehens zurückkehren sieht, wie in einem Schleier. Sie heißen Δροσουλίτες, ‚Tau-Schatten‘. Und das ist auch der Titel des Stücks. Ihr Erscheinen wird als spezielles meteorologisches Phänomen erklärt.

8. Dezember (Montag)

Plötzlicher Wetterumschwung, der sich schon in der Nacht ankündigt, als der Wind die Tür zum Balkon aufstößt.

Ich muss nach Ierapetra und fahre auf dem Rückweg nach Kalamafka rauf, einem großen Dorf in den Bergen. Unterwegs gibt es eine empfohlene Taverne, die aber geschlossen ist. In Kalamafka gibt es eine Kapelle in einer Grotte ganz oben in einem Fels. 144 weiße Stufen führen hinauf. Alles Training nutzt nichts: Als ich oben ankomme, bin ich außer Atem. Die Kapelle ist nichts Besonderes, ein kleiner Raum ohne Altar, den man kaum als Kapelle erkennen würde, wenn es nicht dran stünde. Im Vorraum herrscht ein unglaubliches Durcheinander: Ikonen, Kerzenhalter und Votivgaben neben einem Besen, Spülmittel und mit Öl gefüllten Plastikflaschen. Draußen hat man, selbst an diesem grauen Tag, einen schönen Blick auf die erodierten Felsen, das Dorf und die Lehmpfade, die sich durch das Tal winden.

Ich fahre auf einer Straße, die besser ist als sie sein sollte, durch Berg und Tal, und plötzlich lande ich in einem Ort, der mir bekannt vorkommt: Ierapetra. Immer noch keine offene Taverne gefunden. Also fahre ich nach Tertsa ins Vrexi Liasi und versuche dort mein Glück. Jannis, der Mann mi der Knollennase, hatte mir gesagt, irgendetwas hätten sie immer. So ist es auch. Seine Frau wird in die Küche geschickt. Bei diesem Wetter spielt sich nichts mehr draußen ab. In der Taverne herrscht ein unglaubliches Durcheinander, von schönen Holzskulpturen über Stapel von Kisten mit leeren Flaschen bis zu einem supermodernen Flachbildschirm. Auf dem zeigt Jannis Photos. Darunter eins, auf dem ich nur einen Totenkopf mit riesigen Zähnen erkenne. Die Männer, Jannis und zwei Kunden, haben großen Spaß an meiner Verwirrung. Ob das etwas mit der kretischen Vorgeschichte zu tun hat? Erst dann fällt der Groschen. Es ist eine Photomontage, und die Zähne sind tatsächlich Frauenkörper, auf die man von hinten sieht.

Jannis zeigt mir ein paar Dekorationen in einer Ecke, darunter ein paar Figuren, die er selbst geschnitzt hat. Sie sind aus Olivenbaumholz. Das ist erstaunlich hell, ganz leicht rötlich. Daneben ein Netz, an dem in vielen Reihen unterschiedliche Muscheln aufgehängt sind. Sehr schön.

Die beiden Männer sind auch bei der Olivenernte und machen gerade Pause. Ich zeige ihnen ein paar der Photos von Bäumen, die ich gemacht habe und erfahre jetzt, wie die merkwürdigen Nadelbäume heißen, die man hier immer wieder sieht: Araukarien. Auf Griechisch heißen sie ganz ähnlich. Eigentlich dürfte es sie hier gar nicht geben. Sie „gehören“ auf die Südhälfte der Erde, und da habe ich sie auch zum ersten Mal gesehen: in Australien. Ich zeige ihnen auch den deutschen Reiseführer, in dem die Taverne erwähnt wird, ebenso wie Jannis selbst.

Beim Bezahlen wird, wie jetzt fast überall, über den Daumen gepeilt. Fest Preise gibt es nicht. Als ich nach der Rechnung frage, sieht er sich kurz an, was da auf dem Tisch steht und nennt den Preis: 10 €.

Im Autoradio habe ich unterwegs einmal Edeka gehört. Jedenfalls klang es so. Es war aber keine Werbung. Sondern eine Zahl. Genauso klingt έντεκα, ‚elf‘, jedenfalls in flüchtiger Aussprache in verbundener Rede. Wir Ausländer sprechen es immer „zu richtig“ aus, mit /n/.

In Ierapetra gibt es die Οδός Δημοκρατίας. Da weiß man dann wirklich nicht, ob es ‚Straße der Demokratie‘ oder ‚Straße der Republik‘ heißt.

Die Konditorei an dem zentralen Platz in Ierapetra heißt βετερανο. So, in Großbuchstaben, ein idealer Name für einen Anfängerkurs in Griechisch, wenn man die Buchstaben einführt.

Elend und Furcht des Dritten Reichs kann auf zwei verschiedene Weisen wiedergegeben werden: Τρόμος και αθλιότητα του Τρίτου Ράιχ oder Τρόμος και αθλιότητα του Γ’ Ράιχ. Die Zahl kann also als Zahlwort erscheinen oder als Ziffer. Die Ziffer ist aber keine arabische Ziffer, sondern ein Buchstabe, hier der Buchstabe Gamma, der 3. Buchstabe des Alphabets! Im Altgriechischen wurden alle Zahlen so geschrieben. Arabische Zahlen gab es noch nicht.

Zwei Beobachtungen zu griechischen Lokalen, die ich immer wieder mache: Der 2. Gang wird serviert, wenn die Küche so weit ist, nicht, wenn der Gast so weit ist. Und wenn man Bekannte am anderen Ende des Lokals sieht, dann geht man nicht etwa zu ihnen rüber, sondern macht es einfach mit Lautstärke. Laut und vernehmlich, so dass alle Gäste alles mitbekommen, werden Grüße und Informationen ausgetauscht.

9. Dezember (Dienstag)

Nachdem es die ganze Nacht gestürmt und geregnet hat, hat es sich am Morgen wieder etwas beruhigt. Ein merkwürdiges Geräusch, das die ganze Nacht durch zu hören war, hört man immer noch, aber nicht mehr so stark. Es kommt aus einem Waschbecken. Es ist so, als pfeife der Wind von außen in die Leitung.

Hier im Zimmer bekomme ich am Radio nur einen einzigen Sender. Merkwürdig. Die ganze Situation der Medien scheint im Aufbruch zu sein. Oder auch nicht. Ob es etwas damit zu tun hat oder mit der Randlage Kretas? Keine Ahnung. Im Autoradio gleich außerhalb bekomme ich wenigstens zwei-drei Sender.

Die staatliche Rundfunkanstalt, ERT, ist jedenfalls von ein paar Jahren schlagartig aufgelöst worden, komplett, unter Entlassung aller Mitarbeiter. Die wurden über Nacht arbeitslos. Die Maßnahme wurde begründet mit Sparzwängen, aber auch, um Verschwendung und Vetternwirtschaft zu beenden. Es gab dann eine Übergangslösung, und dann wurde eine neue Rundfunkanstalt gegründet, NERIT. Die Kritiker behaupten, das sei lediglich eine Neuauflage der alten Sendeanstalt mit neuem Etikett. Die ersten Sendungen waren Produktionen des alten Senders, mit einem neuen Vorspann. Außerdem erwies sich die alte ERT als zäh. Viele Gerichtsverfahren laufen, bei denen die Mitarbeiter auf die Ungültigkeit der Auflösung der Verträge klagen, einige Sendeorte sind oder wurden von Mitarbeitern besetzt, andere Mitarbeiter produzieren von aus Privatwohnungen ihre Sendungen weiter  – ohne Gehalt, ohne Lizenz – und die Gewerkschaften leisten hartnäckigen Widerstand gegen alle diese Maßnahmen, zumal alle Mitarbeiter nur Zeitverträge haben, die alle zwei Monate verlängert werden.

