16. Mai (Samstag)
Das fängt ja gut an: Ich komme nicht von der Fähre runter. Als schon kein Mensch mehr zu sehen ist, steht mein Auto eingeklemmt zwischen der Wand und ein paar Autos. Mit ein paar Gesten und ein paar Fragen versuche ich, herauszubekommen, was los ist, werde aber nicht schlau aus dem, was der Parkplatzwächter sagt. Er schreit, und dabei kommt μαλάκας immer wieder vor, das griechische Standard-Schimpfwort. Er scheint es auf mich zu beziehen, aber ich weiß nicht, womit ich mir das verdient habe. Ich bekomme dann aber heraus, dass zumindest das Auto, das parallel zu meinem steht, der Hauptschuldige, zu einem weiteren Passagier gehört. Wo der abgeblieben ist, scheint keiner zu wissen. Und ich bekomme heraus, dass der Wärter schon dreimal telefoniert hat, um die Sache zu melden. Da sich aber nichts tut, gehe ich hinauf zur Rezeption, aber die ist geschlossen. Als ich wieder nach unten komme, ist die Lage unverändert. Irgendwann erscheint ein anderer Wärter mit einem Schlüssel und setzt den Wagen vor mir raus. Ich komme aber immer noch nicht raus. Und auch nicht rein. Zu beiden Seiten ist kein Platz zum Einsteigen. Hinten rechts kann man sich wenigstens halb reinzwängen. Das macht einer der Männer, wobei er sich auf mein Gepäck stellt. Er löst die Handbremse und lenkt von hinten, während der andere schiebt. Jetzt kann ich losfahren. Als ich das Schiff verlasse, fahren schon die ersten neuen Lastwagen auf.
Piräus zeigt sich von seiner hässlichen Seite. Die geschlossene Wolkendecke, die keinen Sonnenstrahl durchlässt und der Dunst, der alles einhüllt, machen das auch nicht besser. Mein Handy spielt verrück, schickt mich immer im Kreis hin und her, tut nicht mehr das, was es am Abend vorher noch getan hat und gibt dann ganz seinen Geist auf. Kein Routenplaner, kein Anrufen. Eine weitere Episode in meinem konfliktiven Verhältnis zu elektronischen Medien. Wenn es drauf ankommt, funktionieren sie nicht. Was für ein Glück, dass ich im letzten Moment noch die Adresse in Thessaloniki und eine Kurzfassung der Wegbeschreibung auf Papier notiert habe!
Ein Mann an einer Tankstelle sagt mir, ich müsse mich immer Richtung Lamia halten. Gott sei Dank. Thessaloniki ist hier nirgends ausgeschildert, und auf Lamia wäre ich nicht gekommen. Die Umgebung ist unansehnlich, es ist schon viel los auf den Straßen, alles ist Grau in Grau, und ich werde immer müder.
Als die Mautstrecke anfängt, wird es etwas besser. Es klart etwas auf, die Umgebung wird ansehnlicher, und ein Kaffee auf dem allerersten Rastplatz weckt müde Geister.
Und der Verkehr lässt nach. Kein Wunder, die Sache gibt es nicht umsonst. Immer wieder kommen Mautstationen in Sicht, insgesamt 12 bis Thessaloniki, für insgesamt 30.40 € ist die Fahrt zu haben. Die Autobahn ist allerdings vorzüglich, teils dreispurig, teils kilometerweit mit Beleuchtung versehen. Aufwändig auch die vielen Tunnel, einer davon über zwei Kilometer lang.
Erst kommt das Meer in Sicht, dann verschwindet es wieder, dann kommt es wieder. Der schönste Streckenabschnitt ist der, als es von der Autobahn runtergeht, eine kurvenreiche Strecke mit Bergen und üppiger Vegetation zu beiden Seiten. Auch sonst ist es ziemlich grün, mit leuchtendem Ginster gleich am Rande der Autobahn als einzigem anderen Farbtupfer. Als es auf Thessaloniki zugeht, kommt man durch eine Ebene, die eher langweilig ist.
Eine Abfahrt führt nach Thiva, das kaum noch als das antike Theben zu erkennen ist, aber zwei wichtige Lautwechsel illustriert. Auch zu den Thermopylen geht es ab, und irgendwann kommt ein schneebedeckter Berg in Sicht – der Olymp!
Thessaloniki ist in lateinischer Schrift nur ein <s>, obwohl es im Griechischen zwei hat, Larissa hat in lateinischer Schrift zwei, obwohl es im Griechischen nur eins hat. Später ist Thessaloniki allerdings immer mit zwei <s> geschrieben. Vielleicht war es nur ein Fehler, aber auch der illustriert, wie schwierig es ist, eine angemessene Umschreibung zu finden.
In Thessaloniki finde ich tatsächlich die erste Straße, an der ich abbiegen muss. Aber dann fängt die Suche an. Die Wegbeschreibung enthält weitere sechs Straßen, und da ich die zweite nicht finde, finde ich auch die folgenden nicht. Das ist auch kein Wunder. Die Straßennamen sind oft schlecht oder zu spät zu erkennen oder gar nicht vorhanden, und Einbahnstraßen und die Dynamik des Verkehrs verhindern manchmal das Abbiegen dort, wo man es tun müsste. Der Verkehr ist dicht gedrängt, mit Autos, die auf dem Fahrstreifen halten und Motorrädern, die rechts und links überholen. An Parken ist nicht zu denken. Irgendwann komme ich an einer Kirche vorbei, an der gerade eine Busladung Touristen aussteigt. Die kenne ich! Agios Demetrios, eine der Szenen, die ich noch von damals, einem kurzen Besuch in Thessaloniki, in Erinnerung habe.
Irgendwann komme ich auf die Olympiados, eine der Straßen, die in der Wegbeschreibung vorkommen. Die ist auch groß, aber weniger befahren. Und ich finde einen Parkplatz. In einem Café hilft mir ein junger Mann mit seinem Handy. Er ist in der Schweiz aufgewachsen und kramt jetzt in seinem Gedächtnis nach deutschen Wörtern, um mir den Weg zu erklären. Am Ende bleibt es bei einer groben Richtungsangabe, aber damit bin ich zufrieden.
Dann folgt der vergebliche Versuch, eine der Straßen zu finden, die er mir angegeben hat. Ich komme aber am Lidl vorbei, das auch in der Wegbeschreibung auftaucht. Dann wieder parken, aussteigen, in einem Geschäft fragen. Wieder wird ein Handy hervorgeholt, diesmal von einer jungen Frau. Sie ist sehr freundlich und bittet mich um Geduld, weil alles so lange dauert. Sie gibt dann eine genaue Erklärung, und nach mehreren Runden um den Block komme ich tatsächlich in die nächste richtige Straße, eine schmale, steil ansteigende Gasse. Unglaublich, und das mitten im Zentrum der Stadt. Dann ist aber alle Hoffnung verloren. Ich parke wieder und mache mich zu Fuß auf den Weg. Auch hier kennt niemand die Straße. Dabei lohnt es sich schon, sie wegen ihres Namens zu kennen: Bouboulinas.
Glücklicherweise ist es hell und warm, und zum ersten Mal an diesem Tag kommen ein paar Sonnenstrahlen zum Vorschein. Ich lande in einem Park, in einer Taverne und frage Frauen, die hoch oben auf Balkonen sitzen. Ich frage auch nach den anderen Straßen, da hat man eher Erfolg, aber von denen gerate ich dann wieder ins Abseits. Immer wieder komme ich an Stellen vorbei, an denen ich schon war. Und dann sehe ich auf einmal die Fassade vor mir, wie ich sie aus dem Internet kenne, ohne jemals die Straße gefunden zu haben. Am Ende hat die Fahrt fünf Stunden und die Wohnungssuche zwei Stunden gedauert.
Die Begrüßung ist sehr freundlich und bestätigt den guten Eindruck von der Korrespondenz. Die Vermieterin, Sofia, wohnt selbst auch hier, im ersten Stock. Meine Wohnung ist eine Einliegerwohnung ganz unten. Ich brauche noch nicht einmal die Treppen rauf! Die Wohnung hat alles, was man braucht, vom Wasserkocher bis zur Waschmaschine, und ich bekomme eine gründliche und geduldige Einweisung in die Funktionsweisen verschiedener Geräte. In den Schränken ist ein Grundvorrat an Tees und Kaffees, im Kühlschrank kaltes Wasser, und auf dem Tisch stehen ein Teller mit Obst, eine Vase mit Blumen und eine Falsche Wein! Willkommen!
Vorher und nachher gibt es aber ein sehr willkommenes Glas Wasser und dann einen Frappé auf Sofias Balkon. Von hier aus sieht man auf die Unterstadt hinunter, mit dem Meer ganz hinten.
Sofia hat dieses Haus selbst gebaut, zusammen mit ihrer Schwester, die oben wohnt, und ihrem Bruder, der in der Mitte wohnt. Das Elternhaus ist gar nicht weit weg, in der Nähe von Agios Demetrios.
Sofia ist pensionierte Englischlehrerin und spricht auch Türkisch. Das hat sie von ihren Großeltern gelernt, die untereinander nur Türkisch sprachen und nach der „Kleinasiatischen Katastrophe“ in diese Gegend kamen. Sie hat dann genau das Richtige gemacht, damit die Kenntnisse nicht verloren gingen: Drei Jahre Unterricht und anschließende viele Reisen in die Türkei. Sie hat Freunde dort und besucht sie regelmäßig. Ich erzähle von der bevorstehenden Hochzeitsfeier in Istanbul und erfahre, dass ich auch gut mit dem Bus nach Istanbul hätte reisen können. Das dauert nicht so allzu lange und ist sehr preisgünstig. Auch mit dem Auto wäre es gegangen, aber als Alleinreisender wäre das teuer gewesen.
Sie geht am Abend in ein Gospel-Konzert und will mich gleich mitnehmen. Das ist eine nette Geste, aber ich bin einfach zu müde. Ihre Schwester, sagt sie, ist Mitglied in einem Wanderclub, und da könnte ich sonntags auch mal eine Wanderung mitmachen. Das hört sich alles sehr verlockend an.
Vergina, mit den Grabschätzen Philipps II., ist für sie das schönste Museum, das sie je gesehen hat. Sie fährt immer wieder dorthin. Ich erinnere mich, dass ich auch sehr beeindruckt war. Außerdem spricht sie von einem Bad, in dem es heiße und kalte Quellen und einen Wasserfall gibt, in einem Ort namens Pozar, schon fast an der Grenze zu Mazedonien. Ganz in der Nähe ist Pella, die alte Hauptstadt des Makedonischen Reiches, und von dort startet der Marathon von Thessaloniki.
Eine ihrer Nichten ist in Deutschland, und zwar ausgerechnet in Münster, und schreibt dort ihre Doktorarbeit, in einer naturwissenschaftlichen Disziplin, auf Englisch. Eine andere ist in der Schweiz, in der Nähe von Zürich. Dort ist auch der Bruder, aber den Zusammenhang verstehe ich nicht ganz.
Für den nächsten Tag gibt es gleich eine Einladung zum Mittagessen. Und am Abend bringt sie mir noch Honig für meine Erkältung und kündigt für den nächsten Tag ein Wunderheilmittel mit Ingwer an.
17. Mai (Sonntag)
Am Vormittag ein Spaziergang durch das Viertel und dann runter in die Unterstadt und zum Meer. Die Unterstadt ist ganz anders, mit breiten Boulevards, im Schachbrettmuster angelegt. Das hat seinen Grund: Es hat verschiedene verheerende Brände gegeben, der letzte und schlimmste davon 1917. Nach dem hat man die Unterstadt neu gebaut.
Den geraden, breiten Straßen der Unterstadt entsprechen die krummen und schiefen Gassen der Oberstadt. Adrette Häuser mit farbig gefassten Fassaden, Erker, überdachte Balkone, viel Holz, verzierte Torgitter, Pergolen mit Ranken, das ist die eine Seite. Die andere: bröckelnder Putz, verfallene Häuser, verschmierte Fassaden, Unkraut, das sich den Weg zwischen den Mauerspalten sucht. Alles sehr authentisch. Überall posieren Katzen, so als wollten sie photographiert werden. Was auch geschieht.
Unsere Gasse führt steil nach oben. Durch ein Tor kommt man zur anderen Seite der Stadtmauer, die hier noch erhalten ist. Die Kirche, die hier auch in der Gegend ist, Agios David, finde ich nicht, aber das spielt keine Rolle.
Unten gehe ich bis zum Meer und dann an der breiten Meeresfront bis zum Weißen Turm. Hier laufen Jogger entlang, wie Sofia schon angekündigt hatte, und es gibt sogar einen breiten Fahrradstreifen. Auf der anderen Seite gehe ich dann zurück, vorbei an einer endlosen Reihe von Straßencafés, die alle voll sind. Der Autoverkehr scheint niemanden zu stören. Dieses Bild habe ich auch noch von damals in Erinnerung.
Anders als auf Kreta sieht man hier ältere Menschen mit Rollator. Und man sieht Bettler. Die haben am Sonntagvormittag vor den Kirchen Stellung bezogen. Anders als in Kreta sind auch alle Geschäfte sonntags geschlossen.
Auch eine türkische Familie, offensichtlich Touristen, fällt aus der Reihe.
In einem Schaufenster steht μεταφερθηκαμε. Dafür braucht man im Deutschen drei Wörter: Wir sind umgezogen. Das ist bei der Sprachproduktion für Ausländer ein Problem: Man muss Tempus, Person und Bedeutung in eine Form packen.
In einem modernen Gebäudekomplex beim Weißen Turm suche ich lange nach der Touristeninformation. Erst später sehe ich am Eingang, dass die umgezogen ist, auf den Aristoteles-Platz. Ist aber heute ohnehin geschlossen. Trotzdem gehe ich zum Aristoteles-Platz, etwa in der Mitte der Altstadt gelegen. Der zieht sich lang und breit ein ganzes Stück nach oben. In einer Konditorei hilft mir eine sehr freundliche Bedienung bei der Auswahl von Gebäckstücken als Mitbringsel für die Einladung zum Mittagessen.
Bei dem ist auch Sofias Schwester, Ana, zugegen. Man sieht ihnen an, dass sie Schwestern sind. Ana ist Musiklehrerin an einem Gymnasium. Es geht jetzt auf das Ende des Schuljahres zu. Man befindet sich in der Prüfungsphase. Das scheint mehr Ruhe zu bedeuten.
Es gibt ein scharfes Reisgericht, Rezept einer ehemaligen Mieterin, einer Jamaikanerin. Dazu gibt es Salat, und danach wird ganz vorsichtig von dem Gebäck probiert. Hier wird auf die schlanke Linie geachtet. Dann bekomme ich noch das Wunderheilmittel gegen Erkältung verabreicht, Ingwer mit Honig vermischt. Die zähflüssige Masse lässt man ganz langsam die Kehle runter laufen.
Die beiden sind gute Gesprächspartner, erzählen von sich und fragen nach und helfen mir durch geduldiges Wiederholen und durch Einspringen bei den schwierigen griechischen Verbformen. Sie finden, ich hätte den gleichen Akzent wie eine Frau aus ihrem Bekanntenkreis, eine Deutsche. Meinen eigenen Akzent höre ich nur manchmal.
Sofia hat auch einen Lesekreis. Als nächstes ist Lolita von Nabukov dran. Sie meint, ich könne durchaus mal mitkommen. Das wär was.
Am Abend beginne ich mit der Lektüre von Onkel Wanja. Das läuft hier im Theater, noch eine Woche. Es stellt sich aber schnell heraus, dass das selbst dann noch zu schwer sein wird, wenn ich den Text vorher gelesen habe.
18. Mai (Montag)
Am Morgen geht es zuerst zu Lidl. Jetzt merke ich erst, wie nah es dorthin ist. Jedenfalls zu Fuß. Als ich gestern nach den Öffnungszeiten sehen wollte, fand ich keine. Das liegt daran, dass sie am Schaufenster hinter dem Rollladen angebracht sind. Man kann also nur sehen, wann geöffnet ist, wenn geöffnet ist.
Drinnen ist es trotz der frühen Stunde schon voll. Eine Frau in der langen Schlange an der Kasse stellt laut eine Frage, die ich mir auch stelle: Wo wiegt man hier die Tomaten? Antwort: An der Kasse. Das ist in Griechenland ungewöhnlich.
Dann geht es zu dem Handyladen, den Sofia mir auf der Karte eingezeichnet hat. Unterwegs komme ich an einem Imbissstand vorbei, in dem es Κότσι gibt. Hört sich nicht so appetitlich an.
Mit dem Mann im Handyladen wechsle ich auf Englisch wegen der technischen Schwierigkeiten, aber das erleichtert die Kommunikation nicht. Er schickt mich aber sowieso weiter zu einem Nokia-Laden. Dort bleibe ich dann lieber beim Griechischen. Der Mann hinter der Theke, ein sehr ruhiger, fast sanfter Typ, der gar nicht der Vorstellung des typischen griechischen Mannes entspricht, ist völlig überrascht. Sowas hat er noch nie gesehen. Er holt eine Lupe, um überhaupt entziffern zu können, was auf dem Bildschirm steht. Er will sich an der Sache versuchen. Wenn es nicht klappt, muss er das Handy einschicken.
In der Zwischenzeit mache ich mich auf den Weg zur Buchhandlung, lande aber in einer anderen Filiale als der, die Sofia empfohlen hatte. Dort ist ein ganz, ganz freundliches kleines Mädchen, das mich sofort anspricht und mich zu den Reiseführern von Thessaloniki führt. Ich nehme zwei kleine mit.
Danach geht es zur Touristeninformation. Gar nicht so leicht zu finden. Sie ist in einem Kiosk ganz unten am Aristoteles-Platz untergebracht. Vor mir ein junges deutsches Paar, nach mir ein älterer deutscher Mann. Der fragt als erstes in einem etwas fordernden Ton: „Sprechen Sie Deutsch?“
Auf dem Weg kann man gut erkennen, welche Bedeutung die Zebrastreifen für den Verkehr haben: keine. Gar keine. Sie dienen lediglich der Dekoration.
Da es noch zu früh für den Handyladen ist, gehe ich in ein Café am Rande der römischen Agora. Man sieht in die Ausgrabungsarbeiten hinunter. Ich sehe mir die Broschüren der Touristeninformation an, und plötzlich steht Sofia vor mir. Sie saß wohl in demselben Café, aber wir hatten uns nicht gesehen!
Die Toilette in dem Café ist gekennzeichnet mit einem Mann, der sich windet und sich die Hände vor den Schoß hält, wie einer, der vor dem verschlossenen WC steht. Bei den Frauen eine ähnliche Gestalt, aber der Mann wirkt authentischer.
Als ich dann wieder zu dem Handyladen komme, ist das Handy tatsächlich repariert. Aber alle Daten sind futsch. Der Mann ist sehr geduldig und richtet das Handy gebrauchsfertig für mich ein. Es ist, als ob man ein neues Handy gekauft hätte. Als ich später mein Konto aktiviere, kommen aber viele Daten wieder zum Vorschein. Die ganze Aktion kostet nichts!
Am Nachmittag lädt mich Sofia auf die Terrasse zum Kaffee ein. Dort stellt sie einen Mann vor, der in der Nachbarschaft wohnt. Ich habe ihn dieser Tage flüchtig gesehen. Ich erfahre, dass morgen ein wichtiger Tag ist, ein Tag, der in Griechenland als Trauertag gilt und in der Türkei mit einem Meer aus roten Fahnen gefeiert wird. Sofia war schon mal dabei. Es ist der Beginn des türkischen Unabhängigkeitskriegs, der „Befreiungsschlag“ der Türkei unter Atatürk, nachdem die Mächte der Entente das alte Osmanische Reich praktisch aufgeteilt hatten und Griechenland Smyrna besetzt hatte, um sich Kleinasien einzuverleiben.
Später, als der Mann sich verabschiedet hat, sprechen wir fast eine Stunde über Bücher und über Lesen, ausnahmsweise auf Englisch. Sofia war eine echte Leseratte, lässt sich jetzt aber nach eigenem Bekunden gerne vom Internet ablenken. Sie hat auch einen Kindle, und auch sie hat ihn geschenkt bekommen.
Ich erzähle noch etwas detaillierter, wie ich auf ihre Wohnung gekommen bin und welche Zufälle dabei eine Rolle spielten. Sie sagt nachdenklich, einige Dinge im Leben sollten wohl einfach geschehen. Es gibt Menschen, die unseren Weg kreuzen und irgendetwas hinterlassen. Manchmal hätten sie damit ihre Rolle erfüllt und würden dann wieder in den Hintergrund treten. Das müsse man akzeptieren. Sie erzählt von einer Freundin, die es bedauert, dass ihr Verhältnis jetzt nicht mehr so eng ist wie früher. Sie ist jetzt verheiratet, und ausgerechnet Sofia hat ihr den Mann vorgestellt, der dann ihr Ehemann wurde. Sie habe jetzt ihre Rolle gespielt, meint Sofia, das Verhältnis sei weiterhin gut, aber nicht mehr so eng, das gehe jetzt einfach nicht mehr.
Am Abend mache ich noch einen Spaziergang in die Stadt. Eigentlich ergebnislos, denn es hieß, dass heute, am Tag des Museums, bei den Sehenswürdigkeiten Sonderveranstaltungen stattfinden sollen. Aber es ist nichts zu sehen, und alles ist geschlossen. Unten, hinter dem Weißen Turm, gibt es Live-Musik, aber das hat mit dem Museumstag nichts zu tun. Bei der lauen Luft ist es am Wasser besonders schön, zumal man die Sonne am Horizont untergehen sieht, aber auch in der Stadt herrscht eine schöne, sommerliche Atmosphäre. Es ist noch mächtig was los. Vor allem junge Leute sind unterwegs. Zu essen gibt es alle paar Meter was, und davon wird auch reichlich Gebrauch gemacht. Man hat nicht gerade den Eindruck, in einem armen Land zu sein. Aber die Armut sieht man natürlich auch nicht so ohne weiteres, außer bei den Bettlern und denen, die den Abfall nach Brauchbarem durchsuchen. Ich erinnere mich an gestern, als Sofia über die Kreter schimpfte. Die hätten genug zu essen und kapierten nicht, was in anderen Teilen Griechenlands passiere.
Ich komme ungeplant am Galerius-Bogen vorbei, den ich bisher noch nicht gesehen hatte. Außerdem an Agios Demetrios, Agias Sofias und Profitis Ilias. Die ist ganz in der Nähe der Wohnung und war mir schon dieser Tage durch ihr verwinkeltes Äußeres aufgefallen.
An einem Platz sehe ich einen Baum mit einer einzigen, nicht identifizierten Frucht ganz oben. An der Meeresfront sehe ich, nur durch eine Photographin, ein ganz ungewöhnliches modernes Haus, treppenartig abgestuft. Auf dem Rückweg sehe ich erleuchtetes Schild, auf dem steht: 24 h γάλα. Es bedeutet tatsächlich das, was es zu bedeuten scheint: Hier bekommt man 24 Stunden lang Milch! Aus dem Automaten. Und an einem Imbissstand steht: Ατομική πίτσα. Die Pizza ist in Atome aufgeteilt!
19. Mai (Dienstag)
Wach werde ich von einem Geräusch, so als ob Eisenstangen auf dem Asphalt hüpfen. Aber wer bringt die in Bewegung? Sind es Katzen, die sich an den Mülleimern zu schaffen machen?
In dem kleinen Durchgang nach oben steht eine kleine Kommode, genau die gleiche, die bei mir steht! Sofia hat sie tatsächlich von einer früheren Mieterin, die sie aus Spanien mitgebracht hat und dann hier lassen musste, weil sie nach Amerika zurückging. Verrückter Zufall!
Am Morgen der erste Lauf, bei herrlichem Wetter bis zum Weißen Turm und zurück. Davor schon eine zweite Lauf-Aktivität, Anmeldung zu einem Lauf, der diese Woche hier stattfindet. Sofia hat mir den Link geschickt. Es ist ein ganz offener Lauf, der über 72 Stunden stattfindet. Man kann jederzeit einsteigen und aussteigen.
Am Vormittag führt mich Sofia durch die Stadt. Sie zeigt mir, wo es billige Hausmannskost gibt, wo die Buchhandlung ist, die ich verpasst habe, wo die beste Bäckerei von Thessaloniki ist. In einem Handyladen sorgt sie für die Auflandung meines Handys mit einem sehr günstigen Gesamtpacket, in dem auch das Internet enthalten ist. Wir gehen auch durch den überdachten Markt, an dem ich schon mal vorbeigekommen bin, und ich erfahre, dass die Agias Sofias jetzt Fußgängerzone wird. Das ist das Wirken des Bürgermeisters, über den ich in einen Artikel in einer deutschen Zeitung gelesen habe. Sofia sagt: „Wir haben keinen guten Präsidenten, wir haben keinen guten Ministerpräsidenten, aber wir haben einen guten Bürgermeister.“
In einem Café bekomme ich zum Kaffee Trigona zu probieren, die bekannteste Spezialität Thessalonikis, was Süßigkeiten angeht, eine Art Hörnchen mit Cremefüllung. Schmeckt gut, aber muss man nicht jeden Tag haben. Sofia verzichtet ganz. Sie steht mehr auf kräftigem Zeug.
Sie fährt Anfang Juni in die Schweiz, um ihrem Bruder zu helfen. Der ist mit seiner griechisch-schweizerischen Ehefrau in die Schweiz umgesiedelt. Dort kümmern sie sich um die kranke Mutter der Ehefrau. Er ist inzwischen dort ganz heimisch geworden, hat die Schweizer Staatsbürgerschaft angenommen, ist politisch aktiv und möchte gar nicht mehr nach Griechenland zurück. Seine Frau hat dagegen Sehnsucht nach Griechenland, dem fremden Zuhause.
Als ich mich für ihre Hilfe bedanke, sagt sie, sie tue das gerne. Sie habe im Leben so viel Hilfe von anderen erfahren, dass sie das gerne weitergebe. Genauso ist es: Wir nehmen von den einen und geben den anderen.
Ich gehe dann alleine weiter und finde gleich gegenüber von dem Handyladen das ideale Geschäft, eine Weinhandlung, die die Flaschen mit eigenen, selbstgefertigten, mehr oder weniger individuellen Etiketten versieht. Die rundliche Verkäuferin ist in München aufgewachsen und kann noch genug Deutsch, obwohl sie schon mit zehn nach Griechenland kam. Ich bringe die Flasche nach nebenan und sage artig Dankeschön und wende mich dann profaneren Dingen wie Mülleimerbeuteln und Waschmitteln zu.
Als ich zuhause ankomme, stehen schon Spaghetti al pesto auf dem Tisch. Sofia entschuldigt sich in Endlosschleife, dass sie versalzen sind, aber so schlimm ist es nicht. Sie erzählt, wie ihre couragierte Mutter dafür sorgte, dass die jüngere Tochter ein Klavier bekam, gegen den Willen des Vaters, der fand, dass sie sich noch nicht einmal eine Unterhose leisten konnten und für den ein Klavier unnötiger Luxus war. Und sie erzählt, wie die Mutter für ein Grundstück sorgte, auf dem die Kinder ihr gemeinsames Zuhause errichten konnten. Sie konnte selbst nicht mehr hier einziehen, sah das Projekt aber noch vollendet. Die Wohnung, die für die Eltern vorgesehen war, ist die Einliegerwohnung, die jetzt vermietet wird. Ihre Mutter, unglaublich für eine Griechin in den siebziger Jahren, billigte auch ihre Entscheidung, mit 19 nach London zu gehen und dort ihr Diplom zu machen. Mit einer Auflage: Sie bekam nur die Hinfahrt bezahlt. Sie kam dann mit dem Diplom zurück und machte ihre eigene private Schule auf, ein Frontistirio. Das war offensichtlich eine lukrative Sache, genau so, wie es im Griechischkurs in Santorin geschildert wurde.
20. Mai (Mittwoch)
Am Morgen passiert etwas, das ich gar nicht auf der Rechnung hatte: Regen. Wird immer doller. Jetzt weiß ich auch, wozu die Rinnen in der Mitte der Straßen dienen. Das Wasser rauscht runter wie in einem Gebirgsbach. Dann beruhigt sich die Sache, und entgegen der Vorhersage kommt schließlich sogar die Sonne raus. An einer Apotheke, die allerdings zu Übertreibungen neigt, werden am Nachmittag 30° angezeigt.
Ich gehe zum Weißen Turm. Da ist eine Art Stadtmuseum untergebracht. Na ja, nicht ganz, zu sehen gibt es eigentlich nichts, aber auf jeder der sechs Etagen gibt es Darstellungen zur Geschichte von Thessaloniki. Man könnte Tage hier verbringen, aber das kann man genauso gut in einem Buch nachlesen. Eine erstaunlich breite Treppe führt von Geschoss zu Geschoss. Jedes hat einen zentralen runden Raum und ein paar kleine weitere Räume, die daran angrenzen.
Thessaloniki wurde von Kassander gegründet – nach dem eine der großen Querstraßen ganz hier in der Nähe benannt ist – und nach seiner Frau, der Halbschwester Alexanders des Großen, benannt. Es war keine eigentliche Neugründung, sondern eine Zusammenfassung verschiedener bereits existierender Siedlungen. Dieses Gebiet wurde schon früh besiedelt, wegen des fruchtbaren Bodens. Der hat seinen Grund in den Flüssen, die hier in den Thermäischen Golf münden.
Nach der türkischen Eroberung 1487 lebten zunächst die verschiedenen Ethnien gemischt, erst dann bildeten sich Stadtviertel aus. Auf der Karte kann man die Verteilung gut sehen: die jüdischen Stadtviertel im Süden, die türkischen in Norden, die christlichen in der Mitte.
Die Größe der Stadt wurde lange durch die Stadtmauer bestimmt. Am Ende des 5. Jahrhunderts hatte die schon den gleichen Verlauf wie noch im 19. Jahrhundert! Dann, mit der Europäisierung der Türkei, mit der Industrialisierung und mit dem Bevölkerungswachstum, begann man die Mauer allmählich abzureißen, zuerst die zur Meeresfront hin. Da entstand dann der breite Kai, der heute Flaniermeile ist. Dann wurde die Mauer im Osten abgebrochen, die Stadt dehnte sich weiter nach Osten aus, und dort entstanden die Villen der neuen Bourgeoisie. Zur Neugestaltung der Stadt kamen auch ausländische Architekten in die Stadt, jüdische, italienische und deutsche.
Der Brand von 1917 war eine echte Zäsur. Ein Drittel der Stadt wurde zerstört, fast die Hälfte der Bevölkerung obdachlos. Man sieht Filmaufnahmen von dem Brand, mit Flammen, Rauch und vor allem Funken, die in alle Richtungen stieben. Der Wind trug dazu bei, dass der Brand so verheerende Folgen hatte, ebenso wie die Bauweise der Häuser, der Wassermangel (klingt irgendwie paradox bei der Nähe des Meeres) und das Fehlen einer organisierten Feuerwehr.
Die neue Stadtplanung wurde einem Franzosen übertragen, und das sieht man förmlich. Der Plan sieht aus wie der von Hausmann in Paris. Die Bauweise der Häuser ist allerdings moderner, aber auch hier haben viele Häuser die gleiche Geschosshöhe, und alle sind gleich ausgerichtet, mit ihren breiten Fronten zum Meer hin.
Von den vielen Kirchen, die vorgestellt werden, hat eine den kuriosen Namen Αχειροποίητος. Das bedeutet ‚nicht von Hand gemacht‘ und bezieht sich wohl auf eine Ikone, die es hier gab. Die war so besonders, dass sie nicht von Menschenhand gefertigt sein konnte. Dies ist die älteste Kirche Thessalonikis und auch die erste, die in eine Moschee umgewandelt wurde. Davon zeugt noch eine Inschrift auf einem Pfeiler der Kirche. Nach 1912 diente die Moschee dann der Aufnahme von Flüchtlingen und wurde dann später wieder in eine Kirche umgewandelt.
Besondere Bedeutung hat Agios Demetrios als Kirche des Schutzpatrons von Thessaloniki. Sie steht auf den Ruinen eines römischen Bades, an der Stelle, wo Demetrios hingerichtet wurde. Dort entstand zunächst eine Kapelle, dann eine dreischiffige und nach deren Zerstörung eine fünfschiffige Kirche. Die erste Kirche wurde offenbar durch ein Erdbeben zerstört. Demetrios wurde zu einem wichtigen Wallfahrtsort. Hierher kamen Pilger, um in Bleifläschchen Myrrhe mitzunehmen, das besondere Kennzeichen des Heiligen. Diese Fläschchen wurden bei Ausgrabungen überall in Thessaloniki gefunden. Am Patronatsfest fand ein Markt statt, der zum wichtigsten von Makedonien wurde und Besucher aus anderen Ländern anlockte, sogar aus Spanien.
In einem anderen Geschoss geht es um den Makedonischen Kampf. Irgendwo habe ich ein Museum gesehen, das sich diesem Kampf widmet, hatte aber keine Ahnung, worum es ging. Die Sache bezieht sich auf die Situation am Anfang des 20. Jahrhunderts, als Makedonien noch zum Osmanischen Reich gehörte, obwohl Griechenland schon seit Jahrzehnten unabhängig war. Serbien, Bulgarien und Griechenland brachten sich in Stellung, um die Schwäche des Osmanischen Reichs auszunutzen und Makedonien für sich zu gewinnen. Der eigentliche „Makedonische Kampf“ fand dann 1904-1908 zwischen Griechenland und Bulgarien statt.
Weiter oben gibt es ein paar Erstausgaben von Zeitungen, als Reproduktion. Die erste Zeitung war eine staatliche Zeitung, 1869 zum ersten Mal erschienen, und zwar in einer türkischen, einer griechischen und einer jüdischen Ausgabe!
Auch das Schulwesen hatte etwas Kosmopolitisches. Die Schulen zu führen, blieb den einzelnen Ethnien überlassen, auch ein Zeichen für die relative Liberalität der osmanischen Zeit, zumindest an deren Ende. Es gab bis zu dreizehn verschiedene Ethnien, die ihre eigenen Schulen betrieben. Dabei hatten die Juden auch weiterführende Schulen, während es für die Griechen nur die Grundschule gab.
Oben angekommen, kann man auf der Plattform einmal ganz herumgehen, mit reichlich Platz. Es ist aber zu windig, um hier lange zu verweilen. Drei Frauen mittleren Alters, die jünger aussehen wollen als sie sind und extravagant, sehr modisch gekleidet sind, verstehen den Besuch des Weißen Turms in erster Linie als Phototermin. Es sind Italienerinnen.
Ausgerechnet über den Weißen Turm erfährt man nichts im Weißen Turm. Draußen ist aber eine Tafel mit Hinweisen, und er steht natürlich in jedem Reiseführer. Der Weiße Turm stand an der Schnittstelle der Stadtmauer am Ufer und der östlichen Stadtmauer und diente der Verteidigung der Stadt zum Meer hin. Wahrscheinlich wurde er von den Osmanen errichtet. Er ist rund und, grob gesprochen, eher breit als hoch. Oben hat er Schießscharten und einen Rundbogenfries.
Der Turm hatte im Laufe seiner Zeit verschiedene Funktionen und diente u.a. als Gefängnis. Für den Namen gibt es verschiedene Erklärungen. Eine davon heißt, dass der Turm den Namen Blutturm erhalten hatte, nachdem dort Janitscharen nach einem Aufstand getötet worden waren und dass die Osmanen den Turm daraufhin tünchen ließen, um den Namen in Vergessenheit geraten zu lassen. Man kann Reste von Putz auf dem Naturstein erkennen. Heute ist der Turm, je nach Sonnenlicht, mal grau, mal braun.
Das Theater, in dem Onkel Wanja läuft, ist gleich neben dem Weißen Turm. Die Eingänge sind aber verschlossen, und aus einem Aushang am Eingang werde ich nicht schlau. Dann öffnet sich aber eine Tür weiter hinten, und ich kann zur Information gehen. Es gibt keine Broschüren, und das Mädchen schreibt mir die Aufführungstermine per Hand auf. Von einem Stück von Pinter, das an der Fassade groß beworben wird, weiß sie nichts, und als ich nach dem Titel sehe und wieder reinkomme, ist sie nicht mehr da.
Wieder lande ich in einem Café direkt neben einer Ausgrabungsstätte. Diesmal ist es der Palast des Galerius. Jetzt wird mir klar, warum ich immer mit zwei Wörtern durcheinander gekommen bin: Es gibt den Palast der Galerius und den Bogen des Galerius.
Beim Bogen des Galerius ist die große Buchhandlung. Hier finde ich einen detaillierten Führer zu Thessaloniki und auch eine Reproduktion einer Stadtansicht als Geschenk für die Hochzeit.
Zum Mittagessen zu einer wahrhaft griechischen Tageszeit komme ich dann in eins der Lokale, wo es Hausmannskost gibt, ein Tipp von Sofia. Alles ist sehr einfach, und der Kellner, der mich mit Händedruck begrüßt und gleich seine zwei, drei deutschen Wörter an den Mann bringt, sehr freundlich. Ich frage ihn nach dem Namen des Lokals, Λημέρι, und aufgrund eines Wortes, das in der Erklärung vorkommt, Piraten, kann ich mir den Rest zusammenreimen: ‚Schlupfwinkel‘.
Am Abend nimmt Sofia mich mit in ihre lokale Bücherei. Dort findet ein Vortrag eines Schriftstellers statt. Ich verstehe nichts außer Oscar Wilde und Roland Barthes, Wagner und Hitler. Und das liegt nicht an den knatternden Motorrädern, den klingelnden Handys, den kreischenden Vögel und der Musik aus einem Radio in der Nachbarschaft. Mein Griechisch reicht einfach nicht aus. Es ist aber trotzdem schön. Wir sitzen in einem Innenhof, die Leute sind freundlich, und es wird engagiert diskutiert. Es geht ums Lesen, darum, ob und wie junge Leute lesen und wie man sie dazu bringen kann und auch um den Prozess des Lesens und Verstehens.
Anschließend sehe ich noch mal vergeblich am Weißen Turm nach Spuren des 72-Stunden-Laufs und verlaufe mich auf dem Rückweg meisterlich in der Oberstadt.
Wieder, am Nachmittag wie am Abend, überall voll besetzte Straßencafés. Und eine unglaubliche Anzahl von Imbissständen, Restaurants, Tavernen. Kann mich nicht entsinnen, so etwas schon mal gesehen zu haben.
21. Mai (Donnerstag)
Im Sorbas beobachtet der Erzähler einen Zug von Kranichen. Dabei fällt auf, dass auf im Griechischen, wie in anderen Sprache, die Wörter für Kran und Kranich ähnlich oder deckungsgleich sind: γερανός.
Am Vormittag gehe ich zu Osios David, eine winzige Kirche, die in den Reiseführern steht und wirklich, wie Sofia mir gestern zeigte, nur ein paar Schritte von hier entfernt ist.
Die Kirche war (oder ist) Teil eines Klosters, des Latomon-Klosters, dessen Name wohl von λατομείο abgeleitet ist, ‚Steinbruch‘. Der Legende zufolge wurde die Kirche von der Tochter des heidnischen und christenfeindlichen Galerius gebaut, und zwar heimlich während dessen Abwesenheit auf einem Feldzug. So steht es auch auf einer Tafel draußen an der Kirche. Man traut dem Braten nicht, es stimmt einfach alles viel zu gut, und tatsächlich ist es nichts als eine Legende. Die Kirche ist zweihundert Jahre jünger.
Architektonisch hat sie eine gewisse Bedeutung, denn sie ist der Vorgänger der späteren Kreuzkuppelkirchen, die man in Griechenland an jeder Ecke sieht. Davon ist aber wenig übrig geblieben. Die Kirche ist im Westen abgeschnitten und bildet kein Kreuz mehr, und von einer Kuppel ist nichts zu sehen, jedenfalls innen nicht. Stattdessen eine ordinäre flache Holzdecke.
Der Ruf der Kirche beruht auf dem Mosaik in der Apsis. Das ist leider von der Ikonostase teils verdeckt. Man stellt sich vor, dass es zur Zeit der Entstehung des Mosaiks noch keine Ikonostasen gab.
Man sieht einen ganz jungen, bartlosen Christus, auf einem Regenbogen sitzend, in einer hellen Mandorla, mit den Paradiesflüssen zu seinen Füßen. Alles in leuchtenden Farben, man fühlt sich wie in Ravenna. Schwer zu sagen, wie der Blick des Christus ist, ernst auf jeden Fall, Vielleicht auch streng, jedenfalls nicht so neutral wie auf den klassischen Ikonen.
Links von ihm Ezekiel, rechts Habakuk, der eine in Ekstase, der andere in sich versunken. Ezekiel hält sich die Hand vors Gesicht, um die Erscheinung nicht zu sehen. Habakuk ist ganz gefasst, sieht nachdenklich auf den Boden. Vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass es hier um zwei Seinsarten, um zwei psychologische Veranlagungen geht. Ob die Evangelistensymbole, der Löwe bei Ezekiel, der Stier bei Habakuk, auch was zu sagen haben?
Neben dem Mosaik hat die Kirche auch ein paar Fresken, die erst vor kurzem wieder zum Vorschein gekommen sind. Sie waren unter dem Putz der Türken verborgen. Kurios eine Geburtsszene, mit einem Christus mit nacktem Oberkörper, viel zu alt um gerade geboren zu sein, in einem Zuber sitzend, zu beiden Seiten von einer Dienerin betreut, die orientalisch aussehen. Die eine wäscht ihn, die andere füllt aus Bronzekrügen Wasser nach. Josef sitzt abseits und wendet sich ab, ein Motiv, das ich nicht zum ersten Mal in Griechenland sehe.
Die kleine Kirche zieht tatsächlich Besucher an. Ein englisches Paar kommt gleich nach mir, ein französisches Paar, als ich gehe, und dazwischen eine ganze lärmende Schulklasse. Die Schüler ignorieren das von der strengen Aufpasserin auferlegte Photographierverbot einfach. Die verabschiedet mich freundlicher als sie mich begrüßt. Sie hat wohl gehört, dass es geklingelt hat und hat auch eine Kerze angezündet.
Vom Innenhof blickt man durch einen offenen Glockenstuhl auf die Stadt hinunter, mit dem Meer am Ende.
Dann geht es die paar Schritte zurück nach Hause. Sofia führt mich über den Wochenmarkt. Es herrscht dichtes Gedränge, man hört laute Stimmen, und alles sieht sehr frisch aus, vor allem Fisch und Gemüse. Die Auberginen kommen aus Ierapetra. Vermutlich aus dem Gewächshaus. Aber das sieht man ihnen nicht an.
In der Oberstadt sieht man noch viele kleine Läden, oft etwas unter Straßenniveau gelegen. Vor allem Änderungsschneidereien gibt es alle Naselang. Vor einer steht ein Schneider mit Schmerbauch und Zentimetermaß über der Schulter und hält ein Schwätzchen mit den Passanten.
Auf dem Rückweg kaufe ich eine Bougatsa. Die Verkäuferin schneidet sie in Stücke und bestreut sie mit Zimt und Puderzucker. Das habe ich noch nie gesehen. Die Bougatsa stammt wohl ursprünglich von hier, aus Thessaloniki.
Der 72-Stunden-Lauf ist nicht, wie Sofia mir mit kaum spürbarer Ungeduld sagt, am Weißen Turm, sondern auf dem Expo-Gelände. Das liegt ein kleines bisschen außerhalb des Zentrums, Richtung Osten. Sie haben, ohne die internationalen Konnotationen in Rechnung zu stellen, das Gelände, als Kurzform von Hellas Exposition, Hellexpo genannt.
Meine Anmeldung ist nicht oder zu spät angekommen, aber man zeigt sich flexibel. Ich bekomme auch so Startnummer und Chip. Man läuft wann und solange man will. Es geht um einen guten Zweck, man selbst bezahlt aber gar nichts.
Man läuft in einer Runde, knapp 900 Meter lang, im ersten Teil sanft ansteigend, im zweiten sanft abfallend. Um diese Zeit, in der Hitze des Nachmittags, sind nur wenige unterwegs. Die meisten lassen es langsam angehen, viele gehen einfach. Ein Mann mit wild wucherndem Bart und wallendem Haar trägt lange schwarze Hosen und darüber einen mantelartigen schwarzem Umhang, der ihm weit über die Knie reicht. Dessen Kilometer müssten doppelt gerechnet werden. Ein Mann meines Alters, dessen Grundgeschwindigkeit nur ganz knapp über meiner liegt, der aber sehr gleichmäßig läuft, nimmt mir in kürzester Zeit 200-300 Meter ab. Bevor er mich überrundet, bin ich aber durch.
Ich laufe zehn Runden und dann noch eine Bonus-Runde, um die 10 km voll zu bekommen. Die gesamte Laufleistung liegt knapp unter 4000 km. Ob das viel oder wenig ist, ist schwer zu sagen, eher wenig, aber das dicke Ende kommt noch am Wochenende, vermutlich.
Am Ziel gibt es Wasser und Apfelsinen, und an einem Stand, wo eine ganz junge, ganz schmächtige Verkäuferin steht, bietet eine Bäckerei, die mehrere Filialen in Thessaloniki hat, Kekse an. Das Mädchen empfiehlt mir zwei, eins nach Honig, das andere nach Nuss schmeckend, und sie sind hervorragend. Sie sagt, sie müsse noch bis neun Uhr da stehen. Die Arme! Da kann man besser laufen.
Auf dem Rückweg komme ich an einem Friseursalon vorbei, der extra Preise für Kinder und Rentner hat: 5 €!
Inzwischen habe ich auch herausgefunden, was es mit dem Namen unserer Straße auf sich hat. Sofia weiß Bescheid, und das Verrückte ist, ich kenn das, ich bin der Sache irgendwann begegnet auf vorherigen Reisen, hätte mich aber im Leben nicht mehr daran erinnert. Bouboulina war eine Heldin des griechischen Freiheitskampfes, eine ungewöhnliche, entschlossene, findige Frau, die alles andere als zimperlich war. Ihr Weg war irgendwie vorgezeichnet: Sie wurde im Gefängnis geboren, nämlich als ihre Mutter ihren Mann besuchte, der wegen der Beteiligung an Umsturzversuchen einsaß.
22. Mai (Freitag)
Der Galeriusbogen ist der Treffpunkt in Thessaloniki. Kein Mensch spricht allerdings von Galeriusbogen – Αψίδα του Γαλέριου – sondern immer nur von Kamara.
Wie andere Monumente steht er etwas unvermittelt in der Gegend herum, gleich neben der vielbefahrenen, breiten Egnatia, einer der wichtigsten Einkaufsstraßen Thessalonikis. Außerdem scheint er „falsch“ herum zu stehen, in Nord-Süd-Richtung, obwohl man Ost-West-Richtung erwarten würde. Man kann sich auch nicht richtig vorstellen, welche Funktion er gehabt haben könnte. Ein Stadttor war er jedenfalls nicht, dazu ist er zu zentral. Wahrscheinlich war er Teil einer größeren Anlage, alles in Zusammenhang mit Galerius stehend.
Der war Mitglied des Tetrarchie des Diocletian, und da sich jeder von den vieren in einem anderen Teil des Reichs niederließ, suchte er sich, als Zuständiger für den Ostteil des Reichs, Thessaloniki als Hauptstadt aus. Das war so ähnlich wie Konstantius mit Trier. Thessaloniki kam nicht aus dem Nichts. Schon lange vorher, zu Zeiten des Bürgerkriegs, war Thessaloniki wichtig gewesen für die Römer. Hier hielten sich Antonius und Octavian auf und die republikanische Exilregierung.
Die Preise für Lebensmittel sind hier niedriger in Kreta. Besonders bei Milch und Butter ist der Unterschied auffallend. Der Käse ist allerdings eher teuer. Dafür aber ausgezeichnet. Die nächste Kundin an der Käsetheke verlangt nach kretischem Käse.
Am Abend findet der Lesekreist statt. Sofia ist krank, aber Ana nimmt mich mit. Es ist wieder in der Bücherei, aber diesmal drinnen. Nur ein Mann, Michailis, und sechs Frauen. Lesen ist „Weiberkram“, auch in Griechenland. Gleich drei der Frauen heißen Eleni, und da heute deren Namenstag ist, gibt es Wein, Pita und Gebäck. Eine dieser Frauen ist mit einem Deutschen verheiratet, einem Mann aus Hamburg. Sie fragt mich, ob ich den kenne, und ich glaube, die Frage falsch verstanden zu haben. Habe ich aber nicht. Der Mann heißt Dieter Sendker und ist ein ziemlich bekannter Winzer. Später höre ich ein Interview mit ihm im Internet. Er hat in Griechenland als Winzer ganz klein angefangen, mit fünfzig Flaschen im ersten Jahr, hat aber Erfolg gehabt. Er baut in hier in Mazedonien, wo es keinen Wassermangel gibt, Merlot und Cabernet Sauvignon an. Der ist sehr gut angekommen. Auf die griechische Nachfrage nach weißem Wein hat er reagiert, indem er aus roten Trauben weißen Wein macht. Der Wein, der hier aufgetischt wird, ist ein Rotwein und stammt auch von ihm. Der ist ausgezeichnet.
Es wird über Lolita gesprochen. Ich verstehe nichts. Die Winzersfrau holt weit aus, aber ich muss wohl den Anfang verpasst haben. Ich glaube, sie spricht über zwei Verfilmungen des Buchs.
Einige haben das Buch nicht ganz, andere gar nicht und wieder andere vor langer Zeit gelesen. Es wird über die Sprache und über die Qualität der Übersetzung gesprochen und über die leidige Frage der Pornographie und der Pädophilie. Auch über Nabokov wird gesprochen, aber eher wenig über das Buch. Man schweift dann auch schnell ab und spricht über Ausstellungen und Theateraufführungen. Michailis hat Onkel Wanja gesehen und ist sehr angetan davon.
Ich spreche die Frage des Vorworts an und erhalte darauf die unsinnige Antwort, das sei doch nicht sehr lang. Dass ändert nichts an der Tatsache, dass es ein ganz anderes Buch aus dem Buch macht. Aber ist egal. Es ist trotzdem eine sehr schöne Atmosphäre. Es geht etwas lauter und etwas lebendiger zu als bei uns.
Danach wird vorgeschlagen, noch irgendwo hinzugehen. Ob ich mitkommen will? Und ob! Eine der Frauen hat ihre Kindheit in München verbracht und ist dann zur Promotion in Schulpädagogik nach München zurückgekehrt. Sie fragt mich nach meinen Plänen und überlegt sofort, mit wem sie mich in Verbindung bringen soll, vielleicht mit jemandem in der Germanistik.
Wir sind lange unterwegs, und das gibt mir die Gelegenheit, mal mit einzelnen zu sprechen. Das geht besser. Wir kommen an einem Haus vorbei, in dem ein Dichter geboren ist, der Mitglied und Wortführer einer Dichtergeneration war, die sich mit der Militärdiktatur auseinandersetzte. Er ist offensichtlich sehr bekannt hier.
Der lange Weg hat sich gelohnt. Wir gehen in dem Lokal, das hinter dem alten Haman liegt, eine Treppe rauf und stehen draußen auf der Höhe des Dachs des Hamams, mit dem gesamten Kuppelfeld vor uns. Wunderbar. Das kann man von unten überhaupt nicht sehen. Und es wird immer besser, je länger der Abend dauert. Die Kuppeln werden indirekt beleuchtet, Lampen werden auf den Tischen verteilt, und am Himmel, der noch im Zwielicht ist, zeichnen sich die dunklen Wolken schemenhaft ab.
Die Leute sind alle sehr freundlich, sehr offen. Ich bekomme Reisetipps und Buchempfehlungen, und es ist sogar von einem gemeinsamen Ausflug zu dem Bad in Puzor die Rede. Alle sind davon angetan, dass ich mich mit dem Griechischen abmühe. Die Professorin erklärt mir den Ursprung von συγγνώμη (συν + γνώμη) und wie man aus der Etymologie ableiten kann, dass der erste Vokalbuchstabe ein Ypsilon, der letzte ein Eta sein muss. Und sie beantwortet meine Frage nach dem Ursprung von μιδέν, das so ganz anders als null oder zero oder sifır klingt, indem sie einen Telefonanruf tätigt. Der bestätigt meine Vermutung, dass es ursprünglich so was wie ‚nicht einmal eins‘ bedeutete. Um das ganz zu verstehen, muss man aber Altgriechisch können.
Die junge Eleni, diejenige, die ich am besten verstehe, erzählt, dass sie Weihnachten mit der Familie in Berlin war. Sie ist richtig begeistert. Sie hatten die dicksten Winterklamotten mitgenommen und darin geschwitzt, denn es war ganz, ganz warm. Bekannte von ihr sind dann eine Woche später gefahren und haben sich den Ast abgefroren. Sie war auch sehr angetan von der Freundlichkeit der Leute und davon, dass die Stadt so kosmopolitisch ist. Sie spricht auch von einer Veranstaltung am Sonntag, bei der ein Architekt einen Teil der Stadtmauer erklärt. Sie will Ana den Link senden.
Auf dem Rückweg unterhalte ich mich mit einer Frau mit wuscheligem Lockenkopf, die auch Lehrerin ist. Sie unterrichtet an einer Landwirtschaftlichen Fachschule. Auch da geht das Schuljahr zu Ende. Sie nutzt jetzt einen freien Tag für ein verlängertes Wochenende in Kreta, in Chania.
Die junge Eleni reagiert auf meine Bemerkung zu den Zebrastreifen lachend. Ja, das sei so. Sie seien ‚wild‘. Das fänden auch andere Griechen. Nicht überall in Griechenland werde der Zebrastreifen so entschieden ignoriert wie hier. So eine Form von Selbstironie habe ich in Kreta ein halbes Jahr lang nicht erlebt.
Ganz oben in der Oberstadt kommen wir an allen möglichen blühenden Bäumen und Sträuchern vorbei, unter anderem an Jasmin und Linde. Und die laue Frühlingsluft tut das Ihrige dazu.
23. Mai (Samstag)
Langes Wochenende, kurze Besichtigung. Ich sehe mir Profitis Ilias an, eine byzantinische Kirche, noch hier in der Oberstadt, auf dem Weg nach unten. Sofia hat mich wenig Begeisterung davon gesprochen, aber mir gefällt der Bau, ein komplexes Gefüge aus Kuppeln, Türmen, Bögen und Apsen, das oben in der zentralen Kuppel mündet. Das Baumaterial ist Backstein, und es ist erstaunlich, was man damit alles machen kann für dekorative Zwecke. Die Backsteine stehen oder liegen in Reihen, formen Rauten und Dreiecke, die Arme eines ausgebreiteten Zirkels, ein Feld aus vielen kleinen Kreuzen stehen mit der Breitseite aus der Mauer heraus, wie Tropfen unter dem Dach.
Die Kirche ist eigentlich ein Zentralbau mit einer Apsis im Osten, aber im Süden und Norden sind runde Apsen angefügt, so dass ein Kleeblatt entsteht. Daraus hat man, zusammen mit anderen Indizien, gefolgert, dass es sich hierbei ursprünglich um eine Klosterkirche handelt. Die beiden seitlichen Apsen waren den Mönchen vorbehalten!
Im Westen ist ein Narthex vorgelagert, auf Pfeilern stehend. Die bestehen aus Backstein und bearbeiteten Steinquadern, was wiederum ein Muster ergibt. Diese Technik heißt, wie ich jetzt gelesen habe, plinthoperilistiko. Die rot gefassten Sprossenfenster hinter den Pfeilern sind ein dankbares Photomotiv.
Die Fresken, die innen freigelegt wurden, sind kaum zu erkennen. Dafür ist deren Hintergrund zu dunkel. Schön ist die tief von der Kuppel herunter hängende Messingleuchter, vor allem das Rad um den Leuchter herum, zwölfeckig, mit abwechselnd einer Ikone und dem byzantinischen Doppeladler, jeweils anders gestaltet.
An der Ikonenwand links Elias, mit zerzaustem Bart, in einer Wüstenlandschaft, auf einen Vogel sehend, der ihm etwas bringt. Warum das Patrozinium Elias ist, weiß man nicht. Vermutlich ist es ein Übersetzungsfehler!
Beim Weitergehen werde ich an unselige römische Zeiten erinnert. Eine Frau in einem höheren Stockwerk zieht mittels eines improvisierten Flaschenzugs einen Eimer nach oben. Unten hat eine junge Frau in den Eimer den Einkauf für die Frau da oben hineingelegt. Kluge Strategie. Erspart das Treppengehen. In Rom waren es sieben Stockwerke.
Auf der Egnatia, der Haupteinkaufsstraße, reiht sich ein Klamottengeschäft an das andere, aber das meiste ist Damenmode. Bei den Herrengeschäften sind die Sachen eher was für Leute unter dreißig oder zu eng. Die Griechen scheinen schlank zu sein. Eine dynamische Frau in einem kleinen Geschäft, die auch kein passendes Jackett hat, versucht mich zu überreden, es ohne Jackett zu probieren. Ich suche aber erst mal weiter. Ein Haus weiter finde ich ein Jackett und gehe mit dem zu ihr zurück, für den Kauf von Hose und Hemd. Sie versucht engagiert und geduldig, mich zu modischen Farben zu überreden, stößt aber auf Beton. Ganz klassisch langweilig soll es sein. Am Ende gibt sie widerwillig nach, drückt mir aber ihre Karte in die Hand. Sie habe immer was Schönes auf Lager und werde mir auch einen guten Preis machen.
Wie denn das Geschäft laufe, will ich wissen. Geht so, sie kommt zurecht, weil sie Stammkundschaft hat. Es ist ein alteingesessenes Geschäft. Sie hat es von ihrem Vater übernommen. Dessen Bild hängt hinter der winzigen Theke. Der ist bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Als ich von Istanbul spreche, sagt sie, da fahre sie jeden Monat hin. Zum Einkauf. Die Türken hätten gute Ware. Und billig. Und in Griechenland hätten die meisten Manufakturen geschlossen, wegen der Krise. Auch mein Hemd ist aus der Türkei, und sie hat sich auch schnell die Marke des Jacketts notiert. Das interessiert sie auch, scheint auch türkisch zu sein.
Warum denn die Leute trotz der Krise so viel ausgehen, frage ich. Tun sie doch gar nicht, sagt sie. Die Leute hätten kein Geld. Die gingen doch höchstens mal einen Kaffee trinken, für mehr reiche es nicht. Die Esslokale hätten nicht viel Kundschaft.
Auf dem Rückweg komme ich am Galeriusbogen an dem Buchhandel vorbei, und erst jetzt entdecke ich, wie groß der ist. Es gibt nämlich noch ein Untergeschoss und ein Obergeschoss. Oben gibt es Bücher, und da herrscht gähnende Leere. Der Mann, der tatenlos am Computer sitzt, findet sofort eines der Bücher, die mir gestern empfohlen worden sind, mit dem hoffentlich nicht symbolträchtigen Titel Το λάθος – Der Fehler. Unten gibt es Schreibwaren, da ist mehr Bewegung.
Auf dem Weg nach Hause fallen mir vor einem Café zwei kegelförmige Figuren auf. Auf beiden stehen spanische Verse. Man kann sie praktisch nicht von allen Seiten lesen, aber es geht wohl auch nicht um den Inhalt an sich.
Als ich dann schon in unserem Viertel bin, spricht mich der stämmige Schneider vor seinem Geschäft freundlich auf Englisch an. Mehr als ein paar Brocken kann er nicht, aber er will mir helfen, meine Straße zu finden. Wir kommen ins Gespräch, und als er hört, dass ich aus Deutschland bin, ruft er ins Geschäft nach dem „Deutschen“. Der Deutsche kommt, ein Grieche, der lange in Deutschland gelebt hat. Wie denn die Lage in Deutschland sei, will er wissen. So gemischt, sage ich. Ja, das kann er verstehen. Als er noch in Deutschland war, das waren die guten Zeiten, 1969-2003. Wie ist es denn in Griechenland. Mal auf, mal ab, deutet er mit Gesten an. Und mal so, fügt er mit einer anderen Geste hinzu, die zeigt, wie sich jemand Geld in die Tasche steckt.
Am Abend geht es in Onkel Wanja. Das Theater ist modern, aber alles andere als neu. Die Sitzreihen steigen nicht an, und die Schelle und das WC erinnern an deutschen Jungengymnasien der Nachkriegszeit. Es gibt auch noch Platzanweiserinnen. Man bekommt aber für 15 € einen guten Platz und eine fantastische Inszenierung. Und in der Pause einen guten Frappe für 1,20 €. Ich glaube, ich habe mich verhört.
Obwohl vorher ausdrücklich gesagt wird, man möge die Handy ausschalten, mit dem überzeugenden Argument, dass das die Schauspieler störe, klingelt es zweimal. Und die zweite Frau hat sogar die Stirn, dranzugehen. Später telefoniert sie dann ein weiteres Mal.
Als ich aufstehe, um zwei Frauen vorbeizulassen, gehen die wortlos vorbei. Und als dann später eine dritte kommt, starrt die mich an, als wolle sie sagen: „Kennen wir uns?“ oder „Wollen Sie was von mir?“. Es ist völlig unverständlich, dass jemand so einfach in der Gegend rumsteht.
Obwohl ich das Stück in den letzten Tagen zweimal gelesen habe, verstehe ich sehr wenig. Aber wenigstens kann ich die Figuren zuordnen und einzelne Passagen verstehen. Einmal verstehe ich erst im Nachhinein, und zwar durch das Lachen im Publikum. „Ist die ihm treu?“ – „Leider ja.“ Das wiederholt sich später noch einmal.
An der Inszenierung ist alles stimmig: Bühnenbild, Lichteffekte, Musik, Schauspieler. Die Inszenierung ist originell, aber ohne Spirenzchen, keine nackten Schauspieler, die mit Gartenschläuchen bespritzt werden. Das Bühnenbild besteht aus hohen, weißen Wänden mit Auslassungen, in die Objekte eines gutbürgerlichen russischen Landhauses der Zeit eingelassen sind: Ziervase, Wanduhr und natürlich Samowar. Außerdem hängen an der Wand symbolträchtige leere Bilderrahmen. Später stellt sich dann heraus, dass man diese Wände auch hin und her schieben und bei Bedarf drehen kann. In der Schlussszene erscheint so auf einmal ein Schreibtisch, mit Kladden, Büchern, Fächern, Tintenfässern, Federn.
Die Musik kommt nur manchmal, ganz leise, im Hintergrund, und verschwindet dann wieder, wenn es ganz dramatisch wird. Es sind nur ganz leise einzelne Töne des Xylophons, dazu im Hintergrund eine Art rauschender Wind, dann ein paar langgezogene Töne von einem Streichinstrument und hin und wieder ein gezupfter Ton. Es klingt wie Sphärenmusik. Es passt einfach. Und sonst finde ich Musik bei Theateraufführungen meistens störend.
Die Belichtung stellt immer wieder die schöne Helena – der Name bekommt in Griechenland zufällig besonderes Gewicht – ins Rampenlicht und zeigt, wie sie die Männer betört, indem sie einfach durch den Raum wandelt oder irgendwo herumsteht. Später Wird es dann geradezu magisch, als der Arzt, ein früher Grüner, seinen Vortrag über den Niedergang der Natur in Russland hält. Es dreht sich einfach eine Kugel, die Licht in alle Richtungen des Theaters wirft, formlos. Die Kugel wird dann durch eine zweite ersetzt, und das Licht wird weniger, die dunklen Stellen mehr.
Im Gegensatz zur schönen Helena, die meist nur rumsteht, rackert und sorgt und hilft Sonja, das hässliche Entlein, in einem fort. Das ist sehr schön ohne Worte in Szene gesetzt. Helena beweist aber ihre Größe, als sie Sonjas Not erkennt und sich ihrer annimmt. Sonja ist in den Arzt verknallt, der aber in Helena. Die wird immer wieder gefragt, warum sie den alten Knacker geheiratet habe. Und die beteuert glaubhaft: „Aus Liebe.“ Das kann keiner verstehen. Dann fragt Sonja sie aber, ob sie glücklich sein „Nein“, ist die Antwort. Aber unglücklich sind eigentlich alle. Außer der alten Amme. Die sagt, lass die Gänse nur schnattern, sie hören schon wieder auf. Und ein bisschen Gottvertrauen und Lindenblütentee lassen alle Sorgen verschwinden.
Als die Vorstellung zu Ende ist, bleibt nur noch eine halbe Stunde bis zum Beginn der Spätvorstellung. Draußen ist es noch hell, und ich überlege mir auf dem Rückweg, warum das Stück Onkel Wanja heißt. Er ist nicht der Held des Stückes, jedenfalls nicht der einzige – Helena, Sonja und der Arzt sind genauso wichtig – und er ist nur Sonjas Onkel.
In einer kleinen Taverne, die Παρελθόν heißt, ‘Vergangenheit‘, bestelle ich ein griechisches Bier, Vergina, und ein paar Kleinigkeiten, darunter ein Gericht, das in der englischen Übersetzung Mixed Vegetables heißt und nicht mehr als ein erweiterter Krautsalat ist. Der junge Mann, der zusammen mit seiner Tochter, einem kleinen Mädchen, das ihre Aufgabe ganz beflissen wahrnimmt, bedient, ist sehr freundlich. Später bei der Rechnung kommt aber ein grimmiger älterer Mann, vielleicht sein Vater. Er kritzelt etwas auf ein Blatt Papier, das er mir dann aber nicht gibt und kassiert 14 €. Das ist vermutlich zu viel und mit Sicherheit unversteuert.
Auf dem Rückweg gerate ich mal wieder in die falsche Straße. Ein Glücksfall. An einer Straßenecke sehe ich eine Szene, die für jeden Griechenlandfilm geeignet wäre. Auf der Ecke eine Taverne mit kleinen Tischen draußen, halb besetzt, an der hoch führenden Gasse schummriges Licht aus Straßenlaternen, über der Taverne ein paar bunte Glühbirnen und an einem der Tische ein paar junge Männer, die Musik spielen, bei der man sofort erkennt, dass sie Griechisch ist.
24. Mai (Sonntag)
Am Vormittag findet am Trigonion, dem Pendant zum Weißen Turm in der Oberstadt, eine Führung statt. Eine der Elenis hat eine entsprechende Mail geschickt. Es handele sich um eine einzigartige Gelegenheit.
Von mir aus geht es zum Trigonion immer an der Stadtmauer entlang. Auf dem ersten Teil des Weges ist der Durchgang ganz schmal. Hier stehen Häuser direkt mit dem Rücken zur Stadtmauer. Nachher hat man dann freie Sicht auf die Stadtmauer. Die ist eher grob, klobig, aus unbearbeiteten Natursteinen mit viel Mörtel dazwischen. Immer wieder sind zur Stabilisierung Reihen aus flachen Backsteinen eingezogen, ein Zeichen dafür, dass die Mauer römisch ist. Sie stammt aus der Spätantike. Immer wieder ist die Mauer durch Tore unterbrochen und immer wechselt sich die hohe Mauer mit vorspringenden, rechteckigen „Türmen“ ab.
Am Trigonion ist es dann plötzlich ganz touristisch, mit Souvenirläden, teuren Cafés und Touristengruppen, einer deutschen, einer amerikanischen, einer israelischen. Vor dem verschlossenen Eingang wartet schon eine ganze Menge auf die Führung. Von dem Lesekreis ist niemand zu sehen. Später taucht Vaso, der Wuschelkopf auf, aber dann verlieren wir uns aus den Augen bei der großen Menge.
Wir gehen erst rein und dann wieder raus, da wir nicht alle in die Eingangshalle reinpassen. Draußen gibt es dann erst ein Fernsehinterview mit einem Architekten. Der ist zusammen mit einer Archäologin für die Führung zuständig. Er setzt dann zu einer längeren Erklärung an, von der ich nur Bruchstücke verstehe. Der Turm stammt aus der türkischen Zeit und hatte eine achteckigen römischen und einen rechteckigen byzantinischen Vorgänger. Der Turm ist gut zwanzig Meter hoch und verjüngt sich etwas nach oben. Das kann man mit bloßem Auge kaum sehen. Es gibt zwei Treppen, eine nach links, eine nach rechts, von denen eine nach oben auf die Plattform führt. Der Turm wurde gebaut, um der neuen Technik der Feuerwaffen gerecht zu werden. Über dem Eingang ist eine Pechnase, durch die heißes Wasser, Pech oder Öl auf die Angreifer gegossen werden konnte. Leider verstehe ich nicht, woher der Name kommt. Warum Trigonion, wenn der Turm rund ist? Es ergibt sich aber bei der Besichtigung eine mögliche Erklärung. Es gibt drei Kammern für das Artilleriefeuer, zu drei verschiedenen Seiten des Turms.
Während der Architekt noch spricht, haben viele schon die Möglichkeit genutzt, in den Turm zu gehen. Davon machen auch ganz normale Besucher Gebrauch, die sich so mit unserer Gruppe vermischen. Irgendwie verliert sich die Sache, und ich sehe später die Archäologin etwas verloren in dem Turm und auf dem Platz vor dem Turm herumstehen.
Die Treppen des Turms sind enger und die Stufen höher als im Weißen Turm. Und der ganze Turm ist verwinkelter. Die Kammer für das Artilleriefeuer hat zwei Nischen, eine für Vorrat, vor allem für Munition, die andere für die Soldaten, die sich als Rückzugsraum für den Rückstoß haben, der von der Kanone ausgeht. An einer anderen Stelle sieht man die Ritze im Boden über der Pechnase, durch die unliebsame Flüssigkeiten auf den Feind unten geschüttet wurden. In wieder einem anderen Raum befand sich die einzige Feuerstelle des Turms. Die müssen sich hier im Winter ganz schön einen abgefroren haben.
Irgendwie hat die ganze Veranstaltung keinen richtigen Abschluss. Noch ein paar Frager stehen um den Architekten herum, aber alle anderen haben sich inzwischen verloren. Also trolle ich mich auch.
Auf dem Rückweg sehe ich an einer Hausfassade ein aufgesprühtes Graffiti mit Bild: Είμαι αγόρι, μ‘αρέσει να παίζει με κούκλες και να φοράω φουτσάνια – Ich bin ein Mädchen, ich spiele gerne mit Puppen und trage gerne Röcke. Ich frage mich, was daran so bemerkenswert ist, und dann fällt der Groschen: Da steht gar nicht Mädchen, sondern Junge!
Am Nachmittag ruft mich Sofia zu einem Kaffee zu sich, und das, obwohl sie praktisch keine Stimme hat. Es hat sie mächtig erwischt. Ich übernehme das Reden und erzähle von Theater und Turm. Sie erzählt aber trotzdem, dass sie am Morgen auf einem Empfang war. Seit Monaten geplant. Und da war ausgerechnet sie es, die die Gäste in Empfang nehmen musste.
Sie will mir die Kaktusblüten auf ihrem Balkon zeigen. Das geht immer nur für einen Moment, denn sie blühen und verblühen am gleichen Tag. Jetzt hängen nur sechs, sieben Blüten traurig herunter, aber man kann ahnen, wie sie in voller Pracht aussehen.
25. Mai (Montag)
In der Apotheke kennt man Arnika nicht. Stattdessen wird mir Voltagen empfohlen, wärmstens! Ist billiger als in Deutschland.
Beim Lidl herrscht schon am Morgen dichtes Gedränge. Anziehungspunkt Nummer Eins sind die Wühltische.
Die Geschichte von Thessaloniki liest sich wie eine Geschichte der Zerstörung. Erdbeben und Brände einerseits, Kriege und Eroberungen andererseits. Man möchte Mitleid bekommen, wenn man von all den Massakern, Verwüstungen, Gewalttätigkeiten liest, ob von den Awaren, den Slawen, den Franken, den Normannen, den Sarazenen, den Osmanen, den Deutschen. Dennoch: Selbst, wenn das alles stimmt, was da in den Büchern steht, dann ist es nur die halbe Wahrheit. Stadtgeschichte ist immer einseitig, betont immer die Opferrolle. Von den Eroberungszügen der Makedonier und den damit einhergehenden Schrecken ist naturgemäß nicht die Rede.
26. Mai (Dienstag)
Sofia scheint es echt schlecht zu gehen. Die Stimme ist immer noch weg, und die Diagnose scheint sogar die Möglichkeit einer Lungenentzündung einzukalkulieren. Ich frage, ob ich etwas machen kann. Natürlich nicht. Gute Besserung! Was anderes fällt mir da nicht ein.
Die Stadt bietet eine Rundfahrt in einem aufgemotzten Linienbus an. Von verschiedenen Stellen empfohlen. Es fährt durch die Oberstadt und die Unterstadt. Es geht alles viel zu schnell, aber man bekommt einen Eindruck von dem, was es alles zu sehen gibt. Wir kommen unter anderem an einem armenischen Friedhof, an einer von einem jüdischen Architekten gestalteten Markthalle, an dem von einem italienischen Architekten gestalteten Regierungsgebäude, an einer modernen Skulptur mit zwei Armen, die aus der Erde wachsen und die an einen politischen Aktivisten erinnert, der hier 1963 ums Leben kam, an der Kirche, in deren Krypta sich der Apostel Paulus versteckt hielt und an einer türkischen Moschee, die gerade zu einem Museum umgebaut wird. Das gibt einen guten Eindruck vom kosmopolitischen Charakter Thessalonikis. In der Oberstadt kommen wir an dem Turm von Sonntag vorbei und an einer Stelle, von der man den Olymp sehen kann.
Ich steige da aus, wo das Geburtshaus von Atatürk ist. Das passt gut zu dem Thema der Stadtrundfahrt. Dass der Gründer der Türkei ausgerechnet in Griechenland geboren ist, ist wunderbar ironisch, aber natürlich war Thessaloniki damals nicht Griechenland.
Gleich vor dem Geburtshaus ist die Türkische Botschaft, und darum herum allerlei türkische Geschäfte, auch Andenkenläden mit Schals, auf denen Thessaloniki auf Türkisch steht: Selanik. Alle Angestellten in dem Museum sind Türken.
Atatürk hat hier nur wenige Jahre gelebt, und es gibt nur ein paar persönliche Gebrauchsgegenstände, die von ihm ausgestellt sind: eine Pfeife, ein goldenes Streichholzetui, Teile seiner Uniform, Silberbesteck, eine Art „Rosenkranz“, verschiedene Schatullen. All das sieht nicht nach Armut aus, aber das Elternhaus selbst war nicht begütert. Geradezu politisch bedeutsam die Kleidungsstücke: Weste, Krawatte, Krawattennadel, Lederschuhe, weiße Handschuhe, Spazierstock, all das ist Programm. Kein rechtschaffener Türke seiner Zeit wäre so rumgelaufen.
Am interessantesten eine Schale, versilbert, in die sein Name eingraviert ist, noch mit arabischen Buchstaben, aber mit dem K für Kemal bereits mit lateinischem Buchstaben.
Es gibt reichlich Information über sein Leben. Dabei interessieren mich die Jahre in Thessaloniki am meisten. Den Namen Mustafa, einer der Namen des Propheten, bekam er, weil die Mutter bereits drei Todgeburten hatte, als er zur Welt kam. Die Eltern hofften auf die symbolische Wirkung des Namens.
Vater und Mutter hatten entgegengesetzte Vorstellungen von der Ausbildung des Sohnes. Die Mutter wollte ihn in die Schule des Stadtviertels schicken, der Vater in die moderne Großstadtschule. In der Schule des Stadtviertels wurde meist nur gebetet und der Koran gelernt. Der Vater gab scheinbar nach, schickte ihn auf die von der Mutter gewünschte Schule, nahm in nach ein paar Tagen von der Schule runter und schickte ihn auf die Großstadtschule. Kurz danach starb er. Ohne ihn wäre aus dem Jungen kein Atatürk geworden.
Die Mutter verließ Thessaloniki und zog aufs Land, der Sohn blieb bei einer Tante und ging weiter zur Schule, mit großem Erfolg. Sein Lieblingsfach war Mathematik. Er stellte so schwierige Fragen, dass der Lehrer sie mit nach Hause nahm und schriftlich beantwortete. Der Lehrer hieß auch Mustafa und fand, es müsse einen Namen geben, der sie unterschied. Deshalb schlug er Kemal vor, ‚Reife‘. Das bleibt hängen.
Außer Mathematik war er vor allem auf Französisch versessen. Da bekam er nicht so gute Noten, aber Zugang zur französischen Literatur. Und damit zu revolutionären Ideen.
Komisch, dass das exakte Geburtsdatum nicht bekannt ist. Dabei ist das erst 150 Jahre her, noch nicht einmal. Einer Quelle zufolge soll die Geburt während des Erbain erfolgt sein, der kalten Jahreszeit, zwischen dem 22. Dezember und dem 31. Januar. Atatürk selbst berichtete aber, ihm sei erzählt worden, er sei im Frühling geboren. Irgendwer legte dann irgendein Datum im Frühling fest, als der englische König nach dem Datum fragte, um gratulieren zu können!
Das Haus ist ein dreistöckiges Fachwerkhaus mit quadratischem Grundriss und einem Innenhof mit einem Baum, der noch vom Vater Atatürks gepflanzt worden ist. Das war ein typisch türkisches Familienhaus in einem ganz und gar türkischen Viertel. Atatürk bewahrte eine intensive Erinnerung an Thessaloniki, heißt es, aber er war 1911 zum letzten Mal hier. Da war er gerade mal dreißig.
Am Abend rekapituliere ich: Im Laufe des Tages habe ich eine Stadtrundfahrt für 2 € bekommen, freien Eintritt in ein Museum, ein Mittagessen mit Wein und Brot dazu für 5,50 € und einen Kaffee mit Wasser und Keksen für 2 €. Thessaloniki schont das Budget.
27. Mai (Mittwoch)
In der englischen Version des Reiseführers von Thessaloniki heißen die Normannen im Plural Normen. Das ist ganz witzig, weil es zwar falsch, aber ganz logisch ist. Schon gravierender ist dies: The turbulent period of the raids of the Avars and Slavs followed a long-lasting period of calm for Thessaloniki. Genau das Gegenteil ist gemeint: Erst kamen die Beutezüge, dann die Periode der Ruhe. Könnte auch ein deutscher Fehler sein.
Irgendwo gelesen, dass Thessaloniki die zweitgrößte Stadt des Byzantinischen Reiches war, nach Konstantinopel. Das erklärt den Reichtum an byzantinischen Kirchen, gerade im Vergleich zu Athen. Athen war, das darf man nicht vergessen, jahrhundertelang ein größeres Dorf.
Agia Sofia gehört zu den Top 5, vielleicht sogar zu den Top 3 der byzantinischen Kirchen Thessalonikis und ist nur ein paar Minuten von der Wohnung entfernt. Einer Theorie zufolge soll sie zur gleichen Zeit wie die Hagia Sofia in Konstantinopel entstanden und vielleicht sogar von denselben Baumeistern errichtet worden sein. Das ist gar nicht so weit hergeholt. Sie ist zwar viel kleiner, weist aber Ähnlichkeiten auf: die Kuppel, die mächtigen Pfeiler, die Emporen.
Im Brand von 1917 blieb die Kirche verschont, wegen des großen Vorhofs. Das kann man sich ganz gut vorstellen. Andererseits wurde sie durch einen anderen Brand, den von 1890, stark beschädigt. Da scheint der Vorhof nichts genutzt zu haben. Sie wurde, damals noch Moschee, von den Osmanen ausgebessert. Der Vorgängerbau der aktuellen Kirche war durch ein Erdbeben im 6. Jahrhundert zerstört worden. Das Baptisterium dieser frühen Kirche soll erhalten sein, tiefer gelegen, ich kann es aber nirgendwo finden. Genauso wenig wie den Weg auf die Empore.
Ganz herumgehen und den Bau kann man nicht. Man kommt vor einen Bauzaun. Dahinter allerhand Gestrüpp. Hinter der Kirche wächst einiges: Palmen, Kiefern und ein schöner Laubbaum. Schmarotzender Jasmin wächst am Stamm der Kiefer hoch und bedeckt ihn fast vollständig.
An einer Seite liegen vor einer Mauer hinter Maschendraht allerlei Bauteile herum, darunter antik aussehende Säulen und kleine, aufgestapelte Steine. Vor dem schönen Gemäuer ergibt das ein interessantes Bild, aber man fragt sich, ob hier nicht Schätze herumliegen und verwittern.
Der Bau ist alles andere als elegant. Die ganz gerade abschließende Fassade ist oben verputzt und hat dort keine Fenster. Die Kuppel ist komischerweise kaum zu sehen. Die Fenster des Untergeschosses sind groß und erinnern, wie auch einige Bauteile im Osten, wiederum an die Trierer Basilika. Dieser Bau ist allerdings jünger.
Innen ist es durch die fehlenden Fenster im Obergeschosse sehr dunkel. Die Mosaike, die Besonderheiten der Kirche, kommen kaum zur Geltung. Da der Innenraum außerdem abgesperrt ist, kann man nicht direkt unter ihnen stehen. Ganz hinten in der Apsis eine einsame Gottesmutter vor weitem, goldenen Hintergrund. Davor in dem Bogen eine Darstellung aus der Zeit der Ikonoklastik: ein Kreuz
Das wichtigste Mosaik ist das der Kuppel. Christus, bärtig, erscheint in einer Mandorla. Die wird getragen von zwei Engel mit athletisch durchgedrücktem Rücken und nach oben weisenden Beinen. Die erinnern an die kretischen Stierspringer. Rund um dieses Bild sammeln sich die zwölf Apostel, alle in anderer Stellung, dieses Schauspiel wahrnehmend. Einer fasst sich an den Kopf, ein anderer legt den Kopf in die Hand. Sie stehen in einer stilisierten Landschaft von Steinen und Bäumen. Die trennen gleichzeitig die Figuren voneinander. Aber all das kann man allenfalls erahnen. Die Bilder in den Führern sind viel besser.
Der Raum ist eine Mischung aus Basilika und Kreuzkuppelkirche. Die Basilika nimmt man allerdings kaum wahr. Die Seitenschiffe sind viel enger und niedriger als das Mittelschiff und von so starken Stützen davon getrennt, dass man sie praktisch nicht wahrnimmt. Man glaubt nicht, in einer dreischiffigen Kirche zu sein. Zwischen den dicken Stützen stehen graue Pfeiler mit großen Kapitellen mit Akanthusblättern. Die stammen wohl noch aus dem Vorgängerbau.
Etwas enttäuscht gehe ich hinaus und mache noch Photos von der Kirche durch den Torbogen, durch den man den Vorhof betritt. Und dann noch von einem achteckig zulaufenden Turm, einer späteren Hinzufügung. Der scheint mit dem Bau kaum etwas zu tun zu haben und würde eher zu einer Burg passen. Aus dem Fenster des Turms hängt ein wildes Gestrüpp von Kabeln heraus, die die Fassade hinunter wandern. Es sind Kabel für Lautsprecher und Strahler.
Direkt vor der Kirche, in der Verlängerung der Achse des Mittelschiffs, steht eine moderne Skulptur. Drei Menschen, nur angedeutet, stehen eng beieinander und haben die Köpfe in eine Zeitung versenkt, die der Mann in der Mitte in der Hand hält. Heute würde jeder in sein eigenes Smartphone sehen.
Gleich dahinter, an beiden Ecken des Platzes, zwei bemerkenswerte Häuser aus der Zwischenkriegszeit, unterschiedlich und doch ähnlich. Links das Rote Haus, verspielter, mit Erkern und Balkonen und vielen abgerundeten Bauteilen, rechts das strengere, beige gefasste Terkenlis. Aber auch das hat ganz oben turmartige Abschlüsse, die wie mittelalterliche Zitate aussehen, und eine abgerundete Ecke am Übergang der beiden Fassadenhälften. Beide Häuser sind irgendwie „schön“, wenn es sein müsste, würde ich mich wohl für das zweite entscheiden.
Ich mache mich auf die Suche nach den Märkten und komme in einen zweigeteilten, halb überdachten Markt, weiß aber nicht, wo ich bin. In einem Café versuche ich mich zu orientieren, aber die Männer frotzeln lieber über Merkel und die Kellnerin spricht über ihren aus Dortmund stammenden Ehemann und das bevorstehende Pokalendspiel. Es muss sich aber wohl um den Vlali-Markt handeln, lokal als Kapani bekannt. In dem lauteren Teil stehen die Verkäufer vor dem Stand und preisen lautstark ihre Ware an, vor allem den frischen Fisch. In dem ruhigeren Teil gibt es auch viele kleine Möbel, vor allem winzige Stühle mit geflochtener Sitzfläche. Die Verkäufer sitzen zwischen den Möbeln und manchmal sieht man sie erst auf den zweiten Blick.
Beim Umherirren komme ich an einem Geschäft vorbei, in dem eine Schaufensterpuppe einen kleinen Jungen mit dem schwarz-weißen Outfit von PAOK darstellt. Später sehe ich als Schlagzeile einer Zeitung, dass PAOK leichtes Spiel gehabt habe. Worauf sich das bezieht, ist nicht klar. In der Tabelle steht PAOK an 3. Stelle. Das bedeutet in Griechenland die Teilnahme an der Europa League. Davor steht Panathinaikos und ganz vorne Olympiakos. An der Reihenfolge kann sich praktisch nichts mehr ändern, vier Spieltage vor Ende der Saison. Ganz hinten steht ein Verein aus Volos. Der konnte Spiele gar nicht erst austragen, weil er Spielergehälter nicht bezahlen konnte. Er steht mit weitem Abstand auf dem letzten Platz. Der Name des Vereins ist Niki Volou.
Dann komme ich, wiederum zufällig, an der Skulptur mit den erhobenen Händen vorbei. Leider liegen davor verdorrte Blumen und Kränze. Vor ein paar Tagen war der Jahrestag des Attentats. Auf einem Schild erfährt man, dass der Getötete, Grigoris Landrakis, Mitglied einer Friedensbewegung war. Er war gerade von einer Versammlung gekommen, bei der er eine flammende Rede gehalten hatte. An dieser belebten Kreuzung kamen Männer in einem Dreirad auf ihn zu und überfuhren ihn. Es sollte nach einem Verkehrsunfall aussehen. Eine von engagierten Politikern und Journalisten vorangetriebene Untersuchung ergab aber, dass es eine geplante Aktion war, in die Politik und Polizei verwickelt waren. Bei der Suche im Internet wird mir nachher klar, warum mir der Name so bekannt vorkam: Landrakis Geschichte ist die Vorlage für Z, den Roman und den Film. Landrakis war auch ein erfolgreicher Leichtathlet, und der Athener Marathon wird zu seinem Gedächtnis gelaufen.
Hier im Viertel wird der Versuch gemacht, Müll zu trennen. Es gibt eine grüne Tonne für Restmüll und eine blaue für Wertstoffe. Das funktioniert aber nicht. In der blauen Tonne landet alles Mögliche. Die Müllabfuhr scheint jeden Tag zu kommen.
28. Mai (Donnerstag)
Zwei Moscheen, vier Bäder, eine Turbe und ein Markt. Das ist das, was vom türkischen Erbe übrig geblieben ist. Das ist verdammt wenig für die vielen Jahrhunderte, aber eher im Vergleich zu anderen Städten. Zum Teil liegt das daran, dass die Türken einfach christliche Kirchen als Moschee benutzten. Keine große Umbauten, Wandmalereien übertüncht, Minarett daneben, fertig. Aber was ist aus all den türkischen Geschäften, Wohngebäuden, Verwaltungsgebäuden, Schulen geworden? Da muss viel abgerissen worden sein nach der „Befreiung“. Davon ist aber in den Reiseführern und auch im Museum im Weißen Turm nie die Rede. Das Wort „Zerstörung“ bezieht sich immer nur auf das, was andere gemacht haben.
Auf dem Weg zu den türkischen Monumenten komme ich über den Wochenmarkt. An einem Stand besorge ich Papiertaschentücher. Mir fällt das Wort nicht ein, also zeige ich eins. Die Verkäuferin sagt und erklärt das Wort, ganz wunderbar, wie die geborene Lehrerin. Es ist außerdem ganz einleuchtend: χαρτομάντηλο. Der erste Bestandteil bedeutet ‘Papier’, der andere ist der, der auch in τραπεζομάντηλο steckt, ‚Tischdecke‘. Ich hatte irgendwie πετσέτα erwartet. Aber das heißt ‚Serviette‘ und ‚Handtuch‘.
Heute ist die Regenjacke angesagt. Man rechnet schon gar nicht mehr damit. Unterwegs sehe ich ein älteres Ehepaar. Der Mann gibt der Frau seine Mappe, damit sie sich die über den Kopf halten kann.
Zuerst komme ich zu Geni Hamam. Verrückt: Ich habe es schon mal vergeblich gesucht und bin auch schon mal dran vorbeigekommen. Es liegt gleich hinter Agios Demetrios. Beim Vorbeigehen sieht man nicht, dass es türkisch ist. Die beiden dicken, roten Kuppeln sieht man nur aus der Distanz. Und den Hufeisenbogen sieht man nur, wenn man genau hinsieht. Dieses Bad wird oder wurde als Kino benutzt. Die Leute hier kennen den Bau praktisch nur unter dem Namen des Kinos, Αίγλη. Das heißt ‚Glanz‘.
Etwas weiter Richtung Unterstadt, auf derselben Achse, liegt Bey Hamam, ein weiteres türkisches Bad. Hier haben wir nach dem Lesekreis draußen gesessen, aber das merke ich erst ganz zum Schluss. Bei Tag sieht die Sache ganz anders aus. Der Mann, nach dem das Bad benannt ist, trug den Ehrentitel Bey, daher der Name. Die Leute hier vor Ort kennen den Haman als Paradise Bath. Bey Hamam war ein doppeltes Bad, für Männer und für Frauen. Der Eingang für Männer liegt an der Hauptstraße, der Egnatia, und ist größer und prächtiger als der für die Frauen. Wie sich das gehört. Beide haben aber schöne Dekorationen. Nach der Renovierung kommen die bestimmt wieder gut zur Geltung. Unter den vielen unterschiedlich geformten und unterschiedlich großen Kuppeln liegen die Baderäume. Nach römischem Vorbild ging man vom kalten Raum in den lauwarmen und von da in den heißen. Die verschiedenen Räume hatten durchlaufende Bänke. Es gab einen unterirdischen Kessel, mit dem für beide Abteilungen heißes Wasser, heiße Luft und Dampf erzeugt wurde. Außen sieht man kleine, schön gestaltete Löcher, durch die der Qualm austrat. Bei der Beschreibung kommt das seltene englische Wort flue vor. An dem Bauzaun entdecke ich ein merkwürdiges Gestell. Es ist ein Dreirad mit ganz hohem Sitz und einer quer laufenden Kette. Man muss es vermutlich vor Benutzung auseinanderklappen.
Auch an der Egnatia, viel näher, als ich vermutet hatte, liegt die Hamza Bey Tsami, eine der erhaltenen Moscheen. Auch hier wird renoviert. Durch den Bauzaun kann man in den freien Innenhof sehen mit seinen schönen Arkaden. Dort sind die Kapitelle „normal“, außen hat die Moschee aus roten Backsteinen geformte Kapitelle. Habe ich noch nie gesehen. Hier an dieser Moschee, ebenso wie an allen anderen türkischen Bauten, ein Bauelement, das wohl byzantinisch ist und von den Osmanen übernommen wurde, ‚gesägte‘ Gesimse, aus Backsteinen gemacht, die mit der „falschen“ Seite nach außen zeigen. Habe ich auch an Profitis Ilias gesehen. Die Kuppeln hier sind oder waren aus Kupfer, die des Bey Hamam aus Schindeln, die des Geni Hamam glatt und knallrot gefasst, vielleicht aus Blei.
Das nächste Ziel, gar nicht weit und schon richtig in dem geschäftigen Viertel seitwärts des Aristoteles-Platz gelegen, ist Besesteni, die türkische Markthalle. Sie ist quadratisch, mit einem Eingang zu jeder Seite, und hat sechs flache, völlig gleichartige Kuppeln. Einer der Eingänge ist besonders hervorgehoben. Der Name leitet sich von ‚Tuch‘ ab. In diesem Markt wurden früher die wertvollsten Waren verkauft. Das ist heute nicht mehr der Fall, es ist Massenware, die hier angeboten wird, aber noch heute gibt es an den meisten Ständen Stoffe.
Endlich finde ich auch Louloudadika, den Blumenmarkt. Dabei geht es nicht um die Blumen, sondern um den Standort. Denn die Blumenstände gruppieren sich, zusammen mit unzähligen Cafés, um ein weiteres Badehaus herum, den Yahudi Hamam. Der Name ist eine Anspielung darauf, dass sich hier das jüdische Viertel Thessalonikis befand. Dieses Badehaus, bereits renoviert, ist der schönste der türkischen Bauten Thessalonikis, mit einer Fassade aus rotem und weißem Baumaterial, das verschiedene Muster bildet, und mit einer Vielzahl von achteckigen, flachen Kuppeln. An den rechteckigen, hohen Bauteil schließen sich verschiedenere kleinere Bauteile an, und da das Bad teils unter Bodenniveau liegt, liegen deren Dächer einem quasi zu Füßen. Die Dächer haben rote Schindeln, die, wir ich mir habe sagen lassen, nach dem Prinzip Mönch und Nonne angeordnet sind. Man kann in die Räume von außen hineinsehen, aber kaum etwas erkennen. Der Bau, obwohl renoviert, ist geschlossen.
An einer Seite des Louloudadika steht ein auffälliges, schönes Eckhaus, das, wie ich mir habe sagen lassen, dem Sezessionsstil zugeordnet werden kann.
An der Glasfassade eines modernen, nichtssagenden Hochhauses hängt an jedem zweiten Fenster ein Kasten für die Klimaanlage. Jeder davon ist hässlich, aber insgesamt sehen sie wie gewollte Dekoration aus oder sogar wie eine Skulptur.
Im Vlali-Markt kaufe ich an einem gut sortierten Obststand Erdbeeren. Ein halbes Kilo kostet 1,50 €. Das, habe ich mir sagen lassen, ist günstig. Die ersten Erdbeeren schmecken mir nur gut, aber dann wird es mit jeder einzelnen immer besser. Es ist wie mit Chips oder Zigaretten. Im Laufe des Tages wird der Vorrat immer kleiner.
Die letzte türkische Station ist schon wieder ganz in der Nähe der Wohnung, aber schlecht zu finden, etwas abseits der Straße inmitten von Wohnhäusern gelegen. Das ist die zweite erhaltene Moschee, Alatza Imaret. Der Name weist auf das ehemalige bunte Minarett der Moschee hin und auf die erweiterte Funktion der Moschee als Armenhaus. Von dem bunten Minarett, eine Seltenheit, sind nur noch der Sockel und ein Stumpf erhalten. Schade. Auch dieser Bau ist bereits renoviert. Er sieht ganz anders aus als die anderen türkischen Bauten. Glatte, aber sonst nicht bearbeitete Natursteine, alle von unterschiedlicher Größe, sind, jeder für sich, durch flache Backsteine eingerahmt und bilden so ein Rechteck. Vor dem Eingang hat die Moschee eine hohe Arkade mit sechs Säulen, die fünf Kuppeln tragen. Man denkt an die symbolische Bedeutung der Zahl 5 im Islam, an die Säulen des Islam. Über dem Eingang befindet sich ein Stein mit einer Inschrift in arabischen Schriftzeichen. Die besagt, dass die Moschee von einem hochrangigen türkischen Offizier 1484 errichtet wurde, kurz nach der Einnahme Thessalonikis durch die Türken. Die Gebetsnischen befinden sich hier außen, nicht innen.
Dieses Gebäude kann man besichtigen. Es besteht aus zwei Haupträumen, jeder mit einer hohen Kuppel. Die waren, wie man andeutungsweise sehen kann, früher prächtig dekoriert. Die beiden Räume werden durch einen hohen Bogen getrennt. Seitlich liegen zwei kleinere Räume, vermutlich die, die der Armenfürsorge dienten.
In der Moschee läuft in einer Endlosschleife eine Dokumentation über den Sufismus, mit Videos zu allen Seiten des zweiten Hauptraums. Es wird einem fast schwindlig, bei all der Musik und der rhythmischen, teils ekstatischen Bewegungen. Aufnahmen aus Wohnzimmern mit dicken Teppichen stehen neben Aufnahmen von einer Gruppe weiß gekleideter Afrikaner auf einem Großstadtplatz und Aufnahmen von zwei Männern mit traditionellem Gewand und hohen Fes, die sich vor einer Felsenlandschaft ständig umeinander drehen.
Auf dem Rückweg gehe ich bei Demetris, dem Schneider vorbei. Er begrüßt mich wie einen alten Freund, den er seit Jahren nicht mehr gesehen hat, und stellt mir seine Frau und zwei Freunde vor, die zwischen den Nähmaschinen sitzen und mit ihm plauschen. Zwischendurch kommt eine Kundin hinein und bringt einen Schal vorbei, der umgenäht werden soll. Alle sind sehr freundlich und frotzeln etwas über Deutschland und Griechenland. Dimitris findet, die Griechen könnten was von den Deutschen lernen. Die würden ihren Müll nicht einfach auf die Straße werfen. Er erkundigt sich eingehend nach Sofia und bestellt Besserungsgrüße. Ich bedanke mich mit unbeholfenen Worten für die freundliche Begrüßung dieser Tage und ziehe weiter.
Am Nachmittag bringe ich Sofia ein paar Erdbeeren. Die kommen besser an als die Süßigkeiten dieser Tage. Ihre Stimme ist viel besser, aber sie hört sich noch ziemlich mitgenommen an. Dennoch fragt sie detailliert nach der Reise. Sie reserviert einen Parkplatz am Flughafen für mich, gibt mir einen türkischen Geldschein für Notfälle und eine Karte, die man aufladen und als Fahrkarte benutzen kann.
Ich sage, ich wolle noch schnell raus, um mein Handy aufzuladen, für den Fall der Fälle. Sie wehrt energisch ab: Nicht ins Geschäft, lieber im Internet. Da bekommt man immer noch etwas gratis dazu. Ich würde lieber ins Geschäft gehen, aber sie bietet an, die Sache für mich zu machen. Auch durch meine Warnung, dass bei mir so etwas immer schief geht, lässt sie sich nicht entmutigen. Die Aktion zieht sich allerdings in die Länge. Ihr PC arbeitet mit provozierender Langsamkeit. Dann wird ein Kennwort an mein Handy geschickt. Das liegt unten. Dann wird ein Link an die Mailadresse geschickt. Ich will 20 € aufladen, aber sie sagt, das sei viel zu viel. 10 € würden genügen. In Ordnung. Ich habe nur einen Zwanziger und sie kann nicht wechseln. Also gehe ich runter und hole einen Zehner. Den gebe ich ihr. Dann muss ich wieder runter. Auf dem Handy soll eine Nachricht sein, die das neue Guthaben bestätigt. Die Nachricht ist aber nicht da. Also geht sie wieder ins Internet. Es stellt sich heraus, dass die 10 € zwar von ihrem Konto runter, nicht aber auf meinem Handy drauf sind. Sie tätigt einen Anruf und bekommt Instruktionen. Jetzt geht die ganze Aktion wieder von vorne los. Am Ende stellt sich heraus, dass alles erfolgreich war, aber zweimal. Mir sind jetzt 20 € gutgeschrieben worden. Ich nehme den Zehner, bringe ihn runter, hole den Zwanziger und gebe ihn ihr.
29. Mai (Freitag)
Dass mein Auto sich in den zwei Wochen nicht vom Fleck bewegt hat, spricht für die Lage der Wohnung. Heute soll es mich aber zum Flughafen bringen. Will es aber nicht. Es gibt keinen Mucks von sich.
Ich schnappe meinen Koffer und gehe durch die fast menschenleeren Straßen Richtung Unterstadt. Eine Frau sagt mir, ich müsse zwei Busse nehmen. Das ist mir aber zu kompliziert. Ich will direkt zum Flughafenbus. Man schickt mich zur Egnatia und zur Linie 78. Da gibt es tatsächlich eine Haltestelle dieser Linie, aber darunter steht der Vermerk „Nachtbus“. Als ich gerade überlege, was ich tun soll, taucht auf einmal die junge Frau, die ich zuletzt nach dem Weg gefragt habe, hinter mir auf. Sie habe sich vertan, sie sei hinter mir hergelaufen, um ihren Fehler auszumerzen. Sagenhaft! Und nicht nur das. Sie bringt mich zu der ein ganzes Stück entfernten Haltestelle. Der Weg führt an ihrem Arbeitsplatz auf dem Aristoteles-Platz vorbei. An der Haltestelle wird tatsächlich der Bus schon angekündigt, und es stehen auch lauter Leute mit Koffern dort herum. Im letzten Moment fällt mir ein, zu fragen, ob man im Bus bezahlen kann. Ja, aber nur mit Münzen. Die Fahrt kostet zwei Euro. Es ist ein moderner Gelenkbus, mit elektronischer Anzeige und zweisprachigen Durchsagen. Die Fahrt zieht sich hin. Ich sehe lieber erst gar nicht auf die Uhr. Einfach das Beste hoffen. Und es klappt.
Zwischen Landung und Ausgang vergeht eine komplette Stunde. Erst rollen wir ein langes Stück mit dem Flugzeug über das Flugfeld, dann kommt eine lange Strecke mit dem Bus, und dann geht es auf unendlichen Wegen durch die Flughalle. Istanbul baut einen neuen Flughafen, erfahre ich kurz darauf. Er soll der größte Europas werden. Mit kürzeren Wegen, wie zu hoffen ist. Hier müssen alle in die gleiche Richtung, durch die gleichen Kontrollen, durch die gleichen Sperren. Das macht sie Sache so langatmig.
Draußen wartet Melda mit ihrer kleinen Schwester, Esra, die ihr sehr ähnlich sieht und genauso schlank ist. Sie spricht kaum Englisch. Sie unterrichtet Türkisch in Ankara, Türkisch für Ausländer. Das sind meist ausländische Austauschstudenten, aus dem Iran, aus Pakistan, aus Vietnam.
Ilker dreht in der Zwischenzeit draußen Runden, da man hier natürlich nirgendwo parken kann. Trotz eines schimpfenden Polizisten findet er eine Lücke und kann uns einladen und schafft es außerdem noch, mich ganz herzlich zu begrüßen. Ich fühle mich willkommen.
Alle drei haben moderne Smartphones, und Ilker hat ein neues, modernes Auto. Es geht mit schneller Fahrt in die Innenstadt. Zwischendurch machen wir Halt. Ilker gibt eine Runde Granatapfelsprudel aus, und es wird das obligatorische Selfie gemacht.
Die Straßen sind geschmückt. Kilometerweit hängen bunten Wimpel über der Straße. Erst heißt es, das habe was mit den bevorstehenden Wahlen zu tun, dann, es habe was mit dem Jahrestag der Eroberung Konstantinopels zu tun. Später, bei der Hochzeit, bekomme ich eine klare Antwort: Die herrschende politische Partei versucht, nationale Gedenktage für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Wimpel stammen allerdings von verschiedenen Parteien, wie ich in den nächsten Tagen immer wieder sehen werde.
Ich berichte von Thessaloniki und von den türkischen Bauten, den Moscheen und den Bädern und dem Markt. Das griechische Wort für ‚Moschee‘, τζαμί, erkennen sie nicht, obwohl es aus dem Türkischen kommt und dem türkischen Wort, cami, sehr ähnlich ist. Aber die Betonung ist anders, und das scheint das Wort zu entstellen.
Melda sagt, sie sei aufgeregt und gespannt und voller freudiger Erwartung, aber nicht nervös. Trotz der 400 Gäste. Es könnten sogar einige mehr werden. Einige haben nicht geantwortet, und es kann sein, dass sie trotzdem kommen. Sie brauchen nur mich vom Flughafen abholen. Alle anderen kommen mit dem Bus. Ilkers Verwandte sind schon da, Meldas Verwandte kommen heute.
Sie wird ein langes weißes Kleid tragen, Esra ein langes schwarzes. Was sie mit den Haaren anstellen wird, erklärt sie mir zwar, aber ich verstehe es nicht. Nicht hochgesteckt, aber auch nicht lose.
Ich sage ganz vorsichtig, ich hätte von nicht so guten Wetteraussichten für morgen gelesen, aber sie haben die neueren Informationen: bewölkt, aber trocken. Und so soll es dann auch kommen. Was sie bei strömendem Regen gemacht hätten, wissen sie wohl selbst nicht. Denn die Feier findet unter freiem Himmel statt.
Sie setzen mich nicht nur ab, sondern begleiten mich in das Hotel in Sultanahmet und warten, bis alles in Ordnung ist. Morgen holt mich jemand zur Hochzeit ab. Ich brauche mich um nichts zu kümmern.
Das Wetter ist gut, und ich mache gleich einen Spaziergang nach durch Sultanahmet. Auf dem Weg komme ich an einem Friseursalon vorbei: Erkek Kuaförü. So werden Fremdwörter heimisch gemacht. An einer Baustelle sehe ich ein ganz seltsames Gestell: ein Höllenreiter auf einem modernen Motorrad, der aber wie ein Wagenlenker aus der Antike aussieht. Später sehe ich, dass der Teil eines hier entstehenden exzentrischen Cafés sein wird.
Das Hotel liegt in einer Seitenstraße, und ich fünf Minuten ist man auf der Hauptstraße und in zehn Minuten an der Blauen Moschee. Die ist viel photogener als die Hagia Sofia. Wie aus einem Stück. Die Hagia Sofia ist dagegen unglaublich verbaut.
Es ist rappelvoll. Ich habe noch nie so viele Touristen in Istanbul gesehen. Die Sprache der Sprachen ist Russisch. Mehrmals werde ich auf Russisch angesprochen, überall gibt es Hinweisschilder und Reklametafeln auf Russisch, und in dem Lokal, wo ich ein Mittagessen bekomme, steht eine russische Reisegruppe vor der Ausgabe, und der Mann hinter der Theke erklärt ihnen auf Russisch, was er zu bieten hat.
Alles sieht sehr verlockend aus. Ich nehme etwas, was als Saray Kebab bezeichnet wird, vermutlich irgendein erfundener Name, der Touristen anlocken soll. Rindfleischstücke mit einer Haube aus Kartoffelpüree und dazwischen Gemüse. Schmeckt gut, aber nicht so gut, wie es aussieht.
Ich trinke zwei Efes dazu. Das gibt es aus Dosen. Das Wort Bier steht in verschiedenen Sprachen darauf. Man sieht, dass alle, einschließlich türkisch, Variationen von Bier sind, mit Ausnahme von cerveza. Das Spanische bewahrt das lateinische Erbe.
Als die Rechnung kommt, stehen da vier Posten statt zwei. Ich frage nach: Bier, Fleischgericht, Reis, Gemüse, alles wird extra berechnet. Das wird einem bei der Essensausgabe natürlich nicht gesagt.
Ich mache einen Spaziergang bis zu der unterirdischen Zisterne. Das steht eine lange Schlange und wartet auf Einlass. Ich meine, damals fast alleine da drin gewesen zu sein. Sie ist jetzt allerdings auch viel besser ausgeschildert.
Wie immer in Sultanahmet, wird man überall angesprochen, Schlepper, die einen Cousin in Stuttgart haben, dich zum Tee einladen und dir einen Teppich andrehen wollen. Auch organisierte Ausflüge gibt es überall und überteuerte Lokale. Auch vor dem Sultanahmet Köftecisi, wohin ich damals mal eingeladen worden bin, steht eine Schlange, aber fast nur Türken.
Ich komme an alten Bekannten vorbei, der Türbe, der Konstantinssäule, dem Pressemuseum, dem Million Stone. Allmählich kommt alles wieder in Erinnerung. Und doch erfährt man auch immer wieder was Neues. Der Million Stone, von dem aus alle Distanzen des alten Reiches berechnet wurde, war der Beginn der Via Egnatia. Und heute Morgen ist mein Flughafenbus von der Egnatia abgefahren!
Die Konstantinssäule, Çemberlitaş, wurde nach der Verlegung der Hauptstadt aus Rom hierher gebracht. Sie trug in Rom eine Apollostatue. Die wurde hier von einer Statue Konstantins ersetzt. Später ließ Konstantins heidnischer Gegenspieler, Julian Apostata, dessen Statue durch seine ersetzen, und noch später wurde die durch ein Kreuz ersetzt! Jetzt ist der Platz auf der Säule leer. Die türkische Bezeichnung, Çemberlitaş bezieht sich auf die Eisenringe, die die Säule auf verschiedenen Höhen umringen und ihr den Halt geben. Das war nötig geworden, nachdem sie durch einen Brand beschädigt worden war.
30. Mai (Samstag)
Auf der Straße nach Sultanahmet stehen Leute Schlange, zu beiden Seiten. Einige haben Dokumente in der Hand, aber es ist nicht zu ersehen, was sie da wollen, oder auch nur, ob es sich um eine oder zwei verschiedene Dinge handelt. Man ist doch ziemlich sprachlos.
Ich gehe über Sultanahmet bis nach Eminönü, der Anlegestelle für die Fähre von der asiatischen Seite, von Kadiköy und Üsküdar. Es ist viel los. Es kommt gerade eine Fähre an, und außer Fähren sind hier auch Ausflugsschiffe und Privatboote unterwegs, und am anderen Ufer liegen zwei Kreuzfahrtschiffe. Ein Angler zieht gerade seine Angel aus dem Wasser und zeigt einem Passanten stolz, was er daran hat: nicht einen, sondern gleich sechs oder sieben Fische, kleine, silbrige.
Auf dem Weg hierher bin ich an der Pforte vorbeigekommen, von der die Hohe Pforte ihren Namen hat. Gegenüber Teile eines Palastes, der an und sogar auf der Mauer des Gülhane-Parks sitzt. Man wird hier überall als Tourist angesprochen, aber sobald man nach Eminönü kommt, ändert sich die Atmosphäre. Hier geht es türkisch zu.
Als ich an einer Fußgängerkreuzung stehe, sagt mir ein alter Mann in bestimmtem Ton, ich solle warten, bis es grün wird. Dabei gibt es an dieser Stelle der Kreuzung nur einen Zebrastreifen, ohne Ampel. Egal, ich warte. Als ich mein Einverständnis gebe und Tamam sage, antwortet er mir, ich solle nicht Türkisch sprechen. Ich sei kein Türke, sondern Engländer, also solle ich Englisch sprechen. Dummerweise lasse ich mich darauf ein und sage, ich sei Deutscher. Darauf sagt er: „Deutschland! Adolf Hitler!“ Und macht den Hitlergruß.
Links liegt die Galatabrücke und gegenüber sieht man zwischen den ansteigenden Häuserreihen von Karaköy den Galataturm. Dies ist das Goldene Horn, das die beiden europäischen Teile Istanbuls trennt. Auf der anderen Seite liegt der Bosporus, der die europäische von der asiatischen Seite trennt.
Hier, auf dieser Seite der Brücke, liegt die Yeni Cami, eine riesige Moschee, die nur zwei Minarette zu haben scheint. Die sind aber besonders schön, mit Ringen auf verschiedenen Höhen, von denen Regentropfen herabzuhängen scheinen.
Ich gerate in einen Bazar und die darum herum liegenden Einkaufsstraßen. Kaum ein Ausländer verliert sich hierher, obwohl es sehr zentral gelegen ist. Hier gibt es alles, was das Herz begehrt: Sitzkissen, Elektromotoren, Hämmer, Ohrringe, Ventilatoren, alles einzeln und in der Regel unverpackt. Besonders haben es mir die Sitzkissen angetan. Die sind dick und stabil und haben schöne Muster, meist mit Rot als Grundfarbe. Man sieht förmlich, dass sie bequem sind.
Neben all den Ständen und Geschäften gibt es noch ambulante Händler und Verkaufskarren und außerdem Händler, die ihre Ware auf dem Boden ausbreiten: Smartphones, CDs, Sonnenbrillen. Die Straßen sind voll, und zwischendurch zwängt sich ein Motorroller hupend durch die Menge. Kellner mit schön verzierten dreiarmigen Tabletts bringen kleine Gläschen mit Tee in die Läden. Über die Straße sind durchlöcherte rot-gelbe Fahnen als Sonnenschutz gespannt. Rot-Gelb? Galatasaray! Natürlich, Karaköy, das alte Galata, ist gleich gegenüber!
Auf dem Rückweg gehe ich in einen Bahnhof rein, an dem ich zufällig vorbeikomme. Es ist ein Sackbahnhof, und er sieht sehr europäisch aus, mit schrägen Dächern aus Eisen und langen Pfeilerreihen entlang der Gleise. Das ist 19. Jahrhundert, wie es im Buche steht. Hier müssen die Züge des Orient Express angekommen sein. Die dreiteilige Fassade mit einer Rose in der Mitte sieht wie die einer Kathedrale aus.
Zurück geht es durch den Gülhane-Park. Breite Gehwege, sehr grün, mit Hecken, die Muster bilden und gepflegten Rabatten am Wegesrand, mit einheitlich verzierten Laternen, Bänken und Papierkörben!
In der Nähe des Hotels noch ein Händlerviertel. Hier ist alles auf Schuhe eingestellt. Es gibt aber kaum noch Schuhputzer, jedenfalls hier nicht. Also muss ich meine Schuhe wohl selbst putzen. Oder neue kaufen. Das ist aber nicht so leicht. In einem Geschäft sagt man mir „One shoe“. Als ich das nicht verstehe, wird es zu „No shoe“ variiert. Das schlägt der Wirklichkeit ins Gesicht. Hier stehen nur Schuhe rum, in Regalen und in gestapelten Kartons. In einem zweiten Geschäft passiert mir dasselbe. Später fällt mir erst ein, dass „One shoe“ bedeuten könnte, dass man erst mal nur einen anprobieren kann. Und dass der zweite nur bei Bedarf oder bei echtem Interesse herangeschafft wird.
Ich suche ein Café, aber in der Straße, in der ich gelandet bin, gibt es nur Restaurants, und die sind ganz und gar auf Touristen eingestellt. Dann finde ich ein Lokal, in dem nur türkische Männer sitzen und Wasserpfeife rauchen, Tee trinken oder mit dem Handy telefonieren, manchmal alles gleichzeitig. Hier sitzt man sehr bequem, es sind genau die Sitzkissen, die ich vorher gesehen habe. Der Tee wird in winzigen bauchigen Gläsern serviert.
Auf dem Weg zum Hotel kaufe ich an einem Stand noch einen Sesamkringel. Die kosten hier eine Lira, sind also noch billiger (35 Cent) als die in Griechenland (50 Cent).
Beim Warten auf den Fahrer lese ich in einer Broschüre, dass die Besucherzahlen in Istanbul ständig steigen. Weiterhin sind die Deutschen die größte Besuchergruppe, dann kommen schon die Russen.
Der Fahrer, der etwa so viele englische Wörter kennt wie ich türkische, entschuldigt sich für die Verspätung. Das aber macht mir gar nichts. Ich habe es nicht eilig und bin froh über den Service.
Wir verständigen uns mit Gesten und einzelnen Wörtern. Und verständigen uns darauf, dass er Kaĝan heißt, selbst in Avcilar wohnt, wo auch die Hochzeit stattfindet, dass er ein deutsches Auto hat und dass deutsche Autos gut sind. Er schafft es sogar, mir zu erklären, dass wir einen Umweg fahren müssen, da die eigentliche Strecke gesperrt ist. Demonstrationen. Politik. Später, als wir im Stau stecken, macht er dann noch klar, dass jetzt alle in dieselbe Richtung fahren, stadtauswärts, wegen des Wochenendes und wegen der Demonstrationen. Dann stellt er eine Frage mit saat, und erst viel später fällt mir ein, dass er vermutlich danach fragt, wie spät die Hochzeit anfängt, aber darauf komme ich nicht. Alle weiteren Kommunikationsversuche versanden. Es ist schon etwas peinlich. Und die Fahrt zieht sich in die Länge. Wenn man geglaubt hat, es werde besser, wenn man auf die Autobahn kommt, hat man sich mächtig getäuscht. Wir kommen zum Flughafen, Havalimani, und ich da merke ich an dem Schild, dass das Wort für Hafen auf Türkisch fast identisch ist mit dem auf Griechisch. Die Gegend kommt mir bekannt vor, und tatsächlich taucht dann die Kültür Universitesi auf.
Dann kommen wir ans Meer, die Fahrt geht zügiger, und die Gegend wird reizvoller. Als wir an dem abgesperrten, bewachten Grundstück ankommen, wo die Hochzeit stattfindet, sind mehr als zwei Stunden vergangen.
Ich werde vom Bräutigam selbst in Empfang genommen. Der hat sich zur Feier des Tages den Bart abgenommen, und ich muss wohl ziemlich verdutzt aus der Wäsche gucken, seinem Gesichtsausdruck zufolge. Er leitet mich an einen Verwandten weiter, der mich zu dem Tisch führt. Es findet alles im Freien statt. Auf einer riesigen Terrasse mit Blick aufs Meer sind Tische in loser Folge aufgestellt, jeweils für zehn. An meinem sind Meldas Kolleginnen. Alle unterrichten Englisch und wissen schon, dass ich komme. Von meinen alten Kolleginnen ist aber keine da, und komischerweise kennen sie sie kaum. Es handelt sich um eine andere Fakultät. Die Frauen hier unterrichten an der Sprachschule, die alle Studenten durchlaufen, während meine alten Kolleginnen in der Anglistik tätig sind. Die Frauen sind alle sehr freundlich, aber über ein paar Gemeinplätze kommt das Gespräch nicht hinaus. Sie unterhalten sich natürlich auf Türkisch. Ausgerechnet die gesprächigste der Frauen sitzt am anderen Ende des Tisches. Neben mir sitzt eine sehr elegante Frau, bei der alles Ton in Ton ist: Jacke über dem Kleid, Schuhe, Fingernägel, Tasche. Aber sie ist eine Art Assistentin und traut ihrem eigenen Englisch nicht so recht, obwohl das alles andere als schlecht ist. Zu allem Übel kommt aus den Lautsprechern hinter uns laute Musik, englische Schlager aus der Vorzeit.
Ob ich schon mal an einer türkischen Hochzeit teilgenommen hätte, fragen sie, und erwecken damit große Erwartungen. Die werden aber enttäuscht. Das hier hat mehr von Hollywood als von Türkei. Es gibt Fanfaren und Feuerwerk, als das Paar über einen roten Teppich einschreitet. Sie setzen sich an einen Tisch vor der Bühne, und dann kommt die Bürgermeisterin oder Ortsvorsteherin und nimmt die Zeremonie vor. Neben dem Paar sitzen die Trauzeugen. Das geht alles relativ schnell über die Bühne. Dann spricht die Bürgermeisterin ein paar Worte, und das ist es.
Auf dem Tisch stehen Cola, Orangensaft und Wasser. Kein Sekt zur Begrüßung? Kein Sekt, um auf das Paar anzustoßen? Dann kommt schon das Essen, und jetzt stelle ich doch mal die Frage, wann denn Wein und Bier kämen. Gar nicht. Die Bürgermeisterin, heißt es, gehöre einer „etwas konservativen Partei“ an, heißt es, und mit Rücksicht darauf gebe es keinen Alkohol. Ob das die Partei des Präsidenten sei, will ich wissen. Ja.
Das Essen ist ein Tellergericht. Ein bisschen geschnetzeltes Fleisch, ein bisschen Reis, ein bisschen Salat, ein bisschen Kartoffelpüree. Das ist alles. Ich habe den ganzen Tag über wenig gegessen, mit Rücksicht auf den erwarteten Festschmaus. Danach gibt es nur noch ein bisschen Obst, auf zwei großen Tellern für den ganzen Tisch serviert. Ich kann’s kaum glauben.
Dann kommt noch ein bisschen Hollywood, eine mehrstöckige, kitschige Hochzeitstorte, die von dem Paar symbolisch angeschnitten wird. Das ist wenigstens was gegen den knurrenden Magen. Und dann kommt auch noch der obligatorische Wurf des Brautstraußes. Der landet ziemlich kurz, und die Frauen baggern geradezu danach, um ihn zu bekommen. Die Gewinnerin zeigt sich stolz und glücklich.
Dann kommt der beste Teil des Abends: Live-Musik und Tanz. Moderne türkische Musik, betont rhythmisch, Lieder, die alle kennen. Esra holt mich zum Tanzen. Sie lässt erst keine Diskussionen aufkommen und schleppt mich an der Hand auf die Tanzfläche. Jeder tanzt einfach so, wie er will. Am Anfang bin ich der einzige Mann unter zwei Dutzend Frauen. Alle lachen über meine tollpatschigen Bewegungen, freuen sich aber, dass ich mich darauf einlasse. An unserem Tisch sind inzwischen auch zwei türkische Männer angelangt, aber die stehen den ganzen Abend nicht von ihren Sitzen auf. Dann kommen immer mehr auf die Tanzfläche, und alle tanzen miteinander, alte Männer mit Schmerbäuchen neben jungen Frauen in eng anliegenden Kleidern und Stöckelschuhen, junge Männer mit Turnschuhen und Jeans neben alten Frauen mit langen Röcken und langen Kopftüchern. Die jungen Frauen bewegen sich mit großer Eleganz und ausgesprochen aufreißend, aber auch viele der jungen Männer bewegen sich unglaublich elegant. Bei den Frauen sind es vor allem die Bewegungen der Hände, die elegant wirken.
Zwischendurch kommen mitten im Tanz zwei Frauen auf mich zu und heißen mich mit einem offenen Lächeln willkommen: die beiden Mütter. Gertenschlank und jung. Meldas Mutter ist eine Kopie von Esra, oder besser umgekehrt. Die könnten problemlos als Schwestern durchgehen.
Den beiden Vätern werde ich vorgestellt. Der Vater des Bräutigams ein sehr eleganter graumelierter Mann, der aber ganz burschikos auftritt und mich mit dem obligatorischen Kuss auf beide Backen begrüßt. Der andere ist ein untersetzter kleiner Mann mit Schnäuzer. Gut, dass die Töchter auf die Mutter hinauskommen.
Dann wird es türkischer. Man fasst sich bei der Hand und bildet Kreise, auch Kreise um Kreise. In der Mitte tanzt die Braut, dann holt sie einen zu sich, dann lässt sie ihn alleine in der Mitte. Das ist die Höchststrafe. Aber auch die lasse ich über mich ergehen. Später kommen dann Schrittfolgen. Da verhaspele ich mich, aber Ilker spricht mich über die ganze Tanzfläche laut an und zählt und gibt die Schrittfolge vor, auf Englisch. Dann klappt’s.
Als ich einmal zum Ausruhen an den Tisch gehe, kommt da Bewegung die Gruppe. Ich frage mich, was los ist, und es stellt sich heraus, dass die Frauen bereits aufbrechen. Es ist gerade mal kurz nach elf. Und ich dachte, jetzt gehe es erst richtig los. Denkste. Bald darauf brechen auch die beiden Männer an unserem Tisch mit ihren Frauen auf. Und allgemein wird zum Aufbruch geblasen.
Ich werde freundlich verabschiedet und wieder von jemandem zum Auto geführt. Das ist gut so, denn oben herrscht ziemlich viel Betrieb, und die Fahrer wissen selbst nicht, wen sie abholen sollen.
Dann wird aber mein Fahrer gefunden, und es geht zurück. Verkehr? Nein, um diese Zeit nicht. Diesmal geht es zügig zurück. Ja, denkste! Die Autobahn, dreispurig in beide Richtungen, ist völlig verstopft, und wir stehen bald im Stau. Um zwölf Uhr! Als ich in Sultanahmet ankomme, lande ich in einer Touristenfalle und trinke zwei überteuerte Glas Bier. Aber wie das schmeckt!
31. Mai (Sonntag)
Wasser, Brücken, Schiffe, Minarette. Vielleicht ist es das, was, kurz gesagt, den Reiz der Skyline von Istanbul ausmacht. Besonders gut zu beobachten oben von der Frühstücksterrasse des Hotels an einem schönen Sonntagmorgen. Es sind viele Schiffe unterwegs, vom Lastenkahn bis zum Privatboot. Sie bewegen sich in alle Richtungen, einige schnell, einige langsam. Die Szene erinnert mich an eine Passage aus Orhan Pamuks Biographie, in der er erzählt, wie er als Kind die Schiffe gezählt und notiert hat, die an seinem Fenster vorbeifuhren.
Die Aussicht entschädigt etwas für das grottenschlechte Frühstück. Als ich dann zur Rezeption heruntergehe, stellt sich heraus, dass die Rechnung um zehn Euro höher ist als vorgesehen. Man zahlt nach dem tagesaktuellen Kurs. Bei kleinen Kursschwankungen geht das, aber wenn es größere Turbulenzen gibt, macht das die Reiseplanung zu einer gefährlichen Sache. Ich bekomme erst auf Nachfrage eine Rechnung, und die ist handgeschrieben. Der PC könne die Rechnung erst am Tag der Abreise ausfertigen, und diese Rechnung sei kostenpflichtig. Ich glaube, ich hör nicht richtig.
Der Mann fragt nach der Hochzeit, und als ich auf die Abwesenheit von Bier und Wein anspreche, macht er einen Versuch, zu erklären, warum das gut sei, gibt dann aber auf: How I can explain? Auf meine Frage, wie ich nach Beyoglu komme, sagt er mir: „Zu Fuß. Schönes Wetter.“
Mein Ziel in Beyoğlu ist das Museum der Unschuld. Das ist gleichzeitig der Name des Museums und eines Romans von Orhan Pamuk. Das Museum stellt Objekte dar, die in dem Roman ihren Auftritt haben.
Die Suche sich als kompliziert heraus. Ich wandere durch ein Viertel am anderen Ende der Galatabrücke, wo keiner das Museum kennt und auch nicht die beiden großen Straßen, zwischen denen das Museum liegt, oder das Stadtviertel, in dem es liegt. Irgendwann komme ich plötzlich an eine winzige Touristeninformation. In einer Kabine sitzt ein Mann, der gerade einem katalanischen Paar hilft, auf Spanisch! Er sagt mir, ich solle die Zahnradbahn nehmen.
Die bringt mich in ein hoch gelegenes Viertel, das sehr europäisch aussieht. Es gibt eine breite Straße mit Bürgerhäusern aus der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Dazu passen auch die Straßenbahnschienen, aber hier fährt keine Straßenbahn mehr. Die ganze breite Straße ist Fußgängerzone.
Ich komme am Schwedischen und am Italienischen Konsulat vorbei, beide in einem Palast hinter einem Gittertor untergebracht, am Konsulat der Niederlande, in einer Art Burg untergebracht, und am Ekuadorianischen Konsulat, in einem alten, restaurierten Wohnhaus untergebracht. Ganz weit abseits der Hauptstraße liegt das Museum, schwer zu finden, in einem Haus untergebracht, das ganz in Bordeauxrot gehalten ist, einschließlich Balkonen, Außentreppen, Fensterläden.
Hier wird ordentlich abkassiert, obwohl es sich ja um eine Art Werbeveranstaltung für ein Buch handelt. Aber interessant ist es. Man bewegt sich hier an der Grenze zwischen Fiktion und Wirklichkeit. Bis zum Schluss ist mir nicht klar, ob es den Protagonisten des Romans wirklich gegeben hat oder ob er reine Erfindung ist. Oben heißt es, hier habe der Protagonist gelebt und Pamuk seine Geschichte erzählt.
Bei dem Roman geht es um einen Mann aus wohlhabender Familie, der eine Frau aus seinem eigenen Stand heiraten soll und auch heiratet. Seine Liebe gilt aber einer Frau aus einer auch gut situierten Familie – also etwa Großbürgertum gegen Bürgertum – die dann aber einen anderen heiratet. Danach besucht er sie jahrelang, und bei jedem Besuch bringt er ein Objekt aus ihrem Haus mit. Das sind die Objekte, die hier ausgestellt sind, auf verschiedenen Etagen. Aus allen Etagen sieht man auf eine Zeitspirale auf dem Boden des Erdgeschosses. Pamuk argumentiert, Zeit solle nicht als durchgezogene Linie, sondern als Serie von Einzelpunkten gesehen werden. Die machten das Leben aus. In der Spirale sind sie als runde Punkte markiert.
Im Erdgeschoss gibt es nur Zigarettenstummel, über 4000. Sie stammen von den Besuchen und sind sorgfältig mit Datum versehen. Darunter steht, in Pamuks eigener Handschrift, bei welchem Anlass sie geraucht wurden.
In den anderen Etagen sieht man dann Objekte des täglichen Lebens: Kaffeetassen, Haarnadeln, Lotteriescheine, Schlüssel, Todesanzeigen, Porzellanfiguren, gibt es in rauen Mengen. Daneben eine schwere, schwarze Kasse mit Zahlenreihen und einer Kurbel, ein kleines Waschbecken mit Rasierpinsel und abgestoßener Farbe, einen Stromzähler. Dann gibt es unzählige Zeitungsphotos von Frauen mit einem schwarzen Balken über der Augenpartie. Frauen, die vorehelichen Geschlechtsverkehr hatten und nicht sofort heirateten, wurden so dargestellt, aber auch Prostituierte, Ehebrecherinnen, Vergewaltigungsopfer. Eine Besonderheit ist eine Taschenuhr mit römischen Ziffern auf der einen und arabischen Ziffern auf der anderen Seite. Die Kaffeetassen sind mal voll, mal halb voll, mal leer. Besonders bei den Schlüsseln sieht man, wie altmodisch sie heute wirken, schwarz, breit, mit verziertem Griff und breiten Bärten und dicken Kerben.
Das sieht alles sehr europäisch aus, kaum türkisch, mit Ausnahme der bauchigen Teegläser und der winzigen Mokkatassen. Die türkische Bourgeoise richtete sich an westlichen Mustern aus.
An einer Wand fällt mir ein Zitat aus dem Roman ins Auge: „Es war der glücklichste Moment meines Lebens. Aber ich wusste es nicht.“ Das klingt noch lange nach. Ist das, wenn es stimmt, deprimierend, traurig, witzig, aufbauend? Sind glückliche Momente anders als unglückliche Momente? Sind sie vielleicht kürzer?
Der unscheinbarste, aber interessanteste Teil des Museums ist die obere Etage. Hier sind Handzeichnungen von Pamuk ausgestellt, auf denen er zeigt, wie er sich das Museum vorstellt, und zwar schon bei der Abfassung des Romans. Außerdem gibt es Ausgaben in verschiedenen Sprachen. Dabei sieht man, dass der dänische Titel – oder der einer anderen skandinavischen Sprache – von den anderen Titeln strukturell abweicht: Uskyldens Museum. Bei allen anderen steht Museum vorne und Unschuld hinten, außer im Türkischen! Da steht Museum auch hinten, Masumiyet Müzesi, allerdings mit angehängter Präposition, anders als im Dänischen, wo man das mittels Flektion regelt.
Daneben sind Manuskriptseiten ausgestellt, handgeschrieben, auf einem karierten Spiralblock. Sofort merkt man die vielen, vielen, in Rot angebrachten Korrekturen. Pamuk muss den Text immer wieder überarbeitet haben. Daneben stehen Anweisungen für den Mann, der die Manuskripte abschrieb, Hüsnu Abbas. Der war Weltmeister im Maschinenschreiben!
Als er mit der Abfassung des Romans begann, wusste Pamuk schon den Titel. Und den ersten Satz. Den hat er in einer New Yorker Bibliothek auf einem Blatt immer wieder niedergeschrieben, wie eine Beschwörungsformel.
Er hat den Roman 2002 begonnen und dann wieder 2005 aufgenommen, im Ausland, da er damals landesfeindlicher Umtriebe angeklagt war. Zwischendurch hatte er seine Autobiographie geschrieben.
Der Weg hat sich gelohnt. Ein Museum der anderen Art. Ich gehe zu Fuß zurück, erst durch Beyoğlu, an einer Reihe von Musikgeschäften vorbei und an einer ganzen Ansammlung von Straßenmusikern. Davon singen und spielen einige abgrundtief schlecht, vor allem die mit Gitarre. Sonderbar, aber ganz schön hört sich an, was ein Mann, der im Schneidersitz auf dem Boden sitzt, seinem metallenen Instrument entlockt, einer Halbkugel, über die er in verschiedene Richtungen streicht.
Eins der vielen Uhrengeschäfte, die man hier sieht, heißt Saat & Saat. Mir fällt das türkische Wort wieder ein. Es bedeutet ‚Stunde‘ und ‚Uhr‘.
Auf dem Weg nach unten komme ich am Galataturm vorbei. Auch da steht eine lange Schlange von Besuchern. Damals war ich fast der einzige Besucher. Ich komme dann durch ein völlig heruntergekommenes Viertel zum Meer und auf mehreren Umwegen zur Galatabrücke. Hier ist echt was los. Es wimmelt nur so von Menschen, auf beiden Seiten der Brücke und auf beiden Ebenen der Brücke. Auf der Galataseite sind es vor allem Fischverkäufer, die das Bild bestimmen. Ich kaufe eine Portion Wassermelone, in Stücke geschnitten.
Das Wetter ist einfach zu schön für ein weiteres Museum, und laufen will ich auch nicht mehr, also kaufe ich kurzerhand eine spottbillige Karte für eine Bosporus-Rundfahrt. Habe ich komischerweise noch nie gemacht, jedenfalls nicht mit dem Schiff. Draußen muss man stehen und es gibt wenig Platz und man kann die Durchsagen nicht verstehen, aber das macht alles nichts. Ich lasse mir einfach den Fahrtwind durchs Gesicht blasen und die Sonne ins Gesicht scheinen und sehe mir die Umgebung an. Wir kommen gleich unter zwei Brücken her, zwei Hängebrücken, für den Laien kaum zu unterscheiden. Es geht in schneller Fahrt ohne Halt ziemlich weit den Bosporus hinunter, und man hat das Gefühl, dass es nicht mehr weit bis zum Schwarzen Meer sein kann. An den Ufern und an begrünten Hängen stehen Villen, klassische und moderne. In der Distanz sieht man auch ein paar Hochhäuser, aber arme Leute wohnen hier nicht. Die Paläste, die am Ufer stehen, meist langgezogen und nicht sehr hoch, erinnern etwas an Petersburg. Am auffälligsten ist eine den Hügel schräg herunterlaufende Befestigungsmauer mit Türmen, noch mittelalterlich aussehend. Sie ist wohl eine Verstärkung der Abwehr gewesen, in spätbyzantinischer Zeit, und erst kurz vor der Eroberung durch die Osmanen gebaut worden, offensichtlich ohne den gewünschten Erfolg.
Wir kommen etwas vor der Zeit wieder an. Die Leute machen sich zum Aussteigen bereit. Ich stehe irgendwo mitten drin und steige auch aus. Hier ist geht es auch zu wie auf dem Jahrmarkt, mit vielen, vielen Verkaufsständen und gleichzeitig Ständen von politischen Parteien, die Handzettel verteilen und Parolen schreien. Irgendwie habe ich die Orientierung verloren. Die Sache kommt mir ungekannt vor, und die Galatabrücke ist nirgendwo zu sehen. Plötzlich merke ich, dass ich gar nicht in Eminönü bin, sondern in Üsküdar. In Asien statt in Europa! Zurück geht es mit der Fähre. Dabei kommt mir Sofias Istanbul-Card gut zu pass. Da ist wirklich was drauf und komme durch die Sperre. Einen Verkaufsschalter gibt es nicht, nur Automaten, und da wird man von aufdringlichen Helfern umzingelt. Als wir auf die Fähre zugehen, frage ich eine junge Frau im Tschador mit hübschem Gesicht, ob die Fähre nach Eminönü geht. Ohne zu zögern, antwortet sie auf Englisch. Später beobachte ich sie aus der Distanz. Sie hat ein modernes Smartphone, auf dem in großen Buchstaben Pink steht, eine moderne schwarze Handtasche und eine moderne Sonnenbrille. Die ganzen Tage habe ich mir überlegt, ob die Zahl von Kopftüchern, Tschadors und Burkas zugenommen hat und bin zu keinem Entschluss gekommen. Jetzt, auf der Fähre, lautet die Antwort ganz klar: Ja.
1. Juni (Montag)
In den Shuttlebus zum Flughafen steigen in fünf Hotels fünf allein reisende Frauen ein. Das beantwortet wohl die Frage, ob man als Frau alleine nach Istanbul fahren kann. Später kommen dann noch zwei Paare dazu.
Bei all den komplizierten Kontrollen am Flughafen Atatürk wird es knapp, aber ich schaffe es rechtzeitig, auch wenn ich als vorletzter das Flugzeug besteige.
In Thessaloniki springt ein Mann mit langem, ungepflegtem Haar, brennender Zigarette, Sonnenbrille und einem T-Shirt eines Fußballspielers im letzten Moment in den Shuttlebus in die Innenstadt. Jedes Mal, wenn wir an einer Kirche vorbeikommen, bekreuzigt er sich dreimal, mit weit ausholenden Handbewegungen, rechts vor links. Sieht man in Thessaloniki oft, aber meistens sehen die Leute, die sich bekreuzigen, anders aus.
Als ich meinen Koffer den Aristoteles-Platz hinaufziehe, sprechen mich zwei ältere Frauen, die auf einer kleinen Mauer sitzen, an, auf Russisch! Ich bin einfach weiter gegangen, intuitiv, weil man meint, sie wollten einem etwas andrehen. Aber vielleicht wollten sie wirklich nur Hilfe.
Schon um halb elf bin ich zuhause, von einer Auslandsreise zurück. Das kommt nicht oft vor. Das Zimmer ist geputzt und aufgeräumt und die Wäsche gebügelt. Die Heinzelmännchen sind nach Thessaloniki ausgewandert, als sie in Köln Ärger bekamen.
Sofia lädt mich zu einem Kaffee ein, und ich erzähle von Istanbul. Sie sagt, in die fieberartige Bautätigkeit in Istanbul fließe viel Geld aus den Arabischen Emiraten ein. Sie sieht voraus, dass die Blase irgendwann platzt. Auch, dass die griechische Blase platzt, hat sie kommen sehen, aber nicht, dass es so früh passieren würde, noch zu Lebzeiten. Die Banken seien förmlich hinter ihr her gewesen, um ihr ein Darlehen anzudrehen.
Heute ist Pfingstmontag. Feiertag. Ja, sagt sie, aber nur für halb Griechenland. Die Beamten und staatlichen Angestellten hätten frei, aber die Selbständigen arbeiteten.
Es geht ihr sichtlich besser, und sie schlägt ein gemeinsames Mittagessen in der Innenstadt vor. Gleich vor dem Haus zeigt sie mir die weißen Früchte eines Baums, μούρα. Das englische Wort fällt ihr nicht ein, aber ich habe einen Verdacht, der sich später bestätigt: Es sind Maulbeeren. Hab ich noch nie gesehen.
Wir machen einen Spaziergang bis zum Hafen. So weit war ich bisher noch gar nicht gekommen. Hier befindet sich das Photographie-Museum, von dem überall die Rede ist. Und von hier legt ein einfaches Boot ab, mit der man die Bucht befahren kann. Weiter hinten sieht man Hebekräne, aber dieser vordere Teil, mit Lagerhallen, scheint anderen Zwecken zugeführt worden zu sein. An der Meeresfront reiht sich ein Lokal an das andere.
Wir kommen an dem Denkmal für die deportierten und in den Lagern getöteten Juden Thessalonikis vorbei. Thessaloniki war bis dahin eine der wichtigsten jüdischen Städte der gesamten Gegend, und Juden waren lange die größte Bevölkerungsgruppe Thessalonikis.
Es stellt sich heraus, dass Sofia Israel kennt, und zwar ziemlich gut. Sie hat als junge Frau länger in einem Kibbuz gearbeitet, in Negev, im Süden Israels. Dort hat sie die Verwaltung des Kibbuz gemacht, aber gelegentlich auch auf den Feldern gearbeitet. Und vor allem ist sie viel, viel gereist und hat das ganze Land kennen gelernt.
Wir gehen an der Promenade zurück und in eins der vornehm aussehenden Restaurants, in das ich alleine nie gegangen wäre, das Αγιολί. Wenn man sich auskennt, und das tut sie, kann man nach oben gehen, mit Blick auf die Bucht. Die Bedienung ist hier wie in einem 5-Sterne-Restaurant, und das Essen auch. Es gibt u.a. Boureki, Teigtaschen, die mit Tomaten, Pilzen und Schinken gefüllt sind. Die Preise sind ganz normal, nicht wie in einem 5-Sterne-Restaurant, und Sofia lässt es sich nicht nehmen, alles zu bezahlen. Sie hat schon vorsichtshalber im Internet eine Art Vorauszahlung gemacht. Dann bekommt man eine Art Bonus.
Wir sprechen über Gott und die Welt, ganz wörtlich. Sie erahnt, dass ich kein Meer-Mensch bin. Der Blick auf das weite, endlose Meer habe eine deprimierende Wirkung, sage ich. Es müsste ein Felsen im Wasser, eine Insel im Hintergrund, ein Baum im Vordergrund oder ein Haufen Schiffe auf dem Wasser sein, um die Sicht erträglich zu machen. Ihr geht es genau umgekehrt. Gerade die unendliche Weite hat es ihr angetan.