10. Dezember (Mittwoch)

Hier spukt es. Einen Tag und eine Nacht lang kommt aus dem Badezimmer ein merkwürdiges Geräusch. Das Geräusch hält an, auch als der Wind nachlässt. Manchmal wird es leiser, dann verschwindet es für einen Moment ganz, dann kommt es wieder mit voller Wucht. Es scheint irgendetwas mit dem Waschbecken zu tun zu haben. Aber aus der Wasserleitung kommt es nicht, und das Öffnen und Schließen der Wasserkräne nutzt auch nichts. Ich will schon ins Nebenzimmer umziehen und den Besitzer benachrichtigen, sehe dann aber noch einmal nach. Gott sei Dank! Es ist die Zahnbürste! Eine neue Zahnbürste, die ich gekauft habe, nicht ahnend, dass sie eine Batterie enthält. Die Zahnbürste macht sich selbstständig, setzt sich in Bewegung und hat die ohnehin sehr unstabile Ablage durch das ständige Rütteln nach unten gezogen, sodass die jetzt auch mit vibriert. Dann hat sie durch das Rütteln auch noch eine Rasierklinge in Gang gesetzt, die ebenfalls mitmacht und die Ablage in Bewegung hält. Unglaublich. Ich schalte Rasierklinge und Zahnbürste aus, schiebe die Ablage wieder in ihre Position und lege mich hin. Nach einer halben Stunde geht es wieder los. Der Mechanismus der Zahnbürste muss defekt sein. Die Batterie lässt sich nicht entfernen, aber man kann dran drehe und sie so außer Funktion setzen. Ja, denkste, nach einiger Zeit geht es wieder los. Ich könnte die Batterie natürlich einfach rausreißen oder die Zahnbürste wegwerfen, aber jetzt möchte ich doch wissen, was es damit auf sich hat. Im Laufe des Tages lege ich sie in verschiedenen Positionen an verschiedene Orte und warte ab, ob sie wieder tätig wird. Das wird sie immer. Nur, wenn man sich mit ihr die Zähne putzen will und sie einschaltet, bleibt sie stumm.

11. Dezember (Donnerstag)

Heute über Tertas hinaus gelaufen, einen Schotterweg entlang, auf dem kein Auto fahren kann. Nach kurzer Distanz ist der ohnehin zu Ende und führt auf den Strand. Das muss die Strandwanderung sein, von der im Reiseführer die Rede ist. Zum Laufen nicht so geeignet, aber macht nichts. Hier kommen die kantigen Sandsteinfelsen direkt bis an dem Strand oder stehen als Monolithen halb im Wasser. An einer Stelle kann man nur durch eine kleine Unterhöhlung in einem Felsen weiter, fast kriechend. Das sieht phantastisch aus. Dann kommt aber die Stelle, an der kein Platz zwischen Felsen und Wasser ist. Das ist etwas für den Sommer, wenn man ein Stück durchs Wasser gehen und die Füße trocknen lassen kann. Jetzt nicht so angesagt, zumal das Meer stürmisch ist. Der Reiseführer mahnt ausdrücklich zur Vorsicht. Etwas höher gibt es noch einen schmalen Pfad, an einem Stück zu beiden Seiten von Binsen bestanden. Habe ich bisher hier noch nicht gesehen. Dann endet dieser Pfad plötzlich im Nichts. Man steht vor einem Abgrund.

Auf dem Rückweg mache ich Halt bei Jannis auf einen Kaffee. Dabei stelle ich mir das Entsetzen meiner Kollegen vom Lauftreff vor, wenn die das wüssten. Jannis lässt mich wieder an seinen Deutschkenntnissen teilhaben: So ist es. Ein Leben ohne Liebe ist kein Leben. Wieder mit perfekter Aussprache vorgebracht. Ich bin fast beruhigt, als er dann mit dem Wort Kühlschrank doch seine Probleme hat. Er hat die Sprachfetzen von Kunden, vor allem aber von einem Cousin aufgeschnappt, der in Deutschland gearbeitet und ein Restaurant betrieben hat. Er zeigt mir eine durchgeschnittene Frucht und kann sich wieder herrlich über meine Unkenntnis echauffieren: Nein, kein Granatapfel. Passionsfrucht.  Er gebraucht das englische Wort, passion fruit, aber es gibt eine griechischen Lehnübersetzung, mit derselben Bedeutung: φρούτο του πάθους. Erst später finde ich im Internet zufällig, dass Maracuja dieselbe Frucht bezeichnet. Erstaunlich, dass sie das alles hier anbauen können.

Um mir Gesellschaft zu leisten, trinkt er auch einen Kaffee, einen griechischen Kaffee. Nein, belehrt er mich, der sei nicht stark. Er trinke viel Kaffee und deshalb keinen starken Kaffee. Mein Nescafé sei stärker. Ich muss mich zwar immer noch mächtig anstrengen, aber ich verstehe ihn allmählich ein bisschen besser. Und er beantwortet mit viel Geduld meine Fragen zur Sprache.

Im Laufe des Tages wird das Wetter immer schlechter, und in den Nachrichten ist von einem Unwetter in Saloniki die Rede, bei dem schon vier Menschen ums Leben gekommen sind. Am Abend erlebe ich dann selbst, was so ein richtiger kretischer Regen ist. Keine reine Freude, weder für Autofahrer noch für Fußgänger. Die Dränage funktioniert schlecht, und auf den schlecht erleuchteten Straßen gehen Fußgänger, zum Teil alte Männer mit Stock, seelenruhig über die Fahrbahn. Oft sieht man sie erst im letzten Moment. Als Autofahrer kann man kaum vermeiden, Fußgänger nass zu spritzen, und als Fußgänger wird man von Autos nass gespritzt. Die knöcheltiefen Pfützen sorgen dafür, dass man unten nass wird, der Wind dafür, dass man oben nass wird.

12. Dezember (Freitag)

Der Roman der jungen griechischen Autorin, den ich in der Buchhandlung aufgegriffen habe, ist nicht gerade ein literarisches Meisterwerk. Ganz im Gegenteil. Er taugt eigentlich nur als gutes Beispiel für einen schlechten Roman: voller Klischees, mit einer an den Haaren herbeigezogenen Handlung, flachen, profillosen, unglaubwürdigen Charakteren. Gut und Böse sind klar verteilt: Die Griechen sind die Guten, die Türken die Bösen. Die türkische Schwiegermutter – ausgerechnet die Schwiegermutter – ist eine Despotin und hat ihren Ehemann heimlich um die Ecke gebracht. Ihr türkischer Ehemann, den sie nur aus Liebe zu ihrer Familie heiratet, aber am Hochzeitstag mit einem Engländer betrügt – aber das geschieht natürlich „aus Liebe“ – erweist sich als Vergewaltiger und trachtet ihr am Ende nach dem Leben. Es gibt ein paar Alibi-Türken, die den Griechen helfen, aber das sind Nebenfiguren. Ihre heroische Schwester – von ihrem Vater hat sie gelernt, dass Griechen einschreiten, auch, wenn sie dabei selbst in Gefahr kommen – vertreibt mit einem Steinwurf zehn türkische Männer, die sich über eine schwangere Frau hermachen. Sie erleidet dann einen Gedächtnisverlust und weiß noch nicht einmal mehr, wie sie heißt, hat aber sonst alles im Griff: Sie weiß, wie man sich kleidet und schminkt, wie man sich benimmt, wie man spricht, wie man Geld verdient, sie weiß alles, nur nichts von der Vergangenheit, und ist auch keinen Moment lang unsicher oder gar verstört. Und sie weiß, wie man Karriere macht. Und das klappt wie im Märchen: Nach ihrem ersten Auftritt in einem Club bekommt sie gleich einen Plattenvertrag und wird dann an der Oper engagiert. Alle sind bedingungslos begeistert von ihr, es gibt keinen Neid, keine Konkurrenz, keine Eifersüchteleien. Natürlich spannt sie einer Frau dann auch noch den Mann aus, auf den sie es abgesehen hat. Trotz aller Beteuerung, dass sie keinen Tag verlieren werde, nach ihrer Familie zu suchen, schert sie sich einen Dreck darum und verfolgt ihre Karriere. Auch die Schwester, die ihr ewige Treue geschworen hat, gibt nach ein paar halbherzigen Versuchen schnell auf, die Schwester zu finden. Wenn Griechen gut und Türken böse sind, so ist Istanbul – das nur η πόλη, ‚die Stadt‘, genannt wird – das Paradies. London ist hässlich, und die Engländer haben einfach nicht diesen herzlichen Charakter der Menschen in Istanbul – wo doch gerade das schlimme Pogrom über die Bühne gegangen ist. Aber das haben ja die bösen Türken gemacht. Als am Ende die wiedervereinte Familie – von den ungeliebten angeheirateten Türken durch gut zu Pass kommende Unfälle befreit – von London nach Istanbul zurückgeht, bedarf es nur eine Wortes: Ja, zurück zur Stadt. Da ist kein einziger, auch der Engländer der Familie nicht, der vielleicht in London in all den Jahren Wurzeln geschlagen hat, der Freunde, Beruf, Wohnung, Vertrautheit, Partner vielleicht nicht aufgeben will. Das Argument η πόλη sticht alles andere aus. In dieser, eigentlich interessanten kosmopolitischen Welt des Istanbuls der Nachkriegszeit gibt es merkwürdigerweise nie Verständigungsprobleme. Man fragt sich: Sprechen alle Türken Griechisch oder alle Griechen Türkisch? Und selbst wenn, hakt es da nicht irgendwann einmal bei der Kommunikation? Nie. In einer dramatischen Szene taucht der Engländer auf, der erst seit ein paar Tagen in Istanbul ist. Er spricht flüssig mit dem griechischen Opfer der Vergewaltigung und mit ihrem türkischen Nachbarn. Wie geht das? Das ist mehr als genug, um einen Roman schlecht zu machen, aber das Ärgste kommt noch: die Sprache. Alle sprechen gleich, in wohl gesetzten, langen Sentenzen mit vielen untergeordneten Sätzen, ganz gleich, ob sie gerade aus dem Meer gefischt worden oder vergewaltigt worden sind oder ihre tot geglaubte Tochter nach Jahren wiedersehen. Es gibt keine Unterbrechungen, keine Ausrufe, keine Ellipsen, keine Umgangssprache. Alle sprechen wie ein Buch, die Charaktere genauso wie der Erzähler. Und der zieht alle Register der Sprache des Tagebuchs eines Teenagers: Wenn jemand überrascht ist, lässt er etwas fallen, wenn jemand bewegt ist, vergießt er Tränen, und wenn auch das nicht geht, dann ist das Gefühl „unbeschreiblich“, was einer literarischen Kapitulationserklärung gleichkommt. Das wird ergänzt durch blutleere, nichtssagende Phrasen wie mit ihrem ganzen Herzen, mit all ihrer Kraft, dem schönsten Tag ihres Lebens und den beiden Lieblingswörtern der Autorin, wirklich und wunderbar, manchmal in einem Trommelwirbel der Nichtigkeit zusammengefügt zu wirklich wunderbar. Man bekommt das kalte Grausen. Man kann der Autorin ihr junges Alter zugutehalten, aber sie hat Philologie studiert, unter anderem in Paris. Offensichtlich folgenlos. Und wenn sie schon so schlecht schreibt, warum greift dann der Lektor nicht ein? Der Verlag muss doch jemanden haben, der etwas von Literatur versteht. Und dafür habe ich Geld ausgegeben. Und trotzdem: Jetzt lese ich das Buch ein zweites Mal. Es ist schlecht für meine Seele, aber gut für mein Griechisch. Ich werde eine Strichliste machen, auf der jedes wunderbar vermerkt wird.