Sie erzählt, sie habe sich in England erst mit Jobs durchgeschlagen und dann ein Stipendium bekommen, ein englisches. Ihre Mutter habe ihr Abenteuer unterstützt, und der Vater, der alles andere als begeistert war, habe im Zweifelsfalle das gutgeheißen, was die Mutter entschieden hätte.
Ihre Mutter war konvertierte Protestantin! Und das in Griechenland! Das habe ihrem orthodoxen Vater gar nicht gefallen. Als Protestant konnte man damals in Griechenland weder studieren noch eine Stellung im öffentlichen Dienst bekommen. Ich frage nach ihrem offiziellen Status. Sie sagt, das letzte Mal, dass sie ihren Pass erneuert habe, habe da, ohne dass man sie gefragt habe, christlich-orthodox gestanden. Sie habe protestiert, oder zumindest nachgefragt, aber schließlich beigegeben.
Der jetzigen Regierung wirft sie Heuchelei vor. Vor der Wahl habe man von der Trennung von Kirche und Staat gesprochen, jetzt verpasse man keine Gelegenheit, in der Öffentlichkeit Ikonen zu küssen und sich an anderen Formen des „Götzendienstes“ zu beteiligen. Sie selbst habe ein anderes Verständnis von Religion. Was das genau ist, bleibt offen, vielleicht ein unpersönlicher pantheistischer Allgeist, aber sie erzählt eine Episode, die eine Ahnung davon gibt. Eines Tages sei sie nach dem Treffen mit einer Freundin nach Hause gegangen, statt zu der Freundin, wie eigentlich vorgesehen. Durch eine Verkettung merkwürdiger Umstände sei sie auf eine Straße geraten, die nicht direkt nach Hause führte. Dort sei sie an einem Imbissstand vorbeigekommen und habe sich einen Gyros gekauft, obwohl sie sonst gar keinen Gyros isst. Sie habe in der Gegend herumgestanden und sich gefragt, was sie mit dem Zeug anfangen solle. In dem Moment habe sie einen Bettler gesehen, der sie sehnsuchtsvoll angesehen habe. Dem habe sie den Gyros in die Hand gedrückt. Das, fand sie, war nicht nur Zufall.
Nach dem Essen gehe ich zu Agios Demetrios, der Hauptkirche Thessalonikis. Sie ist ganz anders, vom Raumeindruck her, als ihr Pendant, Agia Sofia, und ähnelt fast einer katholischen Kathedrale, mit ihren fünf Schiffen, ihrem Querschiff und ihren Emporen und auch mit ihrer für eine orthodoxe Kirche ungewöhnliche Größe. Nur, dass außen die fünf Schiffe nicht einmal angedeutet sind, ist anders. Es gibt auch nur eine Eingangspforte. Die Kirche ist auch viel heller als Agia Sofia. Weißes Licht kommt von den Seitenschiffen, gelbes Licht aus dem Osten und Westen, aus großen Fenstern.
Was man jetzt sieht, ist ein Wiederaufbau der bei dem Brand von 1917 zerstörten Kirche. Dabei wurden die erhaltenen Teile wiederverwendet. Der Vorgängerbau, der über 400 Jahre Moschee war, war seinerseits ein Ersatz für die Kirche, die im 7. Jahrhundert bei einem Brand verloren ging.
Der Wiederaufbau, der vierzig Jahre dauerte, folgt original dem Vorgängerbau, mit einer kuriosen Ausnahme: Das Dach ist nicht aus Holz, sondern aus Beton, sieht aber aus, als wäre es aus Holz.
Aus der alten Kirche erhalten sind verschiedene Mosaike, Säulen und Kapitelle und ein paar Wandmalereien. Die Kapitelle sind groß und zeigen Akanthusblätter und schön skulpierte Widderköpfe, Adler und andere Tiere. Sie waren schon im Vorgängerbau wiederverwendet aus älteren Bauten. Da die Kapitelle unterschiedlich groß sind, sind auch die Säulen unterschiedlich hoch. Einige sind neu, aber andere sind alt, und bei einigen glaubt man, Brandspuren zu sehen. Auf den Mosaiken erscheint Demetrius mit Kindern, mit Klerikern, mit Engeln und mit den Erbauern der Kirche.
Im nördlichen Seitenschiff werden in einem achteckigen Tempelhäuschen die Reliquien des wundertätigen Heiligen aufbewahrt, mit allen Kitsch, den man sich denken kann.
Weiter westlich schließt sich eine Kapelle an, wohl neueren Datums. Da sitzt ein Mann, der hier den Führer spielt. Er fragt mich, woher ich käme, und sagt dann: „Demetrios, kaputt.“ Was offensichtlich nicht stimmt, denn die Reliquien befinden sich gar nicht hier Er ist ganz aus dem Häuschen, als ich auf Griechisch antworte und befragt mich über meinen Aufenthalt in Thessaloniki. Dann wechselt er wieder aufs Deutsche und sagt: „Frau Stuttgart, kaputt, drei Söhne München, nicht kommen.“ Dann hält er die Hand auf, in der ein paar Münzen liegen.
Der älteste Teil der Kirche, mit Resten des römischen Badehauses, an dessen Stelle die erste Kirche errichtet wurde, ist in der Krypta, aber die ist geschlossen. An dieser Stelle wirkte Demetrios, der von den Römern, der Tradition zufolge, hingerichtet wurde. Er stieg zum Lokalheiligen auf.
Am Abend kommt Thanasis, der nette Nachbar, und nimmt sich meines nicht anspringenden Autos an. Ich muss griechische Instruktionen befolgen, die Motorhaube zu öffnen, die Handbremse zu lösen und den Anlasser zu betätigen. Das Auto gibt keinen Mucks von sich. Dann holt er seinen eigenen Wagen und ein Starterkabel, aber auch das hat keinen Effekt. Sofia kommt dazu, und die beiden wollen etwas über meine Versicherung wissen und wollen nicht so recht einsehen, dass ich keine Chance sehe, dass irgendeine Versicherung dafür aufkommen wird. Am Ende wird aber eine Autowerkstatt angerufen, betrieben von einem Cousin von Sofia. Unglaublich, wie ich hier betreut werde. Man nimmt sich jedes Problems an.
2. Juni (Dienstag)
Zu den 15 Bauwerken Thessalonikis, die von der UNESCO in die Liste des Weltkulturerbes aufgenommen wurden, zählen die Stadtmauer einschließlich der Türme, die Rotonda, ein Kloster und ein byzantinisches (nicht etwa ein türkisches Bad), von dessen Existenz ich noch gar nichts weiß. Alles andere sind byzantinische Kirchen!
Die Rotonda, lese ich, ist 30 Meter hoch. Das ist ein römisches Standardmaß. Genauso hoch ist die Trierer Porta.
Cäsar heißt auf Griechisch Καίσαρ. Da klingen sowohl unser Cäsar als auch unser Kaiser mit an. Schließlich haben beide den gleichen Ursprung.
Kyrill und Method, die gar nicht so hießen, wurden wohl tatsächlich in Thessaloniki geboren. Hatte ich irgendwo am Rande gelesen, etwas ungläubig, aber scheint zu stimmen. Sie hießen eigentlich Konstantin und Michael. Wahrscheinlich nahmen sie ihren neuen Namen erst kurz vor dem Tod an. Sonst würden wir jetzt vom konstantinischen Alphabet sprechen. Beide waren hochgebildet und stritten für das Slawische als Kirchensprache und damit gegen die westlichen Kirche, die nur die drei Sprachen der Pilatus-Inschrift am Kreuz akzeptieren wollten, Latein, Griechisch und Hebräisch.
In der Beschreibung der türkischen Bäder begegne ich in einem Text dem Wort μολύβι. Was hat ein Bleistift mit Architektur zu tun? Ganz einfach, μολύβι heißt zwar ‚Bleistift‘, aber auch ‚Blei‘. Der Text bezieht sich auf das Material der Kuppeln.
Irgendwo heißt es auch, Theodosios habe sich in Thessaloniki taufen lassen. Auf jeden Fall ist sein Name mit Thessaloniki verbunden. Er hatte Goten, die er zunächst verfolgt und dann zu seinen Alliierten gemacht hatte, in seine Wache in Thessaloniki aufgenommen, und gegen einen von ihnen, einen gotischen Heermeister, richtete sich irgendwann, aus einem eher nichtigen Anlass, die Wut des Volkes. Im Gefolge des Aufruhrs, der entstand, wurde dieser Heermeister, Butherich, getötet. Theodosios ließ das Volk in das Hippodrom kommen und stellte dort ein Massaker an. Es sollen 7000 Menschen ums Leben gekommen sein. Die Zahl wird übertrieben sein, gibt aber eine Ahnung von der Dimension des Massakers. Ambrosius forderte daraufhin Theodosios auf, Buße zu tun, und der, und das ist die politische Brisanz der Aktion, gehorchte! Der Kaiser gehorcht dem Papst! Eine neue Ära beginnt. Und tatsächlich beginnt sich das römische Reich nach seinem Tod endgültig aufzulösen, jedenfalls das große, einheitliche Reich.
Ich mache einen neuen Versuch mit der Krypta von Agios Demetrios. Diesmal ist sie geöffnet. Man geht ein paar Stufen hinab und ist in einer anderen Welt. In der Antike. Die Krypta ist verwinkelt und groß, und man verliert schnell die Orientierung. Man geht unter niedrigen Bögen her und um Ecken herum. Überall steht und liegt etwas rum, Kapitelle, Bögen, Platten. Und immer wieder hat man einen schönen Durchblick von einem Raumteil zu einem anderen.
Man sieht auch, dass die Krypta eigentlich keine Krypta ist, sondern das Erdgeschoss. Das Bodenniveau war viel niedriger, und man konnte von der Straße aus ebenerdig hereinkommen. Auch heute gibt es an einer Stelle noch so einen Eingang, aber der Besucher geht heute aus der Kirche in die Krypta hinunter.
Hierher kamen die Pilger, um die „heilige Myrrhe in Empfang zu nehmen. Die lief aus dem Chor der Kirche durch ein Rohr hierher und wurde in zwei eckigen und einem runden Becken aufgefangen. Die kann man hier noch gut erkennen. Die Becken liegen hinter einer halbkreisförmigen Einfassung, sehr schön gestaltet, mit feinden Säulen und Marmorplatten, die die Säulen unten verbinden. Dieser halbkreisförmige Einfassung befindet sich wiederum in einem halbkreisförmigen Rau, der durch mehrere Stützen abgetrennt, aber halb offen ist.
Außer diesem Raum gibt es einen einschiffigen Raum aus der Vorgängerkirche und einen Raum mit einem merkwürdigen Aufbau, dessen Funktion nicht zu erraten ist.
An der Seite befinden sich die Räume des ehemaligen römischen Bads, in dem Demetrios gepredigt hat. Russinnen werden durch die Räume geführt, und eine Gruppe von älteren griechischen Frauen in Begleitung eines Popen bekreuzigen sich unentwegt. Sie ahnen nicht, dass sie sich in einem römischen Bad befinden und dass ihre Kreuze heidnischen Schmuckstücken gelten.
Ich sehe mir noch ein Gebäude in der Nähe an, das Διοικητήριο heißt. Das bedeutet einfach ‚Hauptsitz‘ und bezieht sich hier auf den Hauptsitz der Verwaltung. Der Bau wurde 1881 begonnen, und 1912 wurde hier von den Türken der Vertrag zur Übergabe Thessalonikis unterzeichnet. Die Türken ließen von einem Italiener bauen, Pozelli. Die Geschosse werden nach oben hin, einschließlich des später hinzugefügten vierten Geschosses, immer niedriger, und die Fensterrahmungen werden nach oben hin immer bescheidener. Den dreifachen Eingang entspricht oben eine dreifache Maueröffnung, und darüber, im Giebeldreieck, ein Medaillon mit dem Profil Alexander des Großen. Bei einem der umbauten wurde der Renaissance-Giebel, der von dem für die Türken arbeitenden Italiener stammte, durch einen klassizistischen ersetzt. Das Griechische wurde betont. Architektur wird in den Dienst der Ideologie gestellt.
Nach einem Kaffee im Schatten gehe ich noch zum Bit Basar. Das ist türkisch und hat nichts mit Computern zu tun und auch nichts mit Bier. Es ist der Flohmarkt: bit ist das türkische Wort für ‚Floh‘. Der eigentliche Flohmarkt findet samstags statt. Während der Woche gibt es eine abgespeckte Version davon. Hier wird noch verkauft, was bei den meisten von uns auf dem Müll landet. Unglaublich. Alte Stecker und Kabel, aber auch Ikonen und Stoffreste. Gleichzeitig gibt es ein paar sehr schön hergerichtete Kneipen in dem unregelmäßigen, teils überdachten Bereich. In einer Kneipe gibt es, entgegen dem, was der Name vermuten lässt, kein Bitburger, sondern Warsteiner.
In einigen Bäckereien gibt es Dinkelbrot. Es wird auch unter dem Namen Dinkel angeboten.
An einem Verkaufsstand am Aristoteles-Platz, bei dem die Kunden Schlange stehen und meist nur ein Pita auf der Hand kaufen, bittet mich ein Mann, ein kleiner Mann, mit einer unaufdringlichen Geste, etwas für ihn zu kaufen. Mache ich gerne. Irgendwie mache ich das lieber, als Geld zu geben, aber ich weiß nicht, warum.
Am Abend steht eine Katze, von dem Essensgeruch angelockt, vor meinem Fenster und miaut flehentlich. Das Fenster steht auf Kippe, und sie zwängt sich zwischen Gitter und Glas. Sie kann wohl nicht so recht verstehen, was sich da zwischen sie und das Essen drängt.
3. Juni (Mittwoch)
Zahnarzttermin. Auch der hat etwas Griechisches an sich, nämlich die Uhrzeit: 18 Uhr.
Unten am Hafen, in Ladadika, soll es ein Musikinstrumentemuseum geben. Griechische Instrumente aus 3000 Jahren. Hört sich gut an.
Auf dem Weg komme ich an der Griechischen Nationalbank vorbei. Der Name steht auch auf Französisch dran: Banque de Grèce. Ein großes, graues Gebäude, klassizistisch, mit riesigen, geschossübergreifenden Säulen mit korinthischen Kapitellen an der Frontseite. Die Säulen stehen auf Sockeln, die selbst über das Menschenmaß hinausgehen. Hier fühlt man sich mickrig. Und das soll man wohl auch. Als wenn sie das alles nicht so ernst nähme, geht eine alte Frau mit sehr kurzem Rock, eine Kellnerin, mit einem Teetablett über die große Außentreppe in die Bank, so als wäre das ihr Zuhause.
Am Hafen liegt heute ein großes Kreuzfahrtschiff. Auf einer Bank davor schläft ein Mann, der sich den Sattel seines schräg an die Bank angelehnten Fahrrads zum Kopfkissen gemacht hat.
Ladadika ist ein eigenes Viertel inmitten der großen Boulevards und der Hochhäuser. Man kann es kaum glauben, dass die Nationalbank nur ein paar Schritte von hier entfernt ist. Die Funktionen der Häuser sind zwar neu, aber architektonisch und städtebaulich hat das Viertel seinen alten Charakter bewahrt. Dies war die Zone für den Export und den Import, und in den Häusern wurden Getreide und Stoffe und anderes gelagert. Der kuriose Name ist von λάδι abgeleitet, ‘Öl‘.
Die alten Handelshäuser dienen jetzt der Gastronomie und der Unterhaltung. In einer Straße bilden die Häuser eine geschlossene Häuserreihe, in der anderen ist stärker das einzelne Haus betont. Holz sieht man nur noch wenig, dafür viel Eisen. Hier muss einiges umgebaut worden sein.
Dann, nach einem teuren Kaffee in einem schönen, schattigen Café geht die Suche nach dem Museum los. Ich drehe eine Runde nach der anderen. In der Liste der Museen, die ich in der Touristeninformation bekommen habe, ist das Museum nicht aufgeführt, aber es ist in einer Karte eingezeichnet, und irgendwo habe ich davon gelesen, nur weiß ich nicht mehr wo. Ich frage Passanten, ich frage an einem Kiosk, ich frage in Geschäften. Achselzucken. Dann frage ich eine Kellnerin, die gerade die Tische zurechtrückt: „Gibt es nicht mehr. Hat zugemacht.“
Auf dem Rückweg gehe ich zu Panagia Chalkeon, ein Kleinod unter den byzantinischen Kirchen Thessalonikis. Der Name deutet auf die Kupferschmiede hin, die in dieser Gegend tätig waren. Der Name verweist einerseits auf die Vergangenheit, andererseits auf die Gegenwart. Kupferschmiede sieht man hier zwar nicht mehr am Werk, aber in der Straße befinden sich auch heute noch Geschäfte von Kupferschmieden. Viele verkaufen liturgisches Gerät, andere aber auch Alltagsgegenstände. Allerdings Alltagsgegenstände der feinen Art. Der Verweis in die Vergangenheit macht mir noch mehr Vergnügen. Die Kirche befindet sich, wie eine Inschrift über dem Eingang besagt, an einer ehemals heidnischen Stelle. Diese Stelle war Hephaistos gewidmet. Dem Kupferschmied unter den Olympiern!
Auch hier sieht man die uneinheitliche Umschreibung der griechischen Namen: Bei der Straße heißt es Halkeon, bei der Kirche Chalkeon.
Die Kirche, ursprünglich aus dem 11. Jahrhundert stammend, aber auch nach einem Brand wiederaufgebaut, liegt deutlich unter Straßenniveau, umgeben von einem gepflegten kleinen Park, der genauso gut der Park eines Schlösschens sein könnte: beschnittene Hecken, Palmen, Zypressen, blühende Bäume, Beete.
Nur: Wie kommt man da runter? Ich bin schon einmal ganz herumgegangen und an drei Treppen vorbeigekommen, aber alle sind durch eine eiserne Pforte zugesperrt. Dann sehe ich plötzlich einen Aufzug. Mit dem geht es die paar Meter runter!
Die Kirche ist ganz und gar aus Backstein und hat die typischen byzantinischen Verzierungen, sogar halbrunde Säulchen, die in die Außenmauer eingelassen sind. Es gibt drei Kuppeln, alle relativ flach, eine im Zentrum, zwei kleinere über dem Narthex. Das alles sieht ausgesprochen schön aus. Nur rein kommt man nicht. Die Kirche ist verschlossen. Trotzdem hat es sich gelohnt. Der Blick von oben hinunter mit den verschiedenen Perspektiven und das viele Grüne hat etwas.
Abenteuer Zahnarzt. Die Zahnarztpraxis ist in einem vielstöckigen Gebäude untergebracht. Unten gibt es unzählige Schilder, in die Namen eingraviert sind, wohl hauptsächlich von Ärzten, vielleicht sogar ausschließlich. Es ist aber nicht zu ersehen, wer auf welcher Etage ist.
Ich versuche es auf gut Glück auf der fünften Etage und arbeite mich dann abwärts. Ich habe Glück und bald stehe ich vor der Tür der Praxis. Und es kommt noch besser: Der Arzt hat seinen Doktortitel von der Universität Münster!
Ich klingele. Keine Antwort. Ich klingele nochmal. Keine Antwort. Ich warte und klingele nochmal. Keine Antwort. Ich nehme das Handy und rufe an. Die Frau am anderen Ende ist verwirrt: Termin? Tür? Es ist wohl die falsche Nummer. Ob man irgendwelche der Ziffern auf der Visitenkarte nicht wählt? Keine Ahnung.
Ich mache zur Sicherheit ein Photo und sehe mir dabei den Namen noch mal genau an: Ich stehe vor der falschen Tür. Auch hier ist ein Zahnarzt, auch der heißt Dimitris, aber der Nachname ist anders: Tsaxalinas, nicht Tsanaktsidis.
Bald finde ich die richtige Praxis. Ich klingele, die Tür geht auf, und ich stehe in einem leeren Raum. Kein Mensch kommt. Ich setze mich. Nach einiger Zeit kommt eine Zahnarzthelferin. Sie ist verdutzt. Ich erkläre, wer ich bin und dass ich einen Termin habe. Sie sagt, ihr Termin war heute Morgen, um elf. Ich zeige ihr die Karte. Auf der steht sechs. Kein Zweifel. Sie sagt etwas herablassen, da haben Sie einen Fehler gemacht. Implikation: Ausländer. Kapiert nichts. Vorsichtshalber sage ich ihr nicht, dass nicht ich die Zeit notiert habe. Ich bekomme einen neuen Termin.
Statt Zahnarzt Galerius? Palast geschlossen. Statt Zahnarzt Forum? Forum geschlossen. Statt Zahnarzt Acheiropiitos. Die ist geöffnet. Und liegt auf dem Weg. Und es lohnt sich.
Die Acheiropiitos ist eine dreischiffige, hohe, sehr, sehr helle Basilika, mit wenig Ausstattung, gemessen an dem, was orthodoxe Kirchen sonst haben. Der Name, ‚Nichthandgemacht‘, bedeutet nicht von Menschenhand gemacht, so schön. Das bezieht sich aber wohl nicht auf die Kirche, sondern auf eine spätmittelalterliche Ikone, die sich hier befand.
Dies war die erste Kirche in Thessaloniki, die in eine Moschee verwandelt wurde. Und da steht, in geschwungenen arabischen Schriftzeichen, an einer der Säulen des nördlichen Seitenschiffs.
Auch hier befand sich ursprünglich ein römisches Bad. Unter dem Boden des nördlichen Seitenschiffs kann man noch Bodenplatten davon mit schönen Mustern sehen.
Die Seitenschiffe sind zweistöckig, aber das höhere Mittelschiff auch. Komisch. Da würde man einen Obergaden erwarten. Dafür gibt es eine Erklärung: Die Decke ist beim Wiederaufbau – auch diese Kirche ist zerstört worden, aber durch ein Erdbeben – tiefer eingezogen und verdeckt das obere Stockwerk. Jetzt sieht man auch, dass die Wände etwas kurz geraten sind.
Und dann gibt es da noch diese merkwürdigen Einkerbungen in den Säulen, etwa auf Höhe der Hüfte, in den Säulen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen trennen. Da waren früher die Marmorplatten befestigt. Mittelschiff und Seitenschiffe waren früher nicht verbunden!
Am Abend fallen mir auf dem Weg zum Bit Basar Blüten an einem Baum auf, rosa-weiße Blüten, die ganz federleicht aussehen. An anderen Bäumen sind sie schon verblüht.
Das Essen in dem Lokal im Bit Basar ist einfach, aber lecker. Und die Atmosphäre in dem halb überdeckten, geschlossenen Markt mit den vielen Lichtern unübertrefflich.
Anders als in Kreta, gibt es hier nicht die Tradition, etwas zusätzlich für den Gast aufzutischen, eine kleine Vorspeise, einen Nachtisch oder beides.
Den ganzen Tag über bin ich wieder an vollen Cafés und Bars vorbeigekommen, ob unten an der Meeresfront, ob im Zentrum, ob in den Vierteln. Es ist unglaublich. Hier im Bit Basar ist es eher ruhig. Ich bin sogar in meinem Lokal der einzige Gast. Aber als ich aufbreche, kurz vor zehn, beginnt es sich zu füllen. Verrückt.
Auf dem Rückweg sehe ich an einer Apotheke, dass es immer noch 25° warm ist – um zehn Uhr! Und in einer Schneiderei im Viertel sitzt eine Frau immer noch an der Nähmaschine. Die geht nicht aus.
4. Juni (Donnerstag)
Auf dem Weg zum Palast des Galerius kurzer Halt am Galerius-Bogen. Wenn man sich die Reliefs einen Moment ansieht, entdeckt man neue Details: Irgendwo sieht man einen Rüssel, und dann kommt auch der Rest des Elefanten zum Vorschein, oben sieht man Soldaten, die ein Schild mit einer Zahl vor sich her tragen, der Zahl ihrer Legion vermutlich, und in einer Kampfszene sieht man einen Soldaten mit einem Schild, aus dem ein Pickel zur Abwehr nach vorne herausguckt. Der Pickel ist echt ausgestaltet, aus Eisen.
Der Palast des Galerius liegt auf der gleichen Achse wie der Bogen, genauso wie die Rotonda weiter oben. Alles das und noch mehr war ursprünglich Teil eines großen Komplexes. Der sollte zum Zentrum der Stadt werden, die Galerius zur Hauptstadt seines Reiches gemacht hatte, ein gutes Stück östlich der Agora gelegen. Das wirkt bis heute nach. Diese Gegend ist wie ein zweites Kernstück neben dem Aristoteles-Platz, und der liegt auf der gleichen Achse wie die Agora.
Der Palast ist ein großes Ruinenfeld. Der Eingang ist schwer zu finden. Das Schild mit den Öffnungszeiten ist klein, verschmiert, mehrmals überklebt. Trotzdem müsste danach geöffnet sein. Aber an dem schmutzigen Kassenhäuschen sitzt niemand. Geschlossen. Ich versuche, bei der Touristeninformation am Aristoteles-Platz nachzufragen, aber auch die ist geschlossen. Hier gibt es erst gar keine Informationen über Öffnungszeiten.
Also die Agora. Auf dem Weg dorthin kaufe ich ein Brot. Die Verkäuferin bedient eine Frau, die nach mir gekommen ist, vor mir. Dann fällt ihr etwas runter. Ich hebe es auf. Sie nimmt es wortlos entgegen. Dann gibt sie mir kein Wechselgeld. Erst als ich nachfrage. Das Brot kostet nur 50 Cent!
Zum x-ten Male komme ich an der Statue von Venizelos vorbei. Ganz in Weiß, sehr elegant gekleidet, mit einem Käppi auf dem Kopf. Ähnlich eine Statue von Karamanlis unten, am Weißen Turm. Auch er sehr staatsmännisch, noch eleganter, im Dreiteiler.
Die römische Agora hat geöffnet. Hier ist kein Mensch. Der Platz war lange das Zentrum der Stadt. Jahrhundertelang. In römischer Zeit, um die Zeitenwende, gab es hier ein Bad und Geschäfte. Weiter zurück gab es hier Tongruben und Privathäuser. Erst später wurde aus dem Platz ein öffentlicher Raum. Die Ursprünge des Platzes liegen aber weiter zurück und gehen mindestens auf die hellenistische Zeit zurück.
Der Platz formt ein L, und die leere Stelle war der eigentliche Marktplatz. So sieht es jedenfalls heute aus. Die Mitte ist frei, die beiden Seiten sind bebaut. Es sind wenige Säulen, aber viele Säulenbasen erhalten, so dass man sich gut einen Weg vorstellen kann. An der kurzen Seite ist ein Odeon erhalten, ziemlich gut, wenn die Sitzreihen nicht nachgebaut sind. Es hatte Platz für 200 Zuschauer. Die Dimensionen sind eher klein, aber man kann sich eine gute Vorstellung machen. Die Eingangstore sehen aus wie heute die in Fußballstadien, nur dass sie aus Marmor sind. Ursprünglich war dies ein Versammlungsraum, erst später wurde es zu einem echten Odeon umgebaut.
Der interessanteste Teil liegt unterirdisch. Hier haben die Römer, geniale Baumeister, einen Kryptoportikus eingebaut, um das ungleiche Bodenniveau auszugleichen. Ich kann gerade mal ein Photo von der beeindruckenden, durchgehenden Arkadenreihe machen, da geht die Warnanlage an. Hier wird renoviert, hier darf man nicht rein. Steht aber nirgendwo, und die Tür ist nicht anders als die Eingangstür oben. Hier unten müssen auch die auf den Photos kurios aussehenden Reste des Bads sein. Jedenfalls finde ich sie nirgendwo.
Zum Ausgleich gibt es hier unten ein sehr modernes, sehr informatives Museum. Das erwartet man ganz und gar nicht, hier unter dem Ausgrabungsfeld.
Es geht nicht um Rom, sondern um Griechenland, genauer gesagt um Makedonien. Und darum, wie die Makedonier griechische Kultur annahmen, aber auch eigene Züge bewahrten. Alexander der Große, das allein spricht Bände, nahm an Olympischen Spielen teil und wurde sogar Olympiasieger, vermutlich im Fünfkampf.
Alexander betonte von vornherein seine Eigenständigkeit, auch in seinem Aussehen. Er hatte, hier auf einem Photo gut zu erkennen, eine wilde, nicht gebändigte Haarpracht aber keinen Bart und wich damit doppelt vom Standard ab, dem älteren Mann mit gepflegtem Bart und gepflegtem Haar.
Es sind einzelne Fundstücke, vermutlich hier vom Platz stamment, ausgestellt und thematisch zusammengefasst. Es geht unter anderem um Schönheit. Ein Silberring ist ausgestellt, auf dem ΚΑΛΗ steht, ‚Die Schöne‘. Und ein ganz kurioses Gefäß, ein Krug, dessen beide Seiten als Gesichter ausgestaltet sind, das einer weißen Frau und das eines schwarzen Mannes. Die Inschrift betont die Schönheit von beiden.
In der Nähe eine Statue, die einen unglaublich schönen Dionysos darstellt, mit männlichem, athletischem Körper – Waschbrettbauch – und sehr weiblichen Gesichtszügen. Vor allem das geflochtene und zu einem Knoten zusammengebundene Haar würde man heute als typisch weiblich einordnen. Zu erkennen ist er an den Weintrauben zu erkennen. Er hält eine Rispe in der Hand.
Zum Thema Lesen und Schreiben sieht man zwei Tintenfässer, eins aus Lehm, eins aus Bronze, zwei Griffel und Tonscherben mit Buchstaben.
Zum Thema Krieg ist eine komplette Rüstung ausgestellt. Interessant dabei, dass die beiden Helme, aus Bronze, sehr gut erhalten sind, die anderen Teile, aus Eisen, schlechter. Sie sind verrostet und bröckelig. Auf dem Schild sieht man im Zentrum einen Kämpfer eingraviert, mit einer Inschrift um die Darstellung. Auch Kampfstiefel sind ausgestellt, auch die aus Eisen. Wie man sich damit bewegen und sogar kämpfen konnte, unglaublich!
Frauenarbeit war weitgehend im Haus, obwohl die Frau in der hellenistischen Zeit mehr auch im öffentlichen Raum auftrat. Man sieht kleine Keramikfiguren von Frauen beim Brotkneten. Verschiedene Formen, verschiedene Geräte tauchen auf.
Großer Wert wurde aufs Spielen gelegt, vor allem dem Spiel in Gemeinschaft. Durch Spielen wurden Charakter und Gehirn ausgebildet und man lernte, sich an Regeln zu halten. Unter den Spielgeräten, die ausgestellt sind, befindet sich ein ganzer Haufen von Knöcheln, die wohl als Spielsteine dienten, und ein paar winzige Würfel, abgeschrägt, aber auch hier schon mit sechs Seiten. Die Werte sind genauso wie bei modernen Würfeln ausgebildet.
Unter den Musikinstrumenten spielten die Aulos und die Kithara die wichtigste Rolle. Beide kamen bei öffentlichen Auftritten und Wettbewerben zum Einsatz, die Lyra dagegen eher im Hause und bei Symposien. Diese Musikinstrumente sind nicht ausgestellt, aber man sieht Keramikfiguren mit diesen Instrumenten. Die Kithara gleicht eher einer Zitter als einer Gitarre. Ausgestellt sind aber zwei Flöten, ganz wie die heutigen Blockflöten.
Die Temperaturen zuhause steigen rasant an. Hier sieht es am Morgen so aus, als würden sie genauso rasant sinken, aber im Laufe des Vormittags wird es immer wärmer. Das merke ich, als ich mich zur Oberstadt raufschleppe. Hier steht ganz oben eine neue, große, neobyzantinische Kirche, mit einer alten Krypta. Beide sind aber verschlossen. Auf dem Gelände stehen überall weißte Gipsfiguren herum, offensichtlich ohne religiösen Bezug. Ein Spieler mit Lyra besteht nur aus geometrischen Formen, ist aber perfekt zu erkennen. Dann gibt es ein aufgeschlagenes Buch. Oder was ist das? Es ist rund, Seiten sind gut zu erkennen, und es steht auf einem Sockel, der wie ein Blumenstiel aussieht.
Mein eigentliches Ziel sind aber die Gärten des Paschas. Der Name ist schwer übertrieben, es handelt sich um einen kleinen, unregelmäßigen Park mit ein paar Bäumen. Der hat aber eine Besonderheit. In dem Park stehen Skulpturen nach der Art von Gaudí herum, fließende, sehr unregelmäßige Formen aus Stein, die an Dinge in der Natur erinnern: Bäche, Baumstämme, Blumenkelche. An einer Stelle sieht es so aus, als wäre man vor einer Felswand mit Höhlenwohnungen. Ein interessantes Experiment: Die Natur wird künstlich nachgebaut.
Irgendwann im Laufe der Woche, so hat es Sofia angekündigt, wollten τα κορίτσια ‘die Mädchen‘, im Laufe dieser Woche ausgehen. „Die Mädchen“, das sind die Frauen des Lesekreises, gestandene Frauen, Lehrerinnen, Geschäftsfrauen und, wie ich dann sehe, wohl aus Rentnerinnen. Sie würden mich schon anrufen. Tut sie tatsächlich. Der Anruf mit den neuesten Informationen erreicht mich auf der römischen Agora.
Ich werde sogar von zuhause abgeholt. Wir bleiben in der Oberstadt und kommen über kleine, sehr schöne Sträßchen, die ich noch gar nicht gesehen habe. Aber das Lokal, in einem alten Holzhaus an einer verwinkelten Straßenecke gelegen, ist ein alter Bekannter. Hier bin ich am Tag der Ankunft immer wieder vorbeigekommen, bei der Suche nach der Wohnung, und hier habe ich sogar einmal nach dem Weg gefragt.
Der kleine Raum ist fast voll. An zusammengerückten Tischen sitzt eine große Gruppe. Lauter Deutsche. Wie kommen die hierher? Es sind Deutsche, die in Thessaloniki wohnen.
Die Bestellung wird zentral gemacht. Es sind viele kleine Gerichte, von denen jeder probiert. Sowieso meine Lieblingsvariante. Es wird immer mehr aufgetragen, Käse, Artischocken, Lamm, Schwein. Die schlanken Frauen essen auch nach zwei Stunden noch. Alle anderen sind zu dem Zeitpunkt schon satt. Und dann gibt es noch Nachtisch auf Kosten des Hauses. Ist also doch nicht auf Kreta beschränkt.
Der andere Tisch ist für uns reserviert. Als etwas verspätet auch Michailis kommt, bin ich wenigstens nicht mehr der einzige Mann unter acht Frauen. Es wird laut und viel gesprochen, und ich kann dem Gespräch nicht folgen. Aber immer wieder werde ich von einzelnen etwas Spezifisches gefragt, und dann geht es ganz gut.
Eine der Elenis, die neben mir sitzt, erzählt, wie sie ihren Mann kennen gelernt hat. Sie stammen beide aus kleinen Dörfern hier in der Gegend, fünf Kilometer entfernt, kannten sich aber nicht. Sie wurde dann irgendwann von ihrem Schwager, dem deutschen Winzer, auf die Anuga nach Köln geschickt, als Helferin an einem Stand. Dort wurde der Mann dann vorstellig, der ihr Ehemann werden sollte. Als Kunde. Sie musste nach Köln fahren, um ihn kennen zu lernen.
Ihr Ehemann ist zwar in Griechenland aufgewachsen, aber noch in Deutschland geboren. Er spricht Deutsch und interessiert sich für deutsche Philosophie. Ich solle doch irgendwann mal auf einen Kaffee vorbeikommen.
Nicht nur drinnen ist es voll, auch die Tische draußen sind besetzt, und auch alle Tische der anderen Lokale des Platzes. Ich muss einfach die Frage nach dem armen Land stellen, in dem ich mich befinde. Eine der Frauen, die ich bisher noch nicht kannte, gibt eine längere Antwort, der ich nur teils folgen kann. Aber die Quintessenz ist die: eine Zweiklassengesellschaft. Das bestätigt sie, als ich noch mal nachfrage. Sie, diejenigen, die Arbeit haben und einen Grundstock, leben weiterhin gut, aber die andere Hälfte darbt, und das sind diejenigen, die man in der Öffentlichkeit nicht wahrnimmt.
5. Juni (Freitag)
Ana fragt, ob sie mal wegen des Autos anrufen soll. Gerne. Dann solle ich aber in Startlöchern stehen. Für den Fall der Fälle müsste ich danach eine ordentliche Runde ums Dorf drehen, damit sich die Batterie wieder auflädt.
In fünf Minuten sagt sie Bescheid, gleich werde jemand kommen, und in fünf Minuten ist der da. Starterkabel wird angebracht. Auto springt an. Zehn Euro. Danke.
Ich will schnell runter ans Meer und Kilometer machen, aber das sagt sich so leicht. Runter ans Meer kommt man bei den vielen Einbahnstraßen erst gar nicht, und Kilometer machen zieht sich bei dem Stau in die Länge. Ändert sich auch nicht, als es stadtauswärts geht. Ich kann in Ruhe die Weihnachtsbeleuchtung betrachten, die über die breiten Boulevards gespannt ist und den Polizisten, der laut pfeifend den Verkehr dirigiert. Das hat was von Madrid, nur, dass hier langsamer gefahren wird. Dafür gibt es hier mehr Motorräder, die links und rechts an den Autos vorbeifahren. Wie Madrid ist auch die linke Fahrspur durch parkende Autos blockiert – das ist kein Parkstreifen, und Schilde kündigen an, dass abgeschleppt wird – und von den verbleibenden beiden Spuren ist oft eine durch Lieferwagen blockiert.
Ungewollt komme ich nach Kalamaria, einen eigenständigen Ort. Da komme ich dann wirklich ans Meer, aber die Straße endet an einem großen Strandcafé. Das sieht verlockend aus. Kaffeepause. Im letzten, aber wirklich im allerletzten Moment komme ich auf die Idee, das Auto an einer abschüssigen Straße zu parken. Gott sei Dank. Es springt nicht an. Aber mit dem Anlauf die Straße runter klappt es dann wieder. Es geht zurück nach Thessaloniki. Auf Umwegen am Hafen vorbei komme ich in die Oberstadt. Das letzte Stück ist genau das, was ich gestern zu Fuß gemacht habe. Hilft bei der Wegfindung. Jetzt wird das Auto zuhause bergab geparkt.
Unterwegs gesehen, dass auf einigen Hinweisschildern Θες-Νικη steht. Das leuchtet ein. Der Name der Stadt ist einfach zu lang. Das ist unpraktisch. Insofern haben die internationalen Bezeichnungen wie Selanik und Salonicco ihren Sinn.
An einer Häuserfront steht die Forderung: Nein zur Schließung des Demetrios-Hospitals! Vermutlich ist ein größeres, weiter außerhalb liegendes Krankenhaus in Planung.
Durch einen verrückten Zufall komme ich am Nachmittag auf dem Rückweg von der Apotheke genau an dem Byzantinischen Bad vorbei, das in der UNESCO-Liste steht. Es liegt, zwischen Häusern versteckt, ganz hier in der Nähe, gleich neben der Bücherei des Viertels, wo ich schon zweimal war. Man kann es von zwei Seiten ziemlich gut von der Straße aus sehen. Als Laie könnte man es nicht von den türkischen Bädern unterscheiden, aber es ist ca. 200 Jahre älter, bestens restauriert. Haben die Türken die Badekultur in Byzanz gelernt?
Die Schilder mit Straßennamen sind hier ausschließlich an Häusermauern angebracht, wie früher bei uns. Das hat fast nur Nachteile: schlecht zu finden, schlecht zu lesen, überklebt oder ganz abwesend, wenn es kein Haus gibt oder die Fläche, wie im Zentrum häufig, vom Schaufenster, von Balkonen oder von Reklame eingenommen wird.
Hier haben nicht nur Zebrastreifen nichts zu sagen, sondern auch grüne Fußgängerampeln an Zebrastreifen. Wenn man nicht ganz entschlossen weitergeht, fahren die Autos durch.
Die Arbeiten an der Agias Sofias machen Fortschritte. Mehrere Abschnitte der Straße sind inzwischen fertig. Als Fußgängerzone. Das ist dem Wirken des unkonventionellen Bürgermeisters zu verdanken. Die Sache sieht (noch) nicht sonderlich schön aus, aber man hat eine breite Flaniermeile, die demnächst bis zum Meer hinunter führt.
In einer zweisprachigen Broschüre über Thessaloniki, die Ana mir mitgebracht hat, ein kritischer Artikel über den Tourismus. Die Besucherzahlen sind ständig gestiegen in den letzten Jahren, und das tut angesichts der Krise gut, aber: Bleibt es auch so? Verschiedene Dinge sind nötig: Man muss am Image der Stadt arbeiten, man muss die Werbestrategien verbessern, man muss die touristische Infrastruktur verbessern, man muss das Bewusstsein der Bewohner stärker. Mit anderen Worten: Die sollen die Besucher besser behandeln. Wenn sie mich fragen, wäre schon was gewonnen, wenn sie überall zuverlässige und lesbare Schilder mit Öffnungszeiten aufhängen.
Einer der ganz frühen Besucher Thessalonikis war Paulus. Der wollte auf der Agora predigen und stellte einen entsprechenden Antrag, wurde aber abgewiesen. Er traf hier auf eine griechisch sprechende, jüdische Gemeinschaft mit stark heidnischen Zügen. Er predigte daraufhin in der Synagoge. Trotz seines Scheiterns hier entstand in Thessaloniki einer der ersten christlichen Gemeinden überhaupt. Der Brief an die Thessalonicher ist vermutlich das älteste Buch des Neuen Testaments. Eigentlich hatte er vor, nach Thessaloniki zurückzukehren, aber daraus wurde nicht, und das war dann wohl der Anlass für den Brief bzw. die beiden Briefe. Der zweite Brief enthält ein paar stark antijüdische Elemente. Die hätten den Herrn getötet, die wäre gegen alles, die werde die Strafe des Herrn erreichen. Das ist fruchtbarer Boden für spätere Ideologien. Weniger polemisch und interessanter: Die Juden wollten verhindern, dass die Botschaft auch den Juden gepredigt werde. Mit anderen Worten: Die Juden sagten: Mach du mit den Heiden, was du willst, bekehre sie, soviel du willst, aber lass uns in Ruhe. Wir haben damit nichts zu tun.
6. Juni (Samstag)
Heute ist die Oberstadt dran. Es geht hin und her und rauf und runter. Als ich am Moni Vladaton ankomme, habe ich mich schon ein paarmal verlaufen.
Das Moni Vladaton ist auch auf der Liste der UNESCO, aber nicht unter Kirchen, sondern als Kloster. Die Teile des Klosters sind aber neu, es geht eigentlich um die Kirche. Der Unterschied zu den anderen ist der, dass sie in einem abgeschlossenen Klosterhof liegt.
Die Kirche ist klein und dunkel. Sie hat nur eine Kuppel, und die ruht auf einer Seite auf der Wand der Kirche.
Das Kloster blieb während der gesamten Türkenzeit christlich. Das war einem Zufall zu verdanken: Auf dem Grundstück des Klosters befand sich eine Zisterne, und die Mönche durften bleiben unter der Bedingung, dass sie die Oberstadt mit Wasser versorgten. Jedenfalls ein Zeichen für die relative Liberalität der Osmanen.
In der Kirche fehlen Ikonen und Fresken, das heißt, es gibt freie Flächen. Das ist nach orthodoxem Verständnis keine vollständige Kirche. Eine protestantische Kirche mit viel Licht und wenig Ausschmückung und Ausstattung ist keine „richtige“ Kirche. Hier wurden die Wandmalereien zerstört, aber nicht in blinder Zerstörungswut, sondern ganz vorsichtig. Davon zeugen die vielen, ganz gleichmäßigen Hammerschläge, die die Beseitigung der Fresken hinterlassen hat. Auf diese Weise rettete man den wertvollen Baustoff.
Die Zerstörung fand 1913 statt, also ein Jahr nach der „Befreiung“. Das heißt, nicht die Türken haben sie zu verantworten. Wer dann? Die Bulgaren. Die Aktion fand im Zuge des Kampfs um Makedonien statt, einem Krieg, der unmittelbar auf die Befreiung stattfand. Wieder ein Pluspunkt für die Türken! Warum die Bulgaren? Sie waren schließlich orthodoxe Christen. Es waren nicht die bulgarischen Christen, sondern bulgarische Atheisten, die hier am Werk waren.
Immer wieder habe ich vom Epatpyrgio gelesen, einem Teil der Stadtmauer, ohne zu verstehen, was das war. Auf der Karte kann man es gut erkennen: Es ist die an der höchsten Stelle der Stadt, der höchsten Stelle der Akropolis gelegene Verteidigungsanlage. Die Sache ist so: Es gab die alten Stadtmauer, im Wesentlichen spätrömisch. Sie bildete ein unregelmäßiges Rechteck, mit zwei gleichmäßigen Schenkeln, im Osten und am Meer. Das war den Byzantinern immer noch nicht genug. Sie bauten eine weitere Stadtmauer, eine Stadtmauer, die nur die Akropolis einfasste, ganz im Norden, ganz unregelmäßig. Vermutlich wollte man sich hierher zurückziehen, wenn die Stadt erobert würde. Allerdings befindet sich die Stadtmauer außerhalb der alten Befestigung, hätte also auch direkt von oben aus angegriffen werden können.
Von dieser Stadtmauer sind immer wieder Teile erhalten, mit regelmäßigen Lücken dazwischen, und eben der Eptapyrgio. Diese, wörtlich genommen, ‚siebentürmige‘ Anlage schloss die Stadtmauer im Norden ab. Man kann reingehen, aber nicht auf die Stadtmauer selbst. Die Festung ist sowohl drinnen als auch draußen teils von späteren Gebäuden verdeckt, denn die Anlage diente dann als Gefängnis, und zwar bis 1989! Man kann das Militärgefängnis, das Frauengefängnis, das Männergefängnis, eine Kirche und Verwaltungsgebäude unterscheiden. Auf die Idee mit dem Gefängnis waren die Türken gekommen, aber erst gegen Ende ihrer Herrschaft. Der zentrale Turm der Anlage wurde auch erst von den Türken errichtet. Davon zeugt eine lange Inschrift in arabischen Schriftzeichen über dem Eingang. Demzufolge wurde der Turm 1431 errichtet, ein Jahr nach der Eroberung.
Auf dem Weg zurück verlaufe ich mich wieder in den engen Gassen der Oberstadt. Dabei sehe ich einen offensichtlich noch verkehrstüchtigen VW-Käfer und eine Kneipe, die Bierhaus heißt und Radeberger ausschenkt. Dann komme ich zu einer Bäckerei, wo ich sehr freundlich bedient werde, vom Chef und von der Chefin. Ich erfahre außerdem, dass die Kirche, die ich suche, Agios Nikolaos, nur ein paar Schritte entfernt ist.
Auch Agios Nikolaos war ursprünglich Teil eines Klosters und liegt etwas abgeschieden. Sie ist die bei weitem einfachste Kirche, die ich bisher gesehen habe, ohne Kuppel, mit einem kleinen Satteldach aus Holz, einschiffig, von außen kaum als Kirche zu erkennen.
Das einzige Schiff hat auf drei Seiten einen Umgang, und dadurch gibt es an den Wänden, in der Apsis und an den Bögen reichlich Platz für Wandmalereien. Und von denen ist eine ganze Menge erhalten.
Gleich über dem Eingang zum Chor sieht man einen Nikolaus, der mit gebieterischer Geste die Wellen beruhigt, die ein Schiff in Gefahr bringen. Im Süden erscheint eine Hochzeit von Kana. Der Bräutigam sieht wie eine Braut aus, ein König prostet auf das Brautpaar, und Maria spricht leise von hinten Jesus an und überbringt ihm die schlechte Botschaft: Der Wein ist ausgegangen. Der dreht sich ganz entsetzt zu ihr um. Das ist sehr lebendig und in hellen Farben dargestellt.
Daneben sieht man den Hl. Gerasimos. Der hält ein Messer in der Hand und legt es an einen Löwen an. Mit dem Messer beseitigt er einen Dorn im Fell des Löwen. Der Löwe unterzieht sich der Prozedur, sieht aber zur Seite, wie einer, dem Blut abgenommen wird, aber kein Blut sehen kann.
Dann kommen zwei ganz merkwürdige Szenen. Am äußersten Rand sieht man zwei Mohren mit wilden Turbanen und auffälligen Ohrringen auf Kamelen. Was deren Funktion hier ist, erschließt sich nicht, aber die Darstellung ist sehr gelungen.
Daneben eine Szene mit zwei Tieren, einem Löwen und einem Esel. Die sind mit einem Seil miteinander verbunden. Die beiden Besitzer stehen jeweils auf der Seite. Der Besitzer des Esels hat auf dessen Rücken wertvolle Gefäße platziert. Es sieht so aus, als würden die Wasser enthalten.
Es gibt noch viel mehr, aber eine Frau macht sich im Chor mit einem Staubsauger zu schaffen, und man will nicht zwischen die Füß kommen.
Auf der Karte ist am Rande der Oberstadt ein Wald eingezeichnet. Thessaloniki ist nicht eine richtig grüne Stadt, die Parks sind eher bescheiden, aber viele Straßen im Zentrum haben Bäumen mit dichtem Laubwerk zu beiden Seiten. Der Wald ist gar nicht so leicht zu finden. Und der Eingang erst recht nicht. Ich folge aber zufällig einem Schild zu einem Aussichtspunkt. Da sitzt ein Mädchen und gibt mir Auskunft. Jedenfalls versucht sie es. Auf Englisch. Immer wieder setzt sie neu an: „There is a big … a big … a small …“. Meine vorsichtigen Versuche, das gewünschte Wort zu nennen – Right? – nachdem sie eine halbe Minute in diese Richtung gedeutet hat, ignoriert sie. Am Ende bricht es auch ihr heraus. In einem wilden Wortstrom sagt sie auf Griechisch: „Ich kenne alle diese Wörter, aber wenn ich sie brauche, fallen sie mir einfach nicht ein.“ Ich kann sie beruhigen. Keine unbekannte Situation.
Ein Mann mit einem kleinen Mädchen auf einer Bank zeigt mir den Weg zum Theater und zum Zoo, fügt aber gleich hinzu, dass das Theater geschlossen und der Zoo nicht sehenswert ist. Ich gehe trotzdem grob in die Richtung und komme statt zu dem geschlossenen Theater und dem nicht sehenswerten Zoo zu einem Fußballplatz. Sand, Tore ohne Netze, holpriger Boden voller Unkraut. Hier wird Griechenlands Fußballzukunft nicht gestaltet. Später kommen dann noch ein Basketballplatz, der gut im Schuss ist, Rastplätze und Spielplätze. Wieder geht es bergauf, dabei dachte ich, der Eptapyrgio wäre der höchste Platz der Stadt.
Der Wald entspricht nicht dem, was wir erwarten. Dafür sind die Abstände zwischen den Bäumen zu groß, und es gibt zu viele freie Flächen. Es ist einfach kein dichter Wald. Außerdem gibt es fast nur Nadelbäume.
Irgendwie arbeite ich mich wieder zum Stadtmauer und dann in vertrautere Gegenden zurück. Dann gehe ich zu dem Platz, wo wir vorgestern waren, ganz in der Nähe der Wohnung, aber diesmal in die benachbarte Taverne. Da bin ich der einzige Gast, werde aber dafür umso aufmerksamer bedient. Das Essen ist einfach, aber gut, und der selbstgemachte Kuchen, den es auf Kosten des Hauses zum Nachtisch gibt, ein Gedicht.
Später kommt ein junges Paar, das sich beraten lässt, über eine größere Gesellschaft, die hier stattfinden soll. Zur Beratung kommt auch die Wirtin zum Vorschein. Anschließend kommt sie an meinen Tisch und fragt, ob alles in Ordnung sei. Als ich ihr ein Kompliment mache, strahlt sie über alle vier Backen. Anerkennung. Darum geht es. Immer wieder.
Die Taverne heißt Πρυτανείον. Der Wirt holt bei meiner Frage nach der Bedeutung weit aus und bringt mir einen griechischen Text, der die Bedeutung erklärt. Der überfordert mich aber etwas. Es war wohl in der Antike ein öffentliches Gebäude, das grob dem modernen Rathaus entspricht. Im Wörterbuch steht allerdings ‚Rektorat‘.
Auf dem Rückweg komme ich, wieder rein zufällig, an der Türbe vorbei, dem letzten türkischen Bauwerk, das mir noch fehlte, einer kleinen, achteckigen Grabstätte, die ebenfalls restauriert wird. Man muss noch mal in fünf Jahren nach Thessaloniki wiederkommen und sich all die restaurierten Gebäude ansehen.
7. Juni (Sonntag)
Die Wanderung, von Ana vorgeschlagen, findet in Chalkidiki statt, auf dem ersten „Finger“ der Halbinsel. Die Fahrt durch Thessaloniki ist heute eine ganz andere Sache als an einem Werktag, und trotz schlechter Beschilderung bin ich bald auf der Autobahn Richtung Chalkidiki.
Der Zielort, Siviri, liegt an der Küste des Fingers, ist aber ganz schwer zu finden. Die Karte führt mich in den Nachbarort, aber dort weiß ich einfach nicht mehr weiter. Ausschilderungen gibt es nicht, die Menschen, die auf der Straße sind, sind ausschließlich Ausländer, und der Routenplaner sagt mir, ich solle mich Richtung Nordosten halten. Aber wo ist Nordosten? Ich fahre eine Landstraße entlang, dann wieder zurück, eine andere Straße entlang und komme dann irgendwann in ein Wohnviertel. Dort ist eine Frau unterwegs. Ich spreche sie an, und sie antwortet auf meine einfache Frage mit einem Redeschwall. Auf Russisch. Es wird aber klar, dass sie mitfahren will. Sie will in dieselbe Richtung. Wir unterhalten uns in einer verrückten Mischung aus Russisch und Griechisch, meist wird dasselbe Wort in beiden Sprachen gesagt: Ευθεία. Πрямо. Das klappt. Sie lotst mich bis zum Ortsausgang und steigt dort aus.
Ich erreiche den verabredeten Parkplatz kein bisschen zu früh. Der Routenplaner hat für die Strecke eineinviertel Stunde vorgesehen, ich habe zweieinhalb gebraucht. Gut, dass ich auf den Kaffee unterwegs verzichtet habe. Den bekomme ich hier noch ganz kurz vor dem Treffpunkt.
Auf dem Parkplatz steht eine kleine Gruppe. Ich spreche sie an. Es sind die richtigen. Der Name Ana sagt ihnen nichts, wohl aber der Name Irma. Die habe ich angeschrieben, aber die kommt selbst nicht. Macht aber nichts. Ich kann mitgehen. Bald sind wir vollständig.
Wir fahren mit drei Autos nach Savi und lassen die anderen hier stehen. Die Gruppe ist international, ein Amerikaner, eine Estin, eine Norwegerin, eine Südafrikanerin, der Rest Griechen. Die Unterhaltung findet meist auf Englisch statt, obwohl alle Griechisch können.
Einer der Griechen trägt einen Pullover mit dem Emblem von Barcelona, und ich kann ihm gerade passend gratulieren. In Griechenland ist er Anhänger von PAOK. Im Allgemeinen gilt für ihn aber Devise Alles nur nicht Olympiakos. Außer für einen der anderen Griechen. Für den gilt Alles nur nicht PAOK. Der ist Anhänger von Aris, dem anderen Verein aus Thessaloniki.
Der Weg ist so gut, wie er besser kaum sein könnte: ein schmaler Pfad mit festgestampfter Erde, moderat ansteigend und abfallend, mit viel Vegetation. Er führt entweder durch den Wald – das ist ein „richtiger“ Wald, dichter Baumbestand, Mischwald – oder direkt am Meer entlang, hoch über dem Meer.
Wir kommen dann irgendwann an einen Strand, passieren den, und dann wird die Strecke etwas schwieriger und ist nicht mehr ganz so schön.
Das angekündigte Picknick findet an einer besetzten Parkbank statt. Im Stehen essen wir einen Apfel. Mein 5-Gänge-Menu bleibt im Rucksack.
Am nettesten ist die Südafrikanerin, und die ist auch die einzige, die Griechisch mit mir spricht. Sie kommt seit Jahren jedes Jahr für drei Monate nach Thessaloniki und überbrückt hier den südafrikanischen Winter. Sie hat ein Haus in der Oberstadt. Englisch ist ihre Zweitsprache, ihre Muttersprache ist Afrikaans. Sie spricht sehr gut Griechisch und kennt sich bestens aus, auch in der Umgebung von Thessaloniki. Während ihres Aufenthalts muss sie oder musste sie Griechenland immer einmal verlassen und dann wieder einreisen, wegen des Visums. Das hat sie zu ausgedehnten Reisen in den Balkan genutzt. Ihr Lieblingsstadt, sagt sie, sei eine Stadt in Albanien, Butrint.
Der Amerikaner hat die griechische Staatsbürgerschaft, neben der amerikanischen. Obwohl er mit einer Griechin verheiratet war, hat er dafür sechs Jahre und einen Rechtsanwalt gebraucht. Die Südafrikanerin erzählt, ihre mit Griechen verheirateten Freundinnen, in Griechenland sesshaft, hätten das bis heute nicht geschafft.
Die Norwegerin nimmt mich in Beschlag. Sie spricht sehr, sehr gut Deutsch, klagt aber über mangelnde Gelegenheiten, es zu verwenden.
Sie ist erstaunt, dass ich ihren Arbeitsplatz nicht kenne. Den kennt jeder in Thessaloniki. Außer mir. Es ist eine Behörde der EU. Moment mal: Norwegen, EU? Da war doch was? Ja, wir sind zwar nicht Mitglied, bekommen hier aber Arbeitsplätze. Wir bringen den unterentwickelten Europäern bei, wie man’s macht.
Sie sagt, die Griechen seien ein Balkanvolk. Das hätte auch eine Freundin bestätigt, die erst mit einem Griechen, dann mit einem Montenegriner verheiratet war: Pochen auf individuelle „Freiheiten“ – Ich parke, wo ich will – keine große Rücksicht auf andere, Herzlichkeit und Großzügigkeit gegenüber denen, die „dazugehören“, zum Clan. Der Norwegerin gefällt es gut in Griechenland, aber sie hat ihre Probleme mit dem griechischen Verhaltenskodex. Ihre Lieblingsthemen sind Parken und Pünktlichkeit.
Sie versteht viel von Sprachen und charakterisiert die Unterschiede sehr gut, die zwischen Deutsch und Norwegisch, die zwischen denen und Griechisch. Auch zu den innernorwegischen Varianten – die sie „Sprachen“ nennt – hat sie was zu sagen. Sie sagt, ganz richtig, dass das, was sie Griechen immer betonen – viele griechische Lehnwörter in anderen Sprachen – dem Sprachenlerner kaum hilft. Da kennt man noch so gut wie kein einziges Verb, ganz zu schweigen von dessen Beugung. Auch bei Partikeln hilft es kaum. Recht hat sie. Wir wundern uns gemeinsam darüber, dass die griechischen Wörter, auch die Alltagswörter, so lang sind. Auch dafür hat sie eine Erklärung, allerdings eine abenteuerliche: Die Griechen redeten eben gerne, und da wären lange Wörter genau richtig.
Der Amerikaner, Don, hat mir schon im Auto von seiner beruflichen Laufbahn erzählt. Er hat an einer privaten Universität in Montana gelehrt. Da hat er alle sieben Jahre ein Sabbatjahr bekommen. Bei einem kompletten Jahr mit halber Bezahlung, bei einem halben Jahr mit kompletter Bezahlung. Die Universität wurde dann aber geschlossen. Alle wurden gefeuert. Und mussten sich die ihnen zustehenden Gehälter auf dem Rechtsweg erstreiten, bekamen aber nur einen kleinen Teil davon. Wohl und Wehe der amerikanischen Universität, in einer Biographie eingefangen. Er stimmt mir lebhaft zu, als ich das so kommentiere.
Er hat dann auch hier in Thessaloniki einzelne Kurse abgehalten. In einem Kurs hatte er eine Amerikanerin unter lauter Griechen. Er sei ein ganzes Semester damit beschäftigt gewesen, den Stresslevel der Amerikanerin zu senken. Die sei ganz aufgeregt gewesen, und ratlos angesichts des griechischen Laissez-faire: keine Hausaufgaben, zu spät zum Unterricht, Streik, Prüfungsvorbereitung im letzten Moment. Und dann hätten sie sie auch noch um die Lösungen bei den Hausaufgaben gebeten! Völliges Unverständnis.
Am Ziel geht es in ein Lokal direkt am Meer, auf einer großen blau-weißen Terrasse. Die meisten machen sich aus dem Staub, wir Ausländer bleiben unter uns. Don, der Amerikaner, übernimmt das Kommando. Er macht das richtig gut. Es wird „griechisch“ gegessen, mit einer ganzen Menge einzelner Speisen, die geteilt werden. Natürlich gibt es hier Fisch und Meerestiere, aber alle kommen zu ihrem Recht. Am besten schmecken ohnehin die Bohnen und die frittierten Zucchini.
Ich frage ihn, wie er denn mit den griechischen Verhaltensweisen zurechtkäme. Gut. Aber dieser Autofahrer, der ihn heute Morgen wüst beschimpft hat, als er ihm auf Versehen den Weg versperrte. Der habe doch recht gehabt, sagt er. Ja, ja, aber deshalb braucht man doch nicht so zu reagieren. In England hätte der sich entschuldigt, dass er durchwill. In England hätten sich beide entschuldigt. Stimmt, sagt er, aber das mache ihm nichts. Die Griechen seien sehr entspannt und sehr großzügig. Und alles sei verhandelbar. Es gebe zwar Regeln, aber die seien verhandelbar. In Amerika gelten die Regeln. Strikt. Deshalb sei er in Griechenland.
Als wir gehen, bekommt er von dem Kellner ein dickes Lob für sein Griechisch. Sehr berechtigt. Auf dem Weg zum Auto kann ich ihm das spezifische Wort entlocken, das den Kommentar ausgelöst hat: τσιμπώ. Heißt eigentlich ‚stechen‘, ‚kneifen‘, auch ‚eine Kleinigkeit essen‘. Er hat es aber mit Bezug auf eine Speise gebraucht. Es ging um den Geschmack, um etwas, das pikant ist, einen eigenen Geschmack hat. Im Wörterbuch sehe ich später, dass das Verb eine Unzahl von Bedeutungen hat.
Ich mache den Rücktransport zu den Autos. Wir haben unverschämtes Glück. Es ist die ganze Zeit trocken geblieben, aber in dem Moment, wo wir ins Auto steigen, fängt es zu regnen an. Es schüttet. Ein Sturzregen. Eine ganze Stunde lang. Der Regen ist wie bestellt von der Norwegerin, denn er bestätigt ihre Klage über die Drainage in Griechenland, besser gesagt über deren komplette Abwesenheit. Das Wasser sammelt sich an einigen Stellen so, dass es das Auto förmlich bremst. Verrückt. Und das nicht nur hier in der Walachei, sagt sie, auch in Thessaloniki, Griechenlands zweitgrößter Stadt.
Auf dem Rückweg fährt Don vor mir als Lotse her. Das ist wunderbar, und in Zeit von nichts sind wir kurz vor Thessaloniki. Hier biegt er ab. Ich komme auf eine andere Straße ins Zentrum als vorgestern. Man hat das Gefühl, in eine Millionenstadt zu fahren. Dabei hat die Stadt selbst gerademal 325.000 Einwohner, weniger als Bielefeld. Damit läge sie in Deutschland gerade mal an 19. Stelle! Der Ballungsraum Thessaloniki hat allerdings fast eine Million Einwohner.
Es geht alles wunderbar. Ich komme zum Galerius-Bogen und finde auch die richtige Abfahrt in die Oberstadt. Schon bin ich in der Olympiados, fünf Gehminuten von der Wohnung entfernt. Dann nehme ich die falsche Seitenstraße und komme durch das Einbahnstraßensystem vom Weg ab. Noch habe ich aber die Orientierung nicht verloren. Ich komme am Eptapyrgio vorbei. Auch von hier finde ich zu Fuß nach Hause. Immer noch optimistisch, fahre ich weiter. Aber auf einmal bin ich ganz woanders. Keine Ahnung, wie das passiert ist.
Mit den Einbahnstraßen hat es folgende Bewandtnis: Man steht an einer Kreuzung und hat drei Möglichkeiten: rechts, links, geradeaus. Das Einbahnstraßensystem schließt aber nicht eine, sondern zwei Möglichkeiten aus. Man will nach rechts, darf aber nicht nach rechts und auch nicht geradeaus.
Jetzt nimmt das Drama seinen Lauf. Ich habe keine Ahnung, wo ich bin. Es geht in Wohnviertel und über breite Boulevards wieder in Wohnviertel, und manchmal komme ich wieder dahin, wo ich schon war. Alles unbekannt. Lange suche ich eine Tankstelle. Als ich dann endlich eine finde und rechts ranfahre, ist die geschlossen.
Es gibt praktisch keine Beschilderung. Nur ein Schild taucht immer wieder auf: Moni Lazariston. Ein Kloster, das ich nicht kenne. Einmal mache ich den Versuch, dahin zu fahren, um wenigstens einen Orientierungspunkt zu haben. Vergebens. Die Schilder verschwinden. Als ich das Projekt längst vergessen habe, tauchen sie wieder auf. Das einzige andere Hinweisschild führt zu einer Byzantinischen Wassermühle. Das ist jetzt nicht so sonderlich nützlich.
Manchmal sehe ich von weitem die weiße Stadt und versuche, in diese Richtung zu gelangen, und dann auch einmal das Meer. Aber auch dahin schaffe ich es nicht.
Am liebsten würde ich irgendwo anhalten, aber es finden sich keine Parkmöglichkeiten. Immer weiter geht es, getrieben von hupenden Autos, erschreckt von Motorrädern, die rechts und links überholen. Irgendwann finde ich eine Stelle zum Halten und befrage den Routenplaner. Der schickt mich mal wieder nach Nordosten. Und nach fünfzig Meter auf eine Straße, die es hier nicht gibt.
Auf dem abgetrennten Seitenstreifen einer größeren Straße kann ich anhalten und einen Mann nach dem Weg fragen. Andere Richtung, sagt er, immer geradeaus. Ob es da eine Beschilderung gebe? Keine Ahnung, einfach der Straße folgen. Also umdrehen. Keine Chance. Man darf nirgendwo links abbiegen, es geht kilometerweit in die falsche Richtung. Dann kann ich rechts abbiegen, drehen und dann auf die Hauptstraße links abbiegen. Geschafft! Und bald kommt auch ein Hinweisschild: Thessaloniki. Gott sei Dank. Immer der Straße entlang. Immer bergabwärts. Doch plötzlich führt die Straße in ein Wohnviertel, dort muss ich rechts und dann wieder rechts und bin wieder in der falschen Richtung.
Ziellos fahre ich weiter, bis ich auf einmal das Schild Ring Road sehe. Ich folge dem, in der Hoffnung, hier auf Hinweisschilder zu treffen. Komischerweise geht es durch ganz kleine, gemütlich aussehende Wohnviertel, aber dann kommt ein großer Zubringer. Hier ist eine Baustelle, die sich lange, lange hinzieht. Ich muss immer weiter und habe das Gefühl, dass es in die falsche Richtung geht. Aber man kann weder links noch rechts abbiegen noch zurück. Und dann führt der Zubringer auf die Autobahn, und endlich gibt es Schilder. Gleich auf dem ersten steht: Chalkidiki. Na toll.
An der nächsten Ausfahrt raus. Da rammt mich fast eine junge Frau, die vorher mit 50 über die Autobahn geschlichen ist und sich plötzlich, ohne sich umzusehen, rechts abbiegt. Auf dem Parkplatz, auf dem ich wende, taucht sie plötzlich wieder auf. Ich mache, dass ich wegkomme.
Zurück geht’s. In die richtige Richtung. Und bald taucht das Häusermeer unter mir auf. Wenigstens etwas. Und es ist noch hell, und es hat aufgehört, zu regnen. Aber die Odyssee hat noch kein Ende. Wieder komme ich vom Weg ab. Ein Ehepaar am Straßenrand ist ganz entsetzt, dass ich zur Oberstadt will. Das sei sehr weit und kompliziert. Sie sehen sich hilfesuchend um. Im letzten Moment fällt mir noch ein, nach dem Zentrum zu fragen statt nach der Oberstadt. Diese Richtung kennen sie. Und es klappt. Bald komme ich in vertraute Gefilde, am Hafen vorbei und dann am Aristoteles-Platz. Und dann bin ich wieder am Galerius-Bogen. Aber in der falschen Richtung. Keine Möglichkeit zum Abbiegen. Es geht stadtauswärts. Das lasse ich mir aber nicht gefallen, wende da, wo es verboten ist und komme in die richtige Richtung. Ich finde die richtige Straße in die Oberstadt und den Weg zur Wohnung. Trotz der Einbahnstraßen.
8. Juni (Montag)
Termin beim Zahnarzt. Die Praxis ist hochmodern. Die Röntgenaufnahmen werden gleich auf dem Behandlungsstuhl gemacht, mit einem so kleinen Apparat, dass man gar nicht auf den Gedanken käme, es könne sich um ein Röntgengerät handeln.
Der Zahnarzt ist jung, freundlich, geduldig und „konservativ“ in seinen Behandlungsmethoden. Vor einem Eingriff erst mal die Natur wirken lassen. Befund: Alles in Ordnung. Vier Tage lang ein paar Vorsichtsmaßnahmen, dann bei Bedarf wiederkommen. Der Wurzelkanal könne die Schmerzen ausgelöst haben, zusammen mit der Erkältung. Nicht dass ich das alles Wort für Wort verstehe, aber er spricht sehr deutlich, und ich kann ganz gut folgen. Wenn ich hier wohnen würde, wäre er mein Zahnarzt. Und was kostet die ganze Sache? Nichts. Freund von Sofia, das reicht. So funktioniert Griechenland.
Das ersparte Geld trage ich in die Buchhandlung. Dort stöbere ich eine Zeitlang herum und finde dann ein Buch für Sofia. Der Tag ist trüb, viele Wolken, etwas schwül. Aber nach drei Wochen Traumwetter kommt Klagen nicht in die Tüte.
Ich stöbere in einem griechischen Kochbuch mit dem Titel 41 αγαπημένες συνταγές με λαχανικά 41 beliebte Rezepte mit Gemüse. Gleich die ersten beiden Rezepte, und zwei weitere später, sind reine Kartoffelgerichte. Da ist überhaupt kein ‚Gemüse‘ drin. Das Wort λαχανικά schließt im Gegensatz zu Gemüse Kartoffeln ein. Genauso wie vegetables.