13. Dezember (Samstag)

Immer wieder komme ich durcheinander bei dem Plural von χρόνος, ‚Jahr‘. Man gebraucht zwei unterschiedliche Formen in den Sätzen Er ist dreißig Jahre alt und Er ist schon zwölf Jahre in der Firma. Im ersten Satz ist es χρονών, der Genetiv Plural. Das kommt mir russisch vor. Im zweiten Satz ist es χρόνια, der Akkusativ Plural. Trotzdem heißt der Geburtstagsglückwunsch χρόνια πολλά, aber da geht es wohl eher um die Jahre, die noch kommen. Zu allem Übel gibt es auch noch χρονιά, mit anderer Betonung. Hier geht es um Jahr im Sinne von ‚Jahrgang‘.

14. Dezember (Sonntag)

Einbiegen auf die Zielgerade bei der Bibellektüre: Es fehlt nur noch die Geheime Offenbarung. Das Wort Apokalypse verwende ich in diesen Tagen manchmal. Es heißt auch ‚Entdecken‘, kommt also in Frage, wenn man eine Entdeckung gemacht hat, sei sie auch noch so banal. Klingt schrecklich übertrieben.

Am Mittag esse ich bei Jana Hühnchen aus dem Backofen. Schmeckt und riecht lecker, vor allem wegen der Kräuter. Ich muss wieder nachfragen, was es ist: Rosmarin. Das kretische Wort ähnelt unserem, aber das eigentliche griechische Wort ist ganz anders: δεντρολίβανο. Jana hat die Kräuter aus dem eigenen Garten oder, noch häufiger, von Maria. Die ist, zusammen mit ihrem Mann, die Versorgerin des Dorfes mit allem, was man essen und selbst anbauen kann.

Jana gibt mir Obst mit nach Hause. Diesmal liege ich bei dem Ratespiel gleich zweimal daneben: Granatapfel? Nein! Passionsfrucht? Nein! Lotus! Auf Griechisch  λωτός. Gibt es auf Deutsch nicht auch Lotos? Oder sind Lotus und Lotos zwei verschiedene Dinge? Jedenfalls sind Granatapfel, Passionsfrucht und Lotusfrucht in Form und Größe ähnlich, Granatapfel und Lotusfrucht auch in der rötlichen Farbe. Drinnen sieht es aber ganz anders aus. Die Lotusfrucht hat sieht innen ein bisschen wie ein Kiwi aus, aber mit weniger Kernen, und ist von der Konsistenz her wie eine Banane. Und beim Geschmack, da gibt es das alte Problem: Wie kann man Geschmack in Worte fassen? Man kann eigentlich nur vergleichen, und auch da weiß ich nicht so recht: Banane, Mandarine, Kiwi. So eine Mischung.

15. Dezember (Montag)

Das leckere Brot gibt es zurzeit nur samstags. Ich frage nach einem anderen, und der Bäcker nennt ein Wort, um es zu beschreiben. Nie gehört. Ich nehme es trotzdem. Dann aber will mir das Wort nicht aus dem Kopf, und plötzlich kommt die Erleuchtung: χειροποίητο. Das steckt der Chiropraktiker drin, der mit den Händen arbeitet, und die Poesie, bei der etwas verfertigt, gemacht wird: ‚handgemacht‘!

Jetzt weiß ich endlich, was Tamarisken sind. Ich habe sie natürlich schon dutzendfach gesehen und sogar photographiert, aber nie identifizieren können. Sie haben einen rauen, oft krummen Stamm, der sich schon bald verzweigt, und sehr weiche Nadeln, so weich, dass man sich fragt, ob es überhaupt Nadeln sind. Fühlt sich an, als wenn man durch dünnes Haar fährt. Die Tamarisken wachsen direkt am Strand. Sie können Salz aufnehmen und verarbeiten. Der griechische Name soll etwas mit Salz zu tun haben, aber der Zusammenhang bleibt mir verschlossen.

Immer wieder sieht man am Straßenrand, meistens auf Steine gepinselt, die Buchstaben Ε.ΠΑ.Μ. Das ist eine zur politischen Partei mutierte ehemalige Bürgerbewegung, die sich gegen die ganze Entwicklung in der Finanzkrise wendet. Sie fordert neue Verhandlungen, neue Bedingungen, Autonomie und Austritt aus dem Euro. Ob das sinnvoll ist, ist schwer zu sagen, aber verständlich ist es alle Male. Jetzt habe ich ein Photo gemacht, wo diese Buchstaben, ziemlich aufwändig, in eine Felswand zwischen Myrtos und Ierapetra eingelassen sind, nicht wie sonst in roter Schmierschrift, sondern Weiß auf Schwarz in Druckbuchstaben. Es musss ein ziemlicher Aufwand gewesen sein, dass dahin zu bekommen. Jetzt habe ich endlich ein Photo davon.

Zentralen von politischen Parteien habe ich bisher nur in Sitia gesehen, und zwar sowohl die der PASOK als auch die der ND. Und außerdem die der KNE, einer kommunistischen Partei, deren Zentrale direkt über einem modernen Modegeschäft ist.

Am Abend ins Kino gegangen. Merkwürdige Erfahrung: Als ich in den Vorführraum komme, ist noch kein Zuschauer da, und das bleibt auch so. Die drei Männer, die unten den „Betrieb“, d.h. Kasse und Imbissstand am Laufen halten, tun mir fast leid, aber was soll man machen? Es wird jede Woche ein Film gezeigt, jeweils zwei Vorstellungen von Freitag bis Montag. Man kann nur hoffen, dass es am Wochenende voller ist. Aber andererseits: Warum soll man ins Kino gehen? Alles ist ständig und leicht zu Hause zur Verfügung.

Der Film fängt pünktlich an. Werbung gibt es nur vorher, fast ausschließlich lokale Geschäfte. Der Film, Magic in the Moonlight, ist auf Englisch mit griechischen Untertiteln. Am Anfang sehr verwirrend, dann einfach Konzentration auf die Sprache und Ignorieren der Untertitel, dann allmählich auch mal einen Blick auf die Untertitel. Geht ganz gut, weil das Englisch britischer Standard ist und der Film in den besten Gesellschaftsschichten angesiedelt ist.

Der Film ist eine leichtfüßige, nicht unsympathische Komödie mit ernstem Hintergrund, der aber, typisch Hollywood, vor einer individuellen Liebesbeziehung immer mehr zurücktritt. Ein etwas herablassend wirkender, etwas pompös auftretender englischer Vernunftmensch wird in seiner Selbstsicherheit erschüttert durch eine junge Amerikanerin, die übersinnliche Kräfte zu haben scheint und ihre ganze Umgebung damit beeindruckt. Das, was wie Hokuspokus aussieht, beeindruckt ihn, weil er keine Erklärung dafür findet, stellt sich am Ende aber als ein bloßer Trick, eben als Hokuspokus heraus, Gott sei Dank. Seine Bekehrung, auch das typisch Hollywood, geschieht viel zu schnell, und die inneren Kämpfe werden auf ein bisschen Stirnrunzeln ratlose Gesichter reduziert. Er lässt sich auch viel zu einfach bekehren durch das, was sie kann, ohne nach dem zu sehen, was sie nicht kann. Und verführen lässt er sich schließlich durch ihr Lächeln und ihre schönen Augen. Am Ende also doch ziemlich seicht.

Der Film spielt in den Zwanzigerjahren, und, damit man auch ein paar schöne Außenszenen drehen kann, praktischerweise in Südfrankreich. Dafür gibt es keinen inhaltlichen Grund. Man fährt mit offenen Limousinen durch die Gegend, trägt weiße Hosen, lange, luftige Kleider, die Frauen Stirnbänder und die Männer wollene Mützen. Man spielt Tennis, tanzt Charleston und hört Swing. Genauso stellt man sich die Zeit vor.

16. Dezember (Dienstag)

An der Bushaltestelle greife ich einen jungen Mann auf, der nach Ierapetra will. Es ist einer der Albaner, die hier bei der Olivenernte helfen. Er spricht flüssig Griechisch und hat sogar ein paar kretische Eigentümlichkeiten übernommen. Seit zehn Jahren kommt er hierher, zusammen mit seinem Vater. Der ist jetzt bei der Ernte, er selbst ist nach Ierapetra geschickt worden, um ein paar Behördengänge zu erledigen. Im Winter arbeitet er bei der Olivenernte, im Sommer in einem Hotel am Ortseingang von Myrtos. Die Zeit dazwischen verbringt er in Albanien. Myrtos im Winter ist für ihn ein bisschen langweilig. Im Sommer sei mehr los, das wäre besser.

Ich habe auch ein paar Erledigungen in Ierapetra zu machen. Eine Seite ausdrucken, eine einzige Seite. Dafür laufe ich eine ganze Zeit durch die Gegend. Die Bank, die man mir als Orientierungspunkt genannt hat, hat den Namen gewechselt und so bin ich nicht in die Straße abgebogen. Dann finde ich das Geschäft aber doch. Es ist mir etwas peinlich, den Aufwand für die eine Seite zu betreiben, aber es lässt sich nicht ändern. Die Frau in dem Geschäft ist aber freundlich. Das Gespräch spielt sich auf Griechisch und Englisch ab. Ich bleibe bei Griechisch, sie bleibt bei Englisch. Beide in einer Fremdsprache. Verrückt. Ich versuche auch gar nicht, sie vom Englischen abzubringen, frage aber am Ende, ob sie auch Griechisch spreche.

Es gibt zwei Arten Laubbäume in der Straßen der Innenstadt, die mir gefallen, besonders die in der Fußgängerzone, mit dichtem Blattwerk in sattem Grün. Die Bäume scheinen die Blätter nicht zu verlieren. Oder sie tauschen die alten fliegend gegen die neuen aus. Dafür spricht, dass einige heller, andere dunkler sind.

In Ierapetra hat man ein interessantes Nebeneinander von ganz modernen Geschäften – vor allem Elektronik und Konditoreien – leer stehenden Geschäften und traditionellen Geschäften, vollgestopft mit Ware – vor allem Haushaltswaren und Schreibwaren. Teilweise steht die Ware auch vor der Tür, wie bei einem Haushaltswarengeschäft: Besen, Beile, Heckenscheren, Eimer (aus Zinn, nicht aus Plastik), Schläuche.

Ich finde endlich auch das Geschäft, in dem es CDs gibt. Es ist aber nicht so, dass man in Ruhe aussuchen kann, sondern man muss sagen, was man will. Aber genau das weiß ich nicht. Als ich stotternd meine Wünsche vortrage, sagt der Mann: „Können wir machen.“ Das meint er ganz wörtlich. Sie machen eine CD, also vermutlich eine Raubkopie, für mich. Kann morgen abgeholt werden. Als ich dann noch mal wiederkomme und Sonderwünsche äußere, ist er nicht gerade begeistert, nimmt die Sache aber hin. Ich bin froh, dass ich den Mut gehabt habe.

In einer als Pizzeria getarnten Taverne am Kai esse ich Pastitsio und Salat. Dann kommt eine Familie rein und grüßt mit Καλησπέρα. Das wird offensichtlich als angemessen angesehen, obwohl es das Wort Abend beinhaltet. Und zwar um zehn nach zwei. Das glaubt mir wieder niemand. Aber es ist eine exakte Parallele zum Italienischen.

17. Dezember (Mittwoch)

Einbiegen auf die Zielgerade bei der Bibellektüre: Es fehlt nur noch die Geheime Offenbarung, die Apokalypse. Auch hier eine merkwürdige Vertrautheit mit dem Wort. Zumindest das Verb, ανακαλύπτω, das auch ‚entdecken‘ heißt, habe ich in den letzten Wochen schon ein paarmal benutzt.

Das Griechische liegt daneben, wenn es um die Benennung der Null geht. Die europäischen Kultursprachen speisen sich aus zwei Quellen: lat. nulla (eigentlich nulla figura) und arab. sifr. (das wiederum aus dem Sanskrit stammt). Zu der ersten Gruppe gehören Deutsch, Schwedisch, Russisch, zu der zweiten Englisch, Französisch, Spanisch. Die haben sich am Italienischen als Modesprache der Mathematik orientiert. Aus sifr wurde cephirum, daraus zefiro und daraus die Kurzform zero, zum ersten Mal im 15. Jahrhundert belegt. Andere Sprachen, die in direkterem Kontakt mit der arabischen Welt lebten, haben ihre Benennung direkt von sifr abgeleitet: Türkisch, Persisch, Suaheli. Und dann kommt auf einmal Griechisch mit μηδέν [miden]. Das fällt völlig raus. Ist mir immer ein Rätsel gewesen, aber jetzt habe ich gelesen, dass es wörtlich ‚nicht eins‘ bedeutet(e) und damit nulla figura entspricht. Kann man, wenn man es weiß, noch erahnen.

Heute nehme ich ein junges französisches Paar mit nach Ierapetra. Sie sind schon seit einem ganzen Jahr unterwegs, durch ganz Europa. Kreta ist die letzte Station. Sie kennen den Westen schon sehr gut und wollen sich jetzt auch noch diesen Teil ansehen. Sie haben ein Zelt dabei, gehen aber alle paar Tage in ein Hotel, um sich mal wieder richtig zu pflegen. Sie machen es alles genau richtig.

Ierapetra, das sonst so einladend wirkt, wirkt heute wie ausgestorben. Der trübe Tag verstärkt die Wirkung noch. Dann, als ich vor einem geschlossenen Geschäft stehe, fällt mir ein: Mittwoch! In Griechenland sind montags und mittwochs nachmittags die Geschäfte traditionellerweise geschlossen.

18. Dezember (Donnerstag)

Bei Jannis begegne ich einem Mann, der wie ein Übriggebliebener der 68er Generation aussieht, Basilius. Sehr nett, sehr kommunikativ. Er kommt aus dem Norden, lebt aber schon eine Ewigkeit hier. Auch er kann ein paar Brocken Deutsch. Aus seiner Zeit in Berlin. Seine Frau ist Italienerin. Sie spricht angeblich auch nicht viel besser als ich, obwohl sie schon zwanzig Jahre hier ist. Genau das ist das Problem. Man kommt mit ein paar Brocken ganz gut zurecht. Der Rest wird auf Englisch erledigt.

Da er gut auf meine Sprache reagiert und mir an den richtigen Stellen hilft oder mich korrigiert, spreche ich mal das Problem mit Duzen und Siezen an. Darauf gibt es ein langes Hin und Her, weil sie meine Frage nicht verstehen. Sie erklären, dass man Sie Plural und du Singular ist, verstehen aber nicht, dass es mir um den Gebrauch geht. Irgendwie landen wir dann doch noch dabei. Es ist teils eine Frage der Generation, also des Sprachwandels, andererseits, und das ist anders als bei uns, eine Frage des Alters. Es ist normal, dass Ältere Jüngere duzen, von denen aber gesiezt werden. Das ist wohl auch der Fall bei Jana vom Mirtos, die mich beständig weiterhin siezt. Sie meinen, ich könne ruhig beim du bleiben. Das sei nicht unhöflich. Und mit ihnen ist es auf jeden Fall du.

Ich erfahre auch noch, dass die schönen Bäume aus der Innenstadt von Ierapetra mit den dichten, breiten Baumkronen und den schönen Blättern Feigen sind. Auf Griechisch heißen sie merkwürdigerweise Benjamin: μπενζαμίνη. Die genaue deutsche Bezeichnung ist Birkenfeige. Sie ist tatsächlich immergrün. Ob sie auch Früchte trägt, weiß ich nicht.