Am Abend geht es ins Kino: Mad Max. Der Film hat eine griechische Anfangszeit: 22.40. Das Kino ist in einem modernen Komplex gleich in der Nähe des Aristoteles-Platzes, in einem Innenhof mit mehrstöckigem Umgang, wie man ihn überall finden könnte. Von einem der Cafés aus kann man den Schalter sehen. Da trinke ich einen Kaffee und warte auf Vaso, die den Film vorgeschlagen hat. Da werden 4 € für einen Kaffee abkassiert. Der teuerste Kaffee des Jahres.
Das Kino hat verschiedene kleinere Säle. Obwohl der Preis einheitlich ist, sind die Plätze nummeriert, und es gibt eine Platzanweiserin.
Der Film, international mit Lob überschüttet, ist eine einzige Gewaltorgie. In einer unwirtlichen Sand- und Felsenlandschaft findet eine wilde Verfolgungsjagd statt. Der rostige, lange Lastzug der Helden wird von den Anhängern und Soldaten des Diktators auf Jeeps und Motorrädern mit unwirklich großen Reifen verfolgt. Schüsse, Blut, Schreie, Explosionen, Feuer, Nahkampf auf dem rollenden Lastzug in Endlosschleife. Der Held auf dem Lastzug, zusammen mit einem vernarbten, glatzköpfigen Überläufer und ein paar leicht bekleideten Frauen, erwehrt sich aller Angriffe und befreit am Ende die jubelnden Menschen von dem Diktator. Er selbst tritt bescheiden den Rückzug an und verschwindet in der Menge. Die Geschichte hat einen ideologischen Überbau: Die Erde ist verwüstet, das grüne Land, das die Heldin sucht, existiert nicht mehr, und der Diktator kontrolliert die wenigen verbleibenden Ressourcen, vor allem Wasser, aber auch Benzin. Komisch: Die Menschen jubeln dem neuen „Regime“ genauso zu wie dem Diktator.
In der Mitte des Films kommt plötzlich eine stille Szene und man sehnt das Ende herbei, aber vergeblich. Wieder beginnt die Verfolgungsjagd. Diesen Teil hätten sie gar nicht zu drehen brauchen. Sie hätten einfach den ersten Teil noch mal nehmen können.
Vaso ist auch nicht so begeistert. Sie entdeckt aber eine ihr willkommene feministische Aussage in dem Film und ist von der Landschaft begeistert. Den Feminismus kann ich hier nicht entdecken, bei der Landschaft gebe ich ihr recht.
Ihr Sohn ist Wissenschaftler in Reading, in einer ganz modernen Disziplin, Bioengineering. Er hat in England richtig Karriere gemacht, hat in Edinburgh und in Cambridge studiert und dann den Posten in Reading bekommen. Sie besucht ihn alle Nase lang und ist auch sonst schon viel gereist, auch nach Deutschland: Hamburg, München, Dresden, Heidelberg. Sie liest auch viel, trotz ihrer eher technischen Berufsausrichtung vor allem Philosophie und Psychologie.
Diese Woche finden die landesweiten Zugangsprüfungen für die Universität statt. Da muss sie morgen Aufsicht führen. Am Samstag kommen dann die Prüfungen für die Schüler mit Rechtschreibschwäche. Die bekommen statt einer schriftlichen eine mündliche Prüfung. Ein erstaunlich liberales, modernes System, aber auch eine Maßnahme, die neue Ungerechtigkeiten schaffen kann. Zum Nachteil der Normalos.
9. Juni (Dienstag)
Das Wetter wird wieder etwas besser. Es zeigen sich ein paar Sonnenstrahlen, und die locken mich raus, nach Osten, in das ehemalige Villenviertel, das nach dem Abbruch der östlichen Stadtmauer entstand. Häuser gucken.
Zufällig, wieder ganz zufällig, komme ich an Sintrivani vorbei, einem Brunnen, von dem ich schon öfter gelesen habe. Der Wortbestandteil tri bezieht sich vermutlich auf die dreiteilige Anlage, auf die drei Becken des Brunnens. Der hat eine interessante Geschichte. Er wurde von den Türken „aus Reue“ errichtet, dafür dass sie die Stadtmauer hier abgerissen hat. So stellen es jedenfalls die Griechen dar. Er wurde dann aber bei der Stadterweiterung von den Griechen abgerissen und dann später wieder aufgebaut. In diesem Zusammenhang ist aber nicht von „Reue“ die Rede, und das Wort abgerissen taucht auch nicht auf, wohl aber das Wort „wiederaufbauen“.
Der Brunnen ist aus Marmor, mit Voluten, Löwenköpfen und Blumengewinden an den Becken, Laternen an den Seiten und einem Obelisken im Zentrum. Man erkennt nichts Türkisches daran. Ob der Brunnen vorher anders aussah? Oder ob die Türken die westlichen Baustile übernommen haben?
Von hier aus sieht man auch auf eine, teils von einem Bauzaun verdeckte, auffällige moderne Skulptur, an der ich schon vorbeigefahren bin. Sie markiert den Eintritt in die Stadt von Osten kommend. Es sind rostige Eisenplatten, die vertikal miteinander verbunden sind, die meisten rechteckig. Die obere ist viel kleiner. Ist das der Kopf? Ist es die Darstellung eines Menschen?
Dann komme ich an der Statue eines Freiheitskämpfers vorbei, eines Nikolos Kasomoulis. Es geht um den „Makedonischen Freiheitskampf“, aber nicht den, der zur Vereinigung mit Griechenland, sondern um die eigentliche griechische Unabhängigkeitsbewegung, um 1821, also um einen erfolglosen Kampf aus Sicht der Makedonier. Der Kämpfer hat eine Pistole in der Hand und ein Schwert am Gürtel. Kämpfte man zu der Zeit noch mit Schwertern? Oder ist das symbolisch gemeint? In der Hand hält er eine Schriftrolle. Er trägt einen altertümlich wirkenden Rock und hat natürlich einen prächtigen Schnäuzer.
Dann kommt noch ein Denkmal, wieder mit Bezug auf den Makedonischen Freiheitskampf. Dieser Kämpfer, Emanuel Papas, wird in Bewegung dargestellt, mit wehendem Umgang. Er ist mit einem Fuß noch im Boot, mit dem anderen schon auf Land. Über ihm schwebt ein Engel, der ihm einen Siegerkranz aufsetzt. Der ist ziemlich überflüssig, erhält aber seinen Reiz dadurch, dass auch er quasi in Bewegung dargestellt wird. Dabei guckt ein Fuß, ganz hinten an dem Denkmal, aus seinem Umhang hervor. Der ist, für sich allein und gegen den blauen Himmel, ein schönes Photomotiv.
Die Straße, auf der sich die alten Villen befinden, Vasilias Olgas, zieht sich ziemlich in die Länge. Am Ende bin ich fast sieben Kilometer vom Stadtzentrum entfernt. Die Villen stammen grob gesprochen aus derselben Zeit, vor und nach dem Ersten Weltkrieg, und werden irgendwo als Neoklassisch eingeordnet, sind aber sehr verschieden. Die meisten stehen auf einem abgeschlossenen Grundstück, etwas von der Straße zurückgesetzt, andere schließen mit der Häuserfront ab.
Meistens stehen sie nur vereinzelt zwischen den hohen Wohnhäusern mit durchgehenden Balkonen auf allen Etagen. Hier hat der Brand von 1917 seine Spuren hinterlassen, aber ebenso die Abrissbirne.
Zuerst sehe ich links ein strenges neoklassisches Haus, symmetrisch, zwei Etagen, mit einer kuren Außentreppe und mit abwechselnd halbrunden und dreieckigen Pedimenten über den Fenstern. Den Kontrast dazu bildet auf der anderen Seite das Haus, in dem jetzt das Volkskundemuseum untergebracht ist. Es ist verspielt, unregelmäßig, mit Vorsprüngen und Arkaden, mit einem Eingang, der nicht zentriert ist. Es sieht von allen Seiten anders aus. Die Fassade ist verputzt und beige gefasst, aber immer wieder sind kleinere Flächen freigelassen, hinter denen der rote Backstein zum Vorschein kommt. So entstehen Muster, mal schmal, mal breit.
Daneben das Haus mit dem Goethe-Institut, aber hier wird restauriert. Man sieht von dem Gebäude nichts. Es gibt auch keine Ankündigungen zu Veranstaltungen, nur den Hinweis, dass die Prüfungen in der Deutschen Schule stattfinden.
In einem Schaufenster sehe ich Werbung für Reisen nach Bulgarien. Ein Reisebüro? Erst auf den zweiten Blick merke ich, dass es keine Reisen im engeren Sinne sind, sondern Studienangebote. Eine ganze Reihe von Disziplinen sind aufgelistet, die man dort studieren kann: Jura und Medizin, aber auch Physiotherapie und Schulpädagogik.
Auf der anderen Seite ist eine neobyzantinische Kirche. Zum ersten Mal achte ich auf die schön geformten Kreuze auf den Dächern, drei insgesamt, von unterschiedlicher Größe, aus einem komplizierten Geflecht aus Eisen geformt. Wieder ein schönes Bild, wenn man sie abgetrennt von der Kirche allein vor dem blauen Himmel photographiert.
Gleich gegenüber befindet sich die Kulturstiftung der Griechischen Nationalbank, in einem Bau mit spitzen Dächern mit roten Dachziegeln, einem eigenständigen Turm und einem Vordach aus Holz. Trotz seines Aussehens wurde das Gebäude noch in der osmanischen Zeit gebaut, von einem italienischen Architekten.
Die Städtische Kunstgallerie hat auch einen Turm, aber statt mit spitzem mit zwiebelartigem, orientalisch aussehenden Abschluss. An dieser Straßenecke stehen Verkäufer und bieten Honig, Knoblauch und Kerzen an.
Dann kommt die Villa Bianca, das emblematischste Gebäude dieser Zone. Es taucht in allen Führern auf. Wieder ein Bau, der weiß im Namen trägt, aber nicht weiß ist. Die Fassade ist gelb und die Holzteile sind grün.
Hier kann man rein. Drinnen gibt es eine kleine Kunstausstellung. Der Bau selbst hat innen nichts Besondere, aber die Ausstellung ist interessant. Es sind vermutlich Einzelstücke zeitgenössischer Künstler, Radierungen und Kupferstiche. Auf einem, in Schwarz-Weiß, sieht man einfach nur einen Stuhl, einen der geflochtenen, typisch griechischen Stühle mit der kleinen, quadratischen Sitzfläche. Ganz ähnlich wie auf einem meiner Photos. Hier aber liegen hinunter gefallende Blätter auf der Sitzfläche.
Auch sehenswert das Portrait einer jungen Frau, die man einmal frontal und einmal im Profil sieht. Es ist eindeutig dieselbe Person, aber man hat doch zwei verschiedene Bilder.
Und dann gibt es ein Bild vom Galerius-Bogen. In ihn eingeschrieben sind, in altertümliche Schrift, so als würde es sich um römische Inschriften handeln, alle möglichen Wörter, aber die sind schwer zu entziffern. Es handelt sich wenigstens zum Teil um Attribute von Thessaloniki, und auch das Wort Thessaloniki selbst taucht auf. Die Attribute, die ich entziffern kann, sind durchweg positiv: dynamisch, Mithauptstadt, historisch, berühmt. Ist das mit ironischer Distanz geschrieben?
Auch in dem Innenhof stehen Skulpturen, darunter eine Art Kugel aus lauter Sechsecken, wie ein Fußball, aber nicht abgerundet. In die schwarze Fläche, vielleicht Schiefer, sind Zeichnungen eingeritzt, in jedem Sechseck etwas anderes, scheinbar wild gemischt. Ich kann jedenfalls keinen Zusammenhang erkennen. Man sieht Ähren, eine stilisierte Blüte. Sisyphos, wie er den Stein hochrollt, eine Frau in Embryostellung, Menschen, die sich an Lianen entlang hangeln usw. In einem Feld steht einfach STOP. Vielleicht hat es etwas mit der Entwicklung der Menschheit zu tun.
An einer Straßenkreuzung kaufe ich von einer netten Verkäuferin Feigen, ein halbes Pfund für zwei Euro, und dann von drei ganz liebenswerten jungen Leuten, zwei Jungen und einem Mädchen mit Kopftuch, ein Kilo Kirschen für einen Euro. Die drei wollen alles wissen, über Kreta und Deutschland und darüber, was ich hier mache. Ob es in Deutschland gut sei? Ob es Arbeit gebe? Ob es kalt sei? Sie wollen mir mehr Kirschen verkaufen und mit ein Sonderangebot für vier Kilo machen. Aber was soll ich damit? Blöd gemacht, ich hätte die kaufen und verschenken sollen.
Auf der Suche nach einem alten Mühlengebäude komme ich an einem Geschäft vorbei, an dem Μπουου!!! steht und daneben ein Gespenst. Was gibt es da? Was verkauft ein Geschäft, an dem Buuh!!! steht? Ganz einfach: Teilchen! Es ist ein kindliches Wortspiel mit der ersten Silbe von Bougatsa!
Auf der Hauptstraße steht das Hotel Queen Olga. Auch die Straße ist nach ihr benannt. Das war eine interessante Frau, eine Romanowa, eine Nichte Alexander II. Sie kam nach Griechenland, nachdem ihr späterer Ehemann, Georg, zweimal in einem Abstand von Jahren nach Petersburg gereist war, einmal um sich bei Alexander für Wahlkampfhilfe zu bedanken, einmal um seine Schwester, die inzwischen hier verheiratet war, zu besuchen. Als Ehefrau Georgs I. war sie Königin, für ihr karitatives Engagement bekannt und geschätzt. Sie machte dann einmal bei einem Besuch von verwundeten Soldaten die Entdeckung, dass die die Bibel nicht lesen konnten, weil die in Koiné verfasst war. Sie setzte sich daraufhin für Übersetzungen in Katharevousa ein und veröffentlichte ohne Genehmigung eine eigene Übersetzung des Neuen Testaments! Das führte zu Unruhen, zu Aufständen, zum Sturz der Regierung, zur Abdankung des Bischofs und zur Forderung, sie müsse exkommuniziert werden! Am Ende wurden sämtliche Übersetzungen aus dem Verkehr gezogen und weitere Veröffentlichungen verboten!
Abseits der Vasilias Olga liegt das alte Mühlengebäude. Danach suche ich lange. Es verbirgt sich weitgehend hinter einem Bauzaun. Es gibt aber eine Lücke. Warum in dem Führer steht, das Gebäude sei „gut erhalten“, lässt sich nicht erklären. Es ist völlig heruntergekommen, mit eingeschmissenen Fensterscheiben überall, abbröckelndem oder verblasstem Putz, schief hängenden Fensterläden, Unkraut auf dem Dach und verrosteten Rohren. Es gibt zwei Gebäude und einen hohen Schornstein. Das größere der beiden Gebäude war wohl die eigentliche Mühle, das andere das Verwaltungsgebäude. Es hat noch den Charme verfallener Schönheit, je länger man hinsieht, umso mehr.
Noch länger suche ich nach der Yeni Tsami, der ‚Neuen Moschee‘. Eine sehr freundliche blonde Frau, die sich viel Zeit nimmt, reagiert überrascht. Das ist doch im Zentrum? Das hatte ich auch gedacht, aber wir haben beide die Namen verwechselt. Das Photo kommt ihr aber bekannt vor. Sie schickt mich zu einer anderen alten Villa, die ich als Orientierungspunkt nehmen kann, einer Villa, in der das Erste Gymnasium Thessalonikis untergebracht ist. Das funktioniert. Ich komme in die richtige Richtung und sehe auf einmal die Moschee durch eine Häuserlücke. Über dem Eingang steht noch Archäologisches Museum. Das war hier am Anfang untergebracht. Die Moschee hat den gleichen Namen und stammt aus der gleichen Zeit wie die berühmte Moschee in Istanbul, ist aber ganz anders. Ein fast quadratischer, mit der Ecke zur Straße stehenden Bau, der gar nicht ohne Weiteres als Moschee zu erkennen ist. Fast hätte man auf Synagoge getippt. Und das hat seinen Grund: Dies war die Moschee für die zum Islam konvertierten Juden! Die Osmanen müssen sehr einfühlsam gebaut haben, mit Rücksicht auf die Traditionen der konvertierten Juden.
Wieder auf der Vasilias Olgas stehe ich vor einem weiteren alten Gebäude und frage mich gerade, was das wohl sein kann, als ein Mann mit Blindenstock herauskommt. Es ist das Blindeninstitut!
In einer Taverne, in der die Kellner dem Gast den Eindruck geben, er störe, bekomme ich höchst mittelmäßige Gemitsa und billigen Wein. Die Kellner schieben die Teller ohne Blickkontakt auf den Tisch und werfen die Münzen verächtlich auf den Tisch, als es ans Bezahlen geht. Kein Trinkgeld. Ohnehin hat mir Don gesagt, er gebe in der Regel kein oder wenig Trinkgeld. Das mache man hier so. Die Bedienung sei im Preis enthalten. Er hat dabei wohl den Vergleich mit den USA im Sinn, wo es gar nicht ohne geht. Aber trotzdem scheint mir auch hier Trinkgeld die Regel zu sein.
Danach ist mir nicht mehr nach Häusern. Ich will nur noch ans Wasser. Die Strandpromenade st nicht weit. Ich komme an der Alexander-Statue vorbei. Das Pferd bäumt sich nach vorne auf, aber er sitzt ganz cool im Sattel. Ein Fuß baumelt lässig an der Seite herunter.
Ganz in der Nähe, direkt am und teils über dem Wasser, eine moderne Skulptur, die nur aus „Sonnenschirmen“ besteht, wie an einem Mobile aufgehängt, ganz leicht.
Ich komme an den Ausflugsschiffen vorbei, die Sofia mir empfohlen hat. Das ist die Art von Ausflugsschiff, die man normalerweise vermeidet. Zwei Männer sprechen mit an. Ich behaupte, kein Englisch zu können. Welche Sprache ich den spräche? Griechisch. Nur Griechisch? Ja, nur Griechisch. Sie lachen, lassen sich aber auf das Spielchen ein. Die Fahrt dauert nur eine halbe Stunde und ist umsonst. Das Schiff finanziert sich über den Getränkeverkauf. Das hört sich gar nicht so schlecht an, und ich verspreche, an einem anderen Tag wiederzukommen.
10. Juni (Mittwoch)
Immer noch nicht gewöhnt habe ich mich an die Angewohnheit der griechischen Motorradfahrer, den Bürgersteig zu benutzen. Wenn man dort irgendwo parken will, fährt man bis genau an die Stelle, und auch wenn es mal schnell gehen soll, nimmt man schon mal den Bürgersteig, um eine Kreuzung zu umfahren. Dieser Tage sah ich einen aufgebrachten Café-Besitzer, der wild gestikulierend einem Motorradfahrer mitteilte, was er von ihm hielt, aber der Motorradfahrer fuhr seelenruhig weiter. Heute setzt einer auf dem Bürgersteig zurück und mäht mich dabei fast um.
Das Wort Μακεδονία, auf das man hier überall stößt, gehört zu den Wörtern, bei denen sich griechische und lateinische Schreibweise sehr ähneln, vor allem bei Großschreibung: ΜΑΚΕΔΟΝΙΑ.
Eine alte griechische Erfahrung, auch jetzt immer wieder gemacht: Wenn man Gespräche aus der Ferne hört, ohne ein Wort zu verstehen, glaubt man, es wäre Spanisch.
Pavlos, den Mann von Eleni aus dem Lesekreis angerufen. Der spricht Deutsch und interessiert sich für deutsche Philosophie. Vielleicht können wir uns mal auf einen Kaffee treffen. Sprachliche Kleinigkeit: Als er den Hörer abnimmt, sagt er Ναι. Sonst habe ich auch schon oft Παρακαλό gehört. Die Leute sagen also Ja oder Bitte. Noch nie gehört habe ich das, was in den Lehrbüchern vorkommt: Εμπρός.
Zu den Bieren, die es hier zu kaufen gibt, gehören Perlenbacher, Finkbräu und Grafenwalder. Das scheinen tatsächlich deutsche Biere zu sein. Ich dachte, es wären griechische Biere, die aus verkaufsstrategischen Gründen deutsche Namen benutzen.
Agia Ekaterini ist auch in der Oberstadt, sehr versteckt gelegen, im anderen Teil. In der Nähe einige der typischen Häuser der Oberstadt, mit vorkragendem Obergeschoss. Die Besonderheit ist, dass dieser vorkragende Teil nicht gerade, sondern schräg verläuft, sich zu einer Seite hin verjüngt.
Die Kirche ist auch ganz aus Backstein. Sie ähnelt mit ihren drei Kuppeln der Panagia Chalkeon, hat aber einen komplizierteren Grundriss. Auf dem Grundstück stehen noch ein paar andere Gebäude, darunter ein Turm mit Schornstein, aber man kann das Grundstück nicht betreten. Hinten ist es voller Bäume und Sträucher, und neben einem Baum mit dichtem Laubwerk und einem blühenden Jasmin hängt die Weihnachtsbeleuchtung, eine Glocke und ein Stern.
Ich gehe ein bisschen durch die Stadt spazieren, zur Plateia Demonkratias. Immer wieder habe ich Hinweiszeichen gesehen, die zu ihr führen, bin aber noch nie dagewesen. Ausnahmsweise zeigt mir der Routenplaner den richtigen Weg. An dem Platz stehe ich ein bisschen verloren herum. Man sieht hinter einem Bauzaun ein Stück alter Mauer und irgendwo die Statue eines Königs, eines Konstantin. Das ist aber auch alles.
Als ich etwas weiter gehe und stehen bleibe, um mich auf dem Stadtplan zu orientieren, kommt ein Polizist, den ich vorher passiert habe, hinter mir her und fragt mich, was ich suche. Das finde ich sehr nett und sage es ihm auch. Ich frage, ob ich irgendetwas verpasst hätte an dem Platz, und er sagt nein, da gebe es nichts zu sehen.
Auf dem Weg zum Hafen gerate ich auf die „falsche“ Seite der Egnatia. Reiner Zufall. Hier ist nicht ein Geschäft geschlossen, wie man das schon öfter mal sieht, sondern gleich eine ganze Reihe: zwei Juweliergeschäfte, ein Laden für Geldwechsel und Geldtransfer, ein Elektrogeschäft, ein Photostudio, eine Apotheke, ein Optiker, ein Eros-Center und ein Physiotherapeut. Es ist niederschmetternd: zerbrochene Neonröhren, rostige Gitter, beschmierte Scheiben, ein Fußboden voller Müll, alles leer bis auf zwei billige Armreifen auf Krepppapier in der Schaufensterauslage eines Juweliergeschäfts. Parallel zu den Geschäften verläuft die Baustelle für die U-Bahn, und dahinter schließt sich der Bauzaun für die Moschee an. Die trostloseste Szene, die ich bisher hier gesehen habe.
Wenn man die Straße kreuzt, ist es schlagartig anders. Es geht weiter zum Hafen runter. Am Photomuseum, ein richtiger Fortschritt für Griechenland, hängt tatsächlich ein Schild, das darauf hinweist, dass das Museum wegen der Vorbereitung einer neuen Ausstellung geschlossen sei. Nur steht da nicht, von wann bis wann.
Ich gehe in einem weiten Bogen zurück und finde den Buchhandel an der Kamara geöffnet. Trotz Mittwoch. Da finde ich eine ganze Reihe von Büchern der Jugendschriftstellerin, die Vaso mir empfohlen hatte, Alki Zei. Ich lese ein paar Klappentexte und nehme dann eins mit. In einem Café an der Rotunda lese ich das erste Kapitel. Hier sind nur Studenten unterwegs und bevölkern alle Cafés der Umgebung.
Auf dem Rückweg sehe ich eine Frau, die am Straßenrand Blumen pflückt, vermutlich Bougainvillea. Sie sieht mich freundlich an und erklärt mir, die seien nur zum Schmuck, sie hätten weiter keine Funktion. Nach Deutschland habe sie auch schon immer mal gewollt, sagt sie. Kann ja noch werden. Nein, sie sei schon alt, sagt sie. Und dann, nach einer dramatischen Pause: Achtzig. Dafür hat sie sich sagenhaft gut gehalten. Das sage ich ihr auch. Sie findet, sie sei in letzter Zeit sehr gealtert. Sie habe drei Töchter, die lebten bei ihr und kümmerten sich um sie. Sie wünscht mir alles Gute und drückt mich zum Schluss einmal fest an sich.
11. Juni (Donnerstag)
Ich bringe eine Hose zu Dimitri, mit wenig Hoffnung, dass die noch zu retten ist. Natürlich ist die zu retten, sagt er. Da schneide ich ein Stück heraus und setze ein neues ein. Wann brauchst du sie? Heute Nachmittag? Nee, immer mit der Ruhe. Es hat Zeit.
Zufällig sehe ich von oben, als ich an der Römischen Agora vorbeikomme, von oben das Badehaus, das ich vergeblich gesucht habe, als ich hier zur Besichtigung war. Es liegt ganz am Rande des Ausgrabungsfeldes, vielleicht durch Mauern abgetrennt. Natürlich sind nur Reste erhalten, aber die sehen ganz putzig aus: um einen Mittelkries herum angeordnete „Sitzbadewannen“, mit einer runden Öffnung an den Beinen. Da kam vielleicht das Wasser raus. Es muss eine sehr kommunikative Angelegenheit gewesen sein. Hier kann man mit dem Nachbarn vertraulich reden, aber genauso gut kann ein Gruppengespräch entstehen.
Es geht zum Jüdischen Museum. Das kennt hier in der Gegend kaum einer. Interessanterweise liegt es gleich hinter der Griechischen Staatsbank.
Auf zwei Etagen ist die Geschichte der Juden Thessalonikis dokumentiert. Viele Hinweistafeln, aber auch eine ganze Menge Exponate. Leider gibt es so gut wie gar nichts zur Sprache, zum Judeoespañol, dem Judenspanisch. Wenn es das noch irgendwo gibt, muss es in dieser Gegend sein. Es wäre ein Erlebnis, das mal zu hören. Plötzlich wird die Uhr zurückgedreht, und man spricht wie zur Zeit von Cervantes.
Thessaloniki war das wichtigste jüdische Zentrum Griechenlands und vielleicht die wichtigste sephardische Stadt der Welt. Bis zu 70.000 Juden lebten hier, bis die Nazis der Sache ein Ende machten. Die meisten waren nach der Vertreibung der Juden aus Spanien gekommen, 1492, aber schon in Isaias ist von Juden in Griechenland die Rede, aber man weiß nicht, wo. Man vermutet, dass hier in Thessaloniki spätestens ab 140 v. Chr. Juden lebten. Die waren aus Alexandria gekommen. Es heißt, dass sie, als Paulus hierherkam, Griechisch sprachen, aber die aramäische Schrift verwandten. Heißt das, sie haben Griechisch mit aramäischen Buchstaben geschrieben? Danach hört es sich fast an. Oder haben sie Aramäisch als Schriftsprache verwandt?
In einer Passage aus einem bemerkenswerten Buch, geschrieben im 12. Jahrhundert von einem Rabbi Benjamin aus Tudela, heißt es, dass hier, in Seleucia, etwa 500 Juden lebten. Die Juden würden unterdrückt und lebten von der Seidenspinnerei. Das Buch wurde von einem Juden verfasst, der Spanien verließ, um die Aliyah zu absolvieren. Aber er war auch ein Tourist vor dem Herrn. In drei Jahren besuchte er über 300 Städte! Er schrieb auf Latein. Die Ausgabe, die hier ausgestellt ist, eine holländische Ausgabe der frühen Neuzeit, ist zweisprachig: Hebräisch und Latein! Er hatte genau die richtigen Eigenschaften, um ein erfolgreicher Reiseschriftsteller zu sein: naiv, neugierig, beflissen.
Der jüdische Friedhof war riesengroß und breitete sich zu allen Seiten unsystematisch aus. Man schätzt, dass es 500.000 Gräber gab! Die Nazis zerstörten als allererstes die Gräber. Ein Fanal für das, was kommen würde.
Aus der Zeit davor sieht man ein paar Photographien, die mit dem Friedhof zu tun haben: Photos von professionellen Klageweibern in bäuerlich wirkenden langen Gewändern und Photos von der rituellen Wanderung auf den Friedhof am Vorabend der großen Feste. Das war eine gute Gelegenheit für die Frauen, die, wie es vorsichtig heißt, eine „untergeordnete Rolle“ im jüdischen Leben spielten, überhaupt mal aus dem Haus zu kommen.
Es sind mehrere Grabstelen ausgestellt, darunter eine mit Jahreszahl, 5674, eine mit Schere. Frisör oder Schneider? Oder Tuchhändler? Am interessantesten eine anderes Grabdenkmal, ganz anders als die anderen, länglich, wie ein Kegel, ganz so, wie man sie auf muslimischen Friedhöfen sieht, aber mit der Inschrift auf Hebräisch. Kulturfusion.
Aus zwei Synagogen gibt es zwei nebeneinander ausgestellte, jeweils zweiseitige Gesetzestafeln, eine kleine mit goldenen Lettern, die andere ganz einfach, beeindruckend einfach. Es ist erstaunlich, mit wie wenigen Zeichen man auskommt. Diese Synagogen wurden von den Nazis zerstört.
Die beiden ältesten Synagogen hießen Italia Yashan und Italia Hadash, ‚Altitalien‘ und ‚Neuitalien‘. Zu dieser Zeit, die von kurzer Dauer war, gehörte Thessaloniki zu Venedig. Die Italia Yashan wurde 1890 durch einen Brand zerstört, wiederaufgebaut, und 1917 wieder zerstört, wieder durch Brand.
Juden lebten am Anfang abgeschieden von anderen Juden. Sie bildeten Gemeinschaften, die sich durch ihre Herkunftsorte in Spanien definierten! Davon gab es bald nach der massiven Zuwanderung etwa dreißig, jede selbständig. Jede hatte ihren Rabbi und einen Rat aus sieben Männern. Rat und Rabbi vergaben gemeinsam die vier liturgischen Posten: Schlächter, Lehrer, Kantor, Beschneider. Es dauerte weit über hundert Jahre, bis aus den einzelnen Gemeinschaften eine einheitliche jüdische Gemeinde wurde. Die Antriebkraft dazu war das Geschäft: Vor allem im Tuchhandel musst man mit Männern aus den anderen Gemeinschaften zusammenarbeiten, wenn man was werden wollte.
Auf der oberen Etage sind Exponate aus dem religiösen und dem Alltagsleben ausgestellt. Am besten gefällt mir eine Flasche Ouzo mit griechischer Beschriftung, aber dem Namen des Herstellers, eines Juden, auf Hebräisch. Daneben Kochbücher, auf Italienisch, Spanisch, Griechisch, Englisch: jüdische Küche.
Thessaloniki war ein wichtiges Zentrum des Lernens und der Wissenschaften, aber auch ein Zentrum der Wohltätigkeit. Das bezieht sich vor allem auf das von einer Jüdin gestiftete Krankenhaus.
Man sieht Kopien der Titelblätter jüdischer Zeitungen. Davon gab es mehrere Dutzend, auf Griechisch, auf Französisch, aber auch auf Hebräisch.
In verschiedenen Vitrinen um ein mächtiges, hölzernes mit einem bestickten Tuch verschlossenen Echal herum, dem Aufbewahrungsort der Schriftrollen in der Synagoge, finden sich Gegenstände aus der Welt der Religion: eine Menora (siebenarmig), ein Gebetbuch, ein Hankukka-Leuchter (achtarmig), ein Seidenschal, Talleth, der bei den täglichen Gebeten getragen wird, und ein Lederriemen, Tephillin, der ebenfalls bei den Gebeten getragen wird, an der Stirn und um den linken Arm. Auch hierher gehört eine Art Kuchenform mit runden Vertiefungen, die der Vorbereitung einer Speise für einen Festtag dient, halb profan, halb religiös.
Die Zerstörung der jüdischen Gemeinde durch die Nazis und die Deportation nach Auschwitz wird am Schluss dokumentiert. Es heißt, bei der Stürmung des Krematoriums in Birkenau seien viele Juden aus Thessaloniki beteiligt gewesen. Sie hätten beim ihrem Gang in den Tod die griechische Nationalhymne gesungen. Ein eindrückliches Zeichen für die Assimilierung der europäischen Juden an ihre Heimatländer.
Ein kleines Kunstwerk mit Bezug auf die Konzentrationslager besteht aus einem gestreiften Stofffetzen mit einem gelben Stern in der Mitte. In den Stern ist die Aussage einer jungen Frau eingestickt, die im Konzentrationslager Portraits ihrer Mitgefangenen anfertigte und sich dadurch das eine oder andere Stück Brot dazuverdiente.
Dann sieht man ein beeindruckendes Bild. Vier Überlebende des Konzentrationslagers, Männer, älter. Man sieht nur ihre Gesichter und ihre Arme, mit der im Konzentrationslager eingravierten Nummer. Sie sehen alle gleich ernst aus, aber auch anders, einer unendlich trotzig, ein anderer unendlich traurig.
Am Schluss gibt es dann noch eine kleine Kopie des Denkmals für die Juden aus Thessaloniki, das am Hafen steht. Man sieht gesichtslose Gestalten, deren Körper in Flammen aufzugehen scheinen.
Am Abend suche ich den Weg zu einem Lokal in der Oberstadt, dem Passa, in der Athinas. Ich frage einen Mann, der sich auf dem Boden vor seinem Haus mit ein paar Gerätschaften zu schaffen macht, nach dem Weg. Er nimmt sich ganz viel Zeit. Nach einigen Nachdenken stemmt er die Hände in die Hüfte und sagt: Gibt es nicht. Doch, muss es geben, bin ich schon mal gewesen. Nein, gibt es nicht mehr. Die Olympiadas hieß früher Athinas, jetzt gibt es keine Straße dieses Namens mehr. Aber wenn ich doch dieser Tage da war. Was soll es denn da geben? Der Name des Lokals sagt ihm nichts. Es geht eine Zeitlang hin und her, wir breiten den Stadtplan aus, erst auf der Straße, dann im Schatten auf der Mauer. So, wir sind hier. Jetzt zeig mir doch mal, wo du hinwillst. Ich verliere den Glauben an mein Gedächtnis, die Straße ist nicht da, wo ich sie vermute und ich stoße auf eine Straße, die so ähnlich heißt. Ich will schon einpacken, da sehe ich sie auf einmal. Genau auf dem Knick zwischen dem oberen und dem unteren Teil der Karte. Wie immer. Er erklärt mir den Weg, und in fünf Minuten bin ich da.
Als ich gerade einen halben Liter Wein intus habe und der Wirt mir gerade auseinandersetzt, Griechenland sei ein gelobtes Land, klingelt das Telefon. Pavlos, der Mann von Eleni. Wie wär’s mit einem Bier?
Wir treffen uns an der Bücherei der Oberstadt. Warum, weiß ich auch nicht. Danach gehen wir in die Stadt hinunter, zur Agora, auf verschlungenen Wegen, durch den Regen. Es stellt sich heraus, dass er keinerlei Orientierungssinn hat. Er lebt hier seit zwanzig Jahren und kennt den Weg zur Agora nicht. Da haben sich die Richtigen gefunden!
Als wir eine rote Fußgängerampel überqueren, kommt der unvermeidliche Kommentar: Das würde man in Deutschland nicht machen. Er weiß, wovon er spricht. Er hat ein paar Jahre seiner Jugend in Deutschland verbracht, in Schwäbisch-Gmünd. Aus der Zeit stammen seine Deutschkenntnisse. Die hat er später systematisch weiter gepflegt. Er beklagt zwar mangelnde Möglichkeiten, die Sprache zu verwenden, spricht aber gut. Jedenfalls gut genug, um nicht in die Verlegenheit zu kommen, mit mir Griechisch zu sprechen. Ich stimme bei der Sache mit der Ampel zu, mache aber eine Einschränkung: Wie ist es mit Schweden? Wie ist es mit den USA? Die machen es genauso wie wir, aber erzählt wird es immer nur von den Deutschen. Passt so gut zu dem Klischee.
Beim Bier gehen wir getrennte Wege. Er trinkt holländisches, ich trinke griechisches Bier, aber sonst haben wir aber schnell die gleiche Wellenlänge. Nur in einer Frage werden wir uns nicht einig. Er vertritt die These: schlechtes Klima = hoher Entwicklungsstand. Man müsse Vorsorge tragen für die kalten Tage. Das erfordere Organisation und Unternehmungsgeist. In Griechenland könne man sich dagegen einfach so hängen lassen. Das demonstriert er mit einer Bewegung, die an dem warmen Frühlingstag perfekt passt. Aber ist es in Thessaloniki nicht im Winter auch kalt? Kaum, spiele keine Rolle, nur ganz kurze Zeit. Gut, wie ist es dann mit dem antiken Athen? Da hat man doch einiges auf die Reihe bekommen. Ja, aber dafür gebe es eine Erklärung. Die hätten Sklaven gehabt. Also doch soziale Faktoren. Dass er damit seine eigene Theorie unterläuft, merkt er nicht. Oder will es nicht zugestehen. Und was ist mit Rom, mit Mesopotamien, mit Ägypten, mit der Indus-Zivilisation, mit den Hochkulturen in Amerika? Überall kalt? Ich solle ihm auch nur ein einziges entwickeltes Land auf der südlichen Halbkugel nennen. Australien? Zählt nicht. Das ist britisch. Schlechtes Wetter. Siehst Du?
Er ist nicht gerade ein Durchschnittstyp, was Denken und Biographie angeht. Überspitzt gesagt, hat er wegen Nietzsche im Ausland studiert und wegen Marx das Studienfach gewechselt. Als er das Abitur hatte, beschloss er, nach Straßburg zu gehen, um dort Jura zu studieren, ohne Französisch-Kenntnisse, gegen den Willen des Vaters, der ihn für verrückt erklärte. Er hatte nämlich bei Nietzsche gelesen, es gehe im Leben darum, Gewohnheiten zu brechen. Als er dann in Straßburg ankam, merkte er bald, dass das Wetter nicht sonderlich gut war, viel schlechter als in Thessaloniki. Da wollte er nicht bleiben. So weit ging es mit dem Brechen der Gewohnheiten dann wohl doch nicht. Aber das sagt er nicht. Er wechselte dann von Straßburg nach Nizza und von Jura auf Wirtschaft. Marx hatte gesagt, es sei die Wirtschaft, die die Welt am Laufen hält, und als er das erkannt hatte, war er vom Philosophen zum Wirtschaftswissenschaftler geworden. Es folgte dann ein einjähriger Sprachkurs in Nizza, und dann kam das Studium. Komischerweise klappte, in diesen grauen Vorzeiten, alles, sowohl was die Anerkennung des Abiturs in Frankreich als auch was die Anerkennung des Studienabschlusses in Griechenland angeht. Jetzt ist er selbstständig und hat eine Praxis in der Ermou, ganz in Zentrum der Unterstadt.
Auf die unvermeidliche Frage, wo denn in Griechenland die Armut sei, antwortet er: Ich weiß es nicht. Ich kann die Frage nicht beantworten. Auch er findet, dass die Leute rausgehen, dass Cafés, Bars, Restaurants, Tavernen gefüllt sind, vormittags, nachmittags, abends. Einschnitte habe es allerdings gegeben, und zwar in beide Richtungen: Gehälter runter, Steuern rauf.
Er erzählt, er habe ein Landhaus in Chalkidiki, nur vierzig Kilometer von Thessaloniki entfernt. Dahin würden jetzt Sohn und Schwiegermutter verfrachtet, für den Rest des Sommers. Er und seine Frau fahren am Wochenende hin. Das entspricht genau dem, wie es in dem Lehrbüchern steht.
Ich frage nach dem Sohn und dem Vorhaben, ihn für ein paar Wochen nach Deutschland zu verfrachten. Er hat bereits sehr fortgeschrittene Deutschkenntnisse, aber soll noch mehr Praxis bekommen. Eleni hatte mich darauf angesprochen, aber ich wusste nicht genau, was sie wollte. Er winkt ab: Ach, Möglichkeiten gibt es zuhauf. Sein deutscher Schwager biete das seit Jahren an. Er könne ihn bei Freunden oder Verwandten in Hamburg unterbringen. Aber Eleni ist das Problem: Der arme Junge, im feindlichen Ausland, ganz allein, und noch so jung. Wir verständigen uns darüber schmunzelnd, ohne Worte. Er zitiert Kazantzakis: Der Mann hat Flügel, die Frau hat Wurzeln. Der Mann will hinaus, hoch hinaus, er ist romantischer, idealistischer, die Frau bodenständiger, realistischer. Da ist was dran.
Auch zu dem Hamburger Schwager gibt es eine interessante Geschichte: Bei ihn wurde vor ein paar Jahren Leukämie diagnostiziert. Der Arzt gab ihm noch ein paar Jahre Frist. Daraufhin verkaufte er seine Firma und entschied, die letzten Jahre zu genießen. In der Zwischenzeit wurde aber ein neues Medikament entwickelt. Das hat die Krankheit zum Einhalt gebracht. Es sind jetzt schon siebzehn Jahre seit der Diagnose vergangen. Momentan ist er mit dem Rad unterwegs. Von Hamburg nach Thessaloniki.
12. Juni (Freitag)
Auf dem Weg zum Archäologischen Museum komme ich zufällig an der Erlöser-Kirche vorbei, der Sotir, einer weiteren byzantinischen Kirche, einem kleinen, fast quadratischen Bau mit einer viel zu großen, schief sitzenden Kuppel. Das ist wohl das Resultat des Erdbebens von 1978. Die Kuppel ist hoch und hat acht schmale Fenster. Der Bau steht weit unter dem heutigen Bodenniveau, in einem kleinen, abgeschlossenen Bezirk, und ist an zwei Seiten umgeben von gesichtslosen Hochhäusern. Auch diese Kirche blieb während der gesamten osmanischen Zeit christlich.
Ein Motorrad mit zwei Rädern vorne verschafft mir dann ein Déjà-vu-Erlebnis. Schon mal auf einer anderen Reise gesehen und notiert.
Ich komme an der Statue Philipps II. in der Nähe des Weißen Turms vorbei und sehe sie mir zum ersten Mal genauer an. Es ist eine Standfigur, grau, ganz glatt, mit ein paar bemerkenswerten Ausnahmen: Venen an den Händen, Venen an den Beinen. Heute würde am ihm empfehlen, sich an den Krampfadern operieren zu lassen. Er hält einen eisernen Helm in der Hand und trägt eine Art Brustpanzer über einem Rock. Man könnte ihm unter den Rock sehen. Ganz genau gearbeitet sind die Sandalen mit einem komplizierten System aus feinen Lederriemen. Und wenn man ganz genau hinsieht, sieht man in einen der Riemen den Namen des Künstlers und die Jahreszahl der Schaffung der Statue eingraviert.
Das Wetter ist viel zu schön für das Museum, aber irgendwann muss man in das Archäologische Museum. Es ist auch zuverlässig die erste Frage, die einem gestellt wird, wenn es um Besichtigungen in Thessaloniki geht. Das gute Wetter kann man auf dem Weg genießen.
Das Museum, zum 50. Jahrestag der „Befreiung“ eröffnet, ist später noch mal renoviert wurden, mit Erfolg. Alles ist sehr gut präsentiert. Schon im säulenbestandenen Vorhof stehen zwei römische Sarkophage mit Reliefszenen von Schlachten herum, einfach so, die jedem Museum gut zu Gesicht stehen würden. An den Seiten werden in dichter Folge Szenen aus Kämpfen mit Amazonen dargestellt. Die haben ihre linke Brust entblößt, um besser schießen zu können.
Neben dem Eingang steht ein großer Pithoi aus Komboloi (3. Jh. v. Chr.). Er ist zum großen Teil, aber nicht ganz erhalten, und die einzelnen Teile sind so zusammengesetzt, dass man trotz der Lücken die Form erkennen kann. Das ist deshalb so gut gemacht, weil man nicht auf den ersten Blick erkennen kann, ob es sich nicht um eine moderne Skulptur handelt.
Das tollste Exponat des Museums ist eine Tür. Es handelt sich um eine große, zweiflügelige Marmortür. Sie war die Eingangstür zu einem Grabmal. Sie ist sehr gut erhalten, einschließlich des verzierten Klopfers, des Schlüssellochs, der Griffs und der über die ganze Tür in senkrechten und waagerechten Bahnen verteilten bronzenen Ziernägel. Die schwere Tür ließ sich leicht öffnen, weil sie auf Rollen bewegt wurde. Kann mich nicht erinnern, schon mal so was gesehen zu haben.
Noch vor dem Eintritt in den ersten Saal ist eine Tonscherbe mit griechischen Buchstaben ausgestellt, aus dem 8. Jahrhundert vor Christus! Das muss eins der ältesten Zeugnisse griechischer Schrift sein. Die Schrift wurde von rechts nach links gelesen. Woher man das weiß, wird nicht klar, denn es sind nur ganz wenige Buchstaben erhalten, jedenfalls auf dieser Scherbe. Die Griechen hatten das Alphabet von den Phöniziern übernommen, aber nicht nur die Vokale, sondern auch Konsonanten wie Φ, Χ und Ψ hinzugefügt.
Gleich zu Beginn des ersten Saals sieht man das Modell eines Kriegsschiffs. Eine ganz ungewöhnliche Angelegenheit. Zwei flache Schiffe sind miteinander verbunden und tragen einen Turm, der wie der Turm einer Burg aussieht, mit Zinnen und Schießscharten und Katapulten. Mit dieser beweglichen Burg machte man sich an die Eroberung fremder Städte. Das Konzept soll auf einen Offizier Alexanders zurückgehen, und man sagt, die Burg sei bis in die Zeit von Archimedes unbezwingbar gewesen.
Man sieht, dass Makedonien zunächst eine Seemacht war. Die Grundlage für den Aufbau einer mächtigen Flotte waren die mächtigen Wälder der Umgebung. Die lieferten das nötige Holz zum Bau der Schiffe.
Von Thessaloniki, von der Stadt selbst, weiß man wenig, was die Zeit vor den Römern angeht. Es heißt aber, dass die Gründung der Stadt es an sich hatte und mit vielen Zwangsumsiedlungen verbunden war. In den Broschüren ist meist nur, verharmlosend, von einer „Zusammenfassung von Gemeinden“ die Rede.
Bei den Grabstelen sieht man einen Mann mit einer Schriftrolle in der Hand und einen anderen, der mit einem einfachen Umhang, einem Himation, bekleidet ist statt mit einem Chiton. Sowohl die Schriftrolle als auch das Himation sind Zeichen dafür, dass es sich um einen Philosophen, einen Intellektuellen, handelt.
Bei den anderen Grabsteinen ist bemerkenswert, dass meist eine ganze Reihe von Personen abgebildet ist. Die Darstellung ist kaum individualisiert, alle haben dieselben Augen, Nasen und Lippen, aber die Frau unterscheidet sich durch ihre Haartracht von den Männern und die Männer untereinander dadurch, ob sie einen Bart haben oder nicht und dadurch, welchen Bart sie haben, Backenbart oder Vollbart.
Zu den ungewöhnlichsten Exponaten des Museums gehört eine musikalische Notation. Selten, dass so etwas erhalten bleibt. Sie befindet sich komischerweise auf einem Stein, und es heißt, so etwas diente meist dem Musikunterricht, nicht der Aufzeichnung von Melodien. Streng genommen weiß man gar nicht, dass es sich um Noten handelt, aber die Buchstaben stehen vereinzelt und ergeben, nacheinander gelesen, keinen Sinn. Man hat hier sogar die einzelnen Zeichen, meist Buchstaben, bestimmten Tönen zugeordnet, aber wie man das herausbekommen hat, wird nicht verraten.
Es sind zwei Flöten und Reste von Leier und Kithara ausgestellt. Leier und Kithara waren die wichtigsten Saiteninstrumente, wobei die Leier als „leiser“, „friedlicher“ galt und vor allem im häuslichen Kontext, besonders bei Kindern zum Einsatz kam, während die Kithara eher in der Öffentlichkeit gespielt wurde. Die Flöte war das wichtigste Blasinstrument, und man sieht in einer Abbildung, dass in der Regel zwei Flöten gleichzeitig gespielt wurden! Die Flöte wurde bei Symposien und im Theater gespielt, aber auch zur Koordinierung der Ruderer auf Schiffen und zur Koordinierung marschierender Soldaten! Schön ist hier auch die mythologische Erklärung: Die Flöte war eine Erfindung der Athene, aber die, ganz Frau, warf sie weg, als sie feststellte, dass das Blasen ihre Gesichtszüge entstellte. Marsyas, uneitel, wie Männer sind, machte das nichts aus. Er hob sie auf und machte sie zu seinem Instrument.
Oft ist auch die Rede von Galerius-Bogen im Zusammenhang mit dem Museum. Das ist nicht der große Galerius-Bogen, die Kamara, des Stadtzentrum, sondern ein kleinerer Bogen, der ursprünglich im Oktogon stand, nicht weit von dem anderen Bogen. Dieser Bogen ist ganz fein gearbeitet, mit verschiedenen Zierbändern, die an ihm entlang laufen. An den beiden Enden befinden sich Medaillons. In einem ist Galerius zu sehen, in dem anderen seine Ehefrau. Die wurde nach ihrer Ermordung zu einer Gottheit umgearbeitet und trägt eine turmartige Krone. Sie sind verbunden durch eine Art Wurzelstrang, der von zwei Cupidos gehalten wird. An den Seiten sind ein Pan mit Panflöte und Hirtenstab und eine Nymphe abgebildet. Der Schmuck unter dem Bogen sieht ganz barock aus. Aus zwei Vasen an den Enden treten Weinranken heraus, die sich von der einer bis zur anderen Vase erstrecken.
Die Säle sind nicht chronologisch, sondern thematisch angeordnet. Ein etwas abseits gelegener, stark verdunkelter Saal widmet sich dem Thema Gold. Gleich zu Anfang sieht man das emblematischste Ausstellungsstück, einen Goldkranz aus Myrten. Der erscheint auch auf den Prospekten und Eintrittskarten. Es ist ein wunderbar gearbeitetes Stück, mit einer Vielzahl kleiner, wild angeordneter Blätter und Blüten der Myrte. Trotz des Goldes hat es einen Anschein des „Natürlichen“. Das gilt besonders für die Blätter. Später stellt man fest, dass dies kein Einzelstück ist. Immer wieder erscheinen ähnliche Kränze, mal Myrte, mal Oliven, mal Efeu.
Gold und Silber waren ursprünglich gleich im Wert. Das änderte sich, als neue Techniken entwickelt wurden, die Silber aus Eisenerzminen zu extrahieren erlaubten. Der Wert von Silber betrug durch diese Entwicklung nur noch ein Zehntel dessen des Golds! Das blieb jahrhundertelang stabil, mit zwei Ausnahmen, die ausgerechnet in die Zeiten von Philip und von Alexander fielen. In diesen Zeiten erlebte Gold eine Inflation. Philipp ließ massenweise Goldmünzen prägen, Alexander überflutete den Markt mit Gold aus Persien.
Es gibt auch Informationen zur Schmuckherstellung, und es werden Werkzeuge ausgestellt. Die sind erstaunlich einfach. Auch zur Funktion des Goldschmucks wird etwas gesagt: Der diente der Betonung der Schönheit, aber auch der der sozialen Position, und er hatte auch magisch-beschwörende Funktionen.
Ein anderes Goldstück, das man fast so oft abgebildet sieht wie den Myrte-Kranz ist ein Armreif, ganz einheitlich aus vielen kleinen Drähten gearbeitet, mit zwei Tierköpfen als Abschluss. Welche Tiere das sind, ist schwer zu sagen, vielleicht Steinböcke. Der Armreif wurde durch ein Band befestigt, dass durch das Gehörn der Tiere gezogen wurde.
Eine Sache für sich ist großer, barock aussehender Krug aus einem Grabmal in Derveni. Der besondere Clou daran ist, dass der Krug golden aussieht, aber kein bisschen Gold enthält. Man erzielt den Effekt, indem man Bronze mit einem großen Anteil von Zinn vermischt und möglichst wenige andere Metalle verwendet.
Der Krug war eine Graburne, aber eine, die umfunktioniert worden war. Es handelte sich nämlich ursprünglich um einen Krug, der zum Mischen von Wasser und Wein diente. Das erklärt auch die Motive der reichen Dekoration, die den ganzen Krug umfasst.
Dargestellt ist die Hochzeit von Dionysos mit Ariadne. Sie, bekleidet, hebt kokett den Schleier nach oben, er, unbekleidet, hat lässig ein Bein über den Oberschenkel Ariadnes gelegt. Umgeben sind sie von den Begleitern des Dionysos, einige in Ekstase, andere sich lässig auf dem Rand des Krugs räkelnd, wobei eine Frau, den Kopf zur Seite und die Füße übereinandergeschlagen, eingeschlafen ist! Ein ironischer Kommentar auf das Geschehen?
Am Abend lädt mich Vasoula zu einem Spaziergang an der Meerespromenade ein, am „Strand“, wie sie es ausdrückt. Sie hat den ganzen Tag für eine Prüfung gelernt, die sie demnächst selbst ablegt, in ihrem eigenen Fach. Es geht um beruflichen Aufstieg oder zumindest um berufliche Veränderung. Wenn ich das richtig verstanden habe, will sie in die Lehrerausbildung. Jedenfalls will sie Erwachsene unterrichten.
Für den Sonnenuntergang kommen wir zu spät. Die Sonne ist nicht mehr zu sehen, aber es ist noch nicht dunkel. Im Zwielicht sieht das Meer mit den Schiffen im Vordergrund und den Hafenkränen im Hintergrund und der langen, häuserbestandenen Promenade zur anderen Seite auch gut aus.
Ich biete ihr an, Englisch zu sprechen, aber sie ist mit Griechisch einverstanden. Sie fragt nach meinen Unternehmungen, und ich erzähle in erster Linie von der kleinen Kunstausstellung in der Villa Bianca.
Sie isst in einer Konditorei ein Eis, das beste in Thessaloniki, und viel besser als das Eis in Italien. Ich trinke einen Kaffee, bei Starbucks. Sie erzählt von ihren Eltern, die trotz ihres Alters noch sehr aktiv sind und in ihrem Haus auf dem Land, Vasoulas Heimatort, Obst und Gemüse anbauen. Sie selbst ist ganz versessen auf Obst. Mit großer Begeisterung spricht sie von verschiedenen Jahreszeiten und Vorlieben. Kirschen isst sie nicht so gerne, weil die nicht riechen. Am besten sind Pfirsiche und Aprikosen. Mir fehlen die sprachlichen Mittel, um darauf zu reagieren. Ich sitze nur unbeholfen dabei und nicke.
Sie erzählt sehnsüchtig von der Welt ihrer Eltern, eine Welt, in der es keine Zweifel gebe. Es gibt richtig und falsch, und man weiß, was richtig und falsch ist. Sie beneidet ihre Eltern darum. Das kann ich verstehen. Aber wie sah es ganz tief im Innern aus? Nisten da keine Zweifel? Sie meint nein. Sie erzählt dann vom Leben im Dorf in ihren Kindheitstagen, wo man einander half und wo Alt und Jung zusammenlebten. Auch das hört sich gut an, und von den Zwängen und der Enge solcher dörflichen Gemeinschaften ist natürlich nicht die Rede.
Irgendetwas an ihrer Aussprache ist auffällig. Das habe ich dieser Tage schon irgendwie wahrgenommen. Jetzt hört man deutlich, was es ist: Sie spricht ihr /l/ velar aus. In häufigen Wörtern wie αλλά und όλα ist das nicht zu überhören, und wenn man es einmal gemerkt hat, tönt es umso lauter. Sie lacht, als ich sie darauf anspreche. Das hat sie selbst noch nicht gemerkt, ist sich aber bewusst, dass ihre Aussprache irgendwie anders ist. Das ist noch das Überbleibsel der Aussprache ihrer Heimatgegend. Sie sagt auch, dass sie manchmal den Artikel weglasse, wo er in der Standardsprache obligatorisch ist. Sie begründet das mit dem Substrat des Türkischen! Und das könnte sogar sein.
13. Juni (Samstag)
Früh, aber doch schon zu spät, zum Laufen aufgebrochen. Schon am Morgen ist es sehr warm. Am Meer bis zum Megaron Mousikis gelaufen, eine Empfehlung von Vasoula für einen Spaziergang, allerdings mit der Auflage: einen Weg mit dem Bus.
In der Stadt ist es noch ruhig, aber am Meer ist schon was los: Walker, Jogger, Spaziergänger, Hundebesitzer, Radfahrer, Angler und natürlich Cafè-Besucher. Die Mehrheit stellen die Walker.
Dann geht es zum Byzantinischen Museum. Nochmal denselben Weg entlang. Am Rande des Expo-Geländes steht eine moderne, silbrig glänzende Skulptur, von Weitem zu sehen. Es ist eine Erdkugel, aber keine Kugel, sondern ein Sechseck. Auf jeder Seite ein Teil der Erde, mit den Landmassen im Profil. Man sieht, wie „ungerecht“ das Land auf der Erde verteilt ist. Einige der Flächen haben fast nur Wasser. Quer durch die Skulptur verläuft ein Stab, der an beiden Enden weit herausguckt. Erst denke ich an Zerstörung, aber sind wohl einfach die Pole gemeint.
Das Byzantinische Museum ist gleich neben dem Archäologischen Museum und genauso modern. Und auch die Eintrittskarte gilt.
Man verbindet byzantinisch meist mit Kirchen, aber hier ist alles gemeint, das ganze Reich, also Ostrom. Das zeigt ganz wunderbar eins der Schmuckstücke des Museums, das wirklich ein Schmuckstück ist, ein doppelter Armreifen, zusammengesetzt aus vielen kleinen Emaille-Plättchen, die winzige, kaum erkennbare Motive aus der Natur darstellen. Und unter den Gegenständen des täglichen Gebrauchs gibt es eine Pfeife – eine Trillerpfeife – aus Lehm.
Im ersten Raum geht es dann aber doch um Kirchen, um Architektur und Ausstattung. Auffällig sind die riesig wirkenden Säulen – in der Kirche würde man sie nicht als so groß wahrnehmen – und die ebenso riesig wirkenden Amben, Lesepulte, eine Art Vorläufer der Kanzel, als es noch keine Predigt gab.
Dann steht man vor einem Graben, in dem sich lauter Amphoren aus Lehm befinden. Sie sehen aus wie die modernen Gasflaschen, wie man sie hier und in Spanien in der Küche verwendet. Rätselhaft. Was hat das mit Kirchen zu tun? Ein Photo aus Agias Sofias liefert die Erklärung: Die Amphoren wurden benutzt, um den „leeren“ Raum neben den Gewölben zu füllen, rechts und links, damit der begradigt werden konnte. Es handelt sich offensichtlich um Zweitverwendung, denn die Amphoren haben Griffe!
Frühchristliche Gräber und Grabbeigaben sehen heidnisch aus. Kontinuität ist das Motto. Man sieht Beispiele von zwei Sorten von „gefertigten“ Grablegen, eine mit einem geraden Abschluss, eine mit einem Tonnengewölbe. Beide waren für die Reichen. Die Armen wurden vermutlich irgendwo in der Erde verbuddelt. Alle Gräber sind voll ausgemalt, und viele Motive sind noch zu erkennen: Vögel, Blumen, Fische, ein Mann in einem Ruderboot. Auch Essbares und Trinkbares ist reichlich dargestellt. Es ging wohl um die Darstellung des Paradieses, in der Tradition der heidnischen Vorstellung von den Elysischen Feldern.
Nur in den Inschriften sind die ersten zarten christlichen Symbole versteckt, meist das PX, gelegentlich ein ganz einfaches Kreuz. Das rückt erst ab dem 6. Jahrhundert in den Mittelpunkt. Jetzt ist das Kreuz groß und oft das einzige Symbol.
Auch eine schöne Art der Traditionspflege, die keine sein will: Die Kirche ging, aber erst später, gezielt gegen Aberglauben vor. Das bedeutete das Verbannen von Verfluchungstäfelchen. Stattdessen trug man jetzt kleine röhrenartiger Behältnisse mit sich herum, mit einem kleinen Textauszug aus der Bibel. Oder mit Verfluchungen.
Dazu passen auch die im Hochmittelalter aufkommenden Pilgerfahrten wie die zu Demetrios in Thessaloniki. Es sind mehrere der kleinen, flachen Phialen mit Ausguss und winzigen Griffen ausgestellt, in denen das Myrrhe-Wasser gesammelt wurde.
Der Kampf gegen den Aberglauben wird auch in der darstellenden Kunst sichtbar. Auf Drucken und Gemälden sieht man Dämonen, die die Sünder in die Hölle treiben. Unter den Sündern auch die Zauberer. Und eine ganze Mannschaft von Priestern, die von den Dämonen an eine Kette gebunden sind. Das sind, jedenfalls deuten die der Mitra ähnelnden Kopfbedeckungen darauf hin, Priester der katholischen Kirche, Ketzer.
Ein paar interessante Informationen gibt es zu dem Bildersturm. Dessen Anliegen war viel weiter, als die Bezeichnung es vermuten lässt. Es war auch eine antimonastische Bewegung und eine Bewegung gegen kirchlichen und klösterlichen Besitz! Die figürliche Darstellung wurde konsequent durch geometrische und florale Darstellung ersetzt, aber ob es auch Zerstörung von Kunstwerken gab, wird nicht klar.
Nach dem Ende des Bildersturms (843) veränderten sich auch die Architektur der Kirchen und die Form der bildlichen Darstellung. Mosaiken wurden weniger, Wandmalereien mehr, und Basiliken wurden weitgehend von Kreuzkuppelkirchen abgelöst.
Frei stehende Skulpturen gibt es zwar in byzantinischen Kirchen nicht, wohl aber Reliefs, vor allem in Marmorplatten am Ambo und an der Chorschranke. Auch die sehen ganz heidnisch aus: ein geflügelter Löwe, ein Adler, der wie eine fette Henne aussieht, mit den Klauen einen Hasen ergreifend, ein Löwe, der artistisch seinen Schwanz unter dem Körper hindurch und in die Höhe schwingt und dem Schauspielt selbst ganz gebannt zuschaut.
Die Friedhöfe waren, auch das in der alten heidnischen Tradition, lange Zeit außerhalb der Städte, aber dann (IX) gab es einen Erlass, der es jedem freistellte, seine Toten innerhalb und außerhalb der Stadt zu begraben. Damit wurde eine Praxis, die es ohnehin schon gelegentlich gab, rechtmäßig. Man hatte auch vorher schon seine Toten innerhalb der Stadt begraben, wenn die Stadt belagert wurde oder das Opfer von Beutezügen wurde.
In Thessaloniki gab es am Ende 36 innerstädtische Friedhöfe, meistens auf den Kirchhöfen, der Devise folgend, die Toten ad santos zu begraben. Es gab ein ziemliches Durcheinander, da man die Toten nebeneinander und übereinander bestattete. Aus diesen Friedhöfen gibt es viele Grabbeigaben zu sehen: Lämpchen, Phialen, Schmuck, Münzen. Und auch glasierte Keramik, sehr fein gearbeitete Schüsselchen meist. Das hatte wohl etwas mit der Tradition zu tun, an der Grabstätte Festessen abzuhalten.
Dann taucht auf einmal bei den Gebrauchsgegenständen des täglichen Bedarfs Glas auf. Tatsächlich auf einmal, denn Glas war für Jahrhunderte verschwunden gewesen und kehrte jetzt wieder. Die meisten Glasbehälter, die man sieht, sind dickbauchige Fläschchen mit langen Hälsen. Einige von ihnen sind so bemalt, dass man nicht mehr sieht, dass es sich um Glas handelt. Sieht wie Metall aus.
Am Eingang zum letzten Saal, in dem es um Forschungsmethoden geht, steht ein Zitat eines David Lowenthal: The past is a foreign country where we come from.
14. Juni (Sonntag)
Gegen Mittag Kaffee in einem schattigen Café am Galerius-Bogen. Der junge Mann und die junge Frau, die hier bedienen (und vielleicht die Besitzer sind), haben genau den gleichen Haarschnitt, streng nach hinten gekämmtes, in einem Knoten endendes Haar. Zur Unterscheidung hat er einen Bart. Die Quittung wird in einer Wäscheklammer auf den Tisch gelegt. Auf der Wäscheklammer steht das Passwort für den Internetzugang.
Auch wenn Kaffee serviert wird, sagen die Kellner in der Regel Στην υγειά σας, also ‘Auf Ihre Gesundheit‘, ‚Auf Ihr Wohl‘. Bei mir klingt da aber immer Prost mit. Das ist so wie „Hier ist Ihr Kaffee. Prost!“
Auf dem Rückweg fällt mir die fensterlose Seitenfassade eines modernen Hochhauses auf, an dem ich schon oft vorbeigekommen bin. Es sind lauter Fenster aufgemalt, blaugrau, alle gleich. Die Fenster gehören zu einem Typ Haus, das bestimmt ein halbes Jahrhundert älter ist als das Haus. Aus einem der Fenster kommt ein Feuerdrachen hervor, auf dem vorne ein Mädchen reitet.
In unserem Viertel steht ein merkwürdig bekanntes, aber nicht gleich identifizierbares Wort an einem Schaufenster. Es ist das Schaufenster eines Vereins für ostasiatische Kampfsportarten. Man muss genau hinsehen. Das Wort besteht scheinbar aus chinesischen Charakteren. Das sieht aber nur so aus. Es sind griechische Buchstaben, denen man ein „chinesisches“ Erscheinungsbild gegeben hat. Da steht ganz einfach Είσοδως – ‘Eingang‘.
15. Juni (Montag)
Schon seit einem Monat in Thessaloniki. Unglaublich. Kann mich an die Suche nach der Wohnung am ersten Tag noch gut erinnern.
Beim Laufen ist man an der Strandpromenade, da wo wie breit wird, durch eine doppelte Baumreihe, Kiefern wahrscheinlich, ein bisschen von der Sonne geschützt. Aber es ist auch am Morgen schon sehr warm.
Am Rande wird rhythmische Gymnastik mit Musik und Übungsleiter gemacht. Sieht leicht aus, ist aber bestimmt schwer. Polizisten, lässig auf Motorrädern gelehnt, sehen zu und versuchen, uninteressiert auszusehen. Auf dem Rückweg kommt eine freundliche Frau, Gedankenleserin, auf mich zu und drückt mir einen Zettel in die Hand. Informationen zur Gymnastik. Findet dreimal pro Woche statt und ist gratis, aber man muss sich anmelden.
Am Megaron Mousikis hat man auf jeden der niedrigen Begrenzungspfähle, die das Gelände für Autofahrer unzugänglich machen, einen Buchstaben geschrieben. Es dauert etwas, bis ich es entziffern kann. Es sind lateinische Buchstaben: No borders. No nations.
Als ich auf dem Weg in die Stadt bei Dimitris vorbeikomme, begrüßt er mich mit einem Wortschwall, erzählt aber noch schnell den Nachbarn, die auf einem Mauervorsprung auf der Straße sitzen, eine Anekdote zu Ende. Die Hose ist längst fertig, und er zeigt mir, was er gemacht hat. Es kostet nur drei Euro.
Auf dem Weg nach unten komme in an einer Metzgerei vorbei, die Το κάτι άλλο heißt, ‘Das etwas andere‘. Keine Kunden. Überhaupt hat man das Gefühl, dass die Metzgereien es schwer haben. Vielleicht eine Folge der Krise.
Zufällig sehe ich am Ende einer Straße eine Kirche. Es ist eine weitere byzantinische Kirche, eine, die mir in meiner „Sammlung“ noch fehlt, die Apostelkirche, wie ich von dem Mann erfahre, der hier drinnen für Ordnung sorgt.
Allmählich kommt man durcheinander mit den Kirchen, sie sind sich doch alle sehr ähnlich. Auch hier wieder ein durch eine Mauer abgesperrter Bezirk, tiefer gelegen, Backstein, Kuppeln, Zierwerk durch die Position der Backsteine. Diese Kirche kann man als große kleine Kirche einordnen. Sie ähnelt Agias Ekaterinas. Sie hat insgesamt fünf Kuppeln und einen Umlauf, der den dreischiffigen Zentralbau auf drei Seiten umfasst, und einen Narthex. Das ergibt einen ziemlich komplizierten Grundriss. Und tatsächlich fühlt man sich, als wäre man in getrennten Räumen.
Es gibt einiges an Mosaiken und Wandmalereien zu sehen. Auch hier wieder die vorsichtigen, kontrollierten Hammerschläge, mit denen man den Putz von den Wänden abnahm. Sie geben den Malereien ein ganz eigenartiges Aussehen.
Sehr schön sind die Fenster im nördlichen Umgang, einfache Rundungen, die das Tageslicht hereinlassen, vertikal angeordnet, in einer durch Säulchen getrennten Doppelreihe. Genial einfach, einfach genial.
Der Mann schließt bald zu, aber ein paar Szenen kann ich mir noch ansehen. Schön vor allem zwei Hirten mit Krummstöcken am Rande einer Geburtsszene, die zu tuscheln scheinen und ungläubig zum Stall hinüber blicken. Sehr schön auch die ganz dicht gedrängt stehenden Jünger vor den Toren Jerusalems, das wiederum, in der spätmittelalterlichen Tradition, durch ganz viele eng beieinander stehende Häuser mit Türmen dargestellt ist, auf allerengstem Raum. Und dann sehe ich noch eine völlig unerklärliche Szene, wo Figuren oder Dinge in mehreren ordentlichen Reihen erscheinen, so als wenn es sich um eine Aufstellung, eine Liste handelte, das Gegenstück zu dem Bild von Jerusalem. Es ist aber nicht zu erkennen, worum es sich handelt. Und wo sind die Apostel? Vermutlich ganz oben in der hohen, großen Kuppel, aber das kann man nur erahnen.
In dieser Ecke der Stadt bin ich noch gar nicht gewesen. Hier stehen Reste der Stadtmauer und Reste eines Stadttores. Das ganze Viertel sieht ziemlich ärmlich aus. Sobald man dann zur Egnatia kommt und sie überquert, ändert sich das Bild. Komisch, dass es solche heimlichen Grenzen innerhalb einer Stadt noch gibt.
Noch kurz vor der Egnatia gibt es eine Ecke, wo lauter Verkäufer hinter ihren improvisierten Verkaufsständen sitzen. Hier werden Produkte aus dem eigenen Garten oder aus dem eigenen Werkkeller angeboten. Eine Frau, die fein säuberlich auf ihrem Tischchen Wildgemüse und Kräuter angeordnet hat, reagiert eher belustigt auf meine Frage, ob ich ein Photo machen dürfe. Sie willigt aber sofort ein und sieht sich dann das Photo auch gerne an. Ich frage nach einer rotbraunen, länglichen Pflanze, die wie eine Salami aussieht, verstehe aber die Erklärung nicht.
Ich gehe weiter zum Hafen. In einer der alten Lagerhallen ist das Filmmuseum untergebracht. Das entstand, als Thessaloniki Europäische Kulturhauptstadt war. Hier ist es erwartet leer. Ich bin ganz alleine für mich. Die Frau an der Kasse fragt ganz entsetzt, ob ich etwa Grieche sei, als ich ihre englische Frage nicht verstehe. Sie lacht dann aber über meine Begründung führt mich zum Eingang und gibt dabei ein paar Erklärungen auf Griechisch.
In einer zentralen Vitrine sind Geräte aus alten Kinozeiten ausgestellt, vor allem schwere Objekte aus Eisen: Kameras, Projektoren, Spulen. Außerdem Plakate, ein Goldener Löwe, eine Pappfigur, die eine Schauspielerin darstellt, und Filmrollen, die langen, schmalen Streifen der alten Filme, die hier sich hier girlandenartig herunter schlängeln.
Die einzelnen Abteilungen sind chronologisch angeordnet und stehen unter dem Motto: Kino oder Theater? Kino oder Fernsehen? Kino oder Video? Kino oder Internet? Das hört sich interessant an, aber es wird dazu fast nichts ausgeführt.
Dieses Museum ist eher was für Insider, und das heißt in diesem Falle für Griechen. Wenn man die Schauspieler und Filme nicht kennt, sagt einem das nicht so viel. Am besten sind die Filmausschnitte selbst. Man glaubt eine Entwicklung erkennen zu können: Die Kamera wird ruhiger, die Szenen langsamer, die Themen ernster. Am Anfang steht viel Slapstick, dann kommen sogenannte Komödien mit lauter burlesken Szenen, erst dann hält der Alltag Einzug.
Eindrucksvoll eine Szene, in der ein Vater seine zerstrittenen Söhne zu einem Versöhnungsessen zusammenführt und einer der Söhne dem Vater das Weinglas vor die Füße wirft. Sehr eindrücklich auch eine Szene, in der ein scheuer, pubertierender Junge in einer stillen Szene am Strand steht und eine junge Frau beobachtet, die im Wasser steht und an einem Fischnetz herumhantiert. Kurios auch die Zeit, wo das Auto Einzug in den Film hält. Es ist immer ein Ausflug, den man mit dem Auto macht, meist mit offenem Verdeck, meist vollgeladene Autos mit singenden Frauen, einem Fahrer, der das Lenkrad wild hin und her bewegt und Landschaften, die vorbeiziehen, indem sie sich bewegen und nicht das Auto sich bewegt.
Kurios für den Fremden, aber ganz bizarr auf die Spitze getrieben, mit komischen Impetus, eine Gerichtsszene, in der ein Gelegenheitsgauner dem Richter sagt, er heiße Spanovangelodimitris. Gegen jede Wahrscheinlichkeit ist dieser Name dem Richter zu kompliziert. Er macht mehrere vergebliche Versuche, ihn auszusprechen, und schließlich sagt der Gauner, er solle ihn doch einfach Gilos nennen.
Ganz im Anfang, aus der Stummfilmzeit, sieht man eine Szene, in der griechische Hirten in langen Hirtengewändern eine nackte Nymphe beobachten, die sich in einem See badet. Die Szene wird aber aus großer Distanz eingefangen. Zur Sicherheit. Hier wird die Tradition gebraucht, um etwas frivole Szenen ins Kino zu bringen, und das Kino hatte auch zu Anfang wirklich den Ruf, nicht ganz koscher zu sein. Aber es wird immerhin der Versuch gemacht, eigenständige griechische Themen in die Filme zu integrieren. Ein Regisseur sagt dazu, das typisch Griechische habe man in all den Jahrzehnten gesucht und nicht gefunden.
Die allerersten Filmaufnahmen zeigen gar keine Spielfilme, sondern dokumentieren, in zittrigen Aufnahmen, die innergriechische politische Spaltung der Jahre am Ende des Ersten Weltkriegs und den Brand von Thessaloniki.
16. Juni (Dienstag)
Bei uns im Viertel hängen vom Dach eines Balkons CDs an Bindfäden, in der Sonne glänzend. Reine Dekoration.
Sofia, von ihrer Reise zurückgekehrt, empfiehlt mir bei einem Kaffee auf dem Balkon, spricht von einem Musikfestival, das in diesen Tagen hier stattfindet und von einem Büchermarkt. Der findet unten an der Meerespromenade statt. Da steht eine ganze Reihe von kleinen, weißen quadratischen Zelten mit einem Pyramidendach, die in der Sonne ein schönes Bild abgeben. Geöffnet ist hier aber nur am Abend. Sie empfiehlt mir, zur Ergänzung meiner Besichtigungen doch auch mal ein Kunstmuseum zu besuchen. Zum Beispiel die Stiftung Teloglion. Von der habe ich Straße und Hausnummer, aber die trotzdem schwer zu finden. Sie liegt fast einen Kilometer von ihrem Nachbargebäude entfernt, wenn man nach der Hausnummer geht. Nach mehrfachem Fragen finde ich sie aber. Sie hat unregelmäßige Öffnungszeiten und ist heute geschlossen.
Interessante Erfahrung bei der Suche: Ich frage eine junge Frau und habe sofort das Gefühl, dass sie es nicht weiß, und sie weiß es nicht. Ich frage einen Mann mittleren Alters mit Bart und Brille und habe sofort das Gefühl, dass er es weiß, und er weiß es.
Es geht zum Theater, dem Staatlichen Theater beim Weißen Turm, wo ich gestern eine Broschüre über ein Festival bekommen habe. Es gibt Konzerte und Schauspiele. Karten für das Konzert mit drei griechischen Sängern, von denen ich anderthalb kenne, gibt es noch nicht. Aber für die Theatervorstellungen, die im Theater im Wald stattfinden, gibt es Karten. Ich lasse mich von der freundlichen jungen Frau beraten: Iphigenie oder Antigone? Bei einem steht etwas von Übersetzung, bei dem anderen nicht, aber sie versichert mir, beide seien auf Neugriechisch. Die Iphigenie ist vom lokalen Ensemble, und die nehme ich. Das Mädchen muss meinen Namen notieren und fragt nach ganz interessiert nach dem Griechischen. Sie selbst lernt ein bisschen Deutsch.
Irgendwo am Wegesrand gibt es Werbung für einen Sommerkurs in Deutsch. Grelle, auffällige Plakate, auf denen Deutsch Total! steht. Offensichtlich gibt es keine Empfindung für etwaige unpassende Konnotationen.
Da ich sowieso schon in der Ecke bin, mache ich die Rundfahrt mit dem Schiff, nach der Sofia auch nochmals gefragt hat. Es geht einmal durch die Bucht, kurz und bündig, und es ist gratis. Man trinkt einen bezahlbaren Kaffee und wird dafür durch die Gegend geschifft. Toll!
Es ist auffällig, wie schnell der Weiße Turm kleiner wird, wenn man sich von der Anlegestelle entfernt. Die fast ebenso hohen Häuser der Umgebung und der Hügel der Oberstadt dahinter lassen ihn verschwimmen und dann fast verschwinden. Es geht auf die Kräne am äußeren Ende des Hafens zu und dann an ihnen vorbei. Und dann kommt das Sahnestück der Fahrt, direkt am Hafen und dann an den Häusern der Strandpromenade entlang.
Da meins sich langsam auflöst und ein schrecklich veraltetes Layout hat, leiste ich mir ein neues Wörterbuch, teuer, das ich in Deutschland wahrscheinlich billiger bekommen würde. An der Kasse gibt es dann aber einen Gutschein über zehn Euro, den man in der Filiale der Buchhandlung einlösen kann.
Lange schwanke ich zwischen zwei Wörterbüchern, einem kleinen und einem großen. Der Preis ist fast auf den Cent genau gleich. Ich schlage Matte und Nagelbürste nach, zwei Dinge, die ich gleich kaufen will. Nur das kleine hat Nagelbürste. Ich stelle aber später fest, dass die Dinger hier nicht sehr gängig sind. Der Mann in dem Laden, den ich danach frage, kennt sie nicht. Unter Matte haben beide auch auf der Matte stehen. Dann sehe ich Flasche nach. Nur das kleine hat auch das zweite Wort, das ich kenne und immer mit dem ersten verwechsle. Bei Abitur haben beide dasselbe. Bei gehen ist das große haushoch überlegen. Kein Vergleich. Über drei Spalten mit Bedeutungen und Beispielen, das kleine hat keine halbe Spalte. Bei berühmt haben beide alle vier Synonyme, die ich mir gestern notiert habe, weil ich sie alle kenne, aber mich an keins erinnere, wenn ich es brauche. Nur das kleine hat berühmt-berüchtigt, das große hat aber über Nacht berühmt werden und deine Leistungen waren nicht gerade berühmt. Ich nehme das große. Es ist weniger handlich, aber das Layout ist besser und die Schrift größer.
Am Ausgang der Buchhandlung finde ich auch noch Ansichtskarten, die ersten halbwegs brauchbaren, die ich hier gefunden habe. Sie kosten gerade mal 25 Cent. Der Verkäufer erklärt mir den Weg zum Internetcafé. Ich verstehe alles bis auf ein Wort. Auch bei der Wiederholung verstehe ich es nicht. Irgendwas mit alt. Er ist aber eigens mit mir auf die Straße gegangen, um mir den Weg zu zeigen, und so brauche ich nur seinen Handbewegungen zu folgen. Im Nachhinein, als ich das Internetcafé gefunden habe, verstehe ich dann, was er gesagt hat: τα αρχαία, ‘das Alte‘. Damit ist der Palast des Galerius gemeint, an dem ich links abbiegen soll. Da bei dem alten Zeug, sozusagen.
Jetzt, wo ich das Wort für ‚Matte‘ kenne, gehe ich ganz ungeniert in ein Geschäft und frage danach. Einer der typischen alten Läden, Einzelhandel, vollgestopft mit Waren, und mit weiteren Waren auf dem Bürgersteig. Da hängen auch die Matten, und ich brauche keine zehn Sekunden, um mich zu entscheiden. Der Verkäufer fragt mich, woher ich komme, und ich frage zurück, wie immer. Nein, nicht aus Thessaloniki, aus einem anderen Ort, bulgarische Grenze, Thermi. Das ist ein Ortsname, der hier immer wieder auftaucht. Auch er fragt nach meinem Griechisch, schon der vierte heute, warum denn und wo und wie. Und dann der obligatorischen Satz. Schwere Sprache. Und dann der obligatorische Nachsatz: Aber Deutsch auch Und Englisch erst mal, würde ich gerne hinzufügen, lasse das aber.
In dem Buch für Teenager, meiner täglichen Lektüre, treten Verkäufer auf, die ihre Ware anbieten: Μελιτζάαααανες! Κολοκυθάαααακια! Man muss zweimal hinsehen: Aubergiiiiinen! Zuchiiiiini! Die Brüder der Erzählerin machen das dann bei jeder Gelegenheit nach. Beim Mittagessen zum Beispiel: Ντομάααατες! Καλέεες ντομάαααατες! Tomaaaten! Guuute Tomaaaaten!
17. Juni (Mittwoch)
Im Laufe des Tages zweimal auf mein Kreta-T-Shirt angesprochen worden, einmal von einem Kreter, einmal von einer Frau, die in Rethymnon studiert hat. Ihr kann ihr mitteilen, dass das T-Shirt aus Rethymnon stammt, und die kennt den Laden, aus dem es kommt. Sie sagt, es gebe eine enge, historisch bedingte Verbindung zwischen Thessaloniki (oder Makedonien) und Kreta. Tatsächlich gibt es hier irgendwo in der Stadt eine Statue eines Kreters, Erinnerung an die Unterstützung der Kreter im Makedonischen Kampf.
Bei beiden Gelegenheiten stutze ich kurz, als die Frage gestellt wird. Es wird nach meiner μπλούζα gefragt, nach meiner ‚Bluse‘. Das ist kommt dann doch etwas überraschend.
Was die Griechenlandkrise angeht, herrscht in Berlin und in Brüssel und vermutlich auch in Athen und in der griechischen Presse helle Aufregung. Die Griechen scheint das aber nicht weiter zu beunruhigen. Man genießt den Beginn des Sommers und geht ins Café. Das liegt zum Teil daran, dass die Krise sich jetzt schon so lange hinzieht. Die Nachrichten gleichen sich jede Woche. Und auch daran, dass Tsipras offensichtlich darauf vertraut, dass es im Interesse der EU ist, die Verhandlungen nicht scheitern zu lassen. Immer wieder fallen seine Kommentare zu den Verhandlungen viel positiver aus als die der Verhandlungspartner. Das kann auch Strategie sein. Auch in anderen Ländern scheint man sich für Griechenland nur marginal zu interessieren.
Am Morgen gehe ich zu dem Büro des Fitnessclubs, der die Gymnastik an der Strandpromenade betreibt, aber ich finde es nicht, obwohl ich ganz in der Nähe bin und den Namen der Straße und die Hausnummer habe. Die Leute kennen die Straße nicht, der Routenplaner erkennt sie nicht, und auf dem Stadtplan kann ich sie auch nicht finden. Eine Frau mit Hund, die ich im allerletzten Moment doch noch frage, findet die Lösung. Und die ist eine kleine kulturelle Erfahrung: Ich habe den handschriftlich notierten Straßennamen falsch gelesen, Πεύκο statt Ρέγκο. Wenn man ein fremdes Alphabet kennt, heißt das noch lange nicht, dass man jede Handschrift entziffert.
Die Leute in dem Fitnessclub sind ungeheuer freundlich und geben einem wirklich den Eindruck, willkommen zu sein. Es ist fast eine etwas suspekte Freundlichkeit, aber kommerzielle Interessen scheint es nicht zu geben. Es ist eher der Enthusiasmus von Leuten, die glauben, die richtige Lebensphilosophie zu haben und diese mit Euphorie nach außen tragen. Es geht hier um etwas Ganzheitliches, um Ernährung und Einstellung genauso wie um Gymnastik.
Die Frau, die die Einschreibung mit mir macht, spricht Deutsch, sagt aber, ihr Deutsch sei ein bisschen rostig. Sie weiß aber auf Anhieb Wörter wie Unterschrift und sagt mir auch einen Willkommenssatz in gutem Deutsch. Sonst sprechen wir aber Griechisch.
Freitags gibt es Yoga, an den beiden anderen Tagen Gymnastik. Sie sieht mein langes Gesicht bei dem Wort Yoga, überredet mich aber zu kommen. Es würden Dehnübungen gemacht.
Ich soll eine Matte mitbringen. Wo ich denn wohl eine bekommen könne. Bei Jumbo, meint sie, aber da müsste ich mit dem Auto hinfahren. In dem Moment springt aber schon eine andere Frau hinzu und sagt, man habe bestimmt eine für mich in Reserve. Auf dem Rückweg in die Stadt komme ich dann aber an einem Sportgeschäft vorbei, wo ich eine bekomme.
Dann geht es auf die Suche nach dem Copyshop, wo ich schon mal war. Den finde ich nicht, dafür aber einen anderen. Dann in ein Papierwarengeschäft. Ein ziemliches Durcheinander. Ich bitte um Briefumschläge mit Fenster, aber als ich dann auf der Post stehe, merke ich, dass man die Adresse nicht lesen kann. Das Fenster ist rechts! Wieder zurück in dem Papierwarengeschäft ist die freundliche Verkäuferin nicht mehr ganz so freundlich. Sie hat mich offensichtlich gefragt, ob ich rechts oder links wolle. Das muss ich überhört haben. Sie wird dann aber wieder milder und nimmt sogar die anderen Briefumschläge wieder zurück, obwohl ich die Packung geöffnet habe! Und dann will sie mir sogar noch Geld zurückgeben, weil diese Umschläge billiger sind!
Dann geht es zu der Münchner Griechin, die Weinflaschen etikettiert und dann mit der Weinflasche zum Zahnarzt. Die erste Idee, Gebäck zu kaufen, das klebrig-süße, sündhaft leckere griechische Gebäck, habe ich dann doch verworfen. Zahnarzt. Allerdings ist nicht gesagt, dass Wein gut für die Zähne ist.
Die Müncherin, die beim letzten Mal von Griechisch nach Deutsch gewechselt ist, wechselt diesmal von Deutsch nach Griechisch und dann immer hin und her. Ich ebenfalls. Codeswitching. Man fragt sich, wie so ein Gespräch seine Dynamik entfaltet. Es muss irgendwelche heimlichen „Regeln“ geben, die die Sprecher unbewusst verfolgen, um zu entscheiden, welcher Code der richtige ist. Am Ende erklärt sie mir auf Deutsch, wie ich zur Metropoleos komme. Ich habe den Namen der Straße falsch betont. Vielleicht nimmt man so ein Indiz zum Anlass, in den anderen Code zu wechseln.
Beim Vorbeigehen höre ich, wie ein Mann in einem Straßencafé, weit in seinem Sessel zurückgelehnt, seinen Zuhörern sagt, so als wenn er vom Katheder spräche: „In Europa sind die Preise in den Supermärkten niedriger.“ Das ist wohl wahr, jedenfalls für viele Artikel. Beim Weitergehen fällt mir auf, dass ich es immer mit europäischen Ländern zu tun haben, für die Europa woanders ist: England, Spanien, Griechenland, Russland.
Wochenland galt die Maxime „fürs Museum zu schön“, wenn es um das Wetter ging. Für das jetzige Wetter ist das Museum ideal: schön kühl. Gestern stand irgendwo etwas von 33°. Ganz so heiß fühlt es sich nicht an, aber es ist schon ziemlich warm. Sofia sah mich dieser Tage mit bemitleidenswerter und unverständlicher Mine an, als ich ihre Frage, ob ich das etwa gut fände, bejaht hatte.
Im dem Kunstmuseum auf dem Expo-Gelände ist es kühl, und zwar ohne Klimaanlage. Das hohe, moderne, etwas verwinkelte Haus ist so gebaut, dass es einen natürlichen Schutz gegen die Hitze bildet, und die Glasdächer sind mit Sonnensegeln zugezogen.
Schon auf dem Gelände steht überall Kunst herum, eher ein bisschen zu viel. An einem Baum hängen alte Fernsehgeräte. Das ist die Art von Installation, deren Originalität und Aussagekraft inzwischen ziemlich verblasst sind. Auch hier gibt es wieder die Sonnenschirme, wie am Strand, aber der Brunnen, über dem sie hängen, ist nicht in Betrieb. Das nimmt dem Ganzen die Wirkung. Die Umgebung sieht eher etwas traurig aus. Es ist alles etwas verlassen. An einem normalen Tag verirrt sich niemand hierher. Sofia war sogar überrascht, dass das Museum nicht ganz geschlossen ist.
Im Museum gibt es ausschließlich moderne Kunst, fast alles stammt aus den letzten fünfzig Jahren. Von Acryl bis Öl und von Eisen bis Pappmaché ist alles vertreten. Es gibt keinerlei Information außer den Schildern mit Namen des Künstlers, Jahr und Titel, aber die hängen manchmal so, dass man nicht weiß, auf welches Werk sie sich beziehen. Dann geht das Rätselraten los. Die Titel geben manchmal Aufschluss, aber die meisten Werke heißen ohnehin nur Installation oder Ohne Titel.
Gleich im ersten Saal gibt es einen Alexander von Andy Warhol (1981), eine Seidenzeichnung. Das ist sehr, sehr gut gemacht. Man sieht nur den Kopf Alexanders, im Profil, mit leicht geöffnetem Mund, starker Nase und wildem Haar. Der Kopf sieht wie der einer Statue aus, wie aus Bronze, leicht schimmernd. Darüber sind mit lockeren Pinselstrichen, in Rot und Gelb, Gesichtszüge akzentuiert. Er ist reale Person und Denkmal in einem, so kann man das verstehen.
In demselben Saal eine typische Figur von Niki Saint-Phalle (1968), aus Pappmaché. Die Figur ist bunt bemalt, in grellen Farben, auch das erigierte Glied. Sie hat ein großes Herz, einen kleinen Kopf, einen großen Penis und eine Aktentasche. Der moderne Mann. Der Titel bestätigt die Aussage ironisch: Adam.
Gegenüber hängt ein Bild, das irgendwie weiblich aussieht und tatsächlich von einer Frau stammt, einer Katerina Maroula. Man sieht einen Mann und eine Frau in dem hochformatigen Werk (1980), nahe, aber nicht ganz nahe beieinander stehend, in einer geöffneten Tür. Beide sind ganz realistisch, mit Details dargestellt, aber über beiden liegen leichte, schimmernde Farbflecken, die die Details etwas verschwimmen lassen. Er ist gut, sie elegant gekleidet, mit Stöckelschuhen und eng anliegendem Rock. Sie hat den Kopf weit zurückgeworfen und einen Fuß angehoben. Der ungewöhnliche Titel, Hesitation, suggeriert die Szene. Es dürfte nicht darum gehen, wer als erster durch die Tür geht, sondern es dürfte um eine intimere Szene gehen. Man hat sich kennen gelernt, kommt in eine Wohnung und zögert, wie man sich verhalten soll. Wie viel Nähe ist angesagt, wie viel Distanz?
Über verschiedene Gänge geht es in mehrere unregelmäßige Säle. Man kann sich hier leicht verlaufen, und tatsächlich stehe ich irgendwann wieder in dem ersten Saal, ohne zu ahnen, wie ich dahin gekommen bin.
Viel vertreten sind moderne Skulpturen aus Bronze, Eisen und Stahl, meist nichtfigürlich oder so, dass man die Figuren erst auf den zweiten Blick erkennen kann. So bei einem Gestell aus rauen, leicht verrosteten Eisen, das Vögel darstellt, vielleicht Schwalben, in verschiedene Richtung fliegend: schräg nach oben, gerade nach hinten, steil nach unten. Sie sind aber alle miteinander verbunden, zu einem Gestell. Oder ist es ein und derselbe Vogel, in verschiedenen Phasen dargestellt?
Dann kommt eine Skulptur, die ganz viele Figuren unterschiedlicher Größe darstellt. Sie bestehen nur aus länglichen, horizontal übereinander angebrachten Röhrchen unterschiedlicher Länge, vielleicht abgeschnittenen Nägel, die mir einer Masse miteinander verbunden sind. Obwohl es nur diese Nägel sind, aus denen die Figuren bestehen, und obwohl sie kein Gesicht und keine Gliedmaßen haben, kann man sie gut als Figuren erkennen. Dem Titel nach sind es Kinder. Und komischerweise kann man auch erkennen, in welche Richtung sie sich bewegen oder ob sie stillstehen.
Vor einigen Werken steht man völlig ratlos, so vor einem hölzernen Toilettenhäuschen mit kleiner Scheibe ganz oben und dem Schlüssel im Schlüsselloch, das dem Titel zufolge ein Archiv ist. Bei anderen fällt einem erst gar nichts ein.
Gut gemacht ist ein Werk, das Stadion heißt, von einem Nikos Aleviou (2004). Es ist aus Ried gemacht und lässt mit ganz einfachen Mitteln die architektonische Struktur erkennen, die Tribünen und Ränge und die äußere Basis.
Dann sehe ich noch eine ganz verrückte Installation mit dem Goldenen Vlies und ein ganz eindrückliches Portrait, eine Kohlezeichnung vermutlich, von einem Yanis Valavanidis. Es stellt einen älteren Mann da, mit breiter Nase, großen Ohren, großen, dunklen Augen und wenigen, aber tiefen Furchen im Gesicht. Er hat einen ganz feinen Oberlippenbart, den man auf den ersten Blick kaum wahrnimmt. Und trägt ein zugeknüpftes Hemd. Er sieht ernst aus, sehr ernst, aber nicht traurig. Man fängt unwillkürlich an, sich Fragen nach dem Leben dieses Mannes zu stellen, nach den Erfahrungen, die ihn geprägt haben. Keine zerrissene Person, aber eine, die vom Leben, von den Enttäuschungen und Einsichten, die das Leben geliefert hat, geprägt ist.
Es sind heute einige Kilometer zusammengekommen. Allein zu dem Fitnessclub sind es fünf Kilometer. Als ich bei der ersten Pause in einem Café zwei ältere, wohlsituierte Damen sehe, die sich zur Mittagszeit einen halben Liter Bier reinziehen, ist die Versuchung groß, und jetzt, nach dem Museum, kann ich nicht widerstehen und tue es ihnen gleich. Der Himmel zieht sich zu, es wird plötzlich dunkel, und es kündigt sich ein gewaltiges Gewitter an. Aber außer ein paar Tropfen und Donnergrollen in der Ferne kommt dann nichts.
Am Abend auf dem Balkon holt Sofia plötzlich zu einer Philippika gegen die jetzige Regierung und auf Syriza aus. Die hätten ja keine Ahnung, würden den Karren gegen die Wand fahren, seien unprofessionell und handelten unverantwortlich. Wenn sie jünger wäre, würde sie auswandern. Besonders beklagt sie die Privilegien der Staatsbeamten, die kurze Lebensarbeitszeit, die hohen Pensionen. Viele bekämen sogar mehrere Pensionen, und die gingen nach dem Tod automatisch auf die Töchter über – lebenslang. Syriza wolle das jetzt auch noch auf die Söhne ausdehnen. Die kümmerten sich gar nicht um die wirklich Armen. Denen müsse natürlich geholfen werden. Und was das Geld angeht, Griechenland solle froh sein, das Geld zu so günstigen Konditionen bekommen zu haben. Sie könne auch nicht von jemandem Geld leihen und ihn dann auch noch beschimpfen, dass er ihr Geld geliehen habe. Sie redet wie ein deutscher Politiker. Ja, hier in Griechenland gälten Menschen wie sie als deutsche Agenten, sagt sie. Sie haben die „Mädchen“ gewarnt, aber die hätten alle Syriza gewählt. Ich versuche, das Gespräch auf die Zukunft zu richten und darauf, was Griechenland denn machen könne, um wieder auf die Beine zu kommen. Gar nichts. Wir haben doch nichts. Wir müssen alles einführen. Wir stellen ja noch nicht einmal unser eigenes Toilettenpapier her.
18. Juni (Donnerstag)
Heute ist das Wetter schlecht genug fürs Museum. Plötzlicher Temperatursturz. Es ist diesig, und der Himmel ist grau. Es fallen ein paar Tropfen, und am Nachmittag kommt dann ein richtiger Sommerregen.
Bei dem Museum geht es um den Makedonischen Kampf. Der Name des Museums, Μουσείο Μακεδονικού Αγώνα, enthält das Wort αγώνας. Es ist wirklich ein Kampf mit diesem Wort. Abgesehen davon, dass bei mir immer Agonie anklingt, das aber im Griechischen nicht gemeint ist, bringe ich immer wieder Formen und Genus durcheinander. Auch die Ολυμπιακοί Αγώνες enthalten das Wort. Es sind ‚Olympische Kämpfe‘.
Als ich in dem Museum herumgehe, kommen zwei junge Frauen auf mich zu und bieten an, Fragen zu beantworten. Als ich einmal ganz durch bin, komme ich auf das Angebot zurück. Sie sind Studenten und machen ein Praktikum hier. Eine studiert Geschichte, die andere Slawistik. Das Praktikum ist freiwillig. Sie geben sich sichtlich Mühe, meine Frage zu beantworten.
Das Museum schildert den Kampf, der zu der „Befreiung“ Makedoniens führte und zu seiner Eingliederung in Griechenland. Der Kampf begann schon 1821, nachdem ein Ausbilder aus Griechenland hierhergekommen und die Rebellen vorbereitet hatte. Der Aufstand wurde aber schnell niedergeschlagen, genauso wie die vielen weiteren im Laufe des Jahrhunderts.
Interessanterweise spielt hier auch der Berliner Kongress eine Rolle. Nach dem russisch-türkischen Krieg solle Makedonien zu Bulgarien kommen, aber das wollten die Griechen erst recht nicht. Die Griechen hatten den türkisch-russischen Krieg zu einem Aufstand ausgenutzt. Der Berliner Kongress entschied, dass Bulgarien ein eigenständiges Land werden, Makedonien aber beim Osmanischen Reich bleiben sollte. Verrückt, wenn man sich überlegt, dass das hier heute, wenn die Geschichte nur ein bisschen anders gelaufen wäre, die Türkei oder Bulgarien oder Serbien sein könnte, denn auch die Serben waren stark involviert.
Neben den unvermeidbaren Pistolen, Gewehren, Säbeln gibt es kleinere militärische Objekte aus der Zeit zu sehen. Bei allen ist zu sehen, wie ungeheuer aufwändig die gearbeitet sind, aus wertvollen Materialien mit ästhetischen Formen und feinen Verzierungen. So als würde es um etwas ganz anderes gehen als darum, anderen den Kopf abzuhauen. Eine vermutlich vergoldete Messingschatulle diente zum Messen des Schießpulvers, in einer ähnlichen Schatulle wurde das Pulver aufbewahrt. Davon gibt es eine türkischen und eine griechische Variante. Ein richtiges Schmuckstück ist ein Tintenfass, das die Form einer Kanone hat, die schießbereit aufgebockt ist.
Dass die ganzen Rebellionen letztlich im Nichts verliefen, liegt einfach daran, dass die Großmächte kein Interesse an einer Veränderung hatten. Das Osmanische Reich sollte nicht geschwächt werden. Das stellt eine französische Karikatur aus der Zeit gut da. Vorne bekämpfen sich ein Grieche und ein Türke wüst mit Dolchen, hinten stehen die Vertreter der Großmächte in Uniform, sehen zu und machen Marschmusik.
Auf einer Karte kann man sehen, dass die Aufstände immer an einzelnen wechselnden Orten stattfanden und nicht ganz Makedonien umfassten. An den Farben erkennt man die Entwicklung: Es geht von Osten immer weiter nach Westen, wobei Thessaloniki ungefähr in der Mitte liegt. Eine der Keimzellen war das Kloster Athos, ganz im Osten Makedoniens.
Es gibt Bilder und Materialien zur Lage der Bevölkerung, vor allem auf dem Land. Zu Hunger, Krankheit und Raubüberfällen kamen noch die hohen Steuern und Abgaben. Da fiel der Aufruf zur Rebellion auf fruchtbaren Boden. Viel mehr aber machten Gebrauch von der Auswanderung, nach Bulgarien und später in die USA. Sie hatten nichts zu verlieren. Oder doch? Die Heimat, die Gewohnheiten, die Feste, die Tänze, das Essen, die Sprache, die vertraute Umgebung. Davon zeugen frühe Photos, die die Dörfer bei festlichen Gelegenheiten zeigen. Viele wanderten aber einfach in die Städte aus. Monastir und Thessaloniki wurden schnell zu Großstädten. Da herrschten „europäische“ Einflüsse vor. Ein Indiz: Die Männer tranken Bier statt Raki!
In den Städten fand der Kampf ohne Waffen statt. Das bedeutete Verbesserung der Ausbildung der Griechen, soziale Dienste, Gewerkschaften. Das stärkte das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Das Haus selbst, das, wo jetzt das Museum untergebracht ist, von einem deutschen Architekten gebaut, war selbst eine Zelle des Widerstands. Hier war die Griechische Botschaft untergebracht! Die Botschaft hatte „Angestellte für besondere Aufgaben“. Das waren Militärs. Außerdem war gleich nebenan der Bischofssitz, und die Kirche war einer der Betreiber der Widerstandsbewegung. Allerdings wussten Türken und Bulgaren bestens, was hier vorging und ließen es geschehen, auch ein Zeichen davon, dass das alles mit den Rebellionen erst in der Rückschau Bedeutung erlangt.
Es werden unter anderem persönliche und berufliche Gegenstände aus dem Besitz eines Bischofs ausgestellt, darunter ein Elfenbeinkamm und eine eigene Bürste für den Bart!
In einem Diorama wird eine Schlacht nachgestellt, die Schlacht von Pisoderi. Das hat wenig mit dem zu tun, was man sich unter einer Schlacht vorstellt, mit geordneten Schlachtreihen auf einem offenen, flachen Feld. Hier findet die Schlacht in einer felsigen, hügeligen Landschaft statt, mit reichlich Baum und Strauch, hinter denen sich die Kämpfer verstecken konnten. Die meisten sind Einzelkämpfer, einige befinden sich im Nahkampf, die anderen schießen vermutlich eher ziellos in der Gegend herum. Man kann sich kaum vorstellen, dass man erkennen konnte, wer Freund und Feind war, zumal die Bulgaren und Griechen sowohl die Türken als auch sich gegenseitig bekämpften!
Dazu kommt noch, dass die Rebellen eine ganz gemischte Truppe waren, von Wanderhirten über Fischer bis zu Studenten, und noch nicht einmal die gleiche Sprache sprachen. Einige sprachen Vlach, andere sprachen slawische Sprachen.
Die Uniformen sehen aus, als wolle man damit auf ein Volksfest gehen, mit langen Strümpfen, der Foustanelle, einem Rock, der wie ein Kilt aussieht, den Tsorakia, an den Zehen nach hinten umgebogenen Holzschuhen und einer lustigen Kappe.
Das alles ist sehr schön ausgeführt, aber es wird nicht klar, wie es am Ende zur „Befreiung“ kam. Ein Auslöser war die Jungtürkenbewegung, die eine moderne, europäische Türkei forderte und den Sultan weiter schwächte. Jedenfalls kam es am Ende zur Kapitulation, und Thessaloniki wurde eingenommen, ohne dass ein Schuss fiel. Vor der Unterzeichnung der Kapitulation kam es wohl noch zu einem viele Stunden anhaltenden Drama. Der griechische König, Konstantin, wollte die bedingungslose Kapitulation, der türkische Statthalter, Hassan, wollte sie nicht unterzeichnen, obwohl er wusste, dass er chancenlos war. Die Griechen pokerten, hatten aber schlechte und widersprüchliche Informationen über die Lage. Serben und Bulgaren waren im Anmarsch. Am Ende willigte Hassan aber ein. Die Kapitulation wurde einen Tag zurückdatiert. Die Verzögerung, heißt es, war nur den Osmanen anzulasten.
Die Darstellung in dem Museum ist alles andere als objektiv, aber vertretbar. Es gibt aber zwei Dinge, die den Widerspruch herausfordern: Am Ende gibt es eine Dokumentation darüber, wie sich Makedonien seit der Befreiung entwickelt hat. Die Menschen sind glücklich und leben im Wohlstand. Kein Vergleich zu vorher. Selbst wenn: Warum sollte das eine Folge der Befreiung sein?
Die zweite Sache betrifft einen Torpedoangriff auf ein türkisches Schiff im Hafen von Thessaloniki. Der Angriff war erfolgreich und eine bedeutete eine Wende in dem Kampf. Er hatte vor allem symbolische Bedeutung und demoralisierte den Gegner. Hier werden die Geschick und die Effektivität hervorgehoben. Wenn es anders herum gewesen wäre, wäre vermutlich von Hinterhalt und Grausamkeit die Rede. Die gesamte Mannschaft war an Bord.
Auf dem Rückweg gehe ich über den Wochenmarkt. Beim Obsthändler zeige ich auf die Apfelsinen und sage: „Fünf“. Er fragt zurück: „Kilo?“. Ich antworte: „Stück“. Da ist er doch etwas enttäuscht. Nicht das Geschäft seines Lebens. Die fünf Apfelsinen kosten 60 Cent!
Der Gemüsehändler ist eher peinlich berührt, als ich etwas länger auf das Wechselgeld sehe. Er hat mir zu viel gegeben und nimmt den Rest dankbar, aber mit gemischten Gefühlen entgegen. Würde mir auch so gehen.
Bei einem anderen Gemüsehändler habe ich kein Kleingeld und sage, es tue mir leid. Er sieht auf den Zwanziger und sagt: „Ich freue mich.“ Als er mir das Wechselgeld gibt, fragt er, ob ich Lehrer sei. Ich sage ja und frage, wie er darauf komme. Merkt man Satzbau, sagt er.
Wo kauft man Nivea, wenn es keine Drogerien gibt? In der Apotheke? Nein, haben wir nicht. Im Supermarkt. Da finde ich sie dann tatsächlich.
Gestern eine junge Frau in ganz kurzen, ganz engen Shorts und mit tiefem Dekolletee auf der Egnatia gesehen, die sich plötzlich wie wild zu bekreuzigen begann. In die Häuserzeile war irgendwo eine Kirche eingelassen, die man im Vorübergehen kaum sieht. Heute vor mir ein etwas nachlässig gekleideter Mann, der, als wir bei Agios Demetrios um die Ecke biegen, mehrmals die Außenwand der Kirche berührt.
Sofia hat zum Mittagessen geladen. Es ist auch eine Freundin vor ihr dabei, die „Gärtnerin“. Sie macht Sofias Garten, einfach nur so, weil es ihr Freude macht. Es sei anstrengend, aber sehr erfüllend, sagt sie.
Es gibt Spinat mit Reis, Sofias Lieblingsgericht seit ihrer Kindheit. Sie könne es zu jeder Tageszeit essen, auch zum Frühstück. Dazu gibt es Salat und Brot und Bier. Es gibt noch ein zweites Gericht, dicke Bohnen, aber die nehme ich für morgen mit.
Fast nebenbei erwähnt Sofia, dass sie auch Thailand kennt. Da war sie auch mal drei Monate, wohl nicht als Touristin, sondern in irgendeiner Hilfsfunktion, zu der Zeit, als es in Kambodscha Krieg gab. Es gibt aber keine Gelegenheit, genauer nachzufragen. Die beiden beantworten ein paar Fragen zu Sprache, und ansonsten geht es um Thessaloniki und um die „Mädchen“.
19. Juni (Freitag)
Am Volkskundemuseum stehen draußen die Öffnungszeiten. Jeden Tag: 9.30 – 15.30. Darunter steht: Donnerstags geschlossen. Und darunter: Mittwochs 9.30. – 21.30. Jedenfalls habe ich Glück gehabt, dass heute nicht Donnerstag ist.
Trachten, Trachten, Trachten, so viele, dass man die Übersicht verliert. Verschiedene Zeiten, verschiedene Orte, verschiedene Berufe. Unterschiedlich, aber doch auch mit großem gemeinsamen Nenner. Alle sehen sehr schön aus – und sehr unbequem. Verschiedene Schichten übereinander. Vor allem die Trachten der Frauen sind aufwändig gemacht, mit vielen Stickereien und viel Schmuck. Der Schmuck ist eher Teil der Tracht als eigenständiges Accessoire. Keine Ohrringe oder Armreifen, sondern Brustplatten und Schnallen.
Die Trachten der Frauen sind meist dreiviertellang. Fast alle haben eine Art Schürze und eine Art Weste, und alle haben eine Kopfbedeckung. Manchmal einfach ein Kopftuch, das altmodisch herunterhängen oder elegant umgebunden sein kann. Bei einer Tracht sieht sie fast wie ein Turban aus, und diese Tracht erinnert an den japanischen Kimono.
Man sieht auf einer Abbildung gut, wie sich diese „modernen“ Trachten von denen der Antike unterscheiden. Damals wurde nicht geschnitten und genäht. Das ist jetzt anders. Dadurch wird jeder Meter Stoff für die Tracht nutzbar gemacht. Das hat etwas mit der Einführung eines anderen, eines waagerechten Webstuhls zu tun, der aus dem Osten hierher kam.
Mäntel gab es nur in seltenen Fällen. Kleider kamen erst später. Das ist dann die „europäische“ Mode. Die Kleider gehen bis zum Boden und werden ohne Kopfbedeckung getragen.
Auf einem französischen Stich sieht man die Kleidung, die in der frühen Neuzeit in Makedonien getragen wurde, und zwar die der Ehefrau, der Braut und der Jungfrau. Die Jungfrau ist noch am freizügigsten gekleidet, mit offenem Hals, aber bei allen ist fast der ganze Körper verdeckt und alle haben eine verwickelte Kopfbedeckung. An der kann man vielleicht am ehesten erkennen, welchem Stand die jeweilige Frau zugehörte. Insgesamt sieht das alles ziemlich ähnlich aus. Der Gedanke an moderne muslimische Gewänder ist naheliegend.
Makedonien war berühmt für seine Silberschmiede, und tatsächlich ist der meiste Schmuck aus Silber, gegossen oder gestanzt. Die Silberschmiede benutzten auch minderwertiges Silber und versetzten es mit Arsen, damit es glänzte. Die Abgaben der Silberschmiede gehörten zu den höchsten, die an der Hohen Pforte kassiert wurden.
Die Tracht der Wanderhirten scheint das Vorbild für die traditionelle Uniform zu sein, die die griechischen Soldaten tragen, die vor dem Parlament Wache halten, mit Röckchen und den pantoffelartigen Schuhen. Die Wanderhirten bewegten sich im Osmanischen Reich sehr frei. Die beiden wichtigen Einschnitte im Jahr, der Aufstieg und der Abstieg von den hohen Bergen, wurde später durch kirchliche Feiertage markiert: Georg (23. April) und Demetrios (26. Oktober).
Wolle war elastisch und isolierte und war damit der beliebteste Stoff. Seide war der wertvollste, weil die Herstellung so schwierig war. Der Prozess wird hier detailliert beschrieben. Im Winter ging es darum, die Eier der Seidenraupe kalt zu halten, im Sommer darum, sie zu wärmen. Das geschah an bestimmten Orten oder durch Einwickeln in Tierhäute. Es gab es aber auch noch eine dritte Möglichkeit. Die Frauen versteckten die Eier im Busen!
Auch zum Färben gibt es ein paar Informationen und Werkzeuge und Utensilien. An einer Stelle sieht man nebeneinander einen grünen und einen blauen Rock. Aus demselben Material, Indigo! Man konnte die Farbe durch die Kontrolle der Zeit und der Temperatur beim Erhitzen verändern. Was da für Kenntnisse vorhanden gewesen sein müssen!
Die Tradition, sich zu bestimmten Zeiten des Jahres zu verkleiden, gab es schon immer, wurde aber auch später den Daten im christlichen Kalender angepasst: Weihnachtszeit, Fastenzeit, Ostern usw. Man sieht Masken, furchterregende, die eigens für diese Gelegenheiten produziert wurden. Die Kostüme sehen dagegen ganz normal aus. Das täuscht. Man trug nämlich die Kleidung des jeweils anderen Geschlechts! Das geschah zum Beispiel am Dienstag nach der Hochzeit, wenn sich die Männer der Kleider der Braut bemächtigten und obszöne Geste machten und schmutzige Witze erzählten. Eine weitere Variante war das Auftreten der Herren als Diener und umgekehrt.
Unten geht es um Mühlen, Wassermühlen in erster Linie. Auf einer Karte sieht man die verschiedenen Standorte und Typen. Die werden auf Knopfdruck farblich markiert. Man sieht unter anderem, dass den 31 noch bestehenden Wassermühlen 2050 gegenüberstehen, die nicht mehr laufen. Textil, Holz, Metall, Nahrung, Schießpulver, Felle, es gab fast nichts, was hier nicht produziert wurde.
Korn wurde bis zum 19. Jahrhundert aber auch noch zuhause in mühevoller Kleinarbeit gemahlen. Man sieht mehrere Mühlsteine, der einfachste davon aus zwei aufeinanderliegenden Platten bestehend, deren obere mit einem Holzgriff bewegt wird. Das Korn kommt in eine Auslassung in der Mitte. Man sieht das Photo einer alten, auf dem Boden sitzenden Frau, die auf diese Art das Korn mahlt. Das ist genauso wie vor mindestens 3000 Jahren in Ägypten.
In einem Text aus dem ersten vorchristlichen Jahrhundert, dem Antipater, wird die alte Zeit der Mythen heraufbeschworen. Bleibt liegen, ihr Sklavenmädchen, die Nymphen, von Demeter geschickt, übernehmen das Mahlen. Wie früher. Die Sehnsucht nach Arbeitserleichterung, wie sie noch Jahrhunderte später die Heinzelmännchen motiviert.
Die Getreidemühlen arbeiteten Tag und Nacht und verarbeiteten 1500 kg Mehl pro Tag. Der Bauer brachte das gedroschene Getreide zum Müller, der wog es und notierte alles säuberlich in einem Logbuch. Der Müller kassierte 3-12% des Getreides für seine Arbeit. Nur das Getreide für die Braut für kostenlos gemahlen. Erstaunlicherweise heißt es, die Mühle sei ein wichtiger Treffpunkt von Frauen und Männern gewesen. Deren Leben verlief sonst wohl, soweit sie nicht im gleichen Haus lebten, getrennt voneinander ab. Hier gibt es einen hölzernen Bottich, eine hölzerne Schaufel und ein Logbuch zu sehen, und außerdem eine Waage für Mehlsäcke, die wir sie noch aus unseren Kindheit kennen.
Eine Sägemühle ist komplett nachgebaut. Man erkennt gut die beiden Schienen, die Transportschiene und die Schneideschiene. An der Entwicklung der modernen Sägemühle war Leonardo entscheidend beteiligt, aber schon bei Ausonius ist von einer Mühle im Moseltal die Rede, mit der weicher Stein geschnitten wurde! Die Sägemühlen waren eine wichtiger Schritt in der Entwicklung, denn Holz manuell zu schneiden ist mühsam und kompliziert.
Holz war das wichtigste Material überhaupt in der Entwicklung der primitiven Gesellschaften: Werkzeuge, Hütten, Floße wurden aus Holz gemacht, und Holz als Brennmaterial sorgte für Wärme und dafür, dass man die Nahrung nicht mehr roh essen musste.
Die Holzfäller waren eine ganz eigene Gruppe, Teamarbeiter, die, von Wald zu Wald ziehend, oft wochenlang von ihren Familien getrennt waren. Sie arbeiteten für den Waldbesitzer oder für den Holzhändler, aber sie betrieben auch „Industriespionage“ und fanden heraus, wie so eine Sägemühle funktioniert, ein wertvolles Geheimnis, mit dem man hausieren gehen konnte. Ihre Angst vor wilden Tieren und Schluchten vertrieben sie sich dadurch, dass sie Geschichten von Waldgeistern und anderen Wesen erfanden.
Wieder einmal bin ich anfangs alleine im Museum gewesen, aber diesmal ist später wenigstens noch eine Mutter mit Tochter hinzugekommen.
Im Goethe-Institut nebenan ist die Cafeteria das einzige, was vernünftig funktioniert. In einem notdürftigen Sekretariat bekomme ich die Auskunft: Nein, ein Programm haben wir nicht, steht alles im Internet. Und mit Blick auf den Hauptbau, der renoviert wird: Im Moment gibt es sowieso kein Programm.
Auf dem Rückweg frage ich an der Strandpromenade zwei junge Männer, ob sie ein Photo von mir vor den Sonnenschirmen machen können. Machen sie. Der Photograph hat ein T-Shirt mit dem Aufdruck: Always look at the bright side. Ich frage ihn, ob er das Lied kenne. Er sagt nein. Ich beginne zu pfeifen, es macht klick bei ihm, und wir pfeifen die Strophe zusammen zu Ende.
Ich komme an einem Café vorbei, das mit Girlanden und Luftballons geschmückt ist. Das gesamte Café ist für einen Kindergeburtstag reserviert. Wo ist die Krise? Bei der griechischen Mittelklasse nicht angekommen.
Beim Bäcker nachgefragt, als der die Vorteile seines Brotes anpreist, des Klassikers unter seinen Broten. Er hat αντέχω gesagt. Hatte ich doch richtig verstanden. Aber heißt das nicht ‚ertragen‘? Dann kommt die Gedankenkette, die gleichzeitig die Bedeutungskette ist: ‚ertragen‘ – ‚aushalten‘ – ‚halten‘. Das Brot hält sich!
Am Abend mit dem „Mädchen“ ins Geni Haman, gleich hier oben, dem ehemaligen türkischen Bad, im dem das Aigli untergebracht ist, früher ein Kino, jetzt ein Restaurant. Ich bin auf Anhieb begeistert. Man kommt durch die beiden überkuppelten Räume, in denen Küche und Theke untergebracht sind, in einen großen, beleuchteten, baumbestandenen Innenhof, den man von außen gar nicht erwartet. Der ist ganz unregelmäßig mit Tischen und Bänken bestückt, einige ein bisschen erhöht stehend. An der Kopfseite gibt es noch die große Leinwand aus der Kinozeit, und da laufen Aufnahmen von unberührter Natur, eher Südsee als Makedonien. Nach einer Stunde ist alles bis auf den letzten Platz besetzt.
Es geht zwischendurch hoch her. Die Politik wird so heftig diskutiert, wie ich es hier noch nicht erlebt habe. Kommt es jetzt doch noch zum Knall? Es wird kolportiert, an einigen Bankautomaten gebe es kein Geld mehr. Dazu habe ich gerade heute gelesen, dass das vor ein paar Jahren fast schon einmal so weit war, aber verhindert wurde, indem vom Militär ganze Flugzeugladungen von Geldscheinen eingeflogen worden sind. Alles geheime Kommandosache, da man auf jeden Fall eine Panik verhindern wollte.
Ich kann die Standpunkte der Kombattanten grob einordnen, aber mehr auch nicht. Meine Bemerkung, dass die Griechen angesichts der Krise doch sehr gelassen wirkten, bekommt die passende Antwort: Sollen wir zu Hause sitzen und weinen? Wir sind nicht gelassen, nur nach außen wirkt das vielleicht so. Leuchtet mir ein.
Ana kann mir Antwort auf das Musikinstrumente-Museum geben. Das sei schlichtweg umgezogen, irgendwo in das Universitätsviertel. Es biete aber durchaus nicht die dreitausendjährige Instrumentengeschichte, von der mein Reiseführer spricht. Dafür gebe es ein anderes Museum, in Dioni. Da könne ich hinfahren und das mit dem Besuch des Olymps verbinden. Sofort kommen Stimmen, die sagen, das könne man doch auch gemeinsam machen oder ich könnte an einer organisierten Fahrt eines Wandervereins teilnehmen. Außerdem wird für den folgenden Donnerstag ein Grillabend bei Sofia mit Lesekreis und für Mittwoch ein Treffen mit einer Kollegin von Vaso aus der Germanistik arrangiert. Perfekt!
In dem Zusammenhang stolpere ich zum zweiten Mal über das Wort μαγαζί. Vaso will für Mittwoch einen Laden finden, in dem wir uns treffen können. Ich denke dabei an ein Geschäft und frage mich, in welchem Geschäft ich mich mit der Germanistin treffen soll. Es stellt sich heraus, dass es ein Lokal ist. Damals, als ich beim ersten Mal darüber stolperte, war es eine physiotherapeutische Praxis.
20. Juni (Samstag)
Von dem angekündigten schlechten Wetter am Wochenende ist erst einmal nichts zu sehen: sonnig, warm, blauer Himmel. Nur ganz hinten, im Westen, eine fast witzig aussehende, unpassende dicke Wolkendecke, ganz in Weiß.
Dimitri, darauf angesprochen, dass auch der Samstag bei ihm Arbeitstag ist, antwortet augenzwinkernd: Ja, in Griechenland, ihr in Deutschland habt das nicht nötig. Kommt drauf an, sage ich. Ja, sagt er, mit seinem mitreißenden Lachen, das wunderbar zu seiner Erscheinung mit dem kugelrunden Bauch, der altmodischen Brille und der modernen Baseballmütze passt: Kommt drauf an. Wenn du Hunger hast …
Die beiden PC-Läden, die ich mir im Internet herausgesucht habe, haben beide zugemacht, aber bald finde ich eins, ohne zu suchen. Es gibt inzwischen Sticks mit einer riesigen Speicherkapazität für einen Appel und Ei.
Das grüne Ampelmännchen an einer Fußgängerampel trägt einen langen Rock, es ist ein Ampelfräuchen. Kann das sein? Vielleicht hat hier nur jemand etwas herumgekratzt, aber es sieht täuschend echt aus.
Das Café, wo ich einen Kaffee trinke, bezeichnet sich selbst als „Künstlercafé“. Das ist eigentlich eine Bezeichnung, die man verliehen bekommt. Nach dem Namen muss ich die Kellnerin fragen, den kann ich nicht entziffern: Ο Μέρμηγκάς την έψαξε. Das muss eine Redensart sein. Die wörtliche Bedeutung ist ‚Die Ameise suchte sie‘. Die Form μέρμιγκας ist eine Nebenform, vielleicht eine Art Diminutiv, von μυρμήκι.
Als ich auf dem Weg zum Olympischen Museum bin, tauchen Trainingsplätze und Sportstätten auf. Muss wohl richtig sein. Eine alte Frau, die ich zur Sicherheit nach dem Weg frage, ist allerdings verwirrt. Sie kennt das Museum nicht, und will mich ins Teloglion schicken und dann ins Archäologische oder ins Byzantinische Museum. Ich versuche, ihr zu erklären, dass ich etwas anderes suche, und sie wird immer freundlicher im Laufe des Gesprächs. Am Ende ist sie dann aber doch wieder verwirrt: ein Ausländer, der Griechisch spricht …
Im Olympischen Museum ist richtig was los. Vor allem größere Gruppen von Kindern sind vertreten, die hier nicht nur durch die Ausstellung geführt werden, sondern auch aktiv werden können. Ich sehe eine Gruppe, die mit Fechtanzügen auf Kommando einen Schritt nach vorne macht und das Florett zum Angriff ansetzt.
Seine Freude haben kann man an den alten Sachen des Museums, vor allem den Sportgeräten. Gleich zu Anfang hängen an der Wand mehrere Paare Skier, die ersten von 1930, lang und breit und aus Holz. Bis 1945 sind sie dann schon kürzer und schmaler geworden, gehören aber noch demselben Grundtyp an, mit altertümlichen Bindungen.
Darunter ein Tennisschläger, auch mit Holzrahmen, in einem Spannrahmen befindlich und mit Saiten, die gebrochen oder verzogen sind.
Daneben ein Ruderboot, ein Achter. Noch nie gesehen. Er ist lang, viel, viel länger als ich ihn mir vorgestellt habe. Es sieht alles sehr unbequem aus, aber doch schon „modern“. Die Sitze sind verschiebbar, ebenso die Stützbänke für die Füße. Ein Ruderer kommt dazu und erklärt mir, die seien flexibel, sie gäben dem Druck nach, anders als beim Kanu, wo die Fußstützte fest ist.
Es geht dann einen verwinkelten Raum mit einer durchgehenden Vitrine entlang. In jedem Abschnitt der Vitrine wird eine Olympiade dargestellt. Alle Spiele der ersten Jahrzehnte, mit einer nennenswerten Ausnahme, fanden in Europa statt. Die Ausnahme ist Sant Louis, schon 1900. Auch die Spiele von Athen von 1906 werden berücksichtigt. Sie fallen in den Listen sonst meistens unter den Tisch. Vielleicht deshalb, weil sie den schönen Vierjahresrhythmus durcheinanderbringen. Oder waren es keine offiziell anerkannten Spiele?
Von jeder Olympiade gibt es Sportgeräte, Sportkleidung, Plakate, Maskottchen. Das ist gut gemacht, die Entwicklung liest sich sozusagen von selbst ab. Bei den Plakaten ist auffällig, dass nach den ersten, die eher wie Veranstaltungsankündigungen aussehen, sich ein gemeinsamer künstlerischer Stil durchsetzt: leicht expressionistisch, Athleten darstellend, mit gespannten Muskeln und Gesichtszügen. Das verbindet man mit den Nazis, aber die Plakate davor und danach sehen ähnlich aus. Richtig modern wird es mit Tokio und Mexiko. Jetzt verschwindet alles Gegenständliche. Später rücken dann wieder die verloren gegangenen Olympischen Ringe in den Vordergrund, in abgewandelter Form. Die schönsten Plakate sind die von Barcelona und Sydney. München fällt aus dem Rahmen, indem es das Olympiagelände in den Vordergrund rückt.
Völlig hoffnungslos ist das Bild bei den Maskottchen. Eins schlimmer als das andere, mit Atlanta und Athen als Tiefpunkte. Ebenso unvorzeigbar eine Schiedsrichterjacke von 1984, in Orange, mit weitem Schnitt und Goldknöpfen an den Ärmeln.
Interessant auch der Vergleich der Fackeln für das Olympische Feuer. Sieht 1984 mit Holzgriff und Goldringen noch sehr altertümlich aus, 1992, mit dreieckigem Griff und ganz in Silbern glänzend, schon ganz modern.
Toll auch die Schwimmanzüge von Moskau, die aussehen, wie die an den Seiten bis zur Hüfte tiefgeschnittenen Trikots, wie man sie beim Ringen trägt. Die von Sydney sehen dagegen wie aus einer anderen Welt aus. Aber auch die Moskauer Schwimmanzüge stehen schon für den Trend: immer mehr Stoff. Nachdem man sich erst immer weniger angezogen hat, zog man sich danach immer mehr an.
Immer wieder gibt es Informationen zu Sportarten, die neu eingeführt wurden, darunter Baseball, Softball und Taekwondo. Auch Tischtennis gibt es erst seit 1988. Hier werden auch Regeln aufgelistet. Man sieht, dass das, was leicht aussieht, kompliziert sein kann: Es gibt zehn Einzelfälle, die zu der Vergabe eines Punktes führen. Dazu gehört, dass man den Ball zweimal berührt.
Beim Fechten wird auf die alte Tradition des Sports verwiesen. Es gab schon am Ende des Mittelalters ein Handbuch fürs Fechten. Das signierte T-Shirt eines erfolgreichen griechischen Fechters ist ausgestellt, direkt neben einem Florett, mit einer merkwürdig unpassenden Zeichnung: Ein Herz, das genau über dem tatsächlichen Herzen sitzt und von einem Florett durchstoßen wird.
Natürlich gibt es viel zu den griechischen Sportlern, aber die meisten kennt man nicht. Die größten Erfolge sind die im eigenen Land, sowohl bei den Spielen von 1896 als auch bei denen von 2004. Von den ersten Spielen gibt es sogar Photos, von Sportlern in langen Hosen und Hemden, die wie die von Sträflingen aussehen, und die sich lässig seitlich auf dem Boden liegend photographieren lassen, mit dem Kopf auf der Hand. Auch Photos von dem vollbesetzten Panathinaikum gibt es.
Von Spiros Louis lernt man immer wieder was Neues. Hier heißt es, dass er nur wegen der uralten Konkurrenz zwischen Marousi, seinem Heimatort, und dem benachbarten Chalandri an den Spielen teilnahm. Außerdem heißt es, er habe die Qualifikationszeit gar nicht geschafft, aber Colonel Papadiamantopoulus, den Ausrichter gekannt. Sehr griechisch. Und auf die Frage des Königs, welches Geschenk er sich für seinen Olympiasieg wünsche, soll er geantwortet haben: Einen Esel, um die Milch auszuliefern.
Auf dem Rückweg in die Innenstadt komme ich an einem Friedhof vorbei. Der ist ähnlich, aber auch ganz anders als der von Kreta. Nicht alle Gräber zeigen in die gleiche Richtung, und es gibt auch mehr Variation, vom einfachen Kreuz bis zum eigenen Mausoleum. Es gibt viel weniger Kitsch als in Kreta, und überall stehen hohe Zypressen. Einige Grabmäler sehen wie Heldengedenkstätten aus, aber nicht viele. Andere ganz profan. Eins hat eine runde hohe Säule mit einer Inschrift und einem Lorbeerkranz, ein hat ein ganz merkwürdiges Relief an den Seiten des Sarkophags: Ein Vorhang geht auf und gibt den Blick auf ein Fenster frei. Sonst nichts, keine Name, keine Zahl, kein Symbol. Auf einem sitzt die Figur eines Mädchens, nachdenklich in die Ferne sehend, mit gekreuzten Beinen, dem Ellbogen auf dem Knie und dem Kopf in der Hand.
21. Juni (Sonntag)
An einem frühen Sonntagnachmittag mit Wolken und Wind hält sich der Reiz von Thessaloniki durchaus in Grenzen. Wichtigster Grund, das Haus zu verlassen: Es soll an den Automaten kein Geld mehr geben. Der Automat ist aber nicht gesperrt, es gibt auch kein Hinweisschild auf die Auszahlungen und auch keine Schlange. Das Geld kommt ohne Probleme. Schlangen hat es zwar in den letzten Tagen gegeben, aber nicht viel mehr als sonst.
Wenn es nach den Schlagzeilen der Zeitungen geht, wird es jetzt endgültig ernst: Αβάσταχτο το κόστός μιας ρήξης – Η Ζωή μας αν γίνει Grexit – Ωρα μηδέν για την Ελλάδα και Τσίπρα – Είναι πολλά τα λεφτά Ευρωπηη – Σώστε την Ελλάδα – Kosten eines Bruchs unerträglich – Unser Leben, wenn der Grexit kommt – Stunde Null für Griechenland und Tsipras – Viel sind die Gelder Europas – Rettet Griechenland.
Die Situation auch Gegenstand des Gesprächs beim Mittagessen bei Sofia. Morgen gibt es eine „Rally“ (keine Demonstration, wie betont wird) der Befürworter des Euros und der EU. In den Zeitungen steht auch, dass ganz unterschiedliche Gruppe dazu aufgerufen hätten, alles zur Rettung zu tun. Ein Wirtschaftswissenschaftler sagt, besser eine schlechte Übereinkunft als keine.
Diesmal ist beim Essen auch der Neffe dabei. Trotz seiner jungen Jahre hat er schon seine eigene Firma, ein IT-Unternehmen. Es ist eine Schweizer Firma, aber er arbeitet von hier aus. Noch. Je häufiger er in die Schweiz fahre, umso besser gefalle es ihm da, sagt er, nachdem er sich anfangs schwer getan habe. Er versteht ganz gut Deutsch, spricht es aber nicht, jedenfalls nicht über ein bisschen Alltagsgeplänkel hinaus.
22. Juni (Montag)
Am Morgen endlich zur Gymnastik. Der Ankündigung zufolge ist sie für jedes Alter und jeden Fitnesszustand geeignet, aber wie immer bei solchen Gelegenheiten sind hier fast nur junge, fitte Leute vertreten, die meisten schlank und durchtrainiert. Nach fünf Minuten bin ich am Ende und sehe ich mich nach einer Möglichkeit um, heimlich zu verschwinden, aber sie machen das so gut, so abwechslungsreich, dass man die Stunde aushält. Wenn ich eine Bewegung nicht hinkriege, kommt umgehend Hilfe.
Alle sind hier ungeheuer freundlich, erzählen von sich, fragen und sind sehr hilfsbereit. Es fing schon am Morgen an, als sagte, ich hätte eine Matte gekauft und eine der älteren Frauen mir sofort den zweiten Teil des Satzes vorwegnimmt: „Und sie zuhause gelassen“. Mit einem verständnisvollen Lächeln dreht sie sich um, verschwindet und kommt mit einer Matte wieder.
Auf dem Rückweg erzählt mir eine Frau, die heute wegen eines Arzttermins nicht mitmachen konnte, ihre Tochter lebe in Bremen. Sie habe an der Uni Bremen studiert und sei jetzt schwanger. Ihre andere Tochter lebt in Oxford und ist mit einem Spanier verheiratet und der Sohn wohnt in London. Und ich, sagte sie mit einer Mischung aus Stolz, Bedauern und Ironie, bin jetzt alleine hier.
Eine junge Frau ist aus der Dominikanischen Republik. Sie spricht mich auf Spanisch an, ich will antworten, und es kommen lauter griechische Wörter heraus. Das gibt es doch nicht! Selbst die einfachsten Fragen wollen nicht richtig heraus. Vor allem die einfachen Wörter sind schwierig: noch, du, sind, wie, vor allem aber aber. Die Frau ist aus Santo Domingo und nennt mir den Stadtteil. Der Name kommt mir bekannt vor, aber sonst kann ich damit nichts mehr anfangen.
Danach kommt die Nahrungsberatung. Das ist hier wohl der treibende Faktor. Irgendwo versteckt sich hier eine Firma, vermutlich eine amerikanische. Wo das kommerzielle Interesse liegt, ist aber nicht zu ersehen. Es geht vermutlich um den Verkauf von Produkten, unter anderem irgendwelcher Mixgetränke, die man am Morgen trinken soll. Ich bekomme eins serviert, mit verschiedenen tropischen Früchten. Das schmeckt gut, aber man bekommt es hier nur mit der genauen physiologischen Begründung, warum man das genau jetzt braucht.
Dann wird man vermessen, und dann kommt die ausführliche Beratung. Die macht Maria, die, die mich dieser Tage auf Deutsch begrüßt hat. Sie macht das mit ungeheurem Engagement und auf sehr freundliche Art und Weise. Aber der Inhalt ist unerträglich. Es ist alles absolut vorhersehbar. Ich warte geradezu auf die drei Liter Flüssigkeit, die man am Tag zu sich nehmen soll, und im übernächsten Satt kommen sie dann. Ich muss lachen, und das verwirrt sie einen Moment lang. Aber dann geht es immer weiter, das ganze leere, sinnenfeindliche, quasireligiöse Gerede, mit „wissenschaftlichen“ Argumenten unterstützt. Selbstverständlich wird gegen Zucker, Fett, rotes Fleisch, Alkohol polemisiert, und selbst das Olivenöl bleibt nicht ganz verschont: nur roh und in kleinen Mengen. Die Folgerungen aus den Messwerten, auch das ist sehr amerikanisch, werden in entsetzlich euphemistischen Sprache vorgebracht. Statt „Sauf nicht so viel, Alter!“ heißt es: „Du bist in Klasse eins. Es wäre wünschenswert, wenn du es in Klasse zwei schaffst. Aber ideal wäre Klasse fünf. Die Reduzierung des Alkoholkonsums könnte dem förderlich sein.“ Ich lass sie reden. Als sie zu Ende ist, kann ich es mir dann aber doch nicht verkneifen, ihr zu sagen, dass bei mir ohnehin Hopfen und Malz (passendes Bild!) verloren ist und sie mit mir ihre Zeit verliert. Sie sagt, in Ordnung, wir wollen niemanden drängen, jeder muss das für sich selbst entscheiden, wir bieten die Beratung nur an. Ich mache mich auf den Weg und frage mich, ob sie nicht doch ein bisschen pikiert ist.
Was ist mit den Griechen los? Sie haben plötzlich die Höflichkeit für sich entdeckt. Innerhalb von zwei Tagen höre ich zweimal Entschuldigung! Einmal von einer Spaziergängerin am Strand, einmal von einem Mopedfahrer, der mich an den Rand des schmalen Bürgersteigs drängt. Der hat dazu allerdings einen guten Grund: Er arbeitet für einen Lieferservice. Ein anderer Motorradfahrer, dem ich freiwillig Platz mache, sagt sogar: Danke, mein Herr!
Am Abend dann zur Demonstration. Von den Mädchen ist nichts zu sehen, Sofia taucht irgendwann auf und verschwindet dann aber wieder inmitten von alten Bekannten, die sie hier zufällig trifft.
Die Sache sieht etwas mickrig aus, obwohl es etwas täuscht, aber der ganz große Coup ist es nicht. In Athen sind zur gleichen Zeit Tausende mit demselben Anliegen und denselben Plakaten auf dem Syntagma-Platz.
Es gibt Sprechchöre, griechische und europäische Fahnen und viele Plakate mit dem Aufdruck Μένουμε Ευρώπη – Bleiben wir Europa. Irgendwann wird dazu aufgefordert, auf die Kreuzung zu gehen und den Verkehr zu blockieren. Nicht alle sind dafür, aber die meisten machen mit. Es ist aber nur ein kurzer Moment. Die Plakate und Lautsprecher sind alle auf die gegenüberliegende Straßenseite gerichtet, aber da sind nur ein Hotel und ein Theater. Regierungsgebäude sind nicht zu sehen.
Das Publikum ist bunt gemischt, was das Alter angeht, aber sonst eher einheitlich. Hier sind nicht die Armen unterwegs. Das ist die griechische Mittelklasse. Viele der gut gekleideten Frauen sehen aus, als hätten sie sich zum Ausgehen zurechtgemacht.
In der Menge spricht mich eine Frau an. Es stellt sich heraus, dass sie gut Deutsch spricht und Trier kennt und seine historischen Bauten. Sie hat hier in Thessaloniki einen Deutschkurs gemacht, mit vollem Erfolg, wie man sieht. Sie fragt mich, ob ich wisse, worum es gehe. Dann kommt ihre Schwester dazu. Wir sprechen über die Armut und wie wenig offenkundig die ist. Ja, sagen sie, hier im Zentrum, man muss in die Vorstädte gehen. Die Schwester spricht von einer Freundin, die sich nicht einmal mehr eine Zahnarztbehandlung leisten könne, obwohl sie Schmerzen hat.
Dann gehe ich zur Kamara und zu Valentino. Hier gibt es, nach Auskunft von Vasoula, die besten Crèpes von Thessaloniki. Sie ist wohl nicht die einzige, die das findet. Hier gilt das Motto Nothing succeeds like success. Man muss Schlange stehen, und viele der Kunden nehmen mehrere Crèpes mit. Der Mann arbeitet mit unglaublicher Schnelligkeit und bestem Überblick an zwei Platten. Er nimmt auch die Bestellungen entgegen, achtet auf die Reihenfolge und kassiert. Seine Frau bereitet im Hintergrund die Teller mit den Zutaten vor. Die meisten bestellen ein ganzes Ensemble von Zutaten, Hähnchen mit Salat und Käse und Pilzen zum Beispiel. Auch bei den süßen begnügt sich keiner mit einer Zutat. Die Crèpe schmeckt wirklich.
Πακέτο ή χέρι; Es hat lange gedauert, bis ich diese Frage verstanden habe, sowohl die wörtliche Bedeutung als auch die intendierte. Die Frage wird unweigerlich gestellt, wenn man in einer Imbissbude was bestellt. Wörtlich heißt es ‚Paket oder Hand?‘ und die Frage entspricht unserem „Hier essen oder mitnehmen?“.
Heute muss einer der längsten Tage des Jahres sein. Nach der Demonstration sieht man die Sonne am Hafen untergehen, einer von den „hellen“ Sonnenuntergängen, und einer, bei dem sich die Szenerie jede Minute ändert, je nachdem, ob die Sonne von den Wolken verdeckt wird und wie tief sie steht. Es ist ungefähr neun Uhr, aber es ist dann noch eine Zeitlang hell, wenn auch nicht so lange wie bei uns.
23. Juni (Dienstag)
Am Morgen begleitet mich Sofia zu einem PC-Laden. Ein junger Mann, der zusammen mit seiner Mutter das Geschäft betreibt, sieht sich den PC geduldig an und spricht voller Elan in gutem Englisch über die verschiedenen Möglichkeiten und Gefahren. Ich bin von seinem professionellen Engagement sehr angetan. Er schickt mich nach Hause mit dem Auftrag, Dateien zu sichern und im Computer aufzuräumen.
Wir gehen aber erst noch in die Stadt runter und trinken einen Kaffee. Unterwegs kommen wir an einer alten, schwarz gekleideten Frau vorbei, die in gebeugter Haltung an einer Häuserecke bettelt. Sofia sagt, sie stehe seit zwanzig Jahren da. Wenn sie sterbe, werde man unter ihrem Kopfkissen ein Vermögen finden. Da melde ich ein paar Zweifel an. Sofia erzählt von einer jungen Frau, die in New York in der Fifth Avenue bettelte, als alte Frau verkleidet, und angeblich jeden Tag fünfhundert Dollar kassierte – steuerfrei. Sie sei dann aufgeflogen, als sie abends mit einem Sportwagen in Designerkleidern in eine Nobeldiskothek fuhr. Kann sein, dass es so etwas gibt. Aber fünfhundert Dollar? Dann müsste man jede Minute einen Dollar bekommen, gut sechs Stunden lang. Und so ein Vergnügen kann es ja auch nicht sein, bei Hitze, Wind und Regen draußen zu stehen. Wenn man dann noch abrechnet, dass Thessaloniki keine Fifth Avenue hat, sieht es für die Bettler hier nicht mehr so gut aus. Sofia sagt, sie folge ihrem Instinkt. Wenn sie ein gutes Gefühl habe, gebe sie was. Aber das hatten die Leute bestimmt auch, die der Frau auf der Fifth Avenue Geld gaben.
Beim Kaffee berichtet Sofia von der bevorstehenden Einigung zwischen griechischer Regierung und Troika. Die griechische Regierung hat so viele Konzessionen gemacht, dass jetzt die absurde Situation entstehen kann, dass die Regierungsparteien dagegen und die Oppositionsparteien dafür stimmen könnten. Sie kritisiert die Regierung, weil sie noch mehr Konzessionen gemacht habe als die alte, aber genau das Gegenteil in Aussicht gestellt habe. Aber abgesehen von den parteipolitischen Streitigkeiten kann man bezweifeln, wie sinnvoll diese Regelungen, zum Teil von der Troika durchgesetzt, überhaupt sind. Die Mehrwertsteuer soll erhöht werden. Führt das nicht dazu, dass weniger konsumiert wird? Dann ist am Ende genauso wenig in der Kasse. Und eine Einigung heißt noch längst nicht, dass die Maßnahmen auch umgesetzt werden, und das hieße auch noch nicht, dass alles gut wird. Eigentlich wird das Problem nur verschoben. Es ging jetzt gerade mal um sieben Milliarden; im ein paar Monaten werden noch viel mehr fällig. Insofern ist nach der Einigung vor der Einigung. Und eine Perspektive für die Zukunft gibt es immer noch nicht.
Am Nachmittag wieder ins PC-Geschäft. Gar nicht so leicht, wir müssen die englischen oder griechischen Entsprechungen der deutschen Termini auf dem PC finden. Der junge Mann spricht sehr, sehr gutes Englisch mit entsetzlichem Akzent. Er hat hier in Griechenland einen Studiengang absolviert, der ganz auf Englisch angeboten wird.
Dann noch ein kurioses Detail, interessant gerade jetzt vor dem Hintergrund der politischen Diskussion. Ich frage ihn, ob er nicht ein paar Seiten für mich ausdrucken könne. Nein, er dürfe dafür keine Quittung ausstellen, sagt er. Ich brauche keine, sage ich. Ja, aber wenn ich keine Quittung ausstellen darf, kann ich auch kein Geld dafür nehmen. Ich erwische mich dabei, wie ich das kleinlich finde. Aber er macht genau das im Kleinen, was alle Welt im Großen von den Griechen verlangt. Er lässt mich aber nicht hängen und führt mich eigenhändig zu einem Schreibwarengeschäft in der Nähe, wo ich meine Kopien bekomme. Alle Achtung.
Die Kopien sind für Donnerstag, für den Lesekreis. Jeder soll ein Gedicht vorstellen. Ich habe ein griechisches Gedicht gefunden und das Gedicht, unter Beachtung der äußeren Form, mit wahllosen lateinischen Buchstaben transkribiert. Kein Wort ergibt einen Sinn. Und doch kann man eine ganze Menge erkennen: Zahl der Strophen, ungleichmäßige Länge der Zeilen, ein großgeschriebenes Wort, und man sieht, dass das Gedicht einen Autor und einen Titel hat.
24. Juni (Mittwoch)
Das neue Wörterbuch hat neun und neunzehn und neunzig und neunzigster und neunzehn, aber nicht neunzehnter. Eine Lücke. Es hat auch Muttersprache und muttersprachlich, nicht aber Muttersprachler. Als ich später bei der Gymnastik nachfrage, stifte ich damit nur Verwirrung. Vielleicht gibt es keinen gängigen Begriff.
Bei der Gymnastik wird mit Verwunderung und Bewunderung registriert, dass ich das Wort Masochismus kenne. Dabei ist das natürlich überhaupt kein schweres Wort, Die Einschätzung zeigt, wie schlecht Muttersprachler bei der Bewertung fremdsprachlicher Leistungen sind. Die Frage Kommst du gerade oder gehst du gerade?, an der ich heute kläglich gescheitert bin, würden sie vermutlich als Kinderspiel betrachten.
Ranya, das ist die, die mir beim letzten Mal so nett geholfen hat, die Bewegungen hinzubekommen, ist ausgebildete Försterin. Und, setzt sie etwas resigniert hinzu, arbeitslos. Dabei hat sie sogar auch noch einen Master in Environmental Studies. Ihr Bruder ist in Liechtenstein, war vorher in Deutschland. Noch eine griechischen Migrantenfamilie.
Die Armenierin, deren Namen ich nicht behalten kann, hat einen Sohn in Stuttgart. Demnächst fährt sie dorthin. Nein, nicht in Ferien, für immer. Wenn ich richtig verstanden habe.
Die Frau aus der Dominkanischen Republik, die sich hier Maria nennen lässt, lebt seit 23 Jahren hier. Ihre dominikanischen Kommunikationsgewohnheiten sind aber noch intakt: Nach zehn Minuten fragt sie mich, ob ich ihre dominikanische Freundin heiraten wolle. Sie selbst ist mit einem Griechen verheiratet und hat zwei Kinder, aber immer noch nicht die griechische Staatsbürgerschaft. Sie redet ständig etwas von Deutschland, aber es dauert, bis ich verstehe: Die Dominikanische Republik hat kein Konsulat in Griechenland – für sie das Konsulat in Hamburg zuständig! Verrückt. Da es mit den Papieren Verzögerungen gegeben hat, kann sie dieses Jahr nicht in die Heimat reisen. Sie bittet mich, den Umschlag an das Konsulat zu adressieren. Alle diese komischen deutschen Wörter.
Langsam komme ich dahinter, woher der kommerzielle Wind weht. Es geht darum, irgendwelche angeblich gesunden Säfte und Substanzen in Dosen zu verkaufen. Um mir erkenntlich zu zeigen, trinke ich wenigstens einen der Säfte.
Auf dem Rückweg ruft mich plötzlich in der Oberstadt jemand von der anderen Straßenseite mit Namen an. Es ist eine der Elenis vom Lesekreis. Ich habe sie seit dem ersten Abend in der Bücherei nicht mehr gesehen. Und sie erinnert sich an meinen Namen. Ihre beiden Kinder hielten sie auf Trapp, sagt sie. Aber morgen würden wir uns sehen, beim Grillen bei Sofia.
Der Aristoteles-Platz hat nicht die Form eines klassischen Platzes. Er ist nicht quadratisch und nicht rund und eigentlich auch nicht rechteckig. Er zieht sich wie eine erweiterte Straße vom Strand bis fast in die Oberstadt hin, verdünnt sich dann und schließt dann mit einem Querbalken ab. Das hat, von oben gesehen, genau die Form einer Flasche. Bei abendlicher Beleuchtung kommt die Form besonders gut zum Vorschein. Genau dieser beleuchtete Aristoteles-Platz taucht in der berühmten Reklameserie von Absolut Vodka auf, die die Städte der Welt zum Inhalt hat. Thessaloniki ist einer der Stars der Serie.
Da gehe ich in die Buchhandlung, um meine Gutschein einzulösen. Ein Verkäufer sagt mir, als ich nach einem Buch frage, hier hätten sie nur Sonderangebote. Also Ramsch. Nachdem ich mühsam doch noch was gefunden habe, sagt mit die Frau an der Kasse, der Gutschein gelte nur für ein Regal neben der Kasse. Darum waren sei so großzügig. Am Ende gehe ich mit ein paar Notizbüchern und einem Buch über die Straßennamen Thessalonikis aus der Buchhandlung.
Am Kiosk der Touristeninformation frage ich nach den Öffnungszeiten des Palasts des Galerius. Ein junger Mann sagt etwas betreten, man habe keine Aufpasser. Ich Deshalb sei da meist geschlossen. Ich solle es mal morgens früh versuchen. Als wenn ich das nicht schon getan hätte. Ich kann es nicht lassen und frage, warum denn dann die Öffnungszeiten nicht überklebt wären. Zwei Griechinnen, die in der Schlange stehen, lachen und sagen, das fragten sie sich auch.
In einer Imbissbude bekomme ich geradezu überschwängliches Lob für mein Griechisch, erst von dem Mädchen hinter der Theke, dann von der etwas abseits sitzenden Eigentümerin. Dabei habe ich gerade einen dicken Klops geleistet, aber Muttersprachler sehen über grammatische Fehler eben eher hinweg als über schlechte Aussprache. Die Eigentümerin sagt augenzwinkernd, sie sei auch eine Deutsche. Sie sieht wirklich so aus. IN Deutschland habe man sie überall für eine Deutsche gehalten. Kann ich mir gut vorstellen. Sie ist mit dem Auto über den Balkan und Österreich nach Deutschland gefahren und dann weiter nach Holland und über Frankreich zurück. Über den Balkan kann ich ihr nur den Namen Sarajewo entlocken, in Deutschland kennt sie München und – das nehme ich vorweg, bevor sie es sagt, Stuttgart.
Das Photographie-Museum am Hafen bereitet weiter seine neue Ausstellung vor, aber es gibt jetzt eine kleine Ersatzausstellung, die die Preisträger der letzten der letzten Jahre zeigt, allerdings in Reproduktionen. Es ist immer eine ganze Photoserie eines einzelnen Photographen, die unter einem bestimmten Motto steht. Am besten ist eine mit dem auf den ersten Blick rätselhaften Thema The Wait. Auf allen Bildern ist nur ein einziger Mensch zu sehen, oft in den Kontext von Arbeit eingebunden, meist von hinten zu sehen. So eine Ärztin, die in einem Krankenhausraum mit vielen Waschbecken mit besonderen Behandlungsgeräten aus dem Fenster schaut. Hier ist alles weiß, die Fenster, der Fußboden, die Waschbecken, die Kleidung der Ärztin. Worauf wartet sie? Sie wartet auf einen besonderen Moment, darauf, dass etwas Besonderes geschieht, auf ein Erlebnis, das sich von der täglichen Arbeitsroutine abhebt. In ähnlichen Situationen sieht man einen Mann, der in der Apsis einer Kirche, die renoviert wird, Steine schleift. Auch hier ist alles weiß. Man kann den Steinstaub förmlich spüren. In einem fast leeren Raum sieht man einen Mann, der an einem Stromkasten herumhantiert. Durch einen Spalt in der Tür sieht man in die große Halle eines hochherrschaftlichen Hauses mit hohen Wänden. Und dann sieht man noch einen Mann, der vor seinem Haus oder vor seinem Geschäft steht. Man sieht ihn nur halb verdeckt. Trotzdem hat man den Eindruck, dass auch er, obwohl er in einem engeren Sinne wartet als die anderen, nicht auf eine bestimmte Person wartet. Er wartet einfach darauf, dass etwas passiert.
Auch schön eine zweite Serie, in der eine Photographin einen Mann begleitet, der schon früh im Leben seine berufliche Bestimmung gefunden hat. Er ist ganz in seinem Beruf aufgegangen. Obwohl er in die Jahre gekommen ist, ist er noch voller Energie. Der berufliche Elan hat noch nicht nachgelassen, aber er muss demnächst einem Jüngeren Platz machen.
Auf dem Rückweg kaufe ich Karten für ein Konzert. Auf den Karten sind die drei Sänger, die dort auftreten, mit Photo abgebildet. Daneben stehen der Preis und die Uhrzeit. Aber das Datum fehlt. Es wird handschriftlich nachgetragen. Sehr griechisch.
Unterwegs sehe ich eine Taverne mit dem Namen Ο παππούς πήδηξε απ‘το παράθυρο, mit einer Zeichnung als erläuterndem Zusatz: Opa ist aus dem Fenster gefallen. Und dann eine mit dem Namen Το βραστό … ψήνεται; Da muss ich nachfragen, was das bedeuten könnte. Wohl sowas wie ‚Der Ofen … Ist er an?‘ .
Am Abend holt Vaso mich ab. Sie will mich einer Kollegin vorstellen, einer Germanistin. Sie selbst muss morgen einen Artikel fertigstellen und eine Konferenz leiten. Sie ist aber trotzdem froh, aus dem Haus zu kommen.
Sie ärgert sich über die überall parkenden Autos, zwischen denen man sich durchzwängen muss. Und wundert sich, dass ich das eher gelassen sehe. Kann aber sein, dass das einfach daran liegt, dass ich in Ferien bin.
Wie kommt es eigentlich, dass der kleine Ort, in dem sie ihre Stelle hat, eine Universität hat? Der hatte ursprünglich eine Art PH. Als die PHs abgeschafft wurden, entschloss man, hier eine Universität entstehen zu lassen. Es gab in der Gegend eine bedeutende slawische Minderheit, und die sollte mit der Universität „zivilisiert“ werden. Bildungspolitik als gesellschaftliches Instrument der Assimilierung. Sie haben jetzt drei Standorte mit drei Fakultäten, sind also keine „Universität“ im vollen Sinne. Ob sie selbst denn eine Stelle in Thessaloniki anstrebe, will ich wissen. Ja, aber es ist jetzt nicht mehr so wichtig. Sie ist Professorin, hat eine unbefristete Stelle und eine inzwischen erwachsene Tochter. Und die Stellen sind, wie man sich vorstellen kann, rar. Sie hätte auch in der Vergangenheit nicht alles unternommen, um hier eine Stelle zu bekommen. Was ist damit gemeint? Kann man auch hier mit dem berühmten Umschlag was machen? Nein. Sie meint, sie habe nicht akademisch gebuckelt.
Das Lokal, in dem wir uns treffen, heißt Oval. Als ich das Schild sehe, geht mir ein Licht auf. Ich hatte o als Artikel verstanden und mich gefragt, was wohl val heißt.
Sie wird schon etwas ungeduldig, als die Kollegin sich etwas verspätet. Sie könne Unpünktlichkeit nicht ertragen. Das sehe ich aber wirklich etwas gelassener. Schließlich haben wir uns zum Wein und nicht zu einer Sitzung. Ich kann sie davon abhalten, die Kollegin anzurufen, und ein paar Minuten später kommt die dann auch.
Sie ist gar nicht an Vasos Universität, sondern hier, an der Aristoteles-Universität. Sie ist Linguistin, Soziolinguistin, eine kleine Berühmtheit auf ihrem Feld, wie ich später von Vaso erfahre. Genau genommen macht sie eher linguistische Soziologie als Soziolinguistik, Sprachpolitik unter anderem. Manchmal merkt man das an einer Randbemerkung, zum Beispiel zu den Russlanddeutschen und deren „Import“ vor ein paar Jahrzehnten.
Sie kennt natürlich auch die Kollegen von der Athener Universität, darunter deren Erasmus-Koordinator, der, der meinen Athener Aufenthalt organisiert hat. Die Welt ist klein.
Und sie kennt Trier! Erst habe ich drei Tage verstanden, aber sie hat drei Jahre gesagt. Sie war drei Jahre in Trier! Zuerst als Austauschstudentin, dann mit einem Stipendium. Sie hätte da hängen bleiben können, bekam aber dann ein griechisches Promotionsstipendium, für Thessaloniki.
Warum Trier? Das war damals eine der allerersten Universitäten, die einen richtigen Abschluss in Deutsch als Fremdsprache anboten. Und sie weiß sogar warum. Als neu gegründete Universität sucht man händeringend Studenten! Also musste man mit besonderen Angeboten Bewerber anlocken. Die Namen der Dozenten der Zeit sagen mir nichts, aber schon damals müssen die Vorbereitungskurse allererste Sahne gewesen sein: Ausflüge, Feten, Kontakte zu deutschen Studenten, Vorbereitung auf den akademischen und außerakademischen Alltag. Sie hat bis heute noch Kontakt mit einem dänischen Mitstudenten von damals und einer anderen Mitstudentin, die in Deutschland hängen geblieben ist und eine Stelle an einer Universität hat.
Warum überhaupt Deutsch, fragt Vaso. Sie selbst ist noch in München geboren, und da war ihr Deutsch in die Wiege gelegt, sozusagen. Bei Angeliki, der Kollegin, ist es anders. Sie wollte nicht in erster Linie Deutsch, sie wollte in erster Linie kein Französisch. Und das Elternhaus war zufällig in der Nähe der Deutschen Schule.
Französisch war damals die Norm. Und das lag ausgerechnet an den Deutschen! Griechenland hätte nämlich nach der Unabhängigkeit nicht nur einen deutschen König bekommen, sondern auch das deutsche Schulsystem, das bayerische genauer gesagt. Und in Bayern lernte man eben nicht Deutsch als Fremdsprache, sondern Französisch! Sie erzählt das alles mit sichtlicher Freude an der Ironie der Geschichte.
Deutsch ist das erst von ihr und ihren Kollegen in den Neunziger Jahren durchgeboxt worden, mit sichtlichem Erfolg: Deutsch ist nach Englisch die zweitwichtigste Fremdsprache und rangiert weit vor Französisch und Spanisch!
Ihre erste Reise nach Deutschland war gleich eine Reise mit dem Auto, als Teenager, mit entfernten Verwandten, die in der Nähe von Bremen wohnten. Ihre Eltern ließen das zu, weil es sich eben um Verwandte handelte. Das sei für sie eine Erfahrung von Freiheit und Abenteuer gewesen, die das ganze Leben geprägt habe. Kann man sich gut vorstellen.
Das Elternhaus war nicht akademisch geprägt, sondern kaufmännisch. Aber moderat mehrsprachig. Ihre Großeltern sprachen noch Türkisch, und ihr Großvater Ladino. Nicht ständig und nicht perfekt, aber immer dann, wenn es für Geschäftszwecke brauchbar war.
Nachdenklich spricht sie über die Nachkriegszeit und die vielen Auswanderungen von Griechen ins Ausland. Sie habe sich oft gefragt, warum sie in der Nachkriegszeit ausgerechnet in das Land des Feindes, nach Deutschland, gegangen seien und ausgerechnet aus den Regionen, die am meisten unter der Besatzung zu leiden hatten (eine Theorie, die Vaso allerdings nicht teilt). Wir stellen gemeinsame Überlegungen an: Es waren junge Männer, die auswanderten, die hatten den Krieg als Kinder erlebt, vielleicht anders als die Erwachsenen. Sie kamen meist aus armen Gegenden, hatten vermutlich wenig Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten, die es gab, und nahmen das erste beste Angebot an. Und gingen dann dahin, wo schon andere Griechen waren. Zum ersten Mal sehe ich aber auch, dass die Auswanderung nicht nur eine Lösung für viele war, sondern für das Land auch ein Aderlass: Die jungen, arbeitswilligen, arbeitsfähigen Männer gingen.
Darüber kommen wir auf den Bevölkerungsaustausch Griechenland – Türkei zu sprechen. Das Kriterium war damals die Religionszugehörigkeit. Das war mit nicht klar. Wenn man orthodoxer Christ war, kam man nach Griechenland, auch wenn man Türkisch sprach! Die Kombination gab es natürlich, so wie es heute Deutsch sprechende Muslime gibt. Wenn man ein paar Generationen weiter denkt, wird es auch Deutsch sprechende Muslime türkischer Abstammung geben, die kein Türkisch mehr können. Das ist dann so, als wenn die wieder in die Türkei geschickt würden.
Zwischendurch bekommt Angeliki einen Anruf. Den nimmt sie mit Ορίστε entgegen. Das ist jetzt die dritte Version, die ich hier gehört habe, nach Ναι und Παρακαλό. Die Version, die in den Lehrbüchern vorkommt, Εμπρός, habe ich noch kein einziges Mal gehört. Das Wort sei erstens vielleicht etwas veraltet, klänge aber vor allem etwas barsch, meinen die beiden.
Am Ende kann ich noch meine Frage nach dem Wort Muttersprachler anbringen. Auch hier erst einmal Zögern und Nachdenken. Aber dann auch eine Antwort: Man muss es etwas umständlich als ‚Sprecher der Muttersprache‘ umschreiben: ομιλητής μητρικής γλώσσας.
Auf dem Rückweg zeigt mir Vaso noch eine kleine Buchhandlung, die sich auf deutsche Bücher spezialisiert hat und ein Open-Air-Kino.
25. Juni (Donnerstag)
Am Vormittag fahre ich mit Sofia einkaufen, für den Grillabend. Wir fahren zu einem Carrefour in einem Vorort, einem riesigen Laden in einer Shopping Mall, in der die meisten anderen Geschäfte längst geschlossen haben. In diesem Viertel, einem ehemaligen Industrieviertel, ist die Krise definitiv angekommen. Die Häuser sind heruntergekommen, und die Betriebe stehen leer. Hier wurde früher vor allem Kleindung hergestellt. Viel davon ging in den Export.
Am Nachmittag hole ich meinen PC ab. Der junge Mann voll in seinem Element und erklärt mir in einer völlig undurchsichtigen Computersprache, was er alles gemacht habe. Am Ende demonstriert er es dann auch noch. Die Mutter hält sich lächelnd im Hintergrund und bringt mir zwischendurch ein Glas Wasser, eine nette Geste.
Am Abend wird dann gegrillt. Obwohl ich beim Einkauf den Eindruck hatte, dass wir knapp kalkuliert hatten, gibt es von allem reichlich, Fladenbrot und Salate neben dem Fleisch und dann ein ganzes Ensemble an süßen Sachen zum Nachtisch, von den Gästen ohne Ankündigung mitgebracht.
Es werden fremde, aber auch eigene Gedichte vorgetragen, unter anderem von einem Dichter, der hier in der Oberstadt lebt oder lebte und ein Auszug aus Kornaros. Auch wenn man nichts versteht, kann man die verschiedenen Rhythmen gut heraushören und daraufhin die Gedichte vergleichen und manchmal sogar zeitlich einordnen.
Das Gespräch wird von Pavlos dominiert, der mit seinen Thesen die Frauen, deren Sprecherin Vaso ist, ziemlich herausfordert. Die Atmosphäre ist aber meist gelassen und heiter, auch als es kurz auf das politische Parkett geht. Eine etwas heikle Phase, als Deutschland in den Blickpunkt gerät, überstehe ich aber, indem ich nicht weiter darauf eingehe, obwohl das wohl erwartet wird. Als es dann, wieder ohne mein Zutun, um Sprachen geht, fordert der viele Wein aber seinen Tribut, und ich lasse den vielen Unsinn nicht einfach stehen. Interessanter sind sowieso die persönlichen Erfahrungen, und davon gibt es reichlich. Es wird auch über Reisepläne gesprochen, und die kleine Eleni, die sehr gesprächig ist, verursacht ein ziemliches Durcheinander in meinen Kopf, als sie von Budapest, Bukarest, Zagreb und Ikaria erzählt. Auf Nachfrage wird es dann aber klar: Nach Ikaria wollten sie eigentlich, aber es war ihnen zu teuer. Die Reisen auf die griechischen Inseln sind für die Griechen oft teurer als die Reisen ins Ausland. Sie fährt jetzt nach Bukarest. In Budapest war sie schon. Nach Zagreb will sie nicht. Warum nicht? Da gebe es so schöne Frauen, da würde sie ihren Mann nicht mitnehmen.
26. Juni (Freitag)
Auf dem Weg in die Stadt treffe ich auf den Computer-Mann und seine Mutter. Er fragt, ob alles klappe und bricht in einen unglaublichen Redeschwall aus, als ich die Probleme mit dem Internet erwähne. Seine Mutter hat Schwierigkeiten, ihn von mir loszueisen.
Bei einem Kaffee am Roten Haus fällt mir die Eingangstür des Hauses auf, und als ich davor stehe und warte, dass die Tür zugemacht wird, um ein Photo zu machen, fragt mich die Frau, die gerade rauskommt, ob ich etwas suche. Ich wollte nur ein Photo machen, sage ich, aber sie versteht, ich wollte ein Photo von mir vor der Tür haben. Auch gut. Sie macht das Photo, und wir kommen ins Gespräch. Dies sei eins der schönsten Häuser Thessalonikis, sagt sie. An den Namen des Architekten könne sie sich nicht erinnern, aber da hilft mein schlaues Buch: Tzenari. Heute seien hier „die Russen“, das Russische Konsulat und andere Organisationen. Ich sollte doch auch einmal in die Ano Poli gehen, in die Oberstadt meint sie. Da gebe es auch einiges zu sehen. Sie selbst wohnt da, in Theofilou. Wir sind praktisch Nachbarn! Ich zeige ihr die Bilder der Oberstadt aus dem Buch, und eins davon ist ihr Nachbarhaus.
Sie fragt nach meinem Griechisch und sagt, ja sie habe einen Freund, einen Deutschen, der spreche so gut Griechisch, der benutze sogar Wörter, die die Griechen selbst nicht benutzten. Das wird offensichtlich als Qualitätsmerkmal angesehen.
Ich gehe wirklich in die Oberstadt und sehe mir die Häuser an. In der Oberstadt wurden nach dem Ende der Türkenherrschaft Tausende von Flüchtlingen in den von den Türken verlassenen Häusern untergebracht. Im Laufe der Jahrzehnte wurden dann viele Häuser abgerissen. Die Oberstadt wirkt also in ihrer Architektur älter als sie ist. Man erkennt die neuen, im historisierenden Stil gebauten Häuser daran, dass sei einfach mehr Stockwerke haben.
Überall in der Oberstadt, bei alten und bei neuen Häusern, sieht man vorkragende Stockwerke, manchmal, um mehr Wohnraum zu schaffen, manchmal nur als architektonisches Spiel. Dann haben die vorkragenden Teile oft die Form eines Dreiecks, bei einem Haus gleich viermal in Folge, jeweils unter dem Fenster des Obergeschosses. Das andere, was auch einem Laien auffällt, sind die Holzgeländer der Balkone. Auch aus Holz sind die Streben, die die Balkone vertikal miteinander verbinden. Sie sehen gar nicht wie Balkone aus, sondern wie ein offener weiterer Raum des Hauses, wie ein Wintergarten ohne Glasscheiben.
Die traditionellen Häuser sehen ganz anders aus. Es gibt zwei Grundtypen. Die einen sind einstöckig und freistehend, und der Zugang erfolgt nicht von der Straße aus, sondern durch eine Tür im Innenhof, die direkt ins Wohnzimmer führt. Nach solchen Exemplaren muss man aber regelrecht suchen.
Die anderen sind zweistöckig, auch freistehend, stehen aber von der Straßenfront zurückgesetzt, hinter einem Gitter. Vor dem Gitter befindet sich oft ein merkwürdiger, eiserner Bügel, ganz niedrig, mit einer Art Zapfen an beiden Enden. Ich habe die Dinger schon ein paarmal gesehen und mich gefragt, was das wohl sein könnte. Jetzt steht vor einem solchen Haus eine kleine italienische Reisegruppe, und der Führer erklärt. Hier konnte man sich, zu den Zeiten, bevor die Straßen asphaltiert wurden, den Schlamm von den Schuhen abstreifen, und gleichzeitig konnte man hier die Tiere festbinden!
Auf der Suche nach einem der Häuser aus dem Reiseführer komme ich wieder an einer Bäckerei vorbei, in der ich schon mal sehr gut bedient worden bin. Ich kaufe ein Brot, kommentiere noch die Pites vom letzten Mal und frage nach der Adresse. Die Bäckersfrau weiß nicht Bescheid, aber fragt einen Kunden, eine weitere Kundin kommt dazu und am Ende erscheint auch noch der Bäcker. Allgemeine Beratung, und dann verlasse ich mit einer eigens angefertigten Skizze den Laden.
Auf dem Weg nach Hause sehe ich eine Frau, die sich dabei quält, ein Brett aus einem Auto zu holen. Ich fasse mit an, und es stellt sich heraus, dass das Brett zwar lang, aber ganz leicht ist. Es ist nicht aus Holz, sondern aus einer Art Pappmaché. Das nächste hole ich alleine raus und frage mich beim Weggehen, warum die Frau sich so schwer damit getan hat.
27. Juni (Samstag)
Auf dem Weg in die Stadt begegne ich schon wieder dem Computer-Mann und seiner Mutter. Scheint Schicksal zu sein. Jedes Mal, wenn ich runter gehe, gehen sie rauf.
In der von Vaso empfohlenen Buchhandlung empfängt mich ein freundlicher, kleiner Mann hinter der Theke in dem dunklen, schmalen Raum. Ich frage nach dem Vorleser in griechischer Übersetzung, er macht einen Anruf und sagt, bis Dienstag könne er das Buch besorgen. Er notiert meine Telefonnummer und will mich anrufen.
Der Mann spricht mit ganz leicht reduzierter Geschwindigkeit, hebt wichtige Wörter durch Betonung hervor (Dienstag), macht kaum merkliche Pausen zwischen den Wörtern, aber ansonsten ganz normal in Satzbau und Lexis. Ich verstehe jede Silbe, jede Sprechabsicht. Foreigner Talk der besseren Art. Da ist kein bisschen Herablassung dabei, nur der Wille zu helfen.
Die Buchhandlung hat unten einen weiteren, größeren Raum. Dort sitzt ein Grieche, der fließend Deutsch spricht. Ich frage nach deutscher Literatur auf Griechisch. Vorrätig hätten sie gar nichts, sagt er. Es gebe längst nicht mehr so viel wie früher. Er könne aber gerne recherchieren, wenn ich mal einen bestimmten Wunsch hätte. Er zeigt mit ein paar zweisprachige Bücher, meist Erzählungen von griechischen Exilanten. Es gibt einen von einem Griechen betriebenen deutschen Verlag mit dem kuriosen Namen Größenwahn, der sich um griechische Literatur in Deutschland kümmere, aber das sei nur noch ein kläglicher Rest von dem, was es früher gegeben habe. Schade, dass so etwas den Bach herunter geht.
Der Weg zu der Kunstgalerie auf der Vasilias Olgas zieht sich in die Länge. Unterwegs sehe ich zum ersten Mal eine richtige Schlange vor einem Geldautomaten. Tsipras hat ein Referendum angekündigt. Was die „Institutionen“ angeboten hätten, sei Erpressung, hat er gesagt. Deshalb will er das Volk befragen. Geht es jetzt richtig los? Am nächsten Geldautomaten stehen ein paar Menschen mit fragenden Gesichtern. Ich frage nach. Die Antwort: No money. Dann kommen weitere Geldautomaten, teils mit Schlange, teils nur mit einem oder zwei Kunden. Bei einigen dauert es, da offenbar eine Geldkarte nach der anderen ausprobiert wird. Auf jeden Fall sind einige Versuche erfolgreich.
Das Museum, das Tausende von Bildern von Künstlern aus Thessaloniki haben soll, ist in einer der alten Villen untergebracht. Das Gittertor ist geöffnet, aber alle Türen sind geschlossen. Wenn man einmal um das Haus herumgeht, hat man den Eindruck, es wäre ein verlassenes Schloss. An den verschiedenen Eingängen hängen Schilder verschiedener lokaler Organisationen, aber über Öffnungszeiten gibt es keine Information, und wo der Eingang zu der Kunstgalerie ist, ist nicht herauszufinden. Unverrichteter Dinge ziehe ich wieder ab. Es wird wohl Zeit, über Ziele außerhalb von Thessaloniki nachzudenken. Das tue ich am Nachmittag. Mit Unterstützung des Computers.
Auf dem Rückweg sehe ich ein großes Banner und eine kleine Demonstration am Weißen Turm: Gegen das Sparen. Gegen die Armut. Wird auf Griechisch skandiert und in verschiedenen Sprachen verkündet.
Am Abend am Fernsehen eine unendlich lange Rede eines Abgeordneten der Opposition im Parlament. Er spricht ohne Stocken, ohne Korrektur, ohne einmal einen zweiten Anlauf zu nehmen. Dabei sieht er nur hin und wieder auf das Manuskript. Ob sich da irgendwo ein Teleprompter verbirgt? Sieht nicht so aus. Und es kann kaum eine von langer Hand vorbereitete Rede sein, denn er muss auf die neuesten Entwicklungen reagieren. Ist das einfach das gute Training in Rhetorik, das zur griechischen Ausbildung gehört?
28. Juni (Sonntag)
Wieder vor einem verschlossenen Museum gestanden, der Teloglion-Stiftung. Aber diesmal liegt es nicht an den Griechen, sondern an mir. Ich bin einfach zu früh.
Auf der Suche nach einer Cafeteria komme ich über den Uni-Campus. Der streckt sich zu beiden Seiten einer langen Trasse aus, die von hier oben bis zum Messegelände führt. Hier ist das moderne Thessaloniki. Die Bauten der Uni sind auch teils ganz modern, in sehr verschiedenen Stilen. Auffällig ein runder Bau aus Glas und Stahl mit unzählig vielen kleinen Fenstern und ein merkwürdiger, unregelmäßiger weißer Kubus ganz ohne Fenster, wie ein riesiger Felsblock. Bekommt das Licht vermutlich durch den Innenhof.
Der Campus ist wie ausgestorben, kein Wunder, aber am Ende gibt es tatsächlich eine Cafeteria, die geöffnet ist. Ein paar Studenten sitzen draußen unter Sonnenschirmen. Sie sehen älter aus als unsere.
Dann geht es zurück ins Teloglion, einem riesigen, modernen Museum mit relativ wenigen Ausstellungsstücken für all den Platz, den es bietet. Die Ausstellung heißt Δώρα της γης, ‘Geschenk der Erde‘, aber der Bezug des Titels zu den Exponaten ist nicht immer klar. Es geht eher um eine Kulturschau als eine Naturschau.
Man wird durch die Ausstellung geleitet durch Wildschweine aus Pappmaché, die auf dem Boden stehen. Wildschweine waren in dieser Gegend in der Antike von höchster Bedeutung, nicht nur in der Ernährung. Sie spielten auch eine Rolle in verschiedenen Kulten, unter anderem in einem mit den Eleusischen Spielen verbundenen, nur Frauen vorbehaltenen Kult, in Thesmophorus. Dort wurden die geopferten Tiere in einen Erdspalt geworfen, zusammen mit aus Teig hergestellten Schlangen und männlichen Genitalien, eine explosive Mischung. Das Ganze wurde nach dreieinhalb Monaten wieder ausgebuddelt – hört sich nicht so an, als würde man dabei sein wollen – und auf Altäre und Felder gestreut, zur Beschwörung der Fruchtbarkeit, sowohl der Erde als auch der Frauen.
Zu den vermutlich ältesten, obwohl leider nicht datierten Exponaten gehört eine Taube aus Lehm. Das war ein Spielzeug. Eine Rassel. Das sieht man der Taube natürlich nicht an.
Dann gibt es zwei interessante, wenn auch künstlerisch nicht wertvolle Statuen der Aphrodite. Es heißt, der Kult der Aphrodite war ein städtischer Kult, der Kult einer Wohlstandsgesellschaft. Das spiegelt sich wohl in den Attributen der Aphrodite wider: Sie hält eine Maske in einer Hand, zu ihren Füßen steht ein Musikinstrument, und in der Hand hält sie eine Schale mit Kugeln, alles vermutlich Gegenstände, die in einer bäuerlichen Umgebung eher nicht auftauchen. Auch sie selbst sieht „städtisch“ aus, mit sorgfältig geflochtenem Haar, Ohrringen, und einem Gewand mit Falten, das elegant auf den Boden fällt. Das hängt allerdings von ihren Schenkeln herunter. Brust und Po sind unbekleidet.
Dann kommt eine ganz merkwürdige Dionysos-Statue. Der Früchtekranz auf dem Kopf passt zwar zu ihm, aber das gesamte Aussehen, die starre Haltung, der ernste blick und der sorgfältig zu einem Dreieck gestutzte Bart passen nicht so recht zu dem Gott der Ekstase, der Raserei, des Wahnsinns.
Ein zentraler Teil der Ausstellung gilt dem Bankett. Das Bankett, sowohl das öffentliche als auch das private, war ein unverzichtbarer Teil der makedonischen Antike, genauso wie die Jagd, die Politik und der Krieg. Einerseits war das Bankett Gelegenheit zur Zurschaustellung von Macht, Reichtum, Wohlergehen, andererseits auch Vorausschau auf das Leben nach dem Tode, einem Leben ohne Ängste und Sorgen. Deshalb gab es auch Grabbankette und Grabbeigaben, die etwas mit dem Bankett zu tun haben. Der durstige Tote sollte auch im Jenseits versorgt werden. Unter den hier ausgestellten Grabbeigaben sind Trinkgefäße, aber auch Karaffen und Amphoren. Die Trinkgefäße sind keine Gläser, sondern sehen aus die Suppenschüsseln oder Untertassen (aus denen ja früher auch getrunken wurde), mit und ohne Henkel. Die Amphoren haben meist einen runden Ausguss und sind einfacher, die Karaffen haben einen Ausguss in Kleeblattform. Es geht von ganz einfachen, unbemalten bis zu glasierten, rotfigurigen Gefäßen mit der Darstellung eines Banketts. Eine Amphore ist als Negerkopf ausgestaltet. Am schönsten finde ich eine bauchige Karaffe, mit ganz einfachem, tonartigem Untergrund, aber mit leicht wechselnden Farbtönen und horizontalen dunklen Ringen und einem Bogen, der, vom Griff ausgehend, die einmal quer durch die Ringe läuft.
Dann kommen konische Gefäße mit spitzem Boden und Ornamenten aus dem Meer, Seesternchen, Delphinen und Tintenfischen. Daneben das Modell eines Schiffs aus der Antike, dreißig Meter lang, mit mehr als zwanzig Doppelrudern, im Rumpf des Schiffes verborgen. Das quadratische Schiffssegel ist bemalt, und über dem Deck hängt ein großer Baldachin als Schutz gegen Sonne und Regen. Ein weiterer Baldachin am Bug des Schiffes über einem Sessel. Dieser Platz ist für den Kapitän oder für einen Ehrengast gedacht. Darin und in der mondsichelförmigen Gestaltung des Schiffes erkennt man kretische Vorbilder.
Es gibt dann eine Vitrine zu Olivenöl. Das spielte seine Hauptrolle nicht in der Ernährung, sondern in der Kosmetik, dem Sport und der Beleuchtung. Gefäße für alle diese Funktionen sind hier ausgestellt, und außerdem ein eiserner Schaber, mit dem die antiken Athleten nach dem Kampf das Öl, den Schweiß und den Sand von ihrem Körper streiften.
Es gibt dann noch Informationstafeln zu anderen Geschenken der Erde, aber ohne Exponate. Am interessantesten der Sesam. Das gibt es erstaunliche Parallelen zur Olive. Auch das Sesamöl war vielseitig verwendbar und spielte eine Rolle bei der Ernährung, in der Kosmetik, in der Medizin und für die Beleuchtung. Außerdem wurden Parfüm und Tinte daraus hergestellt! Die erste Erwähnung überhaupt stammt aus Assyrien, aus der Zeit um 3000 vor Christus. Da ist die Rede davon, dass die Assyrischen Götter Sesamwein tranken! In Griechenland war das Sesam nicht ganz so bedeutend wie im Nahen Osten und im Zweistromland. Hier spielte es vor allem einen Sesamkuchen, und das war in der Regel der Hochzeitskuchen.
Im Obergeschoss gibt es ein paar moderne Verweise auf die Geschenke der Erde, in der Form eines gut gefüllten Kühlschranks und eines gut gefüllten Vorratsspeichers. Daneben gibt es eine Auswahl an Korkenziehern, ein Teil einer riesigen, mehrere Tausend Exemplare umfassenden Sammlung eines Weinguts, eines Weinguts in Gerovassilou, von dem ich gerade gestern gelesen habe und das jetzt definitiv auf der Ausflugsliste steht.
29. Juni (Montag)
Als wir am Vormittag nach der Gymnastik auf den Heimweg machen, sind wir fünf Menschen aus fünf Ländern: Armenien, Dominikanische Republik, Russland, Deutschland, Griechenland. Ich spitze die Ohren, um die Akzente herauszuhören. Die Russin ist bei praktisch jedem Wort als Russin zu erkennen, aber ich kann sie gut verstehen; bei der Armenierin ist der Akzent viel weniger ausgeprägt, aber ich muss bei jedem zweiten Satz nachfragen; bei der Dominikanerin kann ich überhaupt keinen Akzent erkennen, obwohl sie selbst sagt, sie spreche nicht gut Griechisch. Dabei kann sie kommunikativ alles, was ein Muttersprachler kann, jedenfalls in diesen Situationen.
Auf dem Weg überall Schlangen vor den Geldautomaten der geschlossenen Banken. Die bleiben bis zum Referendum am Sonntag zu. Es wäre eine bürokratische Meisterleistung, wenn sie das alles bis zum Sonntag geregelt bekommen. Angeblich steht der Text der Befragung schon fest: Die Verhandlungspartner haben dieses Angebot gemacht. Soll die griechische Regierung zustimmen, Ja oder Nein? Das Angebot soll als Text vorgelegt werden. Nur: Welcher Text? Doch wohl nicht der gesamte, vermutlich nur für Experten verständliche Text oder, besser gesagt, die Texte, aller beteiligter Institutionen? Dann eine Zusammenfassung? Wie soll die neutral sein? Und was ist mit Übersetzungsproblemen? Die Verhandlungssprache ist offensichtlich Englisch. Was aber noch schwerwiegender ist: Gilt das Angebot dann überhaupt noch? Es war das Angebot, das vorgelegt wurde, als es um die Auszahlung der letzten Tranche des Hilfspakets ging. Das ist dann längst hinfällig.
Aus der Sicht von Syriza ist die Volksbefragung ganz nachvollziehbar. Wir haben die vor der Wahl versprochenen Ziele nicht erreicht, also befragen wir das Volk, um eine neue Legitimation zu erhalten. Aber sie wollen ein Nein empfehlen. Was passiert, wenn das Volk auch für Nein stimmt? Dann kann die Regierung an der Macht bleiben. Lehnt das Verhandlungsangebot ab, bekommt kein weiteres Geld, wird zahlungsunfähig. Ist das der Staatsbankrott? Was passiert, wenn das Volk mit Ja stimmt? Kann Tsipras mit der neuen Legitimation dann das Angebot annehmen, obwohl er es selbst ablehnt? Und ein großer Teil seiner Partei? Soll er sich dann Verbündete in den anderen Parteien suchen?
Das Volk wird vor eine unangenehme Wahl gestellt. Bisher wollte es ganz klar den Verbleib im Euro und ganz klar keine weiteren Sparmaßnahmen. Beides kann man verstehen. Jetzt wird es aber heißen: Ihr bekommt den Euro nur gegen weitere Sparmaßnahmen. Wahrscheinlich werden sie trotzdem annehmen. Aber dann? Der Staat hätte immer noch kein Geld. Und müsste Strukturreformen machen, die auch noch die letzten Geldquellen, die Beamtengehälter und die Renten, versiegen lassen würden. Und die Banken hätten auch kein Geld mehr. Die Leute würden, sobald die Banken wieder öffnen, ihre Konten plündern. Es würde nur noch darum gehen, das Geld in Sicherheit zu bringen. Die Banken wären zwar nicht bankrott, aber zahlungsunfähig.
Im Moment bezichtigen sich beide Seiten gegenseitig der Erpressung und der Unehrlichkeit. Sie reden übereinander statt miteinander. Und beide sprechen nicht genug davon, wie das Land auf die Beine kommen soll. Selbst, wenn Griechenland keine Schulden hätte, säße es in der Patsche.
Wäre es wirklich so gut, das Land pleitegehen und aus dem Euro aussteigen zu lassen? Manchmal spürt man in den ausländischen Kommentaren eine klammheimliche Freude: Lass die pleitegehen, endlich sind wir die los. Aber würde das nicht noch mehr kosten? Das geliehene Geld wäre weg, man müsste dem Land unter die Arme greifen.
Die Stimmung ist jedenfalls anders als in den letzten Wochen. Man spürt Verunsicherung, Ratlosigkeit, Angst. Auch in den Zeitungen spürt man das, selbst in den Bildern. Keiner weiß, wie es weiter geht.
30. Juni (Dienstag)
Ausgerechnet jetzt kommt der Regen. Nicht so gut für ein Freilichtkonzert. Das ist heute Abend. Vasoula hat eingewilligt, mitzugehen, obwohl sie Dalaras nicht sonderlich gut leiden kann. Sie findet aber die beiden Sängerinnen, Glikeria und Eleni Vitali, gut.
Einen Vorgeschmack auf den Regen gab es gestern. Sieht richtig schön aus, wie das Wasser hier in der Oberstadt durch die Furchen im Kopfsteinpflaster läuft und weiß schäumt. Gleich vor dem Haus laufen zwei dieser Furchen zusammen. Schön anzusehen, jedenfalls wenn man das unverschämte Glück hat, genau zur richtigen Zeit zurückgekommen zu sein und das aus dem Trockenen beobachten zu können.
Gestern Abend von Sofia abgefangen und auf einen Kaffee auf der Terrasse eingeladen worden. Sie erzählt von einer Theateraufführung und fragt nach meinen Aktivitäten. Vor allem aber schimpft sie über die Regierung, über Syriza, über Tsipras und Varoufakis und über Griechenland. Sie hört sich an, wie der Regierungssprecher eines anderen Landes. Sie lässt kein gutes Haar an allem und allen. Die Griechen seien selbst schuld, sie hätten sich das selbst eingebrockt, jetzt forderten sie auf einmal einen Schuldenerlass und Reparationszahlungen, aber selbst wenn die geleistet würden, gäbe es keine Hoffnung auf Besserung. Meine ganz leichten Einwände lässt sie nicht gelten. Sie ist so aufgebracht, sagt sie selbst, dass sie Tabletten einnimmt gegen die innere Unruhe. Sie sei froh, keine Kinder zu haben und sich um die sorgen zu müssen. Sie alleine käme schon zurecht.
Ich bringe das Gespräch auf meine Ausflugspläne und bekomme ein paar Tipps, darunter auch „Lohnt sich nicht“ und „Frag erst, ob geöffnet ist“. Sie selbst fährt in den nächsten Tagen ans Meer, in das Ferienhaus einer Freundin von Ana. Das befindet sich auf dem dritten Finger von Chalkidiki, da, wo der Berg Athos ist. Dabei spricht sie vom nicht von dem dritten Finger, wie wir im Deutschen, sondern von dem dritten Fuß, το τρίτο πόδι.
Bevor sie ans Meer fährt, will sie aber noch mit nach Loutra Pozar fahren, dem Bad an der mazedonischen Grenze. Das sieht im Reiseführer wirklich verlockend aus. Vielleicht schon am Donnerstag? Einverstanden. Aber wie sieht es mit Benzin aus? Mein Tank ist leer.
Dieses Gespräch in Erinnerung ist heute mein erster Weg zu einer Tankstelle. Wie immer, sind die Tankstellen auf der anderen Straßenseite, durch eine Begrenzung von unserer getrennt. Ich komme aber irgendwie dahin. Ich will volltanken, aber der Tankwart sagt: Nur bis zu zwanzig Euro. Während er tankt, frage ich mit meinem charmantesten Lächeln: Und was passiert, wenn ich jetzt eine Runde drehe und wiederkomme? Mit ernsten Gesicht antwortet er: Δεν είναι σοστό – Das ist nicht in Ordnung. Das respektiere ich und fahre zur nächsten Tankstelle. Bei der ist das Benzin ausgegangen. Dann kommt erst wieder eine am unteren Ende einer Einbahnstraße, wo man nur nach einigen Manövern hinkommt. Aber es klappt, und hier gibt es Benzin ohne Begrenzung.
Also, Vorsicht ist angesagt, aber keine Panik. Auch von den angeblichen Hamsterkäufen ist nichts zu sehen. Die Regale in den Supermärkten sind voll, die Schlangen sind nicht länger als sonst, und die Kunden machen ganz normale Einkäufe.
Auf dem Weg zur Buchhandlung, wo ich den Roman abhole, fällt mir wieder ein, dass der Verkäufer το μικρό σας όνομα gesagt hat, als er die Daten für die Bestellung aufgenommen hat, ‚den kleinen ihren Namen‘, wörtlich übersetzt. So hat er nach meinem Vornamen gefragt.
Unterwegs komme ich gleichzeitig mit einer jungen Frau mit zwei Hunden an eine Fußgängerampel. Es ist rot. Moment mal, hat die gerade Deutsch mit den Hunden gesprochen? Hat sie Sitz gesagt? Ich frage sie, ob sie Deutsch mit den Hunden redet. Ja, sagt sie. Ob sie Deutsch lerne, frage ich. Nein, sagt sie, fast entsetzt über die Frage. Sie kann nur die Ausdrücke. Es sind deutsche Hunde. Und prompt geht sie los und sagt „Komm mit mir!“ Ich verstehe sie, und die Hunde verstehen sie offensichtlich auch. Noch an der gleichen Kreuzung heißt es dann wieder: Sitz! Wieder eine der unzähligen kleinen Begegnungen, die für die ganze Reise so kennzeichnend sind.
Als ich in die Buchhandlung komme, läuft da ein deutscher Radiosender: Verkehrsnachrichten. Nicht gerade etwas, was das Heimweh befördert.
Der kleine Mann mit dem runden Kopf in der Buchhandlung ist wieder die Freundlichkeit in Person. Er begrüßt mich per Handschlag. Und hat das Buch sofort griffbereit. Schon am Morgen hat er mich angerufen, um mir zu sagen, dass das Buch da ist.
Dann frage ich, ob er einen Roman des von Vasoula empfohlenen Autors da habe. Könne er besorgen, sagt er. Sie hat drei Titel notiert, ich will aber nur ein Buch. Welches? Keine Ahnung, am besten das kürzeste. Da sieht er mich fragend an: Was meinen sie mit kurz? Im Deutschen können Bücher kurz oder lang sein, im Griechischen offensichtlich nicht. Sie sind vermutlich groß oder klein. Als ich das Buch dann später abhole, stellt es sich heraus, dass es 666 Seiten hat. Offensichtlich ist das Verständnis von kurz oder lang oder groß und klein relativ.
Dann spricht mich jemand von hinten mit Namen an. Es ist der Besitzer der Buchhandlung. Er stellt sich mit Namen vor und sagt, er wolle mich kurz begrüßen. Ein Deutscher, der griechische Bücher bestellt! Scheint wohl eine merkwürdige Spezies zu sein.
In einer Bäckerei bittet die Verkäuferin mich ganz dringend um Kleingeld. Ich verweigere meine Mitarbeit, solange sie Englisch mit mir spricht. Klappt. Dann zähle ich fünf Euro in ganz kleinen Münzen auf den Ladentisch. Sie sackt sie ein und schließt die Kasse. Moment mal, fehlt da nicht noch was? Dann macht sie die Kasse auf und gibt mir einen Fünfeuroschein.
Da die Acheiropoiiti offensteht, gehe ich auf dem Rückweg kurz rein. Sie gefällt mir besser als beim ersten Mal. Man sieht jetzt, wo man den Vergleich mit so vielen anderen Kirchen hat, deutlich, dass sie zu dem ersten, dem basilikalen Typ der byzantinischen Kirchen von Thessaloniki gehört. Der Raumeindruck hat fast etwas von einer Kathedrale. Erst jetzt sehe ich, dass unter allen Bögen Fresken sind, mit barock aussehenden Motiven. An der Seite sind zwei gleichartige, sehr fein gearbeitete goldene Boxen. Sie dienen der Aufbewahrung der gebrauchten Kerzen. Sind durchbrochen gearbeitet. Der byzantinische Doppeladler wechselt sich mit Trauben und Blättern ab.
Als ich nach Hause komme, ruft mich Sofia von oben. Das Konzert falle aus. Eleni habe ihr Bescheid gesagt. Wegen der Wetters, vermute ich? Sie meint nein, es sei wegen der Krise. Niemandem stehe der Sinn nach Konzert. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, aber allein, dass so eine Vermutung aufkommen kann, spricht für die Stimmung im Land.
Statt Konzert gehen wir ein Bier trinken, in einem schönen Lokal im Obergeschoss eines Hauses am Aristoteles-Platz. Sie haben hier eine kleine Sammlung von alten Telefonen, Uhren, Porzellanfiguren und eine alte Registrierkasse.
Die Stimmung in der Stadt ist fast gespenstisch. Wenige Menschen sind unterwegs, man spricht leise, und das Lokal leert sich nach neun geradezu schlagartig. Heute läuft die Frist für die Zahlung an den IWF aus, und man sitzt zuhause am Fernseher und verfolgt die Ereignisse. Auch Vasoula ist bedrückt. Voller Ungewissheit. Und sie malt in schwärzesten Farben aus, was jetzt alles passieren könne. Was soll man dazu sagen? Es kommen zwischendurch auch andere Themen zur Sprache, aber es geht immer wieder zur Politik zurück.
Bevor wir aufbrechen, empfiehlt sie mir aber noch ein Museum, in dem sie mit dem Kollegium war, und ein Ausflugsziel am Meer. Dahin sollen wir noch alle zusammen fahren, mit den Mädchen. Das will sie organisieren.
Ich bekomme aber noch die vollständige Version des Gedichts von Christianopoulos, dem Dichter aus der Oberstadt, das dieser Tage vorgelesen wurde: Αν δεν μπορείς να κτίσεις, σκάψε. Αν δεν μπορείς να γίνεις, να έισαι. Wenn du nicht bauen kannst, grabe. Wenn du nicht werden kannst, sei.
1. Juli (Mittwoch)
Gymnastik fällt ins Wasser. Später lässt der Regen etwas nach, und man kann laufen. In der Innenstadt wirkt es wieder einigermaßen normal, aber an der Meerespromenade sieht es trostlos aus. Es gibt nur eine Farbe: grau. Die Ausflugsschiffe haben den Dienst eingestellt, und die Hochhäuser der Innenstadt verschwimmen in dem blassen Dunst.
Am Mittag ruft Sofia zum Essen. Sie muss dringend ihren Frust loswerden. Griechenland sei bankrott, sagt sie. Gestern ist die Frist für die Zahlung der Schulden beim IWF abgelaufen. Der IWF hat Griechenland daraufhin für bankrott erklärt. Aber ist man bankrott, nur weil jemand einen für bankrott erklärt? Solche Einwände lässt sie nicht gelten und zieht über das unnütze Politikerpack her. Sie hätten fünf Monate vergeudet und von den nötigen Reformen keine einzige angepackt. Die griechischen Selbständigen arbeiteten wie verrückt und zahlten sich dumm und dämlich an Steuern und Abgaben, und die Beamten schöben eine ruhige Kugel und kassierten ordentliche Gehälter. Sie schimpft über einen Freund (jetzt kein Freund mehr, sondern ein Bekannter), dem sie gestern eine Abfuhr erteilt hat (was man bis auf die Straße hören konnte). Ein Beamter, der sich hat krankschreiben lassen und seit einem Jahr nicht mehr arbeitet, aber sein volles Gehalt kassiert. Gegen Mittag gehe er ins Café, tränke Kaffee bis um fünf und danach Raki. Ein fauler Sack, ein Parasit. Ich frage, was der denn auf die Vorwürfe gesagt habe. Die Antwort ist wunderbar und wäre witzig, wenn es nicht so ernst wäre. Er sagt, er unterstütze die griechische Wirtschaft, indem er sein Geld nicht zuhause horte, sondern unter die Leute bringe: Tavernen, Geschäfte, Märkte.
Sie sagt, wie auch Vasoula gestern, sie habe Angst vor einem Bürgerkrieg. Da hätte ich auch Angst. Die Griechen haben ein modus vivendi gefunden nach dem letzten Bürgerkrieg und der Militärdiktatur, aber die Gräben sind weiterhin da. Wenn es ganz hart kommt, könnte das eine Gefahr sein. Sie sagt heute an der Bushaltestelle habe es Streit gegeben, noch verbal, aber wenn der Bus nicht rechtzeitig gekommen wäre, wäre es zu Handgreiflichkeiten gekommen. Andererseits sind laut streitende und die andere Seite beschimpfende Menschen Teil des griechischen Alltagsbilds.
Trotz allem weigere ich mich, ganz so schwarz zu sehen wie sie, und das sage ich ihr auch. Vor allem soll sie sich nicht hängen lassen und zuhause Trübsal blasen. Sie hat schon überlegt, ihren Urlaub ausfallen zu lassen und will auch morgen nicht mit nach Loutra Pozar fahren. Ich sage ihr, das solle sie sich nochmal überlegen und ich würde auf jeden Fall fahren. Am Abend sagt sie dann, in Ordnung, sie fährt mit. Geht doch.
Am Nachmittag, als der Regen aufgehört hat, auf einem kurzen Spaziergang vor einem Souvenirgeschäft ein Schild gesehen, auf dem Thessaloniki in verschiedenen Sprachen steht: Thessalonika – Thessaloniki – Θεσσαλονίκη einerseits, Salónica – Salonicco – Selanik – Сало́ники – Солун andererseits, und dann Sprachen, bei denen man seine liebe Not und Mühe hat, herauszufinden, um welche Sprachen es sich handelt: 塞萨洛尼基 -סלוניקי – سالونيك – テッサロニキ.
An der Bücherei in der Oberstadt hängt ein Schild mit den Öffnungszeiten: 8.00 – 8.30. Das kann einen auf den ersten Blick verdutzen. Man muss genau hinsehen: 8.00 π.μ. – 8.30 μ.μ. Die Bücherei ist also von 8.00 Uhr morgens bis 8.30 abends geöffnet. In Griechenland benutzt man die Zwölfstundenuhr.
Dann komme ich wieder zu einem Café, das mir dieser Tage schon aufgefallen war, dem Gartencafé. Der Eingang sieht überhaupt nicht nach Garten aus. Man geht durch einen engen Gang an der Aluminiumtheke der Küche vorbei. Und dann befindet man sich plötzlich in einem schönen, baumbestandenen Innenhof. An einem Tisch sitzen Kinder und essen – Mittagessen oder das Abendessen? – an einem Tisch sitzen drei junge Leute und trinken Wein und Bier und an der Theke hocken ein paar Männer.
Schon dieser Tage war mir eine Schiefertafel aufgefallen, auf der handschriftlich irgendetwas über Wein und Raki steht. Als der Kaffee kommt, bitte ich das Mädchen, mir beim Entziffern zu helfen. Das klappt erst im zweiten Anlauf. Sie glaubt, ich wolle die Übersetzung. Aber ich will erst einmal wissen, was da steht: Πίνω ρακί και δεν μεθάω, κρασί και δεν με πιάνει, μόνο το μπρούσκο του σεβνά στην όρεξη με βγάνει – Ich trinke Raki und werde nicht betrunken, Wein und er hat keine Wirkung, nur der herbe Kummer der Liebe bringt mich in Stimmung.
Das Einfache ist immer das Schwerste. Wie jetzt mal wieder erfahren, als es um das Wort seit geht. Im Griechischen muss man, wie im Englischen, unterscheiden zwischen Zeitpunkt und Zeitraum und außerdem zwischen Präposition und Konjunktion. Also gibt es für seit Ostern (από), seit zwei Wochen (εδώ και) und seit ich sie kenne (από τότε που) drei Entsprechungen. Dagegen ist Masochismus ein Kinderspiel.
2. Juli (Donnerstag)
Ausflug nach Loutra Pozar mit Sofia und Vasoula. Gleich am Anfang fahre ich über eine rote Ampel und dann verwechsle ich rechts und links. Danach halten sich die beiden voller Anspannung an ihren Sitzen fest und geben weitere Instruktionen auf Englisch. Sie werden dann aber glücklicherweise abgelenkt, weil die Rede auf das Referendum kommt. Eine halbe Stunde lang fetzen sie sich mit einer Lautstärke und in einem Tonfall, bei dem einem angst und bange werden könnte. Im nächsten Moment, glaubt man, zücken sie die Messer. Trotzdem muss ich lachen. Ich verstehe von den Einzelheiten gar nichts, aber dass sie uneins sind, ist nicht zu überhören. Der jeweils andere ist schlecht informiert, hat keine Ahnung, versteht nichts, ist Opfer der Manipulationen der Medien. Man selbst hat den totalen Durchblick. Es wimmelt nur so von Polemik und von suggestiven Phrasen: Du willst doch wohl nicht sagen, dass… – Danach sind sie wieder die besten Freunde.
In der Zwischenzeit sind wir an Kordelio vorbeigekommen. Das kenne ich aus einem der nostalgischen Lieder, in dem es Seite an Seite mit Smyrna vorkommt. Aber warum liegt das hier? Die Antwort erfahre ich erst am nächsten Tag: Es ist eine Neugründung der Flüchtlinge aus Kleinasien. Die haben der neuen Heimat den Namen der alten Heimat gegeben. Wie überall auf der Welt. Ganz einfach.
Nach genau 42 Kilometern sind wir in Pella, dem Ausgangspunkt des Marathons von Thessaloniki. Bedeutet das, dass die Strecke über die Landstraße geht? Dann gute Nacht! Langweiliger kann es nicht sein, und schön ist die Gegend auch nicht. Zuschauer werden sich hierher keine verirren. Der einzige Lichtblick ist, dass es die meiste Zeit sanft bergab geht.
Irgendwann überholen wir in einer Kolonne einen Lastwagen. Die beiden fangen wild an zu schreien: Durchgezogene Linie, hier darf man nicht überholen! Ich biege mich vor Lachen. Wir sind in Griechenland! Die beiden kommentieren mit einer Mischung aus Entsetzen und Achtung: Der fährt wie ein Grieche. Wir stecken die Ausländer mit all unseren Unarten an.
Sprachlich kommt auch was raus. Sie benutzen abwechselnd das Wort für geradeaus, das ich kenne, und ein anderes, das ich in den letzten Wochen immer wieder gehört, aber nicht richtig identifiziert habe: ευθεία und ίσια. Die werden wohl unterschiedslos gebraucht. Könnte sein, dass ίσια ein bisschen umgangssprachlicher ist.
Nach der Politik kommt das Gespräch auf private Dinge, auf Beziehungen. Sofia erzählt von ihrer Nichte, der Überfliegerin, die sowohl im Labor als auch auf der Opernbühne ein Star ist. Sie habe sich von ihrem Freund getrennt. Oder er sich von ihr. Der sei einfach nicht damit klar gekommen, dass sie alles so gut kann. Kann man verstehen. Sofia sagt, sie ermutige ihre Nichten, sich nicht mit Mittelmaß zufrieden zu geben, jemanden zu suchen, der mit ihnen auf Augenhöhe ist. Deshalb, meint sie selbst trocken, seien sie weiterhin alleine.
Als wir bald am Ziel sein müssten, kommen wir durch ein Dorf, und plötzlich heißt es, halt hier mal an. Wo, hier? Hier, gleich hier, keinen Meter weiter. Ich habe nicht die geringste Ahnung, was vor sich geht. Wir steigen aus und gehen in die Dorfkneipe gegenüber. Weit und breit ist niemand zu sehen. Dann kommt aus der dunklen Kneipe eine Frau, dann ein Kind, dann ein Mann. Freunde von Sofia. Die wird freudig und herzlich begrüßt.
Wir setzen uns und trinken Kaffee. Kaum, dass wir sitzen, geht die politische Diskussion wieder los, mit derselben Schärfe und Lautstärke wie vorhin, nur diesmal ist es Sofia gegen Nikos, den Besitzer der Kneipe, ein gutmütig aussehender Mann mit einem immensen Bauch. Dass die beiden sich nicht einig sind, ist nicht zu übersehen, aber erst später erfahre ich, was es mit seiner politischen Gesinnung auf sich hat: Er kommt von rechts statt, wie Vasoula, von links. Trotzdem hat er Syriza gewählt und wird mit Nein stimmen. Am besten wäre für Griechenland eine Diktatur. Die Leute könnten sich nicht einigen. Jeder Grieche sei wie ein Ministerpräsident. Da wäre es besser, wenn jemand von oben die Sache regele.
Wir beiden anderen sitzend schweigend dabei. Eigentlich würde ich lieber weiterfahren, aber danach sieht es nicht aus, obwohl wir aufbrechen. Aber nicht nach Loutra, sondern auf Nikos Kirschenplantage. Ich sitze im Auto neben ihm, und er wird immer zutraulicher, nachdem er mit vorher immer nur von der Seite beäugt hat. Erst allmählich merkt er, wie wenig ich verstehe, aber da stellt es sich gut drauf ein und findet eine Redeweise, mit der ich zurechtkomme.
In der Kirschenplantage versinken wir mit unseren Sandalen im Sumpf. Der Regen der letzten Tage fordert seinen Tribut. Aber die Kirschen, dunkel und groß, schmecken sagenhaft gut, und man kann sie leicht pflücken. Mit den Kirschbäumen unseres Elternhauses, auf die man klettern musste, um an die Kirschen zu kommen, haben diese Sträucher keine Ähnlichkeit. Sie sehen eher wir Kletterpflanzen aus und haben keine richtigen Stämme. Die Sträucher stehen in langen parallelen Reihen und klettern an Drahtgeflechten hoch. Alles wird mit der Hand gepflückt. Häufig hat man ganze Trauben von Kirschen, und die sehen wirklich fast wie Weintrauben aus. Es ist schon etwas spät, sagt Nikos. Vor einer Woche hätten sie noch besser geschmeckt.
Als wir zurückkommen, ist angerichtet. Auf der anderen Straßenseite, vor einer Wiese, stehen mit weißen Tischtüchern eingedeckte Tische. Aus der Taverne kommt griechische Musik hinüber. Während der ganzen Zeit kommt hier nur ein einziges Auto vorbei. Während Rena, Nikos Frau, auftischt, machen wir uns an einem Brunnen zu schaffen und spritzen den Dreck von den Sandalen ab.
Alle Proteste nutzen nichts. Nach Loutra könnt ihr auch nach dem Essen noch fahren. Es wird eine Flasche Wein mit einem Etikett vom Berg Athos aufgetragen. Ob ich da schon mal gewesen wäre. Nein, ist mir zu lästig mit all den Formularen und Anträgen. Kein Problem, sagt er mir, nächstes Mal sagst du mir Bescheid. Ich kenne da jemanden … Eine sehr griechische Lösung. Auch der Wein kommt daher bzw. die Trauben für den selbstgemachten Wein.
Es ist kein Korkenzieher da. Nikos beauftragt das Mädchen, Anatoli, rüberzugehen und einen zu holen. Die ist nicht begeistert. Ich biete an, einen zu holen, aber als ich aufstehe, raunt er ihr zu: „Lauf!“ Wir laufen beide um die Wette. Sie gewinnt und holt den Korkenzieher. Das Eis ist gebrochen. Von da an spielen wir den halben Tag miteinander und albern herum.
Das Mädchen, Anatoli, kommt ganz auf den Vater hinaus. Ein Menschentyp, den man nur beneiden kann, ganz und gar im Frieden mit sich selbst (so formuliert es Sofia später), mit der Fähigkeit, zu genießen, ganz egal, ob spielend, essend oder redend. Beide lachen gerne und viel, mit strahlenden Augen. Später kommt dann die ältere Schwester, das Gegenbild zu ihr, der Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten, schlank, schmallippig, ernst. Sie steht vor dem Abschluss der Schule, weiß aber noch nicht, was sie mal werden soll. Abstimmen darf sie am Sonntag noch nicht. Sie wird erst im Herbst achtzehn.
Zwischendurch legen Sofia und Nikos wieder los mit der politischen Diskussion, mit nicht nachlassendem Eifer. Wir anderen hören zu. Als es gegen Abend in Loutra, in die fünfte oder sechste Runde geht, fährt Rena, die schon den halben Tag die Augen verdreht, irgendwann dazwischen und sagt: Jetzt hört mal auf.
Zum Nachtisch gibt es eingelegte Früchte, Kirschen und Apfelsinen (mit Schalen). Davon braucht man eigentlich nur eine probieren, aber meine Abwehrbewegungen werden von Nikos souverän ignoriert, und es wird immer mehr auf meinen Teller geschaufelt. Das Zeug schmeckt teuflisch gut.
Als wir dann endlich aufbrechen wollen, möchte Anatoli mitfahren. Sie braucht nicht lange zu betteln. Ihr Vater schlägt ihr keinen Wunsch ab.
Loutra Pozar ist von hier aus nur eine Viertelstunde entfernt. Schon vor der Einfahrt in den Ort kommt man an einer langen Reihe von ehemaligen Privathäusern vorbei, die alle, mit staatlicher Hilfe, zu Hotels umgebaut worden sind.
Die Sache selbst ist dann aber erstaunlich klein. Keine Ahnung, wo alle diese Gäste abbleiben. Schon aus der Entfernung hört man das Wasser rauschen. Man kommt an einen Waldrand und sieht von oben auf den Wasserfall hinunter, einen doppelten, nicht sehr hohen Wasserfall, der auf der einen Seite ganz gerade hinunterfällt und wie eine Gardine aussieht, auf der anderen Seite aber ganz ungleichmäßig, in verschiedenen Strahlenbündeln, über bemooste Felsen hinunterfällt. Es sieht schön aus, aber drin sein ist noch viel besser. Der besondere Clou ist, dass das Wasser auf der einen Seite warm, auf der anderen Seite eiskalt ist. Nur Nikos, Anatoli und ich klettern über die glitschige Mauer auf die kalte Seite. Nur beim ersten Mal fühlt es sich kalt an. Danach spürt man den Wechsel kaum noch. Man kann sich unter den Wasserstrahl stellen und sich massieren lassen oder in dem seichten Wasser davor ein bisschen herumschwimmen. Außerdem hat Anatoli einen Ball mitgebracht, und wir drei arbeiten die ganze Palette der gängigen Spielchen ab. Zwischendurch reitet Anatoli auf dem Rücken ihres Vaters durch das Wasser, was beide mit kindlicher Freude genießen.
Rena ist draußen geblieben und macht Photos. Der beste Blick lässt sich von oben aber nicht einfangen, und das ist vielleicht auch gut so. Der beste Blick eröffnet sich, wenn man unter dem Wasserfall steht und durch das Wasser und die Bäume auf den blauen Himmel sieht.