Als ich am Nachmittag nach Ierapetra komme, sind die Geschäfte schon wieder zu. Komisch, denke ich mir. Aber ist gar nicht komisch. Das sind nur die griechischen Öffnungszeiten. Die sind zwar generös, aber auch generös, was die Mittagsstunde betrifft, die auch schon mal, wie bei der Buchhandlung, vor der ich stehe, dreieinhalb Stunden dauern und erst um halb sechs enden kann.

Als dann geöffnet wird, kaufe ich nach langer Suche doch noch ein Buch. Und zwar Hardcore, als Reaktion auf die seichte Lektüre der letzten Wochen: das Buch eines Philosophieprofessors, der schon mehr als fünfzig Bücher veröffentlicht hat.

19. Dezember (Freitag)

Bei Jannis treffe ich nicht auf Jannis, dafür aber auf eine alte Frau, zierlich, klein, mit Stock und Kopftuch. Ich setze mich zu ihr auf die Bank vor der Taverne und wir kommen ins Gespräch. Sie artikuliert deutlich, macht kaum merkliche Pausen zwischen den Satzteilen, gebraucht Gesten, die mir das Verständnis erleichtern. Wunderbar. Sie sagt, indem sie auf Jannis Frau deutet: „Sie heißt Sophia.“ Dann zeigt sie auf sich und sagt: „Ich heiße auch Sophia.“ Und fügt hinzu: „Ich habe eine Schwester. Sophia ist die Tochter meiner Schwester.“ – „Ach so“, sage ich, „ihre Nichte.“ – „Ja, meine Nichte!“ Die geborene Lehrerin. Ich habe in der ganzen Zeit noch niemanden getroffen, der sich mit so viel Sensibilität und Verstand auf den Fremden eingelassen hat. Aufmerksam ist sie auch. Sie bemerkt, dass ich ins Schwitzen gekommen bin und will sogar aufstehen, um der „kleinen“ Sophia zu sagen, sie solle mir eine Serviette geben. Was auch sofort geschieht. Dann will sie sogar meinen Kaffee bezahlen. Ich nehme nicht an, frage mich aber nachher, ob ich das nicht doch hätte tun sollen. Dann erzählt sie die Geschichte – die am Ende tragisch, mit einem tödlichen Autounfall des Jungen endende Geschichte – von einem Jungen aus dem Dorf, der in Deutschland gearbeitet hat, eine Deutsche kennen gelernt und geheiratet und mit ihr zwei Kinder bekommen hat. Sie kamen regelmäßig mit den Kindern zu Besuch nach Kreta. Sie findet, und noch einmal verblüfft sie mich, das sei doch eine gute Sache. Zwei verschiedene Länder, zwei verschiedene Sprachen, zwei verschiedene Kulturen. Die Kinder könnten das Beste von beiden Welten erleben. Eine Frau, die ihren Namen verdient.

20. Dezember (Samstag)

Ich kenne das Wort für ‚dunkel‘, σκούρος, aber das für ‚hell‘ will mir einfach nicht einfallen. Es geht um die Blätter der Bäume. Ich durchkrame verschiedene Schubladen: Licht, Sonne, Morgen, Tag, aber es will sich nichts einstellen. Von denen kann man kein geeignetes Adjektiv ableiten. Ich muss nachfragen: ανοιχτός. Das heißt ‚offen‘ und ‚hell‘ gleichzeitig! Allerdings nur für Augen, Haut, Farbe. Es gibt, wie ich im Lexikon feststelle, noch ein anderes Wort für hell: φωτεινός. Ich hätte noch ein paar mehr Schubladen durchkramen sollen. Es hat was mit ‚Feuer‘ zu tun, und mit ‚Photo‘.

In Le rouge et le noir zeichnet Mathilde gedankenverloren ein Portrait. Erst als es fertig ist, merkt sie, dass es das Portrait von Julien, ihrem heimlichen Liebhaber,  ist. Dann versucht sie, weitere Portraits von ihm anzufertigen, aber keins wird so gut wie das erste. Eine Szene, die als Metapher auf viele andere Bereiche des Lebens übertragen werden kann.

21. Dezember (Sonntag)

„Männer, man hätte auf mich hören und von Kreta nicht abfahren sollen, um so dieses Ungemach und diesen Schaden zu ersparen“. So Paulus in der Apostelgeschichte. Ich schlage die Warnung in den Wind und mache mich davon. Aber mit Zwischenstation in Chania.

Ich mache mich früh auf den Weg. Kurz vor acht sieht man die ersten Bauern auf dem Weg zur Olivenernte. Die Fahrt geht gut. Nach 75 Minuten habe ich die 75 Kilometer nach Heraklion hinter mir. Das ist ordentlich für kretische Verhältnisse. Als es auf Heraklion zugeht, kommt viel Gegenverkehr, vielleicht Ausflügler, die Weihnachten im Süden verbringen.

Je weiter es nach Westen geht, umso grüner wird es. Jedenfalls ist die Vegetation viel dichter, und ganz nackte Felsen wie in der Umgebung von Myrtos findet man nicht. Hier wachsen auch die Zypressen, die früher mal halb Kreta bedeckt haben sollen.

Nach Heraklion geht es auf die New Road, die einzige richtige Fernstraße Kretas. Die ist gut ausgebaut, aber in diesem Bereich auch sehr kurvenreich. Und es sind Motorradfahrer und Radfahrer unterwegs, Rennradfahrer in großen Gruppen, alle in meiner Richtung. Die Motorradfahrer kommen komischerweise alle aus der anderen Richtung. Sie sind mit Höchstgeschwindigkeit unterwegs und kommen in den Kurven bis an den Rand der anderen Spur. Die dröhnenden Motoren und das plötzliche Erscheinen können einen schreckhaften Autofahrer schon beeindrucken, vor allem wenn der gerade eine Gruppe von Radfahrern vor sich hat.

Im mache Halt in Rethymnon. Pause und kurze Besichtigung. Die Stadt macht von vornherein einen tollen Eindruck: ein mächtiges, hoch gelegenes Kastell, zwei Häfen, eine Mole mit einem Leuchtturm am Ende, eine breite Strandpromenade mit Palmen auf beiden Seiten, enge Gassen, venezianische Häuser mit türkischen Holzerkern, und das alles bei strahlendem Sonnenschein. Ich finde das venezianische Loggia nicht, wohl aber den venezianischen Brunnen, den Rimondi-Brunnen, dessen Name, aber nur der Name, mir von damals noch bekannt vorkommt.

Es ist noch ruhig, an einem Sonntag um zehn ist die Stadt noch nicht erwacht. Im Sommer wäre mir hier zu viel Trubel. Die Geschäfte, Schmuck, Waffeln, Schiffsausflüge, Internetcafés, bedruckte T-Shirts, sind auf die Bedürfnisse von Ausländern ausgerichtet. Auch die Lokale am Hafen sind zu elegant und aufwändig für ein ausschließlich einheimisches Publikum.

Aber siehe da: Je weiter ich mich in den Gassen verliere, umso authentischer wird es: lärmende Kinder, Obstgeschäfte, ein Pope, der von allen gegrüßt wird, Männer auf dem obligaten Stuhl vor dem Haus. Und dann öffnen sich die Gassen plötzlich auf einen weiten, leeren Platz, an dessen einer ein großes Verwaltungsgebäude steht. An der gegenüberliegenden Seite reiht sich ein Kafeneion an das andere, das Gegenstück zu den eleganten Cafés am Hafen, mit einfachen, quadratischen Tischen und einfachen Korbstühlen, und lauter einheimischen Kunden.

Von der zweitschönsten Stadt Kretas geht es dann in die schönste Stadt Kretas. Oder ist es doch umgekehrt? Der erste Eindruck ist jedenfalls ernüchternd: Lärm, stockender Verkehr, Motorräder und Fußgänger, die sich zwischen den Autos durchwinden, die sich wiederum durch die zu beiden Seiten zugeparkten Straßen winden, riesige Hotelklötze und graue Bürobauten, wie man sie in Athen vermuten würde, und pünktlich zur Einfahrt in Chania fängt es auch noch zu regnen an. Unterwegs ist es seit Rethymnon ständig kälter und dunkler geworden.

Dann geht es irgendwie in die Altstadt. Hier eine ganz andere Atmosphäre. Kein Mensch auf den Straßen, alle Cafés geschlossen. Über ein Einbahnstraßensystem – hier passt gerade mal ein Auto auf den Fahrweg – wird man immer wieder rund geleitet. Ich kurve so lange herum, bis ich einen Parkplatz finde – für Anlieger. Ich bleibe trotzdem da stehen, packe meine Siebensachen und mache mich auf die Suche nach der Pension. Die liegt am anderen Ende der Altstadt, in einem kleinen Gässchen. Die Besitzerin, eine energische Hamburgerin, an deren Umgangston man sich erst gewöhnen muss, ist doch da. Eigentlich wollte sie mir nur eine Nachricht hinterlassen. Sie hat aber eine gute Nachricht: Das Auto kann ich stehen lassen. Im Winter alles kein Problem. Sie führt mich in das winzige Zimmerchen im ersten Stock. Das ist frisch renoviert, und sie legt gleich noch Hand an und bohrt zwei Löcher in den Boden für die Türverriegelung. Sie macht das mit der Selbstverständlichkeit, mit der wir den Knopf einer Kaffeemaschine bedienen.

Es ist unglaublich, wie sie das alles in dem winzigen Zimmer untergebracht hat: Bett, Schrank, eine kleine Anrichte, einen Kühlschrank, ein Bücherregal, einen Fernseher, einen Safe, eine Kaffeemaschine, ein Bücherregal und das ganz neue, moderne Bad.

Ich mache mich gleich auf den Weg, um die Sonnenstunden zu nutzen. Die Pension liegt am äußersten Ende des Hafenbeckens, etwas vom Ufer zurückgezogen. Dort steht das Handdenkmal. Es erinnert an ein Schiffsunglück, bei dem mehr als 200 Passagiere, die von hier nach Piräus unterwegs waren, ums Leben kamen. Ist noch gar nicht so lange her. Daraufhin wurde die ANEK gegründet, die Schiffslinie, mit der ich nach Kreta gekommen bin. Wie genau der Zusammenhang ist, weiß ich nicht. Das Denkmal, von einer Bildhauerin gestaltet, zeigt die Kanten des versinkenden Schiffes und eine aus dem Wasser herausragende Hand, der letzte Rettungsversuch eines Ertrinkenden. Hinter dem Schiff erscheinen zwei Pfeiler, jeder mit einem Leuchtturm obendrauf, vielleicht Start- und Zielhafen.

Ich gehe einmal am Hafen entlang. Der ist etwas zackig angelegt, so dass man mehrmals eine neue Perspektive hat, wenn man einen Zacken hinter sich lässt. Das Ensemble mit der langgestreckten Mole auf der einen Seite, mit einem Leuchtturm am Ende, und der Hafenpromenade auf der anderen Seite ist ausgesprochen schön. Und kommt mir bekannt vor. Als ich dann später die gleiche Sicht noch mal von der anderen Seite habe, bin ich sicher: Das ist eine der wenigen „Aufnahmen“, die noch von der ersten Kretareise da sind. Genau dieses Bild.

Ein Blickfang an der Uferpromenade ist die Moschee, oft Janitscharen-Moschee genannt. Es ist ein niedriges, rechteckiges Gebäude, das für seine Größe eine völlig überdimensionierte Kuppel hat. Vor der großen Kuppel sieben weitere kleinere Kuppeln. An einer Seite sieht man noch Marmorplatten mit arabischen Inschriften. Ob früher das ganze Gebäude verkleidet war? Ist das hier nur der Rohbau?

Dann kommt das Arsenal, das eher wie eine Loggia aussieht. Ein rechteckiges Gebäude, dessen Untergeschoss venezianisch und dessen Obergeschoss türkisch ist. Gerade das sieht mit einem großen gotischen Fenster an der Front venezianisch aus.

Dann kommen einige Lagerhallen, halbrund, sehr langgezogen, mit einer Giebelfassade zum Hafen, die meisten in schlechtem Zustand, aber trotzdem schön, entfernt an Barcelona erinnernd.

Sonst überall pastellfarbene Häuser, jedes etwas anders als das andere, praktisch alle in der Hand von Gastronomen. Dazwischen zwei moderne Häuser, die sich erstaunlich gut einpassen.

Am Ende dann noch einmal Lagerhallen, größer als die anderen. In einer soll die Minoa zu sehen sein, die Rekonstruktion eines minoischen Schiffs, das anlässlich der Olympischen Spiele gebaut wurde und tatsächlich  nach Athen fuhr. Aber die Halle ist geschlossen, und es gibt wie immer keine Information. Am nächsten Tag erfahre ich, dass sie im Winter geschlossen ist. Schade.

Nach einem Schwenker lande ich in der Neustadt. Fußgängerzone mit lauter, englischer Musik und Fressständen, gerammelt voll. Am Rande liegt die Markthalle, ein ungewöhnliche Einrichtung für Griechenland. Sie wurde, liest man, nach dem Vorbild der Markthalle von Marseille gebaut. Quadratisch, relativ klein, einstöckig, heutzutage stark auf touristischen Bedarf ausgerichtet, aber heute voller Einheimischer, die sich an den kleinen Imbissbuden der Fischstände versorgen. Alles ist sehr sauber, sehr adrett, hat aber wenig Atmosphäre. Und ich habe auch nie verstanden, was daran so reizvoll ist, in einer Markthalle zu essen. Aber den Leuten gefällt’s.

Ich lande zum Essen in einem kleinen, versteckt liegenden Lokal hinter den Lagerhallen, Doloma. Man sitzt unter einem Vordach, durch einen Platz mit Bäumen von der Straße getrennt. Es gibt Bureki, einen Kartoffelauflauf, vegetarisch. Schmeckt ganz gut, ist aber nichts Besonderes, gemessen an der Propaganda, die in der griechischen Küche dafür gemacht wird. Und die Portion ist winzig, so klein, dass ich erst denke, dass ist nur der Beilagenteller. Das wäre in meinen besten Zeiten nicht mehr als ein Appetithappen gewesen, und auch heute ist es wie eine Vorspeise.

22. Dezember (Montag)

Ein trostloser Morgen: grau, kalt, stürmische See, kein Mensch auf den Straßen, alle Cafés geschlossen. An der Strandpromenade weht der Wind, die Wellen werden auf den Gehsteig gespült, und irgendwo hört man als einziges Zeichen menschlicher Zivilisation eine Betonmischmaschine. Ich muss in ein anderes Stadtviertel gehen, um einen Kaffee zu bekommen. Ein kleines Eckgeschäft, ein Stehcafé. Ich mache einen Kommentar zum Wetter, aber der Wirt sagt: Nur heute. Für Weihnachten sind 20° angesagt.

Ich gehe ins Schifffahrtsmuseum, im alten Kastell untergebracht, direkt am Hafen, nur ein paar Schritte von der Unterkunft entfernt.

Gleich hinter dem Eingang gibt es ein schönes Modell vom venezianischen Chania. Man sieht die beiden gleichzeitig existierenden Stadtmauern, eine runde, um das Stadtviertel Kastelli herum, und eine rechteckige, um die ganze Stadt herum.  Die erste ist vermutlich älter und wurde stehen gelassen, als die neue hinzukam. Sie hat gerade Mauern, die neue schräg abfallende Mauern. Der neuen Mauer fehlt eine Seite. Da ist das Meer. Darum haben sie da die Hafenmole hingebaut, mit dem Leuchtturm, zur Kontrolle der Einfahrt in den Hafen. Heute fehlt der Mauer auch das Gegenstück zur Stadt hin. Das ist abgerissen worden bei der Stadterweiterung. An ihrer Stelle ist jetzt eine vielbefahrene Straße. Aber die beiden anderen Flügel, im Osten und im Westen, sind vollständig erhalten.

Neben dem Stadtmodell ein Kommentar zu der venezianischen Epoche, in dem typisch pathetischen Ton, in dem das hier gemacht wird. Von der „unendlichen und brutalen Sklaverei“ ist die Rede, von der „unermüdlichen Durchhaltevermögen“ und von der „nicht auszulöschenden Flamme des kretischen Freiheitswillens“ ist die Rede. Es habe 27 Rebellionen gegeben während dieser Zeit. Was damit gemeint ist, wird nicht genau ausgeführt, aber kleinlaut wird hinzugefügt, dass die fast alle in den ersten 150 Jahren stattfanden. Natürlich. Niemand rebelliert 450 Jahre lang. Die Menschen richten sich ein, viele profitieren von der Herrschaft, und die Venezianer haben hier einiges aufgebaut. Außerdem waren sie vermutlich klar in der Minderheit. Die meisten Kreter haben wahrscheinlich gar nicht gemerkt, dass es neue Herrscher gibt. Die haben auf dem Land gearbeitet und ihre Steuern bezahlt. An wen, war denen vermutlich ziemlich egal.

An einer anderen Stelle ist von den Epidemien, Erdbeben und Pirateneinfällen der Zeit die Rede. Darunter hat die Bevölkerung vermutlich viel mehr gelitten als unter den Venezianern.