Als wir rausgehen, zeigt Nikos, Anatoli im Schlepptau, mir noch die Gegend. Wir klettern einen Hang rauf, waten durch einen Bach, an Felsen und Platanen vorbei. Es ist sehr, sehr grün hier, der Wald sieht wie ein Wald in der Heimat aus, auch wenn es nicht die gleichen Bäume sind.
Nikos erklärt die verschiedenen Pfade und wohin sie führen. Beim nächsten Mal, wenn du kommst, gehen wir da rauf, zu einem Gebirgsbach, da kann man schwimmen und Sardellen fangen. Beim nächsten Mal, wenn du kommst, pflücken wir zusammen Nektarinen. Beim nächsten Mal, wenn du kommst, mache ich στραπατζάδα. Du musst unbedingt im Herbst kommen, da machen wir Raki.
Als wir uns anschließend noch in ein Café setzen, direkt am Waldrand, habe ich Gelegenheit, nach der Taverne zu fragen. Die Gäste kommen aus dem Dorf, aber auch aus der Umgebung, aber die Krise macht sich schwer bemerkbar. Früher hätten die Kunden Bier getrunken und richtig gegessen, am Wochenende habe es oft bis ins Morgengrauen gedauert. Heute kämen sie auf einen Raki und ein paar Sardellen vorbei und seien nach zehn wieder verschwunden. Es ist nicht nur das Geld, auch die Stimmung, sagt er.
Am Ende können wir uns mit Mühe und Not der Einladung zum Abendessen erwehren, müssen aber versprechen, bald wiederzukommen. Am Waldrand machen wir noch Halt an ein paar Ständen, wo es Obst und Honig und Cremes zu kaufen gibt. Wir bekommen verschiedene Honigsorten zu probieren. Erst bei dem direkten Vergleich merkt man, wie unterschiedlich die schmecken. Die Verkäuferin beschreibt die Geschmäcker in blumigen Worten.
Auf der Rückfahrt machen wir Halt in Edessa, einem gepflegten Ort, der vom Tourismus lebt. Es gibt auch Ausgrabungen und alte Mühlen, aber die Hauptattraktion ist der Wasserfall, ungefähr dreißig Meter tief, den man über Wege aus immer neuen Perspektiven sehen kann, auch von hinten. Im ganzen Ort gibt es weitere kleinere Wasserfälle, einer anders als der andere, vermutlich künstlich angelegt.
In Edessa übernimmt Sofia das Steuer. Ist mir sehr recht. Sie macht das sehr souverän und steuert natürlich auch mit blinder Sicherheit durch die Straßen der Altstadt. Zum Schluss setzt sie dann Vasoula auf eine sehr griechische Art ab. Statt in die Seitenstraße abzubiegen, hält sie mitten auf der Olympiados. Vor hupenden Autos und schimpfenden Fahrern sammelt Vasoula in aller Ruhe ihre Siebensachen zusammen und kämpft mit der Kofferraumtür. Als die Aktion endlich beendet ist, wollen wir auf etwas abenteuerliche Art links abbiegen. Ich würde hier weiterfahren und wenden. Das kommt Sofia nicht in den Sinn. Die Autos hinter uns warten immer noch, und während sie von denen beschimpft wird, beschimpft sie die Blödmänner vor ihr, links von ihr und rechts von ihr, die nicht in die Gänge kommen oder sie nicht reinlassen.
3. Juli (Freitag)
Was als Yoga angekündigt ist, ist auch nichts anderes als Gymnastik, nur weniger rhythmisch. Erst ganz zum Schluss kommen ein paar Übungen mit Elementen, die man mit Yoga verbindet. Anstrengend ist es allemal. Einige der jungen Frauen geben bei der Sache wirklich eine gute Figur ab, und die Vorturnerin, Maria, die Schwester der Vorturnerin bei der Gymnastik, Stella, macht Bewegungen, die der menschlichen Anatomie total zuwiderlaufen, und das alles mit scheinbarer Leichtigkeit. Einmal müssen wir alle lachen, als sie bei einer ohnehin schon unmöglichen Figur auch noch ein Bein in die Luft hebt – und ernsthaft erwartet, dass wir das nachmachen.
Das geplante Kaffeetrinken, das komischerweise vor den Gesundheitsfanatikern verschwiegen wird, fällt aus irgendwelchen Gründen ins Wasser und wird jetzt auf Montag verschoben. Man schleppt mich aber noch mit in eine Bäckerei, in der es Bioprodukte gibt. Da kaufe ich das gleiche Brot wie alle anderen.
Auf dem Rückweg an Banken vorbeigekommen, die geöffnet sind. Es wird aber eine Eingangskontrolle gemacht. An diejenigen, die reindürfen, werden Nummern vergeben. Vor allen Geldautomaten Schlangen, aber meist nicht mehr als 6-7 Leute in der Schlange.
Am Aristoteles-Platz haben die Neinsager für das Referendum am Sonntag bereits plakatiert, vor allem Syriza, aber nicht nur. Von der anderen Seite sehe ich nur ein einziges Plakat, das etwas verlassen an einem Laternenpfahl hängt. Mir geht der vielleicht etwas abwegigen Gedanke durch den Kopf, ob Nein in diesem Zusammenhang positivere Assoziationen haben könnte als Ja. Der heimliche griechische Nationalfeiertag ist der Tag, an dem Nein gesagt wurde. Οχι hat einen guten Klang.
Danach mit dem Handy zu Nokia. Es droht neues Ungemach. Leider kann ich nicht an den geduldigen Mann kommen, der mir beim letzten Mal geholfen hat. Stattdessen kommt ein junger Mann, dessen Griechisch ich nicht verstehe und dessen Englisch wirklich schlecht ist. Vom Blue Death hat er noch nie gehört. Im Grunde will er mir wohl sagen, dass alles in Ordnung ist, dass meine Daten sicher sind. Dann kommt aber plötzlich der andere Mann nach vorne und sieht sich die Sache in Ruhe an. Wir verändern die Sprache des Handys. Im Griechischen werden zwar auch viele englische Begriffe verwandt, aber Kontakte, Datensicherung, Einstellungen usw. sind griechisch. Er loggt sich dann auch noch in mein Konto ein und überprüft, welche Daten gesichert sind. Sieht ganz gut aus. Am Ende sagt er mir eigentlich dasselbe wie der junge Mann vorher, aber ich bin beruhigter. Er will wieder nichts kassieren, nimmt aber diesmal die freiwillige Bezahlung an.
Nach den vielen Kilometern kommt dann endlich eine Kaffeepause, gleich auf derselben Straße. Es gibt keine Bougatsa mehr. Ich frage, ob es irgendwas Süßes zum Kaffee gebe. Der Kellner sagt irgendwas von Kürbis, und ich wiederhole meine Frage. Ja, sagt er, das sei süß. Er bringt mir einen großen, mit Puderzucker bestreuten und wohl mit Kürbis gefüllten Teigring. Ist wirklich süß und macht für einen halben Tag satt.
Volksabstimmungen haben einen guten Ruf. Zu unrecht. Sie gelten als die reinere, echtere Form von Demokratie. Aber das Volk ist leicht zu beeinflussen, folgt seinen Instinkten statt der rationalen Abwägung. Und die Volksabstimmung kommt ja nicht vom Volk, sondern wird von oben eingeleitet und organisiert. Und wer die Frage stellt, hat die eigentliche Macht. Man kann jede Frage so stellen, dass sie mit ja und so stellen, dass sie mit nein beantwortet wird. Jetzt, bei dieser Abstimmung, ist es noch schlimmer. Das Oberste Gericht entscheidet erst heute, ob die Abstimmung rechtens ist. Der Text ist zwei Tage vor der Abstimmung immer noch nicht bekannt. Wer soll sich jetzt noch ein Bild davon machen, worüber eigentlich abgestimmt wird? Und selbst wenn man es könnte, wie soll man wissen, was die Folgen sind? Man weiß weder, was passiert, wenn Ja gewinnt, noch, was passiert, wenn Nein gewinnt. Wird die Regierung abtreten, neu verhandeln, wird es Neuwahlen geben? Werden die Institutionen Griechenland fallen lassen, wenn es ein Nein gibt, oder werden sie zu Konzessionen bereit sein? Das letzte Plebiszit gab es in Griechenland vor vierzig Jahren. Da ging es um die Abschaffung der Diktatur.
Unsterblicher Satz in der Mail eines chinesischen Studenten, der jetzt mit einem Master-Diplom in der Tasche nach Shanghai zurückkehrt und sich dort auf die Jobsuche macht: „Glücklicherweise kann ich vorläufig als Lehrer arbeiten, bevor ich einen richtigen Job finde.“
4. Juli (Samstag)
Wenn man auf das Denkmal von Alexander an der Meerespromenade in gerader Linie von vorne zukommt, merkt man, dass der Kopf des Pferdes leicht abgewandt ist. Das hat den Vorteil, dass man den Kopf von Pferd und Reiter gleichzeitig sehen kann. Das ist aber nur ein Nebeneffekt. Es geht eher darum, dass Pferde in Bewegung zu zeigen. Alexander sitzt relativ locker drauf, mit weit von dem Pferd abstehenden Unterschenkeln. Nur mit einer Hand hält er die Zügel, mit der anderen hält er ein Schwert. Er kontrolliert das Pferd mit den Oberschenkeln, die fest auf die Flanke des Pferdes drücken. Steigbügel gibt es keine. Die wurden erst viel später erfunden.
Am Vormittag frage ich in einer Schreibwarenabteilung nach Karteikarten. Ich habe gleich welche mitgebracht. Der Verkäufer sieht mich und die Karteikarten fragend an. Nee, so was hätten sie nur als Block, gebunden. Ich bekomme die Karteikarten dann bei Malliaris an der Kamara. Dabei entdecke ich auch wunderbar gestaltete Kladden mit festem Umschlag. Die gibt es hier für fünf Euro. In Deutschland bezahle ich das Dreifache dafür.
Sofia hat vorgeschlagen, sich zum Mittagessen in der Stadt zu treffen. Vaso, von einer Konferenz zurück, wolle auch kommen. In Ordnung. Wie spät? So gegen eins. Ich ruf dich an. Dann wird es sehr griechisch. Es gibt ein halbes Dutzend Anrufe und eine halbes Dutzend neue Entscheidungen, und um halb drei sitzen wir immer noch in einem Lokal an der Meeresfront und warten auf Vaso.
Es wird aber ein sehr unterhaltsames und angenehmes Mittagessen. Nachdem die eine Deutsch und die andere Englisch mit mir sprechen will, einigen wir uns auf Griechisch als Basissprache, mit kleinen Ausflügen in die beiden anderen Sprachen, wenn es zu kompliziert wird. Vaso fragt nach einem Synonym für populär. Ich sage volkstümlich. Aber das lässt sie nicht gelten. Das sei doch was anderes. Da ist was dran. Die beiden sind zwar, wie ich später im Duden sehe, Synonyme, aber nur in einer Bedeutung des Wortes. Und die war hier nicht gemeint. Hier wäre beliebt besser gewesen.
Ich bekomme noch ein paar Tipps für die Ausflüge. Allerdings erfahre ich auch, dass ich falsch geplant habe. Meinen Ausflug morgen kann ich mir abschminken. Alle Sehenswürdigkeiten sind wegen des Referendums geschlossen.
Trotz meines Protestes fahren wir mit dem Taxi zurück. Wir lassen Vaso raus und gehen die letzten paar Meter zu Fuß. Sofia bleibt vor einem Baum stehen und fragt mich, was das für ein Baum sei. Keine Ahnung. Tee! Kann das sein? Der Baum trägt kleine, harte Früchte, aber unser Versuch, die aufzubrechen, gelingt nicht. Sie riechen auch nicht, noch nicht, wie Sofia sagt. Ich kann mir höchstens vorstellen, dass es sich nicht um Tee im eigentlichen Sinne handelt, sondern um Kamille oder so was.
5. Juli (Sonntag)
Während man in Deutschland am Hitzerekord kratzt, ist es hier einfach schön warm. Ganz selten geht es mal knapp über 30°, meistens ist es knapp darunter. Am Morgen kann man sogar noch ganz passabel laufen, zumal unten am Meer immer eine frische Brise weht. Außerdem hat die Stadt an der Promenade Trinkbrunnen aufgestellt, in der Art der von Portland, aber nicht so schön. Die Atmosphäre ist die eines sonnigen Sommersonntags. Von der politischen Spannung ist nichts zu spüren, außer dass in der Stadt wieder überall Schlangen vor den Bankautomaten stehen. Sofia hat gestern statt 60 € nur 50 € bekommen. Die Zwanzigerscheine werden knapp.
Als ich zurückkomme, werden mir aus dem Fenster auf die Straße frisch gebackene, warme Tiropita angereicht. Kann man nicht meckern.
Auch als ich danach in die Stadt hinunter gehe, ist von Referendum nichts zu sehen und zu hören. Die Cafés sind halbwegs gefüllt, aber die Leute scheinen über andere Dinge zu sprechen.
Am Mittag geht es zu Vaso zum Mittagessen. Es gibt Moussaka und verschiedene Salate. Die Wohnung ist modern und ganz stilvoll eingerichtet, wenn auch etwas zu voll. Von dem Balkon aus hat man einen schönen Blick auf die roten Dächer der Nachbarschaft.
Sie zeigt mir eine sehr schöne griechische Sprachgeschichte, wie eine Enzyklopädie aufgemacht, mit vielen Bildern, Skizzen und Tabellen. In ferner Zukunft kann man so eine Sache mal angehen.
Irgendwann kommt die Rede auf die Orthographie, ohne mein Dazutun, und es gibt eine Kontroverse, zu der ich mehr beizutragen hätte, wenn ich die Sprache besser könnte. Und ich will in der Gegenwart von Sofia und Anna nicht zu viel Gebrauch vom Deutschen machen. Meist ist aber von privaten Dingen die Rede, familiäre Probleme. Es stellt sich heraus, dass Vaso jetzt ein paar Tage bei ihrer Familie verbringt und dass Sofia und Ana jetzt doch ans Meer fahren. Ich muss eine gute Woche alleine über die Runden kommen, aber in Thessaloniki geht das zur Not.
Vorsichtiger Versuch einer Beschreibung nationaler Verhaltensweisen. In einer der Kirchen, die ich hier besichtigt habe, war eine deutsche Besuchergruppe. Als ich meine Kamera zücke, ruft mir eine der Teilnehmerinnen mit dem Tonfall einer Oberlehrerin laut aus der Gruppe zu: „Sie dürfen hier nicht photographieren!“ Auf die Alternativen – stille Geste, zu mir kommen und mir das leise sagen oder Klappe halten – kommt sie nicht. Kein Grieche käme auf die Idee, einen anderen zu maßregeln, nur weil der ein Verbot nicht beachtet. Der kann die Einbahnstraße rauffahren, mit dem Motorrad in der Fußgängerzone bis vor das Geschäft fahren, seinen Müll neben die Mülltonne werden. Aber wehe, wenn der das macht und ihm dabei in die Quere kommt! Wehe er parkt irgendwo, wo man nicht parken darf und erschwert ihm damit die Ausfahrt. Dann geht das Gezeter los, und aus dem anderen wird in Sekundenschnelle ein Wichser.
Zitat von Nietzsche, irgendwo gehört: Siegel der erreichten Freiheit ist es, sich nicht mehr vor sich selbst zu schämen.
6. Juli (Montag)
Klare Mehrheit für ein Nein beim Referendum. Es gibt im ganzen Land keinen Wahlbezirk, wo Ja die Mehrheit bekommen hat. Es wurde gefeiert, aber was? Alle Fragen sind offen. Jetzt erst recht. Das Nein ist ein bisschen trotzig und ist vermutlich durch die Einmischungen von außen – Gabriel, Schulz, Dijsselbloem, Junker – eher noch gestärkt worden. Außerdem hat die sehr populistische Propaganda – von Ehre und Würde war viel die Rede – offensichtlich verfangen. Und die Ja-Seite hatte keinen charismatischen Repräsentanten.
Am Nachmittag kommt dann die Nachricht vom Rücktritt von Varoufakis. Völlig überraschend. Er ist wohl nicht ganz freiwillig gegangen. Vielleicht hat Tsipras ihn geopfert, um ein Zeichen des guten Willens zu setzen. Varoufakis hatte sich mit seinen Provokationen nicht viele Freunde gemacht. Es heißt, Tsipras wolle jetzt sogar Vorschläge vorlegen, die mit der Opposition abgestimmt sind und von der mitgetragen werden. Macht er jetzt vielleicht sogar das, was die Opposition gemacht hätte, wenn sie die Abstimmung gewonnen hätte und Tsipras zurückgetreten wäre?
Bei der Gymnastik werden immer wieder die gleichen Befehle gegeben. Das ist ein Paradies für den Fremdsprachenlerner. Die Muttersprachler wiederholen ein Wort so oft, wie sie es unter anderen Umständen nie zu tun bereit wären. Selbst das ständige Zählen tut gut, von unten nach oben und von oben nach unten, auch wenn man die Zahlen „kennt“. Bei der Beschreibung der Bewegungen kommt, wenn wir auf dem Boden liegen, immer wieder die Kobra vor, die auch auf Griechisch so heißt, κόμπρα. Aber auch bei mehrmaliger Wiederholung ist man oft nicht sicher, wie genau das Wort ist. Wenn wir einen Buckel machen sollen, wird ein Wort gebraucht, das sie wie βουνό anhört, das Wort für ‚Berg‘. Aber ist es das auch? Wenn man nach diesen Wörtern fragt, machen die Leute hier das, was Muttersprachler immer machen: Sie geben die Bedeutung des Wortes, meist in der englischen Übersetzung, aber nie die Form. Nie. Selbst auf Nachfrage ist die Form kaum herauszubekommen. Dabei leitet sich die Bedeutung oft viel einfacher ab. Aber: Waren das jetzt drei oder vier Silben, war das ein Omega oder ein Alpha in der Mitte, ein Psi oder ein Xi am Anfang?
Heute wird bei der Gymnastik zum ersten Mal gelaufen, richtig. Da bin ich eher in meinem Element. Ein kleiner Junge, der immer dabei ist und die Übungen eher widerwillig mitmacht, läuft los wie von der Tarantel gestochen. Obwohl er dann immer langsamer wird, kommt er als erster ans Ziel. Er trägt ein T-Shirt mit den Namen von Messi und Ronaldo und einer albernen Karikatur. Ich frage ihn, wer besser sei, und er sagt, wie erwartet: Ronaldo. Der taucht mit seinen Starallüren und seinen Mätzchen eher als Gegenstand der Verehrung.
Es gibt nach der Gymnastik sogar Kuchen. Geburtstag von Stella, der Trainerin. Es wird eine Kerze ausgeblasen und das klassische Kinderlied gesungen, dessen Text mir längst wieder entfallen ist.
Ich habe mich mit Rania verabredet, nach der Gymnastik immer eine Stunde Griechisch zu machen. Es dauert eine ganze Weile, bis sie kapiert, worum es geht. Keine Erklärungen, Beispiele. Keine Theorie, Praxis. Kein Englisch, Griechisch. Ganz allmählich bekommt sie die Sache in den Griff, und am Ende scheint es ihr fast Spaß zu machen.
Auf dem Weg zum Café beschwert sich Hilda, die Frau aus Santo Domingo, über die griechische Sonne. Die sei stärker als die in der Heimat, sie habe Schwierigkeiten, sie auszuhalten. Wer hätte das gedacht? Obwohl sie sie selbst nicht braucht, hat sie einen Tipp für selbsthergestellte Sonnencreme, aus Möhren, Öl und einer anderen Substanz.
Wir sitzen weiterhin in dem Café, wo wir vorher verabredungsgemäß einen Kaffee getrunken haben. Der Kellner hat einen Cousin in München, und sein Vater ist in Essen geboren. Das taugt wiederum zur Verortung von Trier.
Die Frau aus Armenien schenkt mir ein Band, ein Gummiband, in dem eine Farbe in eine andere übergeht, mit einer Aufschrift. Wir wollen natürlich wissen, was da steht. Das Datum, der 15. April 1915, bezieht sich auf das Massaker der Armenier durch die Türken. Der Text bedeutet so etwas wie „Wir tragen Trauer im Herzen.“ Ein nationales Trauma, aber auch ein nationaler Mythos. Man definiert sich durch ein Unrecht, das einem von einem anderen Volk angetan wurde. Die Buchstaben sind tatsächlich weder Kyrillisch noch Lateinisch, sondern eine ganz eigene Sache. Katerina findet, dass sie den kyrillischen Buchstaben ähnlich sehen, aber da muss man sich schon anstrengen, die Parallelen zu finden.
Diesmal ist auch eine etwas ältere Frau dabei, Elena, die mich schon mal kurz auf Deutsch begrüßt hat. Sie stammt aus Thessaloniki, hat aber lange in Athen gelebt. Athen gefällt ihr sehr. Ich hatte eher mit Vorbehalten gerechnet. Sie hat eine Affinität zu Deutschland. Das mag sie. Wegen der Ordnung. Ihr Mann hat lange in Frankfurt gelebt oder stammt daher. Eine Tochter studiert in München. Die andere studiert in England, weil es ihr Studienfach – Klimatologie, wenn ich richtig verstanden habe – in Deutschland nicht gibt. Sie hat ihrer Tochter aber empfohlen, in England fleißig Deutsch zu lernen, damit sie später nach Deutschland gehen kann. Am gleichen Morgen habe ich im Internet wüste Beschimpfungen von Deutschland gesehen, sowohl von Seiten des Volks, als auch von Seiten der Eliten. In der Zeitung sagt ein deutscher Journalist, er versuche seit zwanzig Jahren, das Verhältnis der Griechen zu Deutschland zu erkunden, vergeblich. Kein Wunder, dass es mir nach ein paar Monaten nicht anders geht.
Elena hat ein Ferienhaus am Strand, in Chalkidiki. Sie lädt uns alle dahin ein. Das ist nicht nur so daher gesagt. Sie macht gleich Nägel mit Köppe. Nächsten Dienstag. Und wir sollen am Abend dableiben. Ich stimme dem enthusiastisch zu, die anderen eher zögernd. Sie will sogar schon wissen, was wir zum Frühstück wollen. Ich plädiere für Bougatsa, zum allgemeinen Entsetzen: Ungesund. Ja, aber leeeecker!
Als ich mich durch die Hitze nach Hause geschleppt habe und gerade auf dem Weg zum Bäcker bin, ruft mich Dimitrios zu sich hinein und bietet mir ein Schnäpschen an. Da sag ich nicht nein. Der Schnaps wird mit Eiswürfel serviert. Ich habe mit Raki gerechnet, es schmeckt aber nach Ouzo. Er hat ganz τσίπουρο gesagt, und das ist das griechische Wort für Raki. Entweder hat das Wort eine weitere Bedeutung oder es ist eine Variante des Raki.
Wie immer, breitet er lautstark und lachend, wort- und gestenreich seine Lebensphilosophie aus, in der Steckdose und Stecker als Bild für Frau und Mann einen festen Platz haben. Dann fragt er nach Sofia und nach meinen Ausflügen. Und dann will er noch wissen, wohin ich gerade will. Bäcker. Da kann ich dir einen empfehlen, an der Ecke des Agias Sofias und Kassandrou. Da soll ich Αγιορείτικο
kaufen. Er schreibt den Namen sogar auf, weil er mir nicht traut, ihn bis zur Bäckerei behalten zu können. Womit er Recht hat. Das Brot ist dann ausverkauft, aber macht nichts. Die Freude an der Geste und am Schnaps überwiegen.
Um sechs Uhr Anruf von Eleni. Ob wir uns heute Nachmittag treffen könnten. Heute Nachmittag? Ja, so um sieben. Der griechische Begriff von Nachmittag ist offensichtlich ziemlich dehnbar.
Es geht um ihre Tochter, Joana. Die überlegt in Deutschland zu studieren, Medizin, möglichst in Essen. Da ist eine Freundin von ihr gelandet. Wir setzen uns in ein Café oben bei Agios Pavlos, auf eine Terrasse, von der aus man die ganze Stadt überblicken kann. Es werden alle Themen durchgekämmt, von Sprache über Unterkunft, Bewerbung, Preisen, Freizeit, Berufsaussichten, Jobs während des Studiums bis zu Flügen nach Deutschland. Die Mutter tut sich mit der Vorstellung schwer, aber der Vater, wie ich höre, noch mehr. Schwer, einen Tipp zu geben. Ich mache auf ganz vorsichtige Befürwortung. Vor allem will ich erst mal Informationen einholen, und dann wollen sie vielleicht mal nach Deutschland kommen, um die Lage zu sichten. Gute Idee. Sofia zufolge gibt es billige Flüge nach Weeze.
7. Juli (Dienstag)
Als ich losfahre, ist es noch ruhig auf den Straßen von Thessaloniki. Bei der Ausfahrt aus der Stadt dasselbe Problem wie bei der Fahrt nach Chalkidiki, an einer schlecht ausgeschilderten Kreuzung. Dann aber an einer Tankstelle Hilfe bekommen. Und Benzin.
Unterwegs an drei Unterhaltungen von gestern gedacht. Der Dominikanerin von Hilde Domin erzählt, mit der sie den Vornamen teilt und deren Nachnamen sich auf ihr Land bezieht. Dauert, bis sie verstand, worum es ging.
Als das Wort optimistisch beim Unterricht vorkam, Rania gefragt, ob sie optimistisch sei. Nein, antwortete sie. Und nimmt meine Bemerkung vorweg: „Ich weiß, man merkt es mir nicht an.“
Beim Treffen mit Eleni an der falschen Straßenecke gewartet. Bei der Gelegenheit nach dem grammatischen Geschlecht von γονία gefragt, dem Wort für ‚Ecke‘. Mit der ganzen Naivität des Muttersprachlers sagt sie: „Femininum natürlich. Endet auf – a.“ Jaha. Wenn’s so einfach wäre! Erinnert mich an den Beitrag einer Studentin, die im Seminar ernsthaft behauptete, der Plural der deutschen Substantive ende auf – s: zwei Türs, drei Buchs, vier Lehrers.
Im Radio wird mit Zuhörern die politische Lage diskutiert. Ein Zuhörer sagt, er habe persönlich kein Problem mit der Drachme. Ziemlich naiv. Die Vorstellung ist wohl, dass demnächst die Geldscheine und Münzen ein bisschen wie früher aussehen und sich sonst nicht viel ändert.
Dann gibt es Bella Ciao in einer Version, bei der eine Strophe auf Italienisch, eine auf Spanisch und eine auf Griechisch gesungen wird.
Auf den Hinweisschildern sieht man, dass Petralona auf der drittletzten und Vergina auf der zweitletzten Silbe betont wird. Habe es genau umgekehrt gemacht.
Im Internet klagt jemand darüber, dass er in Petralona am Nachmittag vor der verschlossenen Höhle gestanden habe. Jetzt kein Problem mehr, die Öffnungszeiten sind großzügig: von acht bis acht.
Um diese frühe Zeit ist aber noch kein Besucher da. Man steigt den letzten Kilometer zu Fuß den Berg rauf. Autos können hier nicht rein. Damit man dem Touristenzug das Geschäft nicht kaputt macht.
Nach zehn Minuten kommt ein Mann mit Taschenlampe und begleitet mich. Er sagt, er sei kein Touristenführer, nur ein Aufpasser, gibt aber trotzdem ein paar Erklärungen, und das macht er gar nicht schlecht. Im Laufe des Rundgangs taut er immer mehr auf und wird immer gesprächiger. Am Ende holt er sein Handy hervor und will ganz genau wissen, wo Trier liegt.
Man geht durch einen künstlichen Tunnel in die Höhle hinunter. Der ursprüngliche Zugang, an dem wir bald vorbeikommen, ist verschlossen, und zwar dadurch, dass im Laufe der Jahrhunderte immer mehr Geröll und Sediment in die Höhle geblasen wurde. Durch diese Öffnung sind Tausende von Jahren Tiere und Menschen in die Höhle gelangt.
Wir kommen an einer Stelle vorbei, an der man durch ein Loch im Boden in den „Keller“ sehen kann. Dort befindet sich eine zweite Höhle, unter dieser, genauso groß. Und noch darunter befindet sich ein See. Ursprünglich, vor der Formation des Bergs, des Katsika, war dies alles Teil des Meeres.
Die Höhle wurde von Raubtieren und von Menschen bewohnt, aber nicht gleichzeitig. Die Raubtiere kamen erst, als der Mensch die Höhle verlassen hatte.
Schon an beiden Seiten des Gangs sieht man Stalagmiten und Stalaktiten, und dann kommt man in eine große Halle, wo die sich ungehindert haben ausbilden können. Einige sehen wie eine Gardine aus, andere wie ein Pfahl, wieder andere wie eine Wand. Am schönsten, wie immer, die Stelle, wo Stalagmit und Stalaktit aufeinander zu wachsen und schon in Reichweite sind. Dauert nur noch ein paar Tausend Jahre, bis sie sich treffen.
Es ist kaum feucht in der Höhle. Irgendwo liegt eine Lache Wasser, und irgendwann fällt mir ein einzelner Tropfen auf den Kopf, aber das ist auch alles.
Der Führer lässt mich immer wieder kleinere Wege alleine gehen und erwartet mich am anderen Ende. Dadurch kann man das Photographierverbot umgehen. Er schickt mich dann auch alleine zu der, etwas abgelegenen Stelle, an der der berühmte Schädel gefunden wurde, 1960, im ersten Jahr nach der Entdeckung der Höhle. Auch die meisten anderen Fundstücke stammen von der Stelle.
Als der Führer mich wieder in Empfang nimmt, stellt es eine interessante Frage und beantwortet sie auch gleich: Woher wissen wir, dass der menschliche Schädel nicht der eines Menschen ist, der Opfer der Raubtiere wurde, sondern der eines Menschen, der hier gelebt hat? Durch die anderen Fundstücke! In der Nähe des Schädels wurden Werkzeuge und Speisereste gefunden, und zwar gekochte Speisen. Eine der ganz großen Errungenschaften des Menschen: Man braucht sich nicht mehr mit Rohkost zu begnügen.
Nach der Höhle geht es in das Museum. Dort ist ausgestellt, was man in der Höhle gefunden hat, in vorsintflutlichen Vitrinen mit völlig unzureichender Beschriftung. Trotzdem interessant. Alles stammt aus der Steinzeit und ist 600.000-300.000 Jahre alt. In dieser Zeit hat es wichtige klimatische Veränderungen gegeben. An einer Wand der Höhle hatte der Führer mich schon auf die verschiedenen Farbtöne der verschiedenen Schichten aufmerksam gemacht: dunkler bei höheren Temperaturen, hellen bei niedrigeren Temperaturen.
Erst gibt es Gesteinsbrocken. Die sind, je nach dem Metall, das das Gestein in sich trägt, unterschiedlich gefärbt: Bauxit ist eher dunkel, Quarz eher hell.
Dann gibt es jede Menge Knochen von Raubtieren zu sehen, meist Hyänen, aber auch Wölfe und Höhlenbären. Viele der Knochen sehen so aus wie die Haut eines Kraken. Das sind die versteinerten Wassertropfen. Auch der menschliche Schädel war mit Stalagmiten verbunden und musste „befreit“ werden.
Dann kommen Knochenreste von Rebhühnern, Tauben, Igeln und Kaninchen. Die sind so klein, dass man sich wundert, wie die identifiziert wurden. Warum sind die Knochenreste so klein? Weil es die Knochenreste der Beute der Raubtiere waren! Diese Tiere haben hier nicht gelebt. Die Knochen sind quasi Speisereste.
Zum Schluss kommen rundliche Formationen, größeren Kieselsteinen ähnlich sehend. Die griechische Bezeichnung ist κοπροιθοι, und das englische coprolites hilft mir auch nicht weiter. Ich frage den Führer. Der druckst etwas herum. Wie soll man das sagen? Und dann sagt er es: Shit. Ja, genau das ist es. Hyänenköttel!
Der menschliche Schädel, hier nur in Nachbildung, ist sehr gut erhalten. Praktisch komplett. Mit Zähnen. Es ist der älteste und wichtigste vorgeschichtliche Fund in Griechenland. Dieser Schädel ist die Verbindung zwischen Homo Erectus und Homo Sapiens. Man sieht auf den ersten Blick, dass er anders, etwas anders ist als der Schädel des Homo Sapiens, vor allem flacher, aber eben nur etwas anders.
Als ich wieder zum Auto zurückgehe, kommt gerade das erste Bähnchen mit den ersten vier Besuchern an. Der Fahrer des Bähnchens macht eine Bemerkung zu meinem kretischen T-Shirt. Das erweist sich immer wieder als Gesprächsanlass.
Vom Weg aus sieht man in eine ganz leicht hügelige, unspektakuläre Landschaft mit Feldern und ein paar Olivenhainen hinunter. Am Wegesrand die bereits verblassten, federleichten Blüten, die ich auch so oft in der Stadt gesehen habe. Aber erst jetzt achte ich auf die Bäume. Es sind Farne.
Dann geht es nach Epanomi. Auf dem Dorfplatz unter schattigen Bäumen trinke ich einen Kaffee und frage nach dem Weg zum Weingut. Sie delegiert die Frage an drei Männer am Nebentisch. Einer stopft sich gerade ein Stück Brot in den Mund und sagt, er werde es gleich erklären. Dann trinkt er sein Bier aus und dann steckt er sich eine Zigarette an. Haben die mich vergessen? Aber dann machen sie ein Zeichen: immer mit der Ruhe. Am Ende stehen sie auf, und der Mann mit der Zigarette sagt mir, ich solle hinter ihm herfahren, immer dem roten Nissan hinterher. Deshalb! Es lohnt sich, denn der Weg ist kompliziert, und Erklärungen hätten nicht verfangen. An einer Straßenkreuzung schickt er mich auf eine staubige Landstraße, und ich habe gerade noch Gelegenheit, ihm ein Dankeschön hinterherzurufen.
Nach einem Kilometer durch die Hitze und über Schotter kommt das Weingut in Sicht. Sehr gepflegt angelegt, mit viel Grün und modernen Skulpturen, die man von der Straße aus sieht. Das Empfangsgebäude ist ein lichter, luftiger Glasbau mit Sonnensegeln nach Süden, unter denen man auf die Weinfelder gleich davor sieht.
Nach zehn Minuten erscheint eine junge Frau, die sich als Magdaleni vorstellt, und führt mich durch das Weingut. Sie hat ein halbes Jahr in Spanien gelebt, in Rioja naheliegenderweise, so sie ein Praktikum absolviert hat.
Von der Terrasse zeigt sie mir die in gerade Reihen auf fast ebenem Boden stehenden Weinstöcke. Sie werden mit einer Sprinkleranlage bewässert, Tropfen für Tropfen. Das ist meist nur im Sommer nötig. Sie haben aber gleich zwei Wetterstationen, die melden, wie die Lage ist. Das Klima sei ideal, sagt sie. Viel Sonne, viel Regen, viel Wind. Warum ist viel Wind gut? Der weht das Ungeziefer weg. Der Boden ist Sand, und das sieht man auch. Auch hier breitete sich früher das Meer aus. Auch Sandboden sei gut, meint sie. Der nehme das Wasser sofort auf.
Man setzt in erster Linie auf einheimische Trauben, zwei davon aus Santorin stammend. Die werden untereinander und mit französischen Trauben gemischt. Gelesen wird alles per Hand. Seit einiger Zeit stammen die meisten Erntehelfer aus Albanien, aber in den letzten Jahren sind auch wieder vermehrt Griechen dabei.
In einem Nebengebäude stehen die Fässer, große Fässer aus rostfreiem Stahl, kleinere aus Eiche. Eine Besonderheit ist ein Rotwein, eine Mischung der drei einheimischen Trauben, der nicht nur in Holzfässern gelagert wird, sondern schon in Holzfässern fermentiert. Die Weißweine lagern ein paar Monate lang, die Rotweine mindestens anderthalb Jahre, in einem unterirdischen Raum mit konstant niedriger Temperatur und hoher Luftfeuchtigkeit. Alles ist sehr sauber, ordentlich, kontrolliert. Man hat fast den Eindruck, in einem Museum zu sein und nicht an einem Ort, wo gearbeitet wird.
Das Museum kommt dann. Am Eingang hängen Urkunden über Preise, die das Weingut bekommen hat und Zeitschriften, in denen es als besonders gutes Weingut ausgezeichnet wird. Einer amerikanischen Zeitschrift zufolge rangiert es unter den besten hundert Weingütern der Welt, einer deutschen Zeitschrift zufolge unter den besten zehn. Die erste Auszeichnung gab es schon 1993, gerade mal sieben Jahre nach der Gründung des Weinguts. Es ist Familienbesitz, noch in erster Generation. Der Besitzer, Gerovassiliou, hat in Burgund Önologie studiert.
Oben gibt es jeweils ein Exemplar, als Prototyp sozusagen, von all dem, was es im Museum in vielen, vielen Exemplaren gibt. Alles ist Privatsammlung, von Gerovassiliou persönlich zusammengetragen. Ganz kurios ein Werkzeug mit hölzernem Stiel und rundlicher, breiter Schneide. Was macht man damit? Damit wird die Innenfläche der Holzfässer geglättet.
Unten gibt es dann die berühmte Sammlung von Korkenziehern, über 2500, in Vitrinen ausgestellt und geordnet nach Funktionsart, von einfach zu kompliziert.
Daneben gibt es Objekte aus jeder Phase des Weinherstellungsprozesses, von Geräten um Beschneiden der Weinstöcke und zum Abtrennen der Trauben bis zu Geräten, mit denen die Flaschen verkorkt werden. Auch antike Amphoren und Trinkgefäße sind vertreten.
Eine kleine Kulturgeschichte in sich ist die Entwicklung der Flaschenform, vor allem in den ersten Jahrhunderten der Neuzeit. Die frühen Flaschen sind sehr bauchig und konnten nicht gelegt werden. Das war auch nicht nötig, denn man trank nur frischen Wein. Erst als man merkte, dass der Wein durch Lagerung besser wurde, entwickelte sich die konische Flasche. Und auch erst jetzt begann man, sie zu verschließen. Mit Korken. Die Idee von den Korken stammte aus der weiblichen Kosmetik. Man sieht mehrere Sets hier ausgestellt, frühneuzeitliche Beauty cases. Die Fläschchen mit den verschiedenen Duftstoffen wurden mit Korken verschlossen!
Die Rückfahrt nach Thessaloniki, einschließlich der Fahrt durch die engen Gassen der Oberstadt, funktioniert diesmal, so dass ich am Abend noch in das Gartencafé gehen kann – welch unterschiedliche Assoziationen rufen das deutsche und das griechische Wort hervor! Dort gibt es einfaches, aber leckeres, aber teures Essen und einen Hauswein, der warm wie Brühe ist. Nur ein weiterer Tisch ist besetzt. Da sitzen Männer unterschiedlichen Alters, allesamt schlank, und ziehen sich Wein und Bier rein. Einer von ihnen wiederholt, leicht lallend, in regelmäßigen Intervallen „Alt die Klappe! Ruhe jetzt! Es sind genug!“
8. Juli (Mittwoch)
Als ich am Nachmittag die Wäsche auf der Terrasse aufhänge, kommt Dimitris, der Neffe, vorbei. Wir sprechen kurz über Wetter und Geld, er sagt tschüss, setzt sich ins Auto und fährt weg. Als ich fertig bin und runtergehen will in meine Wohnung, stehe ich auf einmal vor einer verschlossenen Tür. Dimitris hat die Zugangstür aus Gewohnheit zugezogen. Es dauert ein bisschen, bis mir die Lage klar wird: kein Schlüssel, kein Handy, kein Geld, Badelatschen, Sofia und Ana in Urlaub, Dimitris mit dem Auto unterwegs. Hört sich nach Parkbank an. Mir fällt Thanasis ein, der nette Nachbar, aber ich weiß von dessen ausufernden Arbeitszeiten, und sein Auto ist nicht zu sehen. Von Sofias Freundinnen habe ich keine Adressen, von der Gymnastiktruppe sowieso nicht, und wenn, wären sie ohnehin unten in der Wohnung. Dann fällt mir Vaso ein. Bei der waren wir am Sonntag zum Essen. Nur deshalb, weil wegen des Referendums die Sehenswürdigkeiten geschlossen waren. Sonst wäre ich unterwegs gewesen und es hätte kein Essen gegeben. Auf dem Weg zu ihrem Haus versuche ich mich zu erinnern, was sie von Urlaub gesagt hat. Etwas später, meine ich. Wenn ich Glück habe, ist sie noch in der Stadt. Ich klingele, und sofort wird die Tür geöffnet. Keine Nachfrage nach durch die Sprechanlage. Ich gehe rauf. In der Tür steht ein unbekannter Mann mit nacktem Oberkörper. Falsches Haus? Falsche Klingel? Ich bringe meinen Spruch vor, und in dem Moment erscheint Vaso hinter ihm. Geschafft!
Der Mann ist Vasos Mann. Sie warten auf ihre Tochter. Die geht auf Fahrt. Hat heute gerade die letzte Prüfung des Semesters abgelegt. Ihre Campingsachen liegen auf dem Boden. Erst hatte ich gedacht, die beiden wären gerade im Aufbruch.
Vaso ruft Sofia an, und die ist sofort am Apparat. Ich soll warten. Dann kommt der nächste Anruf. Ich soll zurückgehen. Sie hat Thanasis informiert, und der hat einen Schlüssel. Nach zehn Minuten ist er da und schließt auf. Die Götter meinen es gut mit mir in Thessaloniki. Keine Parkbank.
Und geben mir noch eine schöne Gelegenheit, mein Griechisch auszuprobieren. Thanasis zu erklären, wie es genau zu der Situation gekommen ist. Wunderbar. Könnte eine Simulation aus einem Lehrbuch sein!
Wieder sehr griechische Kommunikation: Was ich für einen Kommentar zu einem Bild halte, ist der Vorschlag für einen Treffpunkt, eine Eisdiele am Aristoteles-Platz. Vasoula schlägt Sommerkino vor. Sie fährt morgen zu ihren Eltern, aufs Dorf, auf unbestimmte Zeit.
Das Kino ist gleich an der Strandpromenade. Ich muss da schon oft vorbeigekommen sein. Es ist eine Art großer Innenhof, von Hochhäusern umgeben. Es sind lange Reihen von Klappstühlen aufgestellt, gesponsert von Stella Artois. Was hier wohl im Winter ist?
Es läuft mal wieder ein amerikanischer Film, Von 5 bis 7. Hollywood, unerträglich oberflächlich und klischeehaft, mit vorhersehbarem Ende. Wir finden beide den Film nichts sonderlich gut, aber aus unterschiedlichen Gründen. Er ist aber nicht langweilig und so leicht zu verstehen, dass man hin und wieder einen Blick auf die griechischen Untertitel werfen kann. Die beste Szene ist die, als die beiden Hauptfiguren ins Kino gehen. Er kauft eine riesige Tüte Popcorn, und sie, eine Französin, fragt ihn, ob die Amerikaner nicht ins Kino gehen können, ohne Popcorn zu essen. Eine ähnliche Frage hatte ich vorher Vasoula gestellt, als sie vor dem Beginn der Vorstellung zusammen mit dem Bier eine Tüte Popcorn anschleppte.
Es gibt eine Pause. Bei der Unterhaltung stolpere ich über eine Verbform. Ich will sagen ‚wir klagen‘. Die richtige Form, von geradezu absurder Länge, ist παραπονιόμασταν, sieben Silben!
Auf der anderen Seite kann ich ihr mit ihrem Englisch auf die Sprünge helfen: Reading, nicht Reanding. Es dauert etwas, bis sie den Unterschied hört, und noch ein bisschen länger, bis sie ihn hinbekommt, aber dann klappt es. Sie ist zufrieden. Schließlich lebt ihr Sohn in Reading. Nicht in Reanding.
9. Juli (Donnerstag)
Früher Aufbruch nach Kavala. Trotzdem mehr Verkehr als dieser Tage. Nach 25 Kilometern auf der Umgehungsstraße kommt ein Hinweisschild nach Thessaloniki- Zentrum. Ich habe das Wort Ring Road wohl zu wörtlich genommen.
Als die Umgehungsstraße zur Autobahn wird, ändern sich Verkehr und Landschaft. Es kommt bald eine Mautstation. Hier werden 2,40 € zahlt man hier, genau wie später an der zweiten Mautstation. Unter den wenigen Autos, denen ich begegne, ist eins aus Wuppertal und eins aus Düsseldorf. Es gibt wirklich Verrückte, die den ganzen Weg mit dem Auto fahren.
Die Autobahn folgt der alten Egnatia und heißt auch so.Auf der Hälfte der Strecke gibt es eine Ausfahrt nach Sofia. Es sind aber noch 300 Kilometer bis dahin. Später kommt eine Ausfahrt nach Drama. Das ist ein Name für einen Ort!
Erst gibt es links ganz dicht bewachsene Berge und rechts das Meer, wiederum mit Bergen dahinter. Dann verschwindet das Meer, und die Berge werden kahler. Die Gegend wird immer schöner, je näher man Kavala kommt.
Die Entfernung ist größer, als ich erwartet habe. Und ich bin froh, als Kavala in Sicht kommt. Man blickt von einem Aussichtspunkt hoch über der Bucht auf die Stadt und das Meer hinunter. Man kann gut die ins Meer vorspringende Halbinsel sehen, auf der die Altstadt liegt. Man erkennt die Burg und den Aquädukt. Die Neustadt, mit weißen und grauen hohen Häusern, liegt teils auf dem Abhang, teils direkt unten am Meer. Gerade außerhalb der Stadt befindet sich ein Jachthafen hinter einer Hafenmole. Das ist alles sehr schön, aber auch nicht so, dass man sich vor Begeisterung gar nicht mehr einkriegt.
Unten in der Stadt bekomme ich problemlos Benzin und kann sogar mit der Karte bezahlen. Außerdem gibt es einen bewachten Parkplatz gleich am Zentrum. Das kostet für den ganzen Tag so viel wie bei uns eine Stunde.
Ich gehe gleich in die Altstadt rauf. Es geht steil rauf, und es ist richtig heiß. Die Altstadt beginnt am Aquädukt, ein Bau aus der osmanischen Zeit, der auf einem römischen Vorgängerbau beruht. Das unregelmäßig verlaufende, dreistöckige Aquädukt brachte das Wasser aus den Bergen in die Stadt.
Innerhalb der Altstadt gibt es eine Stadtmauer, die den eigentlichen Kern umschließt. Überall ist es sehr ruhig. Über einen gepflasterten Pfad komme ich, ohne es zu wollen, direkt zum Meer. Auf einer Felsplatte sitzt jemand und sonnt sich. Sonst ist weit und breit nichts zu sehen. Es ist auch nicht zu erkennen, warum es den Weg gibt. Vielleicht war hier früher mal eine Anlegestelle für Fischerboote. Später lese ich irgendwo etwas von einem Leuchtturm, aber den bekomme ich nicht zu sehen.
Wenn man etwas über Kavala liest, stößt man unweigerlich auf den Namen Mohammad Ali, auch Mehmet Pascha. Es dauert, bis ich kapiere, wie das Verhältnis ist. Erst dachte ich, dass er als ägyptischer Verwalter innerhalb des Osmanischen Reichs seinen Sitz in Kavala hatte, aber es ist genau umgekehrt: Er stammt aus Kavala und hat dann im Osmanischen Reich Karriere gemacht. Bis er zum mehr oder weniger unabhängigen Herrscher von Ägypten wurde und zum Begründer der Dynastie, die bis zur Ende der Monarchie in Ägypten an der Macht war.
Auf der Suche nach seinem Geburtshaus stoße ich auf das Imaret, das öffentliche Gegenstück zu dem privaten Geburtshaus. Das Imaret hat seinen Namen von der Suppenküche, die sich hier befand. Sie war aber nur Teil eines großen Komplexes, der zwei Schulen, eine Moschee, Gästehäuser und ein Krankenhaus umfasste, neben der Suppenküche. In der wurden die internen Schüler versorgt, aber auch alle Bedürftige, unabhängig von ihrer Religion. Es gab dort nicht nur Suppe, sondern auch Reisegerichte und Brot. All das geht auf die Initiative von Mohammad Ali zurück, der als großer Modernisierer gilt.
Ich werde von einem ganz jungen Mädchen herumgeführt, ganz schmächtig, das eher orientalisch als griechisch aussieht. Sie sei ganz und gar griechisch, sagt sie, aber die Großeltern, die stammten vom Schwarzen Meer ab.
Sie liest Virginia Woolf. Keine einfache Lektüre. Findet sie auch. Sie studiert Englisch, hat aber jetzt auf Tourismus gewechselt. Englisch ist aber wohl ihr Nebenfach. Ihr Englisch ist gut, aber sie ist etwas unsicher. Ihr Vokabular ist gut. An einer Stelle kann ich ihr mit einem Wort weiterhelfen. Das wird sie bei den späteren Führungen verwenden können.
Sie führt mich über das unübersichtliche Gelände, dessen Besonderheit in einem Wechsel von Außen- und Innenräumen besteht. Man gelangt nie von einem Raum direkt in einen anderen, sondern immer über einen Innenhof, einen Gang, eine Terrasse. Dabei hat man immer wieder schöne Blicke aufs Meer und auf die vielen Kuppeln der tiefer gelegenen Schichten des Gebäudes. Allein das macht den Besuch schon lohnenswert.
Alles ist renoviert worden, nachdem das Gebäude lange vernachlässigt war. Das ganze Gelände gehört dem ägyptischen Staat.
Aus den ehemaligen Wohneinheiten der internen Studenten sind jetzt Hotelzimmer geworden, aus der Schule ein Veranstaltungsraum. Die kleine, runde Moschee ist noch erhalten. Es sind Bücher ausgestellt, die in der Schule verwendet wurden, religiöse Schriften, aber auch profane. Mohammad Ali war der Meinung, der Islam dürfe nicht losgelöst von der Welt leben. Sehr modern.
Auch gut erhalten ist ein Vorratsraum. In den Löchern des Bodens sind passgenaue Keramikgefäße eingelassen, in denen Nahrungsmittel sozusagen unterirdisch gekühlt und bewahrt werden konnten.
Zum Schluss zeigt mir das Mädchen noch den Weg zu dem Geburtshaus, nur ein paar Hundert Meter weiter. Vor dem Geburtshaus steht eine Reiterstatue von Mohammad Ali. Er trägt einen Turban und ein dickes Gewand und hält in der Hand einen Säbel. Das Zaumzeug des Pferdes ist ganz fein bestickt. Das Pferd ist in Bewegung, aber in sanfter Bewegung. Wenn das Pferd Alexanders in Thessaloniki zu galoppieren scheint, scheint dies zu traben. Als ich ein Photo mache, setzt sich eine Möwe auf den Turban und lässt sich in aller Ruhe photographieren.
Das Geburtshaus sitzt auf der Stadtmauer auf, so dass man zu dem Haus hinaufgeht. Gleich neben dem Eingang ist ein Teil der Wasserleitung freigelegt, die das Haus durch das Aquädukt mit fließendem Wasser versorgte, zu der Zeit dem einzigen in ganz Kavala. Es gab insgesamt nur dreizehn Stellen, an denen man in der Stadt Wasser schöpfen konnte. Das Haus war ein Haus der Elite.
An der Tatsache, dass es sich um das Geburtshaus von Mohammad Ali handelt, scheint es keine Zweifel zu geben, aber alles andere ist Spekulation. Die einzige Quelle zu seiner Kindheit sind seine eigenen Aussagen, und mit denen scheint er eine Art eigenen Mythos begründet zu haben. Das Mädchen im Imaret erzählte von der Geschichte einer armen, von einem Onkel protegierten Waisen. Das muss nicht stimmen. Jedenfalls ist klar, wie der Aufstieg gelang: durch das Militär. Neben der Kirche die einzige Sparte, in der man unabhängig von der Herkunft aufsteigen konnte.
Im Untergeschoss gibt es einen Raum, der Stall heißt, aber nicht so aussieht. Nur ein länglicher Trog deutet auf diese Funktion hin. Es war wohl auch ein Aufenthaltsraum für Männer. Ihnen wurde durch ein Drehtablett, das in der Wand eingelassen ist, das Essen serviert, von außen. Das verhinderte, dass die Frauen hineinsehen konnten. Oder die Männer die Frauen sehen konnten. Das Drehtablett ist erhalten.
Im den zentralen, offenen Raum des Untergeschosses fand das tägliche Leben statt. Hier wurden Besucher empfangen, hier wurde gehandelt, hier saßen Diener bei der Arbeit, hier wurde Tee getrunken.
Sonst gibt es im Untergeschoss nur noch einen Raum, etwas niedriger gelegen. Es war der einzige nicht gepflasterte Raum des Hauses. Heute sind hier passenderweise die Toiletten untergebracht.
Das Obergeschoss ist der Wohnbereich, mit getrennten Teilen für Männer und Frauen. Hier kommt das Holz voll zur Wirkung. Geländer, Decken, Böden, Treppen, Fensterfassungen, die Gitter des Fenster, alles aus Holz. Alle Räume waren multifunktional. Wo man über Tag aß oder saß, schlief man nachts.
Von hier oben hat man einen schönen Blick aufs Meer und auf die Reiterstatue vor dem Haus. Inzwischen hat die Möwe auf dem Turban Gesellschaft bekommen. Jetzt sitzt auch auf dem Pferdekopf eine.
Auf dem Weg zurück in die Neustadt komme ich an vielen Souvenirgeschäften vorbei. Kavala scheint stärker als Thessaloniki auf Tourismus eingestellt zu sein. Vermutlich kommen die Leute von Chalkidiki auf einen Tagesbesuch hierher.
In einem Tante-Emma-Laden kaufe ich eine Schachtel einer Spezialität von Kavala, ein Mandelgebäck, Kourambie (κουραμπιέδες). Mitbringsel für Elena und ihren Mann, wenn wir zu ihrem Haus am Strand fahren.
Wegen der knappen Öffnungszeiten der griechischen Museen fällt das Archäologische Museum flach. Dafür geht es ins Tabakmuseum. Das liegt etwas erhöht, inmitten von Häusern, die von dem ehemaligen Reichtum der Stadt zeugen, ein Reichtum, der auf dem Tabakhandel beruhte. Das Museum selbst ist aber in einem ganz unscheinbaren Bau untergebracht. Man kann leicht vorbeilaufen.
Ein junger Mann empfängt mich und führt mich in einen dunklen Raum. Ein Lichtschalter nach dem anderen geht mit knackendem Geräusch nach oben geschoben, und zum Vorschein kommt die Ausstellung. Hier wird alles dokumentiert, vom Samen bis zur Zigarettenschachtel. Es gibt Photos, Dokumente, Werkzeuge, Maschinen und vor allem Tabak in allen seinen Erscheinungsformen. Leider gibt es keine Informationen zu Anbaugebieten. Das ist das einzige, was ich vermisse.
Der Mann sagt mir unverblümt, sein Englisch sei nicht gut genug für eine Führung, das wäre für uns beide eine Qual. Also macht er es auf Griechisch. Er spricht zu mir wie zu einem Griechen, und das Erstaunliche ist: Es geht. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, Sprache in dieser Menge und von dieser Komplexität folgen zu können, wenn auch mit vielen Abstrichen.
Man sieht, wie der Tabak gesät, geerntet, getrocknet, gesäubert, gesiebt, gepresst, getrennt und verpackt wird. Erst zum Schluss merke ich, dass hier keine Zigaretten oder Zigarren hergestellt wurden. Der Tabak wurde als Tabak exportiert.
Ein kurioses Exponat, das immer wieder auftaucht, sind tortenartige, runde Objekte mit einem Loch in der Mitte. Diese Torten bestehen aus Tabakblättern. Das Loch in der Mitte dient der Lüftung. Die erste Phase der Verarbeitung wurde oft privaten Einzelpersonen übertragen. Man sieht eine auf dem Boden sitzende Frau, die aus den losen Tabakblättern die Torten formt.
Ein anderes bemerkenswertes Objekt ist ein „menschlicher Sattel“, ein Ledergestell, das sich die Hafenarbeiter auf den Rücken schnallten, um möglichst viele der fertigen, quadratischen Pakete zu den Schiffen tragen zu können, bis zu fünf gleichzeitig, mit jeweils 25 kg Gewicht.
Die Unterschiede in der Qualität sieht man am besten in Probepackungen, die in alle Welt verschickt wurden. In einigen sieht der Tabak aus wie Tee in billigen Teebeuteln, in anderen sind die Blätter in einer gleichmäßigen Form sauber aneinandergereiht, schräg versetzt. Das sieht fast zu schön aus, um geraucht zu werden.
Verblüffend die unterschiedliche Größe der Tabakblätter. Mit den größten kann man leicht den gesamten menschlichen Brustkorb bedecken.
Tabakhandel bedeutete Reichtum. Das sieht man in den hier ausgestellten Büros der Tabakhändler, mit handgefertigten, verzierten Öfen und geschnitzten Stühlen. Eine gängige Schmuckform waren Rahmen mit Firmennamen, die aus Tabakblättern geformt waren.
Der Reichtum beruhte aber auch auf Ausbeutung. Die Bezahlung in den großen Tabakfabriken war schlecht, die Arbeitszeiten lang, die Gesundheitsgefahren groß. Hier kam es wie in keiner anderen Branche in Griechenland zu Streiks, Demonstrationen und Rebellionen. Es wird der Tod eines zum Helden gewordenen Demonstranten dokumentiert, der in ganz Griechenland bekannt ist. Auch war Kavala die erste griechische Stadt mit einem kommunistischen Bürgermeister.
Zum Abschluss sehen wir noch eine Maschine, die das ganze Zentrum des Raumes einnimmt und aus einer langen Reihe von Bändern, Walzen und Rohren besteht. Um diese Maschine herum gruppieren sich alle anderen Ausstellungsgegenstände. Diese Maschine konnte all das alleine machen, was wir vorher gesehen haben. Trotzdem wurde sie nur zögerlich eingesetzt. Die Anschaffung war teuer, und die Maschine war anfällig. Man kann ich gut vorstellen: Ein Teil funktioniert nicht, und der ganze Prozess kommt zum Erliegen.
Nach dem Museum suche ich die Nikolaus-Kirche, im Zentrum der Stadt, zwischen Altstadt und Neustadt. Es heißt, sie sei etwas Besonderes, weil sie Elemente aus der osmanischen Zeit bewahre. Die Kirche ist aber verschlossen, und von außen ist nichts Osmanisches zu erkennen, mit einer Ausnahme: Die Kirche hat einen selbständigen Glockenturm, und geht auf das Minarett der Moschee zurück und steht auf deren Basis.
Vor der Kirche steht das Paulus-Denkmal. Kein Denkmal, wie ich es mir vorgestellt habe, sondern ein modernes Mosaik. Das Mosaik zeigt Paulus gleich zweimal, einmal wie er einen Traum in Taurus hat, einmal wie er in Neapolis ankommt. Daneben steht ein Auszug aus der Apostelgeschichte, die erzählt, wie Paulus im Traum den Auftrag bekam, nach Neapolis zu gehen. Von hier aus ging er dann nach Philippi, und dort gründete er die erste christliche Gemeinde in Europa.
Neapolis, das ist Kavala. Schon das Mädchen im Imaret hatte mir von den verschiedenen Namen der Stadt erzählt. Aus Neapolis wurde im Mittelalter Christoupolis und dann Kavala. Neapolis hieß es deshalb, weil es eine Neugründung von Thassos war, der Insel, die vor der Küste liegt. Über den Ursprung von Kavala gibt es mehrere Vermutungen. Dazu gehört die, dass es aus der kurzen Zeit der venezianischen Herrschaft stammt und von cavallo abgeleitet ist, weil sich hier eine Poststation befand, an der die Pferde gewechselt wurde. Finde ich nicht so einleuchtend.
Danach trinke ich noch einen Kaffee am Meer. Es ist jetzt richtig heiß. Auf dem Weg komme ich an einer Bank vorbei, wo sich gerade eine Gruppe auflöst. An dem linken Bankautomaten hängt ein Schild mit dem Hinweis, dass kein Geld drin ist, an dem rechten hängt kein Schild, aber es gibt auch kein Geld. Eine Frau fragt aber nach und bekommt die Antwort, dass bald nachgefüllt werde.
10. Juli (Freitag)
Der Tag fängt mit Donner und Blitz an, dann kommt heftiger Regen, und als er nachlässt, wird es sehr windig. Zum ersten Mal. Gerade genug, um sich vorzustellen, dass das unangenehm sein kann, wenn es kälter ist. Im Laufe des Tages wird es dann immer wärmer, gut über 30°, und das bekomme ich zu spüren, als ich mich in der Nachmittagssonne endlich zum Laufen entscheide.
Im Hafen liegt ein Kreuzfahrtschiff. Zum ersten Mal gesehen. Dass die auch Thessaloniki anlaufen, wusste ich nicht. Laut Reiseführer gehört es nicht zu den Top-Reisezielen in Griechenland, und das ist auch nicht ganz unberechtigt. Die Stadt hat zwar viel zu bieten, aber kein richtiges, einzelnes Highlight, das sie von anderen unterscheidet. Überhaupt fällt fast der gesamte Norden heraus. Die meisten Highlights sind auf dem Peloponnes und auf den Inseln. Im Norden gibt es nur den Berg Athos und, wenn man das noch als Norden zählt, die Meteora.
Die Gymnastik fällt aus, die Trainerinnen sind auf Reise, in Bulgarien. Stattdessen wollen wir uns in einem Café treffen, um über die Fahrt nach Chalkidiki zu sprechen. Das machen wir auch, aber die Fahrt kommt kaum zur Sprache. Es heißt nur wieder, dass wir nichts mitzubringen brauchen.
Stattdessen streiten Elena und Hilda über die politische Situation. Elena verortet sich selbst eindeutig. Sie kann die Linken nicht ab, all die Sozialisten und Kommunisten. Sie führten das Land in den Abgrund. Dass die etablierten Parteien die Reise in den Abgrund ausgelöst haben, davon spricht sie nicht. Hilda dagegen will wissen, warum denn die Deutschen forderten, dass Rentner, die ohnehin schon nur noch 600 € pro Monat bekommen, jetzt nur noch 300 € bekommen sollten. Die Propaganda wirkt. Während die Diskussion heftig, aber ruhig weitergeht, sitzen die Armenierin und ich schweigend dabei.
Dann kommt das Gespräch auf die Gymnastik. Elena geht an den „geraden“ Tagen außerdem noch in ein Fitnesscenter, das auch mit einem Schwimmbad ausgestattet ist. Die Bewegung tue ihr einfach gut. Kein Wunder, dass sie so gut drauf ist bei der Gymnastik.
Als ich gerade noch die Dominikaner gelobt habe wegen ihres Einsatzes für die Haitianer nach dem Erdbeben, schlägt mir jetzt eine geballte Ladung Vorurteile entgegen: Die Haitianer würden den Fluss von Santo Domingo vergiften, um die Dominikaner auszurotten. Das wird allen Ernstes behauptet, und ich erinnere mich daran, das auch schon mal in Santo Domingo gehört zu haben. Aber jetzt brechen alle Dämme. Auch die Albaner hier in Griechenland bekommen ihren Teil ab, und diesmal sind sich Elena und Hilda ganz einig: unzuverlässig, unehrlich, gewalttätig. Und auch, sagt Hilda, diese Afrikaner, die jetzt alle hierher kämen. Afrikaner? Ja, diese Dunkelhäutigen? Marokkaner? Nein, Marokkaner nicht. Pakistaner? Ja, Pakistaner, die da. Da kann ich nur noch lachen, und sie lachen mit.
Hilda wechselt fröhlich zwischen Griechisch und Spanisch hin und her, manchmal absichtlich, manchmal, ohne es zu merken. Sie vermischt ihr Spanisch auch immer wieder mit griechischen Brocken, umgekehrt nicht. Auch wenn sie nach Santo Domingo fährt, sagt sie, spreche sie die Leute manchmal auf Griechisch an.
Als sie nach Griechenland kam, konnte sie kein einziges Wort Griechisch. Mit der verstellten Sicht des naiven Muttersprachlers sagt sie, sie habe dann einfach gefragt, wie das und das heiße. Das hat mit dem Spracherwerbsprozess natürlich herzlich wenig zu tun und erklärt, wenn überhaupt, nur einen winzigen Teil der erworbenen Sprachkompetenz. Wie hat sie überhaupt gelernt, die Frage zu stellen, wie das und das heißt? Und wie hat sie die gewaltige Formenmenge des Griechischen bewältigt? Und feine Unterschiede im grammatischen Gebrauch wie dem zwischen Aorist und Paratatikos gelernt, von deren Existenz sie gar nichts ahnt?
Sie hatte mal einen deutschen Freund. Der hat sie wie ein „Püppchen“ behandelt. Ich weiß erst nicht, ob das gut oder schlecht ist. Es ist gut. Es heißt, dass er sie sehr verwöhnt hat.
Ich muss mich vorzeitig verabschieden, da die Putzfrau sich angekündigt hat. Als sie kommt, gehe ich einkaufen, um ihr nicht im Weg zu stehen, aber als ich wiederkomme, ist noch nicht fertig. Jetzt stehe und sitze ich ihr im Weg herum, entscheide mich aber nicht, noch mal rauszugehen, weil nicht abzusehen ist, wie lange es dauert. Aber es dauert. Jede Fenstersprosse, jeder Bilderrahmen und sogar die Gitterstäbe des Ventilators werden bearbeitet, als wenn morgen königlicher Besuch kommen würde. Dafür kassiert sie am Ende ordentlich ab. Ob sie das auch gewagt hätte, wenn die Bezahlung wie sonst über Sofia abgewickelt worden wäre?
Erst jetzt merke ich, dass sie keine Griechin ist. Das heißt, sie ist Griechin, wie sie selbst betont, als sie sich beschwert, dass Nachbarn sie mal als Ausländerin bezeichnet haben, nicht sehr wohlwollend, wie es scheint. Sie stammt aus einer Flüchtlingsfamilie. Dann aber spricht sie über „die Griechen“, als wenn sie nicht dazugehöre. Die Griechen könnten einfach nicht haushalten. Immer nur im Café sitzen und diskutieren. Sie könne haushalten. Sie habe gespart jetzt habe sie ihr eigenes Haus.
Dass Griechisch nicht ihre Muttersprache ist, merkt man an der Aussprache – keine Dentallaute und fehlende Assimilation – sowie an ihrer Aversion gegen Artikel. Auf die Frage, was ihre Muttersprache sei, antwortet sie Pontisch, aber bevor ich fragen kann, was das ist, sagt sie, sie spreche aber auch Polnisch, Russisch und Georgisch. Und fügt gleich noch ein paar mehr Sprachen hinzu.
Am Abend dann Unterricht mit Rania. Sie hält sich wieder mit langen Erklärungen zur Bedeutung auf, die ganz unnötig sind. Aber es kommt doch etwas dabei heraus, vor allem, wenn wir immer wieder ein und dasselbe Thema variieren: wegen des Wetters, wegen des Verkehrs, wegen seiner Schwester, wegen Rania, wegen Nikos, wegen der Wahlen, wegen meiner Eltern. Wunderbar! Das Griechische erfordert hier, genauso wie das Deutsche, den Genitiv, und man muss in jedem Fall auf die Form des Artikels und die Form des Substantivs achten.
Am Ende kommt noch eine Freundin von ihr, noch eine Eleni. Sie tanzen zusammen Volkstänze, in langen, schwarzen Trachten, die ich im Internet gesehen habe. Die Sache wird von einem Verein organisiert, der auch die Trachten stellt.
Sie fahren am Wochenende auch nach Chalkidiki. Halb Thessaloniki muss im Sommer da sein. Als wir darüber sprechen, kommt es zu einem Missverständnis. Sie fahren nach Βεργιά (Vergia), und ich frage, ob es da nicht eine Verbindung mit Vergina gebe, eine Verbindung aus der Antike, einen Zusammenhang mit Philipp, aber diese Verbindung gibt es nicht. Am Ende stellt sich heraus, dass ich Βέροια (Veria) meinte, aber auch das hat keine Verbindung zu Vergina, sagen sie. Auch damit haben sie recht.
11. Juli (Samstag)
An einer Häuserwand im Viertel steht: θανατος στους φασιστες – Tod den Faschisten. Die Autoren scheinen nicht zu merken, dass das selbst eine faschistische Aussage ist. Daneben, ebenfalls von eine anarchistischen Organisation unterzeichnet: ουτε φασισμος ουτε δημοκρτια – Weder Faschismus noch Demokratie.
Die Schlangen vor den Geldautomaten sind heute kürzer als in letzter Zeit. Tsipras hat eine Liste mit Vorschlägen vorgelegt, die von der Opposition praktisch einstimmig gebilligt wird. Und wenig mit seinen Wahlversprechen zu tun hat. Hat er das Referendum nur aus taktischen Gründen abgehalten? Um tun zu können, was er eigentlich nicht tun dürfte? Unter dem Schein des Nein doch Ja zu sagen? Gestern am Abend jedenfalls schon an der Kamara Studenten mit Bannern gesehen, die gegen die neuen Vereinbarungen protestierten.
Aus einem Geschäft kommt eine besorgte Mutter mit sichtlichem Erschrecken auf dem Gesicht gelaufen und ruft verzweifelt: Giorgos! Giorgos! Der hat sich hinter dem Vorsprung einer Schaufenstersäule versteckt und lächelt verschmitzt. Erinnerungen an eine Szene in der Heimat, die mehr als dreißig Jahre zurückliegt. Als die Mutter ihn findet, sagt sie: Tu mir das nicht an!
Ein Mann, dem ich guten Appetit wünsche, als er sich an einer Straßenecke einen Gyros reinzieht, sieht mich verwundert an. Nein, er ist nicht der Mann von Nokia. Kein Wunder, dass er sich wundert. Sie haben die gleiche Statur, die gleiche Kopfform und sogar das gleiche geringelte Poloshirt. Jedenfalls bilde ich mir das ein.
Im Vlali-Markt sind die auffälligsten und lautesten Verkäufer die Fischverkäufer. Sie bespritzen ihre Ware mit kaltem Wasser oder werfen Eisschnee über sie. Viele haben sich auf silbrige Fische spezialisiert, vor allem Sardellen und Anchovis.
Das Wort τερεζίνες, das in dem Jugendroman immer wieder vorkommt, kennt keiner. Im Internet ist der einzige brauchbare Eintrag einer über den Roman, eine Rezension, in der vorausgesetzt wird, dass man das Wort kennt. Es scheint eine Art Spielzeug oder Fahrzeug zu sein.
12. Juli (Sonntag)
Nach Dion geht es in die andere Richtung, Richtung Westen, aus Thessaloniki raus. Dass ich den Weg bei der uneindeutigen Beschilderung überhaupt finde, grenzt an ein Wunder.