Sehr gut, aber etwas unglücklich an einer Wand angebracht, eine ganze Auswahl von Karten Kretas. Man sieht, dass es von Ptolemäus bis zum Spätmittelalter immer gleich bleibt, gar nicht schlecht, aber ungenau. Dann wird es in kleinen Schritten immer besser, immer genauer. Und wer hat die Karten gemacht? Holländer, Deutsche und Italiener. Von Kretern keine Spur. Auf mehreren Karten ist die Bezeichnung Insula Candia, nicht Kreta. Der alte Name von Chania wurde für die ganze Insel gebraucht. Eine andere Karte setzt sich damals schon mit der Vielfalt der Städtenamen auseinander: Griechisch und Latein, alt und neu, offiziell und volkstümlich. Auf dieser Karte sind rings um die Insel herum Städtenamen angebracht, die alternative Bezeichnungen der Städte auf der Karte sind. Es gibt auch eine Karte, die auf die Hekatompolis Kreta verweist, das Kreta der Hundert Städte, ein Name, der für die „dunklen Jahrhunderte“ gebraucht wird, für die Epoche nach der Palastzeit, eine Epoche der politischen Fragmentierung, Resultat der Stärkung regionaler Zentren und der Einwanderung neuer Stämme.

Bei dem Freiheitskampf gegen das Osmanische Reich wurde die Handelsflotte in eine Kriegsflotte umgewandelt, heißt es. Aber wessen Handelsflotte? Hatte Kreta während der Osmanischen Herrschaft eine eigene, von den Osmanen unabhängige Flotte? Das wäre nicht gerade ein Zeichen von Unterdrückung. Wie dem auch sei, der Freiheitskampf Griechenlands, bei dem Kreta ja sowieso mit Verzögerung dran war, wurde natürlich nicht von Griechen, sondern von den europäischen Mächten geführt: England, Frankreich, Russland. Ohne die wäre das hier alles heute noch türkisch. Die werden aber hier nur am Rande erwähnt.

Im nächsten Raum eine Sammlung von Schiffsmodellen aus den verschiedenen Jahrhunderten. Komisch: Für den Laien sehen sie gar nicht so anders aus, obwohl teils mehr als tausend Jahre zwischen ihnen liegen. Man sieht Schiffe mit spitzem und mit rundem Bug mit flachem und mit tiefem Kiel, aber sie wechseln sich in den Zeiten ab und sind wohl eher von der Funktion des Schiffes abhängig. Zu einem Schiff heißt es, die wichtigste Neuerung sei die Küche gewesen! Darauf muss man erst mal kommen. Das bedeutet Komfort, aber auch Gefahr. Nichts ist gefährlicher für ein Schiff als Feuer. Also musste die Küche mit besonderen Planken eigens abgesichert werden. Das älteste Modell ist das eines minoischen Schiffs. Das hatte, wenn ich das richtig verstanden habe, zum ersten Mal einen Mast und zum ersten Mal ein viereckiges Segel. Kann man auch ohne Mast segeln? Vermutlich habe alle Schiffe neben den Segeln auch Ruder, aber nur bei einem Modell kann man die sehen: 50 auf jeder Seite! In drei Reihen übereinander. Die Löcher sind gerade groß genug für die Ruder, die Ruderer konnten vermutlich nichts sehen. Muss ein komisches Gefühl gewesen sein.

Dann kommt die Abbildung byzantinischer Herrscher. Die Gemälde sehen wie Ikonen aus, außer der letzten, bei der der Goldhintergrund fehlt und die Darstellung weniger hieratisch ist. Als wichtigster byzantinischer Herrscher gilt ein gewisser Nikiforos Fokas (IX), der erst die Sarazenen und dann die Piraten aus Kreta vertrieb und dann auch aus Zypern. Nomen est omen: Nikiforos heißt ‚Siegbringer‘.

Dann kommt eine Briefmarkensammlung, aus aller Welt. Motive sind Schiffe, Kapitäne, Erforscher, Häfen. Erstaunlich, wie oft es das auf Briefmarken gibt.

Dann kommt ein Raum, in dem antiken Seeschlachten mit kleinen Schiffsfigürchen dargestellt werden. Man sieht jeweils verschiedene Phasen und erkennt, auch wenn man die Details nicht versteht, wie viel von der Taktik abhängig ist. Bei Salamis sind die griechischen Schiffe in der Unterzahl, aber die persischen werden an den Landstreifen abgedrängt und sitzen in der Falle. Bei einer anderen Schlacht wird die Mehrheit von der Minderheit umzingelt.

Der letzte Raum unten ist Meerestieren gewidmet, meist Mollusken. Bei den Schwämmen steht ausdrücklich dran „Bitte nicht berühren“. Kann man verstehen, man will unwillkürlich zugreifen. Sie sehen wirklich wie Schwämme aus. Und das sind tatsächlich Tiere. Wer entscheidet das eigentlich?

Muscheln gibt es in allen Varietäten. Allein die Unterschiede in der Größe sind verblüffend. Die größte, die Riesenmuschel, aus zwei „aufklappbaren“ Hälften bestehend, kann bis zu 200 kg wiegen! Die kleinsten sind so klein, dass sie nicht einzeln präsentiert werden, sondern in einem Glasröhrchen, wie Minierdnüsse aneinandergereiht. Einige sehen aus wie Schalen, andere wie Kegel, andere wie Sterne, andere wie Schnecken, andere wie die weibliche „Muschel“, wieder andere wie Fibeln, einige sind matt, andere glänzend.

Auf dem Weg nach oben hängt an der Wand die Pfeife eines Schiffsjungen: gebogen, versilbert, erstaunlich zierlich, mit einer Kette. Sie kann nur zwei Töne produzieren, hoch und tief, aber durch die Kombinationen der beiden eine Vielzahl von Signalen senden. Erinnert ein bisschen an das digitale System. Diese Signale wurden auf Schiffen intensiv „geübt“. Man kann sich das Durcheinander gut vorstellen, wenn nicht alle dasselbe verstanden. Es gib Signale für Segel hissen, Licht an, Weitermachen und, das schönste von allen (tief – hoch –tief): Abendessen!

Oben läuft ein Video, in dem man sieht, wie eine Lloyd St. in Chania St. umbenannt wird. Ich frage mich die ganze Zeit, wo das ist. Hier auf Kreta? Es ist zwar sonnig und warm in dem Video, aber die Landschaft sieht nicht nach Kreta aus. Es ist Australien! Australien hat jede Menge griechischer Auswanderer, mit ganzen Stadtvierteln, die heute noch „griechisch“ sind.

Oben geht es um den Kampf um Kreta im 2. Weltkrieg. Anhand von Karten sieht man, wie sich die Sache entwickelte. Der Angriff der Nazis, am 21.5.1941 begonnen, basierte auf den Fallschirmspringern einerseits und auf Bombardierung aus der Luft andererseits. Die Alliierten – in diesem Fall Griechenland, England, Australien und Neuseeland – hatten dem nichts entgegenzusetzen. Sie verfolgten eine Doppelstrategie, um das Schlimmste zu verhindern: Versorgung des Landes und Verhinderung weiterer Landungen der Nazis einerseits und Evakuierung der eigenen Truppen nach Ägypten andererseits. Die Evakuierung erfolgte von zwei Punkten: Heraklion im Norden und Sfakia im Süden.

Warum war Kreta eigentlich so wichtig? Wenn die Deutschen es kontrollierten, kamen sie Ägypten und Palästina näher und konnten den Engländern auf die Pelle rücken. Wenn die Alliierten es kontrollierten, konnten sie von hier aus das griechische Festland angreifen. Das wurde zum großen Teil von Italien, zum kleineren Teil von Deutschland kontrolliert.

Man sieht Schaufensterpuppen mit britischer, australischer und neuseeländischer Uniform. Der britische Soldat trägt ein Schiffchen und Krawatte, die beiden anderen einen breitkrempigen Hut. Sie sehen legerer aus, eher wie Ranger.

Zum Abschluss gibt es noch eine Vitrine mit Objekten von der deutschen Wehrmacht: eine Gasmaske, Reinigungsmittel für die Gasmaske mit genauen Gebrauchsanweisungen, eine Broschüre zur Erkennung von britischen Kriegsschiffen, Fallschirmseide, ein verrostetes Bajonett,  Maschinengewehrreiniger und – als Höhepunkt – eine als unscheinbarer Kugelschreiber getarntes Schusswaffe. Wie aus James Bond.

Danach mache ich mich daran, dass Auto zu versetzen. Es ist fast zum Lachen, wie kompliziert das ist, von einem Ende der Altstadt zum anderen, mit all den Staus und Einbahnstraßen und schlechten Beschilderungen. Am Ende klappt es aber, und das Auto steht jetzt direkt am Handdenkmal. Das lange Herumgurken hat auch sein Gutes: Inzwischen ist das Wetter besser geworden.