Wenn man die Autobahn verlässt und auf Dion zufährt, hat man den Olymp vor sich. Nur: Welcher der Berge ist denn nun der Olymp? Man hat ihn oft auf Bildern gesehen, aber meist mit nebelverhüllten Gipfeln, und heute ist klare Sicht. Das ganze Panorama sieht jedenfalls überhaupt nicht griechisch aus. Man kommt sich vor, als wäre man in den Alpen.
In Dion hat das Archäologische Museum gerade geöffnet. Es zeigt auf zwei Etagen Funde aus dem Umfeld. Erst als eine der netten Aufpasserinnen mir anbietet, mir ein Video zu zeigen, bekomme ich eine Vorstellung von dem, was ich eigentlich hier sehe. Alles ist noch relativ frisch, wie einer der Archäologen in fließendem Deutsch erklärt, und wurde anlässlich des Baus einer Straße entdeckt. Er spricht von den Schwierigkeiten der Ausgrabungen zeitgleich mit den Straßenbauarbeiten. Entscheidend ist, dass man Heiligtümer aus ganz verschiedenen Epochen gefunden hat, dazu ein Theater und eine ganze Stadt. Die wichtigste Aussage fällt ganz beiläufig: Das zweite, spätere Zeus-Heiligtum war ganz anders als das erste. Vorstellungen von Göttern ändern sich, auch wenn sie denselben Namen behalten.
Das erste Exponat, das ich sehe, ist gleich das Highlight des Museums: eine Wasserorgel. Ein antikes Musikinstrument. Es heißt Hydraulis. Es ist viel kleiner als ich dachte und passt in eine auf einem Sockel stehende Vitrine. Vierundzwanzig Pfeifen sind der Größe nach angebracht, etwa wie bei einer Panflöte. Es soll noch weitere, kleine Pfeifen geben, aber die kann ich nicht entdecken. Keine der Pfeifen ist komplett erhalten, man musste alles mühsam zusammensetzen aus Scherben, aber das ist gut gelungen. Das Material scheint Bronze zu sein, und die einzelnen Pfeifen haben Ringe, die als Schmuck dienen. Nur wie das Ding funktionierte erfährt man nicht. Schade, die Informationen sind für diese gute, neue Museum und die tollen Exponate viel zu knapp. Neben der Beschriftung befindet sich eine Abbildung, die mir irgendwie bekannt vorkommt, die Abbildung eines Mosaiks. Auf diesem Mosaik ist ein erhöht stehender Musiker zu sehen, der die Hydraulis spielt. Durch dieses Mosaik weiß man, wie das Instrument aussah. Und das Mosaik befindet sich in Nenning!
Daneben befindet sich ein Grabstein mit einem weiteren Musikinstrument, einem Nabilium, einem Saiteninstrument. Es ist ein sehr schön gestalteter Grabstein, mit zwei Händen, die sich gegenseitig drücken, einem Schlüssel, einer Buchrolle und einem Stilos.
Eine der Aufpasserinnen kommt zu mir, als ich an einem Exponat stehen bleibe, das man leicht übersehen kann. Sie sagt mir, dass ihr das ganz besonders gut gefalle. Es ist ein Löwe, der kaum Körper, aber einen mächtigen Kopf mit Mähne und Schweinsöhrchen und eine mächtige Tatze hat. Er stützt die Marmorplatte eines Tisches und ist nur gut zu sehen, wenn man sich bückt.
Unter den römischen Exponaten der Bronzekopf einer Statue des Severus, mit Augen, die einen anzusehen scheinen. Er hat nach vorne gekämmtes Haar und einen gepflegten, gekräuselten Bart, wie man ihn im 3. Jahrhundert trug.
Ganz auffällig sind schön gestaltete Eisenketten, die von der Decke hingen und Schalen hielten, in den sich Öl befand. Damit wurden die Häuser beleuchtet. Die Schalen selbst sind aus Eisen oder aus Glas, und auch von den Glasschalen sind ein paar erhalten. Die Ketten selbst haben oft das Muster eines Kreuzes, aber vermutlich nicht religiös motiviert, und manchmal sogar Inschriften. Ich wüsste nicht, so etwas schon mal gesehen zu haben.
Sehr auffällig auch Steinplatten mit Fußabdrücken. Davon gibt es gleich mehrere. Die Funktion ist nicht zu erkennen, aber sie stammen aus einem Heiligtum, und man kann vermuten, dass sie die Fußabdrücke der angebeteten Gottheit darstellen, nicht viel anders als im Walk of Fame unserer Tage.
Unter den Funden aus einem Friedhof hier in der Nähe befinden sich Münzen aus der Zeit Philipps und Alexanders. Die sind nicht flach wie unsere Münzen, sondern haben eher die Form von Smarties.
Ein schönes Museum, das übersichtlich und reichhaltig ist und in dem nach viel mehr entdecken kann. Ich mache mich aber auf den Weg zum Archäologischen Park, ebenfalls in Dion. Der Name der Stadt ist von Zeus abgeleitet.
Der Archäologische Park hat seinen Namen verdient. Er ist wirklich ein Park, mit vielen hohen Bäumen, in denen Grillen zirpen. Die begleiten mich heute fast den ganzen Tag.
Zur einen Seite geht es über eine Wiese zu dem Hellenistischen Theater. Es ist nicht viel erhalten, aber man hat das Theater mit Holzbänken wieder aufgebaut. Das Theater hatte bereits eine Vorrichtung zum Auffangen und zur Ableitung des Regenwassers.
Hinter dem Theater der Olymp. Auf einer Tafel erfährt man, was es damit auf sich hat. Die fünf hohen Gipfel haben jeweils einen eigenen Namen, aber keiner davon heißt Olymp. Das ist der Name des Ensembles. Die Berge wirken nicht so hoch wie sie sind. Die exakte Vermessung wurde von einem Schweizer vorgenommen. Der fand heraus, dass der Mytikas der höchste Gipfel ist, mit knapp 3000 Metern. Schon in der Antike wurde der Berg von einem Philosophen vermessen, mit Hilfe eines Teleskops. Der lag nur um wenige Meter daneben. Auch die Erstbesteigung wurde von einem Schweizer Team vorgenommen. Einheimische mieden Berge eben. Sie waren eben der Sitz der Götter und damit unantastbar. Sie lösten mehr Ehrfurcht oder auch Angst aus als Neugier. Allerdings gibt es antike Schilderungen, aus denen hervorgeht, dass es bereits damals Prozessionen gab, die den Berg hinaufführten. Der Gipfel war der Sitz der Götter, die minderen Gottheiten wohnten in Quellen und Schluchten am Berghang oder am Fuß des Berges.
Es ist hier auffällig grün, und durch den Park rauscht ein starker Bach. Das kommt nicht von ungefähr. Wasser war als Element ganz besonders mit Zeus verbunden. Der war, bevor er befördert wurde, der Gott des Regens und des Wetters.
In dem Archäologischen Park gibt es weiterhin die Heiligtümer der Demeter und der Isis und schließlich die ganze, einen halben Quadratkilometer große Stadt. Man kann ein ganzes Stück den Cardo entlang gehen, auf großen, unbearbeiteten Steinplatten, und an einer Stelle sind sogar Teile der Stadtmauer erhalten, bestehend aus schön bearbeiteten Sandsteinplatten. Hier wächst aber kein Baum, kein Strauch, und so streiche ich schnell die Segel, zumal ein bekanntes Mosaik, das Ringer darstellt, mit Sand bestreut ist und ein anderes, das Dionysos-Mosaik, so ungünstig zu den Laufstegen liegt, dass man das zentrale Motiv gar nicht erkennen kann.
Es geht weiter nach Litochoro, ein paar Kilometer von Dion entfernt. Bei der Fahrt komme ich über einen Fluss, den größten, den ich bisher hier gesehen habe. Er sieht auf der einen Seite wie ein See aus, auf der anderen wie eine Lagune. Eine schöne, leicht geschwungene, ganz niedrige Brücke führt über den Fluss.
Litochoro ist ein ganz schönes Dorf am Fuß des Olymps, dessen rote Ziegeldächer aber aus der Entfernung besser zur Geltung kommen. Hier ist es zwar voll, aber nicht überlaufen. Auch viele Einheimische sitzen in den Cafés. Oder kommen gerade aus der Dorfkirche, deren Eingang aussieht wie ein chinesischer Tempel. Ein kleiner Blumenladen macht Werbung für die „Sprache der Blumen“, eine ziemlich willkürliche Zusammenstellung von Blumen und Bedeutungen, die so dargestellt werden, als wären das Wahrheiten: Chrysanthemen für Unschuld, Iris für Vertrauen, Orchideen für Schönheit, Gardenien für unverhoffte Freude, Tulpe für Leidenschaft, Anemonen für Geld, Nelken für Wagemut und alles Mögliche natürlich für Liebe. Verkauft sich gut.
Am Ortsausgang stößt die Straße der Heiligen Sofia auf die Straße des Zeus. Hier beginnt der Wanderweg nach Miloi und in die Enipea-Schlucht. Ich frage eine Einheimische, ob man das zu Fuß schaffen kann und ob meine Sandalen da das richtige Schuhwerk sind, und sie bejaht beides. Sie hat recht. Ein gepflasterter Weg führt durch den Wald, der immer wieder den Blick auf die Berge freigibt, in die Schlucht. Das ist luxuriöses Wandern. Einige der Frauen, die mir entgegen kommen, sehen wirklich so aus, als wären sie auf dem Laufsteg.
Es geht langsam bergan, und es wird immer kühler. Man hört Wasser unten, aber man sieht es nicht, und dann steht man plötzlich vor einem Wasserfall. Leider ist hier der Weg plötzlich zu Ende. Es muss wohl noch einen anderen, „richtigen“ Wanderweg geben, der bis an das Ende der Schlucht führt, aber den muss ich wohl verpasst haben.
Man kann den Olymp auch besteigen, auch als Flachlandtiroler, jedenfalls auf der einfacheren Strecke. Es soll auch geführte Wanderungen geben, aber in Litochoro ist davon nichts zu sehen. Dafür bräuchte man natürlich mehr Zeit.
Ich entscheide spontan, noch nach Vergina zu fahren, das einzige Monument, das ich schon von der früheren Reise kenne. Es ist wieder beeindruckend, aber es haut mich nicht mehr ganz so vom Stuhl wie früher. Warum ist schwer zu sagen.
Das Grab befindet sich unter einem grünen Erdhügel, da wo es sich immer befand. Und das Museum ist gleich da, die Fundstücke sind da, wo sie gefunden wurden, und nicht in einer anderen Stadt. Das ist alles gut, und doch spricht in der Broschüre ein Archäologe skeptisch über die eigene Arbeit. Man habe zutage gefördert, was eigentlich verborgen bleiben sollte.
Trotzdem: Der sehr dunkle, runde Raum vermittelt die richtige Atmosphäre, und der Blick hinunter in auf die helle Wand von Philipps Grab hat eine geradezu metaphysische Qualität. Man geht die Rampe hinunter und bekommt dann die Details zu sehen, eine scheinbar mit Eisen beschlagene, weiße Marmortür mit zwei Halbsäulen an den Seiten, darüber ein Fries mit Metopen und darüber ein Fries mit der Darstellung einer Jagd. Die Szenen könnte man ohne Beschreibung aber nicht erkennen.
Streng genommen ist dies gar nicht der Zugang zu Philipps Grab, sondern zu der Vorkammer. Hier wurde das Grab einer Frau gefunden. Philipps Grab befindet sich dahinter, unsichtbar für uns, hinter einer ähnlichen Wand.
Von einer russischen Reisegruppe, die mich schon den ganzen Tag verfolgt, werde ich zur Seite gedrängt und irgendwo eingequetscht, kann aber auch nicht raus. Als sie endlich gehen und ich einen Moment alleine bin, hole ich heimlich mein Handy raus, um ein Photo zu machen, aber die Aufpasserin oben an der Rampe ist aufmerksam und hält mich davon ab.
Die Funde, die hier gemacht wurden, sind wirklich atemberaubend, auch teilweise der Erhaltungszustand. Vor allem die Funde aus einem zweiten, ähnlichen, aber etwas kleineren Grab mit einem ähnlichen Zugang, dem sogenannten Prinzengrab, weisen praktisch keinen Kratzer auf. Es sind lauter Silbergefäße und Silbergeräte, von einer einfachen, klaren Form, die hoch modern wirkt, ohne Firlefanz, höchstens mal ein Schlangenkopf am Griff eines Schöpflöffels, sonst fast nichts. Unter den Gerätschaften befinden sich ein Salzstreuer und ein ganz feines Sieb.
Von Philipp selbst sind Teile von Rüstungen erhalten und eine Rüstung praktisch komplett, einschließlich der Schienbeinschoner, die angeblich unterschiedlich lang sind und deshalb auf Philipp verweisen, der unterschiedlich lange Beine hatte. Alexander gab ihm gleich vier Rüstungen mit auf die Reise. Die normalen Grabbeigaben waren zwei Speere, in besonderen Fällen ein Schwert und in ganz besonderen Fällen ein Helm. Im Zusammenhang damit heißt es, Waffen seien für Männer das gewesen, was Schmuck für Frauen waren. Gar kein schlechter Vergleich. Daher die wertvollen Materialien und die aufwändigen Verzierungen: Macht, Reichtum, Status, aber wohl auch Beschwörung des Glücks waren damit verbunden.
Aus dem Frauengrab sind goldene Diadem und goldene Kronen erhalten, wie ich sie schon im Archäologischen Museum von Thessaloniki in Hülle und Fülle gesehen habe, vor allem aber auch Teil eines goldbestickten Gewandes.
Erst jetzt erinnere ich mich wieder, wie es mir damals die Couch angetan hatte. Auch sie wurde in Philipps Grabkammer gefunden. Von der Couch ist nichts mehr erhalten, wohl aber die Beschläge aus Elfenbein, Glas, Gold und anderen Materialien, die ganze Kampf- und Jagdszenen darstellen. Je nach Benutzung des Materials sind Körper teils oder ganz erhalten. Bei den Gegnern sind nur noch Arme und Beine erhalten, weil die anderen Körperteile aus minderwertigem Material sind!
Diesmal hat es mir eine andere Sache besonders angetan, ein „Wühltisch“ in der Mitte des Raumes. Dort hat man den „Schutt“ der Ausgrabungen in kleinen Haufen zusammengesammelt, Nägel, Holzkohle, Lehmkugeln, die wie Bohnen aussehen, Glasscherben, Bleikugeln, Fischschuppen.
Als es am frühen Abend zurück nach Thessaloniki geht, ist es unvermindert heiß und hell. Man hat den Eindruck, dass es gerade erst Mittag ist. Auf der dreispurigen Autobahn fährt ein schwer beladenes Motorrad auf dem Seitenstreifen, obwohl die Autobahn fast frei ist. Später, als es enger wird und wir auf Thessaloniki zukommen, fahren zwei Jungs auf dem Motorrad – Mokassins, Shorts. T-Shirts, Helme – hartnäckig auf der linken Spur, auch als ein Auto sie überholen will.
Die Bulgaren sind die Türken Griechenlands. Mit voll beladenen, nach hinten durchhängenden Autos fahren sie im Sommer in die Heimat. Mehrere Exemplare habe ich heute vor mir.
Das Tanken immer wieder verschoben und am Ende bis Thessaloniki aufgeschoben. Am Ende rächt sich das fast. An der Tankstelle steht ein Schild Βενζίνι Τέλος – Benzin Ausgegangen. Ich kurve mehrmals in der Altstadt herum, bis ich den Weg nach unten finde. Dort gibt es an der Hauptstraße gleich an der ersten Tankstelle einen vollen Tank, ohne Schwierigkeiten. Der Tankwart sagt mir, es werde auch keine Probleme geben. Nur das Bezahlen mit Karte könne irgendwann eng werden. Im Moment geht es aber noch. Es stellt sich heraus, dass er Albaner ist. Sieht und hört man nicht. Er hat mal ein halbes Jahr in Deutschland gearbeitet, in Ingolstadt. Auf die blöde Frage, ob es ihm in Griechenland gut gefalle, gibt er eine ausweichende Antwort. Man kann das etwa so deuten: Mir gefällt es hier gut, aber wenn ich die freie Wahl hätte, würde ich in Albanien leben.
Auf dem Weg nach Hause komme ich an einem Hotel vorbei, dessen Name mir auffällt: The Tobacco Hotel. So könnte man heute kein Hotel mehr nennen. Das waren die glorreichen Zeiten. Es erinnert mich an das Tabakmuseum in Kavala und das wiederum an einen Mann aus einer deutschen Reisegruppe. Der hatte sein ganzes Leben im Tabakhandel gearbeitet, in der Türkei und in Griechenland. Er war Nichtraucher. Er sprach gut Griechisch und sagte, in beiden Ländern habe er gerne gelebt.
Während des ganzen Tages Lust auf ein kühles Bier gehabt. Es ist einfach das Wetter dafür. Jetzt mehr nachgeholt, als sein musste. Erst ein kleines in einer Taverne, dann zwei große beim Essen, dann noch ein kleines in einem Café. Dazu noch flaschenweise Wasser.
Als ich in der Taverne nach Spetzofai frage, eine griechische Wurstspezialität, sieht mich der Wirt ganz verwundert an, als wolle er sagen: Dieses ganze Zeug steht doch nur auf der Speisekarte. Kein Mensch erwartet ernsthaft, dass es das gibt. Ich frage dann, was er empfehle: Bisteki. Das ist die griechische Version von Beefsteak. Das machen wir selbst, sagt er, im Brustton der Überzeugung. Dann muss es einfach gut sein, ist die Implikation. Es schmeckt wirklich ganz gut, und das ganze Essen ist unglaublich preiswert.
13. Juli (Montag)
Beim Unterricht kommt die Rede auf den Beruf von Rania und darauf, wie sehr sie unter der Arbeitslosigkeit leidet. Ihr Bruder, der in Liechtenstein ist, hat ihr mal angeboten, es dort zu versuchen, aber sie sagt, sie habe Angst. Angst? Ja, andere Lebensweise, nicht Griechenland. Dabei hat es ihr gefallen, als sie einmal dort auf Besuch war. Sie wohnt noch bei ihren Eltern, und auf die Frage, ob ihr das gefalle, gibt sie eine unerwartet deutliche, nonverbale Antwort, eine Mischung aus Mienenspiel und Geste. Aber sie kann sich keine Alternative leisten.
Mit der Einladung von Elena in ihr Ferienhaus hat sie ihre Schwierigkeiten. Wir kennen uns doch kaum. Ich will da nicht über Nacht bleiben. Hat sie überhaupt genug Räume? Ich habe mich zwar auch gewundert, aber keine Befürchtungen. Ich gehe einfach davon aus, dass alles in Ordnung ist. Warum auch nicht? Das sage ich ihr auch, aber es hat keine Wirkung.
Auf dem Vlali-Markt bekomme ich bei einem Obstverkäufer eine überraschend klare Antwort auf die Frage Nektarine oder Pfirsich: „Pfirsich“, sagt er, ohne zu zögern. Das finde ich gut.
Am Abend geht es mit Vaso und Vasoula, die ich beide vor der Abfahrt nicht mehr sehe – aber so ganz genau weiß man das nie – nach Krini, ein Vorort, von dem viel geschwärmt wird. Hier reiht sich ein großes, teures Lokal ans andere. Man sitzt am offenen Fenster und blickt auf das Meer und die Lichterkette von Thessaloniki rechts und einem anderen Ort links. Weiter hinten sieht man die viel schwächeren Lichter von Chalkidiki. Das ist ganz schön, aber man braucht hier nicht unbedingt gewesen zu sein.
Ob es hier auch Strand gebe, will ich wissen. Ja, aber der wird nur von denen genutzt, die keine Möglichkeit haben, woanders hinzukommen. Die besseren Strände sind ein bisschen weiter raus.
Wir unterhalten uns sehr entspannt, ganz viel über Literatur. Vaso sagt, sie lese Fachliteratur zwar auch auf Englisch und auf Deutsch, aber bei der Belletristik bevorzuge sie Griechisch. Damit ist sie doch vertrauter. Seit Monaten lägen Thomas Manns Bekenntnisse eines Unpolitischen auf ihren Tisch, einfach, weil sie das schon auf Griechisch gelesen hat, aber irgendwie traue sie sich nicht so richtig daran. Es ist zu mühsam. Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Ich habe aber einen Tipp für sie: Versuch’s mal mit was Leichterem. Sie macht sich das Leben unnötig schwer, indem sie nur die Schwergewichte liest: Kafka, Thomas Mann, Jelinek, Thomas Bernhard.
Sie lachen mit mir über meinen Kampf mit dem Griechischen, mit den absurd komplexen Verbformen vor allem. Auch einem bei einer Wortwahl, die ein alltägliches Ereignis stark dramatisiert, und bei einem Wort, das nicht existiert, das man aber verstehen kann.
Die beiden trinken Wein, Weißwein. Das rentiert sich. Ich erfahre, nachdem ich einen Fehler gemacht habe, dass das Griechische zwei Wörter für ‚weiß‘ hat, άσπρος und λευκός. Obwohl ich beide kenne, war mir das irgendwie nicht klar. Warum, das wissen die Götter. Jetzt stellt sich natürlich die Frage des Gebrauchs. Bei Wein, das weiß ich jetzt, ist nur λευκός gebräuchlich. In den nächsten Tagen verfolge ich die Sache ein bisschen, und es stellt sich heraus, dass άσπρος (das Vaso zufolge aus dem Lateinischen stammt) das weit gebräuchlichere Wort ist: άσπρο φόρεμα, άσπρο αυτοκίνητο, άσπρα μαλλιά, ‚weißes Kleid‘, ‚weißes Auto‘, ‚weißes Haar‘. Dagegen kommt λευκός wohl mehr in festen Verbindungen vor, aber eben eher selten: λευκό κρασί, Λευκός Πύργος, Λευκός Οίκος, ‚Weißwein‘, ‚Weißer Turm‘, ‚Weißes Haus‘ (aber: άσπρο σπίτι, ‚weißes Haus‘). Wunderbar!
Auf dem Rückweg streiten die beiden über das Wort ίσια, das Vasoula ständig benutzt und das ich von ihr gelernt habe. Und jetzt selbst gebrauche. Vaso sagt, das sei „falsch“. Das „richtige“ Wort für ‚geradeaus‘ sei ευθεία. Warum es denn nicht zwei Wörter geben könne, frage ich. Das ginge nicht, weil ίσια ‚gerade‘ heiße. Deshalb könne es nicht ‚geradeaus‘ heißen. So ein kompletter Unsinn! Und das aus dem Mund einer Philologin! Sie meint, wir seien eben Linguisten, sie sei Philologin, und als solche sei man eben etwas strenger!
14. Juli (Dienstag)
Der Weg ist derselbe wie gestern Abend, aber bei Licht viel einfacher zu finden, und ich bin viel zu früh am Treffpunkt. Der Mann in dem kleinen Café in der Seitenstraße ist so freundlich, dass es für den ganzen Tag die Note setzt. Erst kommt er raus, um mir die Milch zu bringen, die er vergessen hat, dann kommt er nochmal raus und fragt, ob ich Internetverbindung brauche. Als ich am nächsten Tag dort noch mal einen Kaffee trinke, erkennt er mich sofort wieder.
Am Treffpunkt ist fast niemand. Die eine hat keine Erlaubnis ihres Mannes, woanders zu übernachten, die andere hat niemanden, der auf ihren Hund aufpasst, die dritte, Katerina, erscheint einfach nicht. Nach einigen Anrufen erscheint sie dann doch. Inzwischen ist aus Elena da. Wir sind nur zu viert, brauchen aber zwei Autos, wegen der Rückfahrt. Rania fährt bei mir mit. Wir sind kaum unterwegs, da fängt sie an, sich wegen Elenas Fahrstil zu beklagen. Die fahre wie eine typische Frau. Das habe ich auch gedacht, aber nicht gesagt.
Wir kommen durch einen Vorort von Thessaloniki, der Finikas heißt, genauso wie das griechische Wort für ‚Palme‘. Mit dem quäle ich mich seit Jahren ab. Vielleicht hilft die Erinnerung an die Fahrt ja. Interessant jedenfalls, dass auch hier das Griechische abweicht und keine Variante von Palme benutzt.
Irgendwann weist mich Rania auf zwei gelbe, gedrungene Flugzeuge aufmerksam, gleich über uns. Sehen wie Spielzeug aus. Das seien Flugzeuge der Feuerwehr, sagt sie stolz. Die werden zur Prophylaxe eingesetzt. Sie überwachen die Gegend und fahnden nach Anzeichen von Feuer. Bei der Hitze und der Trockenheit eine gute Idee.
Ihr botanisches Wissen hilft mir auch bei den vielen, vielen blühenden Sträuchern am Wegesrand weit. Es ist Oleander. Auf Griechisch heißt er πικροδάφνη, ‚bitterer Lorbeer‘, was eine Verwandtschaft zum Lorbeer nahelegt, die es gar nicht zu geben scheint. Jedenfalls sind dies reine Ziersträucher. Sie werden hier aber angepflanzt, um den Staub von der Straße aufzufangen!
Wir kommen an einem Sonnenblumenfeld vorbei, und ich erfahre, dass die einfach ήλιος heißen, ‚Sonne‘. So nennt Rania sie jedenfalls. Es gibt aber noch ein zweites Wort, ήλιοτρόπιο.
Wir kommen auch an der bekanntesten Destillerie vorbei, die es in dieser Gegend gibt, Tsandalis. Hier wird Raki hergestellt, der hier im Norden fast immer Tsipouro heißt. Gleich hinter der Destillerie breiten sich die Weinfelder aus.
In der Umgebung von Kallithea werden Plakate für Pelzhandlungen aufgehängt, und in Kallithea selbst befinden sich dann die Lager und Geschäfte. Bei dem Wetter nicht gerade das, wonach einem ist. Es ist jetzt schon so lange so warm, dass ich mir kaltes Wetter, unter dem ich so lange gelitten habe, kaum noch vorstellen kann.
Dann kommen wir nach Chanioti und fahren über eine Art Privatweg zu dem Haus, vor dem es gleich zwei Privatparkplätze gibt. Wir werden von Theo, Elenas Ehemann, in Empfang genommen, einem kleinen, drahtigen, braungebrannten Mann. Er begrüßt mich mit einem deutschen Wortschwall.
Das Haus ist wirklich ein Haus, eins von einer Reihe von Häusern auf einem geschlossenen Areal, das, wie wir später erfahren, nachts abgeschlossen und das ganze Jahr über bewacht wird. Der Wächter wohnt umsonst und bekommt eine Entschädigung von 600 € aus der Gemeinschaftskasse.
Theo nimmt mich voll in Beschlag. Er hat neun Jahre in Frankfurt gearbeitet, Pelzhandel. „Viel Geld, viel Geld!“ sagt er und macht dabei eine Geste, die andeutet, dass die Hosentaschen viel zu klein waren für all die Bündel von Geldscheinen, die man kassierte.
Er hat seit 25 Jahren nicht mehr Deutsch gesprochen. Erstaunlich, wie viel er noch kann. Auch in Frankfurt habe er gar nicht so viele Gelegenheiten gehabt, Deutsch zu sprechen. Seine Kunden waren Griechen, Italiener, Spanier, Amerikaner. In Amerika hat er auch gearbeitet, in einer Reihe anderer Länder auch, aber als ich ihn frage, wo in Spanien er gearbeitet habe, sagt er „Überall“.
Ohne viel Zeit zu verlieren, gehen wir gleich zum Strand. Von Theo animiert: „Machen Sie, was du willst!“ Es ist wirklich purer Luxus. Es sind gerade einmal hundert Meter bis zum Strand. Es geht über einen schmalen Pfad, und man braucht noch nicht einmal eine Straße zu überqueren. Der Strand ist Sand mit Kieselsteinen, das Wasser, türkisfarben schimmernd, ist ganz sauber und klar und genau an der Untergrenze von zu warm. Wenn man rauschwimmt, kommt mit Strömungen immer mal wieder etwas kaltes Wasser, genau richtig.
Am Strand hört man slawische Sprachen und praktisch kein Griechisch. Die Autos kommen meist aus Serbien und Mazedonien, ein paar Sportwagen, aber meist dicke SVU.
Als wir zurückkommen, wird Tsipouro aufgetischt, zusammen mit einer Reihe von Vorspeisen. Selbstverständlich werden Theo und ich bedient. Er trinkt nie, wenn er alleine ist, aber in Gesellschaft schon.
Er erzählt, wie gut er Italienisch und Französisch spreche und gibt eine Kostprobe seines Italienischen. Er macht das wirklich gut, mit passender Intonation und passender Geste, mit sprachlichen Versatzstücken, die er als Ganze gelernt hat. Keine schlechte Strategie, aber ich habe die ganze Zeit das Gefühl, dass er vermutlich kein Verb konjugieren kann. Sein Italienisch habe ihn vor einem Strafmandat bewahrt. Die Polizisten hätten ihn für einen Italiener gehalten und hätten ihn durchgelassen. Sie hätten ihm nicht geglaubt, dass er Grieche sei.
Ich werde immer wieder aufgefordert, zuzugreifen, mich wie zu Hause zu fühlen, nächstes Jahr wiederzukommen und länger zu bleiben als geplant. Er ist selbst im Sommer vier Monate lang hier und vermutlich viel alleine.
Das Haus haben sie seit fünfzig Jahren! Er hat draußen alles alleine angelegt, und das glaubt man ihm gerne. Bei jeder Gelegenheit steht er auf, schneidet irgendwo etwas ab oder bindet einen Strauch fest. Dann zeigt er mir stolz seine Heckenschere: Wolf. Deutsche Wertarbeit. 35 Jahre alt. Damit könne man arbeiten. So etwas würde nur in Deutschland produziert. Ich versuche, seine Begeisterung ein wenig zu relativieren, aber ohne viel Erfolg. Er sagt allerdings, nicht er, sondern Elena habe den Deutschland-Fimmel. Sie frage ihn immer wieder, warum er damals Frankfurt verlassen habe. Ihre jüngste Tochter geht jetzt nach England, als Postgraduierte. Sie sagt, sie habe ihr geraten, dort Deutsch zu lernen, damit sie später nach Deutschland gehen könne.
Theo zeigt uns mit großem Bedauern die Palme im Vorgarten. Vor 35 Jahren gepflanzt. Vermutlich unter Einsatz der deutschen Heckenschere. Der Baum ist krank. Er zieht einen heruntergefallenen Ast über den Boden und zeigt ihn uns. Er sieht wirklich erbärmlich aus. Nur die weiblichen Bäume seien befallen. Zwei Häuser weiter steht eine männliche Palme, die ihre Äste stolz gegen den Himmel reckt. Sie sieht wirklich prächtig aus. Ihre Palme ist aber nicht mehr zu retten. Der Nachbar hat sie am Ende des Stammes beschnitten, aber nur zur Vermeidung von Gartenabfall. Die eigene Palme zu entfernen koste 300 €, sagt er. Am nächsten Tag erzählt er dieselbe Geschichte noch mal. Jetzt sind es schon 400 €.
Dann wird das Mittagessen aufgetischt. Dabei fließt ordentlich Bier. Elena isst gar nichts. Sie trinkt nur Kaffee. Dabei hat sie die ganze Zeit in der Küche gestanden. Sie sieht aus wie eine Lady und arbeitet wie eine Sklavin. Mir liest sie jeden Wunsch von den Augen ab.
Auch Katerina isst nicht. Sie raucht und schreibt SMS. Das bringt Theo auf die Palme. Rania hat er sofort ins Herz geschlossen, aber gegen Katerina polemisiert er, in ihrer Gegenwart, auf Deutsch, hinter ihrem Rücken sozusagen. Von meinen Einwänden will er nichts wissen. Am nächsten Tag hat er seine Meinung aber geändert. Tatsächlich hilft Katerina, wo sie nur kann. Er findet auch, dass sie „gute Gedanken“ habe. Nur mit dem Rauchen kann er sich nicht abfinden.
Als wir später wieder am Strand sind, erscheint Theo auf einmal in seinem Fischerboot. Mit kräftigen Bewegungen rudert er hinaus. Draußen geht es mit Motor weiter. Später kommt er mit dem Fang zurück, sechs oder sieben kleinen Fischen. Die müsse ich unbedingt probieren. Meinen Hinweis auf die Allergie lässt er nicht gelten. Ich hätte noch nie so guten Fisch gegessen. Kann sein.
Am Abend gehen wir ins „Dorf‘. Entsetzlich. Statt einer Kirche, einem Dorfplatz und einem Brunnen gibt es eine riesige Touristenmeile mit Souvenirgeschäften, Fast Food und „Unterhaltung“. Das könnte überall am Mittelmeer sein. Hinweise, dass man in Griechenland ist, gibt es praktisch keine.
Wir setzen uns an den Strand. Hier ist es jetzt ganz ruhig. Und es gibt Stühle, die man frei benutzen kann. Zum Abendessen gibt es nur Melone. Das scheinen alle ganz normal zu finden. Nach der Schlemmerei des Tages ist es auch genau das Richtige. Und die Melone, Wassermelone, schmeckt hervorragend.
Was die Sprache angeht, ist es ein frustrierender Aufenthalt. Wenn es ans Eingemachte geht, wenn es um Politik geht oder um Katarinas komplizierte Biographie – sie spricht fließend Griechisch – bin ich aufgeschmissen. Andererseits werde ich behandelt wie jemand, der kein Wort Griechisch spricht. Selbst die einfachsten Dinge werden übersetzt. Auch Elena, die sonst immer Griechisch mit mir spricht, spricht plötzlich Englisch mit mir. Theo merkt erst ganz am Ende, kurz vor dem Aufbruch, dass ich Griechisch spreche. Einmal kommt es zu einer komischen Situation, als sich Theo, Katerina und Rania unterhalten – Elena ist mal wieder in der Küche. Das einzige Wort, das ich verstehe, ist Bouzouki. Dann erklären sie mir alle drei, der Reihe nach, was Bouzouki ist: „Musikinstrument“. „Griechisches Musik“. Und eine Geste, mit der die Form der Bouzouki angedeutet wird.
15. Juli (Mittwoch)
Früh am Morgen, als noch alle schlafen, zum Strand runter. Da ist es jetzt ganz leer, bis auf ein paar Aufräumer. Im Wasser nur ein riesiger weißer Hut. Die Frau darunter ist nicht zu erkennen. Dann kommt auch noch Lena, der hinkende Nachbarhund, und probiert kurz das Wasser.
Zum Frühstück gibt es Pita mit Apfelsinen und warme Bougatsa, alles selbst gemacht. Wunderbar! Dazu gibt es Filterkaffee, der hier Γαλλικός καφές heißt, ‚Französischer Kaffee‘. Auf den schwört Theo. Für ihn kommt nichts anderes in Frage. Den Griechischen Kaffee mag er überhaupt nicht. Vielleicht ist das das Resultat seiner vielen Auslandsaufenthalte.
Auf dem Weg zum Strand frage ich nach der Aussprache von Theo, nicht ahnend, worauf ich mich eingelassen habe. Ich bekomme alle Antworten, die ich nicht haben will – dass das der Name von Elenas Mann ist, was er bedeutet, aus welchen Bestandteilen er besteht, dass er eine Kurzform von Theodoros ist. Aber nicht auf das, was ich wissen will. Warum ist der erste Laut in Theo nicht derselbe wie der erste in Theodoros? Als es endlich so weit ist und ich erfahre, dass nur dieser Theo so heißt und dass die Aussprache von der Norm abweicht, fragt Elena ganz entgeistert: „Bist du vielleicht Philologe?“. So als wenn nur irgendwelche Irren auf die Idee kämen, so eine Frage zu stellen.
Elena stürzt sich ins Wasser und ist nach kürzester Zeit mit kräftigen Schwimmzügen ganz weit hinten im Meer verschwunden. Bei ihrer anderen Gymnastik, die sie alternierend mit unserer macht, gibt es ein Schwimmbad. Da schwimmt sie jedes Mal, mindestens anderthalb Stunden! Kein Wunder, dass sie so fit ist.
Zum Mittagessen wird noch einmal ganz dick aufgetischt. Mein Hinweis auf meine Allergie hat gleich eine ganze Änderung des Speiseplans mit sich gebracht. Dass muss man wohl einfach hinnehmen. Es wird Rotwein getrunken, Nemea, offensichtlich ein bekannter Wein hier.
Dann packen wir unsere Siebensachen. Katerina fährt, entgegen der ursprünglichen Absicht, jetzt doch mit uns. Von der Änderung der Pläne habe ich mal wieder nichts mitbekommen. Der Abschied ist genauso herzlich wie alles in den beiden Tagen, und dennoch teilen Rania und ich den unbestimmten Eindruck, dass man jetzt ganz froh war, uns los zu sein. Was auch verständlich wäre. Man hätte doch nach dem Frühstück aufbrechen müssen. Aber irgendwie standen dem die vielen Aufforderungen entgegen, möglichst lange zu bleiben. Wohl nicht richtig gedeutet.
16. Juli (Donnerstag)
Beim Frisör komme ich nicht sofort dran. Die Friseuse sagt mir, wie lange es noch dauert. Kann es sein, dass sie elf Minuten gesagt hat? Das Wort geht mir auf dem Weg zum Café nicht aus dem Kopf, aber ich finde keine andere Erklärung. Die Preise auf der Karte im Café sind durchgestrichen und durch niedrigere ersetzt. Das bestätigt, was eine Frau bei der Gymnastik gesagt hat. Die Preise sind in der Krise gesenkt worden. Auf der Speisekarte, eher ein Faltblatt, das ankündigt, dass der Lieferservice bis um fünf Uhr am Morgen funktioniert, stoße ich auf ein Wort, dass ich immer wieder vermisst habe. Es gibt Crèpes, und die gibt es in zwei Varianten: Γλυκιά ή αλμυρή: ‚Süß oder salzig‘.
Die Friseuse ist eine kleine Frau mit dem Körper eines Mädchens und dem Gesicht einer alten Frau. Der Kontrast wird noch unterstrichen durch ihr in drei Tönen gefärbtes Haar – dunkelrot, blond und violett – und eine schwere, schwarze Lederschürze.
Sie spricht laut und grüßt die Vorbeikommenden, zeigt Suchenden den Weg und gibt Leuten, die in den Laden kommen, Anweisungen, wo etwas ist, was sie abholen wollen. Sie ist ständig beschäftigt.
Sie ist nicht die Besitzerin, sondern eine Angestellte. Einer neuen Kundin, die jetzt wartet, erzählt sie dasselbe wie einer anderen Kundin vorher. Wunderbar. Ich bekomme eine zweite Chance. Die Chefin sei in Urlaub, in Ferien. Dabei benutzt sie διακοπούλες, eine Variation des Worts für ‚Ferien‘. Ich frage nach, ob ich richtig verstanden habe. Sie bestätigt es, fügt aber sofort den unsterblichen Satz hinzu: „Das ist aber kein richtiges Wort. Wir benutzen es nur.“ Der Frisörbesuch hat sich jetzt schon gelohnt.
Sie fragt nach Deutschland und was man dort von der Griechen denke. Eine heikle Frage. Irgendwie biege ich die Sache mit langem Ausholen hin, und am Ende strahlen sie um die Wette, die Friseuse, das Mädchen, das ihr hilft und die Kundin.
Ich frage zurück, wie das Geschäft laufe. Ob sie zufrieden sei. Eher weniger, scheint mir ihre Geste zu bedeuten. Sie will wissen, ob die Friseusen in Deutschland gut bezahlt werden. Die Antwort haut sie um. Das hat sie sich nicht vorgestellt.
Heute will Hilda zum Strand. Ihre Tochter liege ihr in den Ohren. Warum nicht? Ich hole sie unten bei der Gymnastik ab. Die Tochter und eine Freundin vor ihr, zehn und elf Jahre alt, erscheinen in feschen Hüten und schicken Sommerkleidern. Sie sind sehr pflegeleicht und kommen gut miteinander aus.
Unterwegs sagt sie einen Satz auf Griechisch, den ich nicht verstehe. Sie erklärt auf Spanisch. Es ist ein Konditionalsatz, vom Typ Irrealis, nicht einfach zu bilden, aber nicht schwer zu verstehen. Ich bitte sie, ihn noch einmal auf Griechisch zu sagen. Sofort wird sie unsicher. Sie sagt den Satz, fragt aber ihr Tochter, ob der richtig sei. Ja, Mama, sagt die, richtig. Hörte sich auch so an. Sie unterschätzt ihre eigene Sprachkompetenz im Griechischen, resultierend aus der Unsicherheit der Einwanderin. Den Eindruck hatte ich dieser Tage schon. Sie kann alles. Außer Schreiben. Das ist wohl auch eine Quelle der Unsicherheit.
Für den griechischen Pass fehlt ihr nur noch die Landeskundeprüfung. Da ist sie mit Pauken und Trompeten durchgefallen. Sie sagt aber im Brustton der Überzeugung, sie wolle sich jetzt richtig vorbereiten: Der höchste Berg, der längste Fluss, der Text der griechischen Nationalhymne. Sie geht das alles mit ihrer Tochter durch.
Wir kommen an der Abfahrt nach Petralona vorbei, und ich frage, ob sie da schon mal gewesen sei. Nein, sie kenne nur Thessaloniki. Kein Kreta, kein Mykonos, kein Korfu, auch in Athen und auf dem Peloponnes ist sie wohl noch nicht gewesen. In all den Jahren. Besonders Korfu reizt sie.
Wir fahren in die gleiche Richtung wie vorgestern, aber nur die halbe Strecke, bis nach Sosopouli. Dort ist es genauso gut wie in Chalkidiki. Man fragt sich, woher der schlechte Ruf kommt. Strand und Wasser sind perfekt. Es ist etwas ruhiger, die Gäste sind ausschließlich Griechen. Die Strömung ist hier noch etwas stärker, und wenn man etwas hinausschwimmt, kommen eiskalte Ströme auf einen zu, die dann schnell wieder verschwinden.
Man muss ein paar überteuerte Getränke bestellen, bekommt dafür aber Liegestühle unter Sonnenschirmen ohne zeitliche Begrenzung. Der schreckliche, weiße Schoßhund, den sie dabei haben, zieht die Aufmerksamkeit der anderen Badegäste auf sich und ist ein willkommener Kommunikationsanlass.
Ich frage nach ihren beiden Töchtern. Die verstehen sich nicht so gut, sagt sie ganz freimütig. Die Große könnte etwas liebevoller mit der Kleinen umgehen. Aber wehe, wenn sie irgendeine Aktion gegen die Kleine unternimmt. Dann steht die Große auf der Matte. Als sie sie vor kurzem bestraft hätte, sei die andere gekommen und hätte ihr Vorwürfe gemacht. Nicht so leicht, Mutter zu sein.
Die Strafe betraf die elektronischen Medien. Die dürfen nur eine begrenzte Zeit pro Tag benutzt werden. Das ist sie ganz streng. Obwohl sie selbst ein Junkie ist, habe ich das Gefühl, jedenfalls was Facebook und Photos angeht. Aber das Mädchen hält sich an die Regeln. Auch hier ist sie lange mit Taucherbrille und Freundin und einem Jungen, der dazustößt, im Wasser und will gar nicht mehr raus. Und greift nicht sofort zum Handy, wenn sie aus dem Wasser kommt.
Als es Mittag wird, leert sich der Strand immer mehr. Auch Hilda musste sich am Anfang an die griechische Mittagsruhe gewöhnen und an die strengen Regeln, die dafür gelten. In Santo Domingo würde hier ein Radio laufen, dort würde laut geredet, und keiner störe sich daran. Auch sie klagt über die Arbeitslosigkeit und die schwierige Situation in Griechenland und argumentiert, dass die Erhöhung der Mehrwertsteuer eher kontraproduktiv ist. So kühl argumentiert sie sonst nicht. Und ich kann ihr nur zustimmen. Sie will aber trotzdem hier bleiben. Sie möge dieses Land, sagt sie, sie sei hier heimisch geworden. Ihre Familie ist teils in Santo Domingo, teils in Miami, teils in New York. Jetzt im Sommer kommen alle in Santo Domingo zusammen, sieben Geschwister mit Anhang. Nur sie kann nicht dabei sein, da ihre Papiere noch nicht eingetroffen sind.
Auf dem Rückweg hören wir ihre Musik. Bachata. Sie legt die CD ein, und ich muss laut lachen. Sie lacht mit, intuitiv verstehend, was mein Lachen bedeutet: Es ist derartig stereotyp, dass es wie eine Parodie wirkt. Nach zwei Takten ist man mitten in der Karibik.
Als ich wieder zu Hause ankomme, mache ich mich in der Nachmittagshitze auf die Suche nach einem Blumenladen. Blumen für Stella, die Trainerin. Die andere, Maria, bekommt ein Buch. Ein Mann mit schwer tätowierten Armen bindet mir einen wunderschönen Strauß. Als er den Preis nennt, glaube ich, mich verhört zu haben, aber es stimmt: Vier Euro, einschließlich Verpackung und Kärtchen.
Auf dem Rückweg gehe ich beim Bäcker vorbei. Die Frau spricht mich auf die Blumen an. Für wen die denn seien, für meine Frau? Nein. Ich erkläre ihr für wen. Und sie sagt, die kann sich aber freuen, so schöne Blumen. Und als ich dann im Supermarkt an der Käsetheke vorbeikomme, spricht mich die Frau hinter der Theke an. Das seien aber schöne Blumen. Es folgt fröhliches Frotzeln über Blumen für Frauen von Männern. Wenn sie mit so einem Strauß nach Hause käme, würde ihr Mann sie in die Wüste schicken. Die vier Euro haben sich rentiert, jedenfalls in kommunikativer Hinsicht.
17. Juli (Freitag)
Auffällig sind die vielen Straßenfeger, die in den frühen Morgenstunden unterwegs sind. Thessaloniki wird sauber gehalten. Auch um die Bäume an der Meerespromenade herum wird geharkt. Die heruntergefallenen Äste und Nadeln werden entfernt. Die Bürgersteige sind durch das Fegen wirklich sauber, aber gleichzeitig in einem erbärmlichen Zustand.
Auffällig in den Supermärkten ist die fast völlig Abwesenheit von Aufschnitt, jedenfalls in den Regalen, mit Ausnahme einer unappetitlich aussehenden Mortadella. Es gibt auch keinen Schinken. Auch Metzgereien haben keine Wurstwaren. Im Zentrum habe ich gelegentlich kleine Läden gesehen und auf den ständigen Märkten ein paar Stände, die sich darauf spezialisieren. Aber man muss sie suchen.
Zum ersten Mal ist die Nachbarwohnung besetzt. Ein brasilianisches Paar, das schon seit Monaten durch Europa reist und jetzt noch einen Monat Italien vor sich hat. Begegnet bin ich ihnen aber nicht.
Sofia ist extra ihretwegen zurückgekommen. Morgen fährt sie wieder nach Chalkidiki. Ihre Gastgeberin hat sie eingeladen, länger zu bleiben. Es ist eine Engländerin, die seit fünfzig Jahren hier lebt und mit einem Griechen verheiratet war, ein Künstlerehepaar, das sich im dritten Finger, in einer gottverlassenen Ecke auf dem dritten Finger von Chalkidiki eine Hütte bauten, in der sie eine Werkstatt unterbrachten. Darunter wurde im Laufe der Zeit das Ferienhaus. Es ist völlig abgelegen. Wenn man es nicht kennt, findet man es kaum. Es liegt direkt, wirklich direkt am Strand, unter einem Felsen verborgen. Nur eine nicht asphaltierte Straße verbindet das Haus mit einem vier Kilometer abgelegenen Dorf. Nur ganz wenige andere Häuser sind in der Nachbarstadt entstanden. Der Strand wird nur von denen benutzt, insgesamt gerade mal zehn. Die Engländerin verbringt das ganze Jahr dort außer den drei Wintermonaten. Sie wird von ihrer Tochter versorgt, die regelmäßig mit Nahrungsvorrat dort auftaucht. Als sie am Anfang mit ihrem Mann zusammen das Haus hatten, waren sie völlig von der Welt abgeschnitten, ohne Post, ohne Telefon. Sie hat sich so an die Einsamkeit gewöhnt, dass sie sich selbst dann zurückzieht, wenn sie Gäste hat.
Sofia genießt das Leben dort. Sie schwärmt von der Einsamkeit und der Frische. Und langweilt sich nicht. Sie geht dreimal am Tag Schwimmen, kocht und liest. Außerdem sammelt sie ein Grünzeug, das an den Felsen wächst, nicht Algen, aber etwas Ähnliches. Sie hat mir ein Glas mitgebracht, und ihr eigener Kühlschrank ist voll davon.
Von Chanioti ist sie nicht so angetan, aber als ich dann auch noch Sosopouli erwähne, ist sie völlig entsetzt: Warum denn dahin? Ausgerechnet dahin? Was daran so schlecht sein soll, verstehe ich nicht. Es ist wohl eher eine soziale Einordnung. Das Wasser und der Strand waren wunderbar.
Wir unterhalten uns noch – wie sollte es anders sein – über Bücher. Sie sagt, sie lese am liebsten auf Englisch, und am liebsten ausländische Literatur. Vom Zauberberg ist sie begeistert. Den hat sie gleich zweimal gelesen. Sie braucht Bücher, die ihr Stoff zum Nachdenken sind. Im Lesekreis lesen sie sonst nur griechische Autoren. Am Anfang haben sie sogar nur Autoren aus Thessaloniki gelesen und die anschließend zu der Diskussion eingeladen. Ich finde das wunderbar, aber sie reagiert eher verhalten. Das sei alles ganz schön und gut, aber sie lege die Bücher aus der Hand und frage sich: Ja, und? Vasoula hat sie ein bisschen mit ihrer Begeisterung für Krimis infiziert, die sie eigentlich nicht mag, wenn es nur darum geht, wer der Mörder war. Aber sie haben einmal einen Vortrag gehört, der die Geschichte der Kriminalliteratur behandelte. Jetzt steht sie dem Krimi offener gegenüber. Besonders die skandinavischen Autoren mag sie. Zum Abschied bekomme ich Buch und eine schön verzierte Kladde für Notizen. Wir versprechen uns gegenseitig, in Kontakt zu bleiben und uns gegenseitig zu besuchen.
18. Juli (Samstag)
Auf der Suche nach Sangria komme ich in einen Getränkeladen. Der junge Mann, der den führt, hat eine große Auswahl an Bieren, auch deutschen Bieren. Alle in Einzelflaschen präsentiert und wohl auch verkauft. Sangria hat er nicht. Die bekäme ich im Supermarkt. Stimmt. Da finde ich sie. Sie ist für die Gesundheitsapostel des Fitnessclubs, bei denen man nicht mit Wein antanzen kann.
In das Verkaufsgespräch auf dem Markt mischt sich ein Käufer ein. Er ist überrascht über einen Griechisch sprechenden Ausländer. Er selbst hat auch familiäre Beziehungen zu Deutschland und ist zweimal dagewesen, in Mainz.
Bei dem Kauf geht es um Größe und Muster eines Hemds für die Rückfahrt. Es hat zwei mit Knöpfen verschließbare Taschen und eine weitere mit Reißverschluss verschließbare. Dazu kaufe ich noch Shorts, ebenfalls mit verschließbaren Taschen. Sowohl das Hemd als auch die Shorts gibt es für 5 €. Wer kann daran verdienen?
In einem Café fragt mich die junge Kellnerin, wo ich Griechisch gelernt hätte. Sie habe versucht, ihren Freunden Griechisch beizubringen („I learned them Greek“), aber die hätten gar nichts gelernt. Hat vielleicht an der Methode gelegen, nicht an den Freunden. Wie alle fragt sie, ob ich nicht ans Meer wolle. Ich dachte, ich könnte jetzt endlich eine zufriedenstellende Antwort geben, aber als ich Chanioti und Sosopouli nenne, verzieht sie das Gesicht: Auf den zweiten Finger solle ich fahren, nach Nikiti. Gute Nachricht für die Verwandtschaft. Die sind dahin quasi unterwegs.
Gleich an Ort und Stelle in dem frisch eingetroffenen Reiseführer von Chalkidiki gestöbert. Und dort gleich auf etwas gestoßen, was mir noch nie klar geworden ist: Thessaloniki ist die ewige Zweite, erst im Byzantinischen Reich hinter Byzanz, dann im Osmanischen Reich hinter Istanbul, dann ich Griechenland hinter Athen, dem attischen Dorf.
Als ich zurückkomme, sitzt Dimitris mit zwei weiteren Männern auf den Stufen vor seinem Geschäft. Wie immer, überschwängliche Begrüßung. Er macht nach, wie er mich morgens am Geschäft vorbeilaufen sieht. Einer der Männer spricht fließend Deutsch, lebt in Stuttgart, seit mehr als fünfzig Jahren. Er kann auch mit deutschen Vornamen umgehen. Er macht eine Geste mit der Hand, längs den Körper runter. Die eine Hälfte ist griechisch, die andere deutsch. Das kann man sich vorstellen. Da müssen in den zwei Brusthälften wirklich oft zwei Seelen schlagen. Dimitris fragt, ob ich griechischen Wein möge. Ja, aber an den kommt man in Deutschland schlecht dran, sagen wir beide, schlechter als an kalifornische, chilenische und südafrikanische. Sofort macht er Pläne, wie ich Geschäfte machen kann. Bei der Rückfahrt die ersten fünf Flaschen Rotwein von hier – er deutet auf das Spirituosengeschäft – mitnehmen. Das ist der Beginn des Exporthandels. Wir sprechen noch ein bisschen weiter, in einer wunderbaren Melange von Deutsch und Griechisch. Mir geht, wie man früher gesagt hätte, das Herz auf.
Woher kommt eigentlich das Wort Grieche, wenn die Griechen selbst sich doch Hellenen nennen, Ελληνες. Das Internet weiß die Antwort. Grieche kommt von Graecus, ist also Lateinisch, und das kommt wiederum von Γραικοί, der Bezeichnung eines griechischen Stammes. Das ist eine von drei gängigen Bezeichnungen für die Griechen, die, sich in den meisten europäischen Sprachen findet. Das andere gängige Wort, vor allem im Nahen Osten verbreitet, ist von den Ionier abgeleitet. So heißen die Griechen auf Arabisch, Hebräisch, Armenisch und Türkisch. Die dritte Wurzel ist eben die der Hellenen. Dieses Wort gibt es im Chinesischen und Vietnamesischen und auch im Norwegischen! Eine Ausnahme bildet das Georgische. Das hat eine weitere, vierte Wurzel, die sonst keine Sprache teilt. Die Hellenen waren ursprünglich ein kleiner, aber mächtiger Stamm aus Thessalien. Allmählich wurde das Wort auf andere Stämme übertragen. In der Ilias kommen drei Wörter für Griechen vor, (in aufsteigender Reihenfolge) Argiver, Danaer und Achäer. Gar nicht so einfach für den Leser, der schließen muss, dass immer dasselbe gemeint ist.
Die in dem neuen Reiseführer empfohlenen Lokale konzentrieren sich an zwei Punkten, einem in der Oberstadt, einem in der Unterstadt. Von allen genannten Lokalen kenne ich nur zwei, beide gleich hier in der Nähe. Ich mache mich auf die Suche nach denen in der Oberstadt empfohlenen und verliere mich dabei in der engen Gassen. Es stellt sich heraus, dass zwei von den empfohlenen Lokalen, darunter das mit dem kuriosen Namen Hier sprang der Opa aus dem Fenster, das mir auch schon aufgefallen war, inzwischen dicht gemacht haben. Und ein drittes, das dem Reiseführer zufolge „schwer zu finden“ ist, ist überhaupt nicht zu finden. Nach mehrmaliger Nachfrage stehe ich vor einem Haus, dem man nicht einmal mehr ansieht, dass hier früher ein Lokal war. Bilanz: Von sechs gesuchten Lokalen haben in den letzten drei Jahren drei zugemacht. Sinnbild der griechischen Krise.
Es bleibt gar nicht mehr so viel übrig, wenn man die Cafés und Ouzerien und die teuren Lokale abzieht, kommt in der Oberstadt nur noch eine Taverne in Frage: Chiotis, an einem der Endpunkte der Oberstadt gelegen. Nach einer wahren Odyssee, die mich unter anderem über eine lange Treppe führt, gelange ich dorthin und merke, dass ich Ecke gut kenne, von einer der ersten Besichtigungen in Thessaloniki. Es scheint sich ein Kreis zu schließen.
Die Suche ist zwar etwas anstrengend – als ich um sieben aus dem Haus gehe ist es noch 33° warm – aber irgendwie genieße ich auch das Suchen und das Fragen. Inzwischen wird in den allermeisten Fällen auf Griechisch geantwortet.
Die Spezialität der Taverne heißt Rembetiko, wie die Musik. Es ist eine in kleine Stücke geschnittene, scharfe Wurst, die mit Käse überbacken ist, zusammen mit Tomaten, Pilzen, Paprika. Sieht harmlos aus, aber sättigt. Die ganze Atmosphäre ist so mediterran, mit der weißen Kirche, dem türkischen Turm, der byzantinischen Stadtmauer, der lauen Sommerluft, der kleinen Terrasse, einschließlich der typischen unbequemen Korbstühle, dass eigentlich Wein dazu gehört, aber das Wetter verlangt einfach nach kaltem Bier.
Dann kommt, als die Sonne untergeht, auch noch Musik dazu. Eine junge Frau mit Gitarre und ein nicht mehr ganz so junger Mann mit Bouzouki spielen griechische Musik. Einige der Gäste summen mit. Alles Instrumental. Es klingt sehr gut, sehr klar, mit starken Wechseln im Rhythmus. Und dann fangen sie plötzlich an zu singen. Die Frau hat eine schöne Stimme, etwas tiefer, etwas durchdringender, als ich erwartet hatte. Er hat eine bescheidenere Stimme, trifft aber jeden Ton und macht die zweite Stimme oder eine Art Echo beim Refrain. Wunderbar! Der Wirt, angetan von meiner kindlichen Begeisterung für die Musik, serviert mir auf Kosten des Hauses ein weiteres Bier. Es stellt sich heraus, dass ich Glück hatte. Musik gibt es hier nur freitags und samstags, und heute ist es das letzte Mal vor der Sommerpause.
19. Juli (Sonntag)
Am Morgen Erinnerung an ein denkwürdiges Gespräch mit Theo in Chanioti. Ich fragte ihn, wie er das Fischen gelernt hatte und er antwortete, mit einer Miene, die die Frage in die Kategorie „Blöde Frage“ verweist: „Ich mache das seit 35 Jahren.“ Als ob das etwas erkläre.
Beim Vorbeilaufen habe ich zweimal Touristen auf dem Gelände des Palasts des Galerius gesehen. Ich will es heute noch mal versuchen, aber alles ist, wie sonst auch immer, verschlossen. Als Alternative gehe ich dann zum Photographiemuseum, wo man mir vor Wochen gesagt hatte, ich solle es in einer Woche noch mal versuchen. Draußen immer noch dasselbe Schild. Man befinde ich im Zuge der Vorbereitung einer neuen Ausstellung. Deshalb sei geschlossen. Keine Datumsangabe. Darunter: „Wir bitten um Ihr Verständnis.“ Darunter hat jemand gekritzelt: „I don’t understant.“
Gleich nebenan gibt es eine kleine Ausstellung zur Geschichte des Hafens. Man erfährt nicht so schrecklich viel, außer dass der künstliche Hafen 1904 angelegt worden und dann langsam durch weiteres Piers nach Osten und nach Westen hin erweitert worden ist. Aber die Geschichte wird eindrucksvoll mit Photos dokumentiert, schwarz-weiß für die alten, farbig für die neuen Ansichten, alle in demselben, kleinen Format. So komme ich doch noch zu meiner Photoausstellung. Es gibt in Bild abfahrenden Flüchtlinge, dicht gedrängt in einem Schiff, die Arme nach unten gereckt für den letzten Abschiedsgruß, ein Bild der abrückenden britischen Soldaten im Ersten Weltkrieg, die an einer Leiter von einem Boot aus auf das Schiff steigen, ein Bild mit den am Hafen festgebundenen britischen Pferden (Ich hatte keine Ahnung, dass man zu Kriegszwecken Pferde durch halb Europa transportiert), ein Bild der Tabakträger, die genau den Sattel tragen, den ich in Kavala im Museum gesehen habe, ein Bild eines Hirten, der sein voll besetztes Boot mit Ziegen durch den Hafen rudert, ein Bild, auf dem ein Kran Abfall ablädt, der in der Form großer Kieselsteine auf den Haufen fällt, eine schöne Luftaufnahme, in der der Hafen wie ein Spinnennetz aussieht und eine weitere wunderbare Luftaufnahme, in der die Ladefläche des Hafens erscheint, mit ein paar eingezeichneten Linien und ein paar Kratzern, und in dem nur ganz am Rande ein einziger, verlassener Lastwagen steht.
Als ich danach noch ein bisschen durch die Gegend laufe, komme ich an ein paar offenen Geschäften vorbei, Kleidungsgeschäften und Supermärkten. Eher ungewöhnlich für einen Sonntag. Andererseits weisen verschiedene Geschäfte darauf hin, dass morgen geschlossen ist. „Brot für drei Tage“ empfiehlt man am Schaufenster einer Bäckerei. Es ist, laut Reiseführer, der Tag des Propheten Elias, und an diesem Tag sollen die Kirchen auf den Berggipfeln geschlossen sein. Von der Stadt ist nicht die Rede. Später sehe ich aber im Vorbeikommen an der Profitis Ilias, dass dort Fahnenschmuck angebracht ist. Das wird es also wohl sein.
Mehrmals an Bankautomaten vorbeigekommen, an denen keiner stand. Einmal die Probe gemacht, und da stand tatsächlich, dass der Geldautomat außer Funktion sein. Aber dann, in der Tsimiski, gleich an drei Geldautomaten ohne Kundschaft vorbeigekommen, die alle funktionierten. In einem steckt noch die Quittung: 60€. Insgesamt scheint die Piräus-Bank besser gerüstet als die Alpha-Bank. Vielleicht eine Frage der Zahl der Kunden.
In letzter Zeit ein bisschen auf die Aufdrucke auf T-Shirts geachtet. Wenn spätere Archäologen die finden, werden sie viele Anhaltspunkte für unsere Zivilisation haben, aber genauso viele offene Fragen. Unter anderem sehe ich True love, Take me away, Fun in the Sun, Break the rules, I smile because I have no idea what’s going on, das enigmatische 12.57, das ebenso enigmatische Céline me alone, Which of the two do you like better? (von einer Frau getragen, mit dem Bild von zwei Katzen über der Brust), Don’t take candy from a stranger, Look at the bright side, I like shoes, bags and boys (getragen von einer nicht ganz jungen Frau mit unförmigem Körper) Selfie, Call me Miss Admiral, das bescheuerte J’adore New York, Wild Τhing (getragen von älterer, stark geschminkter Frau mit gefärbtem Haar), No boyfriend, no problem (wo einem eine Reihe von Alternativen zu boyfriend in den Kopf kommen) und mein Favorit Normal people scare me. Ich frage mich vor allem, was die Aussageintention ist und ob die Menschen in dem Moment bewusst ist, welche Aufschrift sie da mit sich herumtragen. Was bedeutet True Love? Ich glaube an die wahre Liebe? Ich habe die wahre Liebe gefunden? Man soll sich nur der wahren Liebe hingeben? Ich weiß, was wahre Liebe ist? Oder klingt es einfach cool?
Am Abend noch einmal auf die Suche nach den im Reiseführer empfohlenen Lokalen gegangen, diesmal denen im Zentrum. Auf dem Weg ins Zentrum in Agia Sofia reingegangen. Alle Versuche, die Mosaiken und Fresken gut zu sehen oder zu photographieren, misslingen, nur ein Photo der Schatten, die von den Sprossen der großen Fenster, die denen der Trierer Basilika ähneln, auf die Fensterkante geworfen werden, wird gut. Auf einer Ikone die Darstellung der Dreifaltigkeit in der Form von drei gleich jungen Engeln. Auf einer Ikone erscheint das Wort Thessaloniki. Für einen Moment glaube ich, dass es eine Heilige Thessaloniki gibt, aber der hier abgebildete Heilige hat wohl nur mal Station in Thessaloniki gemacht.
Bei der Suche nach den Lokalen wieder viele Kilometer gemacht. Dabei einmal von einer leise sprechenden, freundlichen Frau mit einem gewinnenden Lächeln eine genaue Auskunft bekommen. Sie verwendet dabei das Wort τετράγωνο für ‚Block‘, das ich hier noch nie gehört habe und das selige Erinnerungen an spanische Zeiten weckt. Genauso wie die Spanier zählt sie dabei laut mit: „Nach dem ersten, dem zweiten, dem dritten Block rechts“. Das Wort Tetragono erklärt sich von selbst, auch wenn man es noch nie gehört hat.
Unterwegs höre ich aus einem Hochhaus in einer ruhigen Straße vertraute Klänge in einer vertrauten Sprache. Ich gehe den Klängen nach und sehe an der Eingangstür eines Hochhauses: Deutsche Evangelische Gemeinde. Zufällig oder nicht steht in der Straße ein voll funktionstüchtiger VW-Käfer.
Die Lokale sind alle schwer zu finden. Das Leoforos Nikis hat Sommerpause, das Karpousi, die ‚Wassermelone‘ ist einer gesichtslosen Bar gewichen, in der es Sandwiches und Croissants gibt, das verrückte, indisch angehauchte Lokal existiert zwar, heißt aber nicht Ethnik, sondern Bar Nazionale (und hat außerdem den griechischen Namen Υψηλιο), das Ta Aderfia ist vom Erdboden verschwunden. Ich lande am Ende im Ladokolla, gleich nebenan, ebenfalls an der Plateia Navarinou. Aber dieses Lokal heißt Astrofeggia, ‚Sternenlicht‘, das Wort Ladokolla, das von dem Pergamentpapier herrührt, in der Fleischportionen eingewickelt wurden, steht nur noch als Ergänzung darüber. Selbst die Kellnerin kann mit dem Namen Ladokolla nichts anfangen! Ganz egal wie der Name ist, heute gibt es zum letzten Mal Essen mit dem Mehrwertsteuersatz von 13%.
20. Juli (Montag)
Auf dem Weg zur Gymnastik geht ein Mann in Sportklamotten an mir vorbei. Er geht, aber wie! Große Schritte, dynamische Handbewegungen, gleichmäßiger Rhythmus, es sieht eher wie ein Marsch aus als das eierförmige Gehen der Geher beim Sport. Er ist so auffällig, dass ein Mann ihn darauf anspricht. Im Weitergehen ruft er ihm eine Erklärung zu. Ich kann noch nicht einmal ein paar Meter mit ihm mithalten. Er geht vermutlich so schnell, wie wir laufen.
So früh bei der Gymnastik, dass noch Zeit für Kaffee in dem kleinen Café bleibt. Diesmal bedient mich eine Frau. Ich mache einen Kommentar zu einem Ausspruch auf ihrem T-Shirt, irgendein Wortspielt mit Kaffee. Sie antwortet, ich verstehe sie nicht, ich bitte sie, zu wiederholen, und sie tut etwas völlig Unerwartetes, Außergewöhnliches, noch nie Dagewesenes: Sie wiederholt!! Und beim zweiten Mal verstehe ich.
Die Mehrwertsteuer, das weist auch die Quittung aus, beträgt jetzt 23%. Der Kaffee ist teurer geworden. Von 0,90 € auf 1,00 €. Am Nachmittag trinke ich noch einen Kaffee am Jüdischen Bad, mit Bedienung, Wasser und Gebäck. Der kostet weiterhin 3,00 €.
Nach der Gymnastik gehen wir alle zusammen in Hildas halb eingerichtete neue Wohnung und trinken Kaffee. Das Gespräch kommt auf Religion, und Elena erklärt, es gebe innerhalb der orthodoxen Kirche zwei Ausrichtungen, eine „alte“ und eine „neue“. Wenn ich das richtig verstehe, liegt der Schwerpunkt bei der alten ganz auf dem Glauben. Das hört sich fast protestantisch an. Russland und der Balkan gehören geschlossen der alten Schule an, Griechenland ist geteilt. Merkwürdig, dass ich noch nie davon gehört habe.
Auf dem Rückweg bleibe ich kurz bei Dimitris stehen und frage verwundert, warum er geöffnet hat. Ich meinte den Montagnachmittag, aber er meint, ich meinte den Feiertag. Er sagt mit verächtlicher Miene: Meinst du, für den Elias mache ich mein Geschäft zu? Und mit seinem typischen, ansteckenden Lachen macht er mit Gesten die kniefällige, untertänige Haltung der Gläubigen nach. Eine Romanfigur.
21. Juli (Dienstag)
Am Morgen an der Strandpromenade drei Läufer vor mir gehabt, junge Männer, athletisch. Sie laufen langsamer als ich, ganz gemächlich, und unterhalten sich dabei. Und kommen trotzdem gut voran. Ich passe mich ihrem Tempo an, und es geht besser als sonst.
Es ist jetzt am frühen Morgen hier viel los, während die Stadt noch ganz leer ist. Wer läuft, läuft am frühen Morgen, und doch kommen fast alle sichtlich ans Schwitzen.
Dem Reiseführer zufolge ist Diebstahl für die Reisenden in Griechenland praktisch kein Problem. Das entspricht genau meinem Eindruck. Ich hatte in der ganzen Zeit noch nicht einmal jemals das Gefühl, besonders vorsichtig sein zu müssen. Der Reiseführer erklärt das damit, dass Ehrlichkeit einen besonders hohen Stellenwert in der griechischen Gesellschaft habe. Das gilt aber wohl nicht für den öffentlichen Bereich. Den Staat bescheißen hat auch einen hohen Stellenwert.
Das griechische Wort für ‚Jungfrau‘, das Sternzeichen ist Παρθένος. Da klingt das Parthenon an. Das war der jungfräulichen Athene geweiht.
Auf dem Weg ins Zentrum an einer Johanniskirche vorbeigekommen, mit einer unterirdischen Katakomben. Nichts Aufsehenerregendes, aber schön kühl! Überall stehen Ikonen mit dem Täufer herum, meist mit dem eigenen abgeschlagenen Haupt in den Händen, aber auch Ikonen des Evangelisten mit aufgeschlagenem Buch und Text. Hier scheint Johannes gleich Johannes gesetzt zu werden. Gab es zu der Zeit eigentlich schon Bücher? Oder ist das ein Anachronismus? Vermutlich, aber wir haben uns daran gewöhnt.
In den Markthallen heute wieder buntes Treiben. Was für ein Unterschied zu gestern, als die Stände geschlossen waren