Auf dem Weg in die Stadt komme ich wieder an dem Museum vorbei. Jetzt kann ich mir auch die Sachen vor dem Museum ansehen: ein riesiger Anker, ein riesiger Propeller, eine Sonnenuhr. Die besteht aus einem Kupferstab, der einen Schatten wirft. Der Schatten fällt auf ein fächerartiges Feld, das die Stunden anzeigt. Aber die Angabe stimmt nicht. Dann entdecke ich eine Tafel, auf der genau angegeben ist, wie viele Minuten zu welcher Jahreszeit abgezogen oder addiert werden müssen, Jetzt stimmt es! Hinten an der Wand zwei Bomben, in der typischen Form dicker Zigarren. Wenn sie etwas größer wären, könnte man meinen, es wären U-Boote.

In der Stadt fallen mir jetzt wieder die drei Lokale auf, an denen ich gestern der Reihe nach vorbeigekommen bin: Το Μαύρο Πρόβατο, Κ Πράσσειν Αλογα, Μαύρος Πέτεινος – Das Schwarze Schaf, Zum Grünen Pferd, Der Schwarze Hahn.

Dann komme ich an Doctor Fish vorbei, Fußpflege durch Fische, wie ich sie aus Malaysia kenne: For once, you’re the food for the fish. Aber kein Vergleich zu Malaysia. Die Becken sind kleiner und schwach besetzt, und der Ort hat keinerlei Atmosphäre.

Auffallend sind hier in Chania die vielen Messergeschäfte, Relikte aus der Zeit, als noch jeder Kreter ein Messer unterm Strumpf trug, für die nächste Vergeltungsaktion.

In der Neustadt haben sie eine Schaufensterpuppe vor das Geschäft gestellt, in traditioneller kretischer Kleidung, aber mit einem ganz modisch geschnittenen, grauen Anzug.

Im jüdischen Viertel, in den engen Gassen hinter der Unterkunft, wo jedes zweite Haus Lokal oder Hotel ist, wird der Name El Greco voll ausgeschlachtet: Es gibt das Hotel El Greco, das Hotel Domenico und das Hotel Theotokopoulou. El Greco wurde vermutlich in Fodele, einem Ort zwischen Heraklion und Chania geboren. Für die Griechen ist er Grieche, für die Spanier, trotz des Namens, Spanier. Genauso wichtig war aber seine Zwischenstation, Italien. Dort arbeitete er immerhin in der Werkstatt von Tizian.

Ganz in der Nähe gibt es in einer Seitengasse einen Torbogen mit einem schwer zu entziffernden Zitat von Horaz. Ohne den Reiseführer hätte ich noch nicht einmal den Torbogen gesehen. Die Schwierigkeit des Zitats beruht nicht nur darauf, dass es auf Latein ist, sondern auch auf der Anordnung. Es gibt zwei Zeilen übereinander, die beide durch einen Mittelstein in zwei Teile geteilt sind. Man hat also vier Teile und weiß nicht, wie man lesen muss, ganz wie bei den frühen nichtentschlüsselten Schriften. Man muss über den Mittelstein hinweglesen, und das tun die meisten nicht. Die zweite Schwierigkeit ist das am Ende ein in ein O eingeschriebenes verschnörkeltes s steht. Der Steinmetz hatte sich mit dem Platz verschätzt und musste jetzt zwei Buchstaben unterbringen, wo kaum Platz für einen war. Man kann das Zeichen leicht ganz übersehen. Ganz schön vertrackt.

Im Jüdischen Viertel ist die Synagoge erhalten, eine der wenigen Kretas. Hier leisteten die Deutschen in der Nazizeit ganze Arbeit. Die jüdische Bevölkerung wurde durch die Deportationen auf ein Minimum reduziert. Die war vorher, wie man an diesem, sehr zentral gelegenen Viertel sehen kann, von erheblicher Bedeutung.

An einer Straßenkreuzung raschelt es irgendwo. Hört sich fast rhythmisch an, so als wenn Läufer im Gleichschritt durch trockenes Laub laufen. Keine Ahnung, wo das herkommt. Dann sehe ich es: von oben. Es sind Johannisbrotbäume. Die sind kahl, haben aber noch ihre Schoten, und wenn der Wind durch sie  durchgeht, raschelt es.

Ich gehe zu der Bastion am anderen Ende der Altstadt. Hier hat man eine schöne Sicht aufs Meer, aber die kann man im Sommer besser genießen als jetzt. Auch hier oben wachsen Tamarisken. Man sieht hier, dass es Nadelbäume sein müssen: Der ganze Boden ist voller Nadeln, sieht aus wie bei uns im Fichtenwald.

Zum Essen gehe ich in ein Lokal am Rande der Neustadt. Die Straße ist nach Daskalojannis benannt. Der ist hier der große Held, auch der Flughafen ist nach ihm benannt. Er ist ein früher kretischer Freiheitskämpfer. Gestern bin ich an dem Lokal vorbeigekommen. Es war rappelvoll, lauter Einheimische. Heute ist es leer, ganz leer. Ich werde aber freundlich bedient und bekommt gutes Essen. Und eine größere Portion als gestern.

Die Stadtmauer um Kastelli verbirgt sich jetzt teils hinter einem Bauzaun. Auch über den Bauzaun hinweg kann man noch sehen, wie die Venezianer altes Zeug, Säulentrommeln aus der Antike zum Beispiel, in die Stadtmauer eingebaut haben, ohne falsche Reverenz vor der Antike. Die Säulentrommeln setzen sich in Form und Farbe von den anderen Steinen ab. Dieser Teil ist die  Keimzelle von Chania, des minoischen Vorläufers der Stadt. Hier wird ordentlich gegraben, man hofft noch auf sensationelle Funde. Es gibt schon Anzeichen dafür, dass hier ein weiterer minoischer Palast stand.

In Splantzia, dem ehemaligen Türkenviertel, dem Viertel mit der angenehmsten Atmosphäre, steht die Agios Nikolaos, die Kirche mit dem schönsten Photomotiv in Chania, trotz Hafen und Leuchtturm: Sie hat im Norden einen Campanile und im Osten ein Minarett. Beide friedlich vereint, Zeichen der wechselvollen Geschichte des Viertels und des Gebäudes. Davor hängt aber, wie zum Trotz, eine Leine mit Wimpeln, immer abwechselnd die griechische Flagge und die Fahne der orthodoxen Kirche.

Gleich in der Nähe hängt an einer Buchhandlung eine Weltkarte, auf der Schriftsteller eingetragen sind, jeder an seinem Ort. Die Auswahl ist natürlich problematisch. Deutschland hat Brecht und Kafka, aber nicht Goethe und Schiller, aber Griechenland hat nicht Kazantzakis, sondern Homer. Aber schöne Idee, ein echter Hingucker.

Am Eingang zur Altstadt gibt es tatsächlich Starbucks. Wer braucht in Griechenland Starbucks? Wer braucht überhaupt Starbucks? Selbstbedienung, Wartehallenatmosphäre, Plastikbecher, hohe Preise und schlechter Kaffee. Der Sieg der Werbung über den gesunden Menschenverstand.

In der Neustadt sehe an einem Imbissstand ein Schild, auf dem angeboten werden: Coffee, Cold Drinks, Shnacks.

Am Nachmittag gehe ich dann noch in ein Café im Stadtpark. Der Weg führt am Fußballstadion vorbei, dessen Masten ich immer wieder gesehen ab, schon vom Auto aus. Das Café ist wie ein klassisches Caféhaus. Als ich die Bestellung aufgeben will, nimmt mir der Kellner, der meinen Reiseführer gesehen hat, das Wort aus dem Mund: Hanoum Borek. Ein Gebäck türkischen Ursprungs, wie so viel in Griechenland, Blätterteich mit zerhackten Mandeln und Nüssen und einer Creme, nicht so ganz anders als Baklava.

Immer wieder stoße ich auf unterschiedliche Kennzeichnungen von Toilettentüren. Irgendwo heute oder gestern waren es Mickey Mouse und Minny Mouse und dieser Tage Slip und Unterhose.

Delta, Alpha und Lambda sind als Großbuchstaben oft nicht so einfach zu unterscheiden, je nach Schriftart. Manchmal stehe ich wie ein I-Dötzchen vor einem Wort und versuche, es zu entziffern. Ich suche Wörter, wo alle drei vorkommen, möglichst auf einem Schild mit Großbuchstaben, finde aber erst mal keins. Als Wort käme Ladi in Frage, Öl: ΛΑΔΙ.

 

.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Leave a Reply

Your email address will not be published. Required fields are marked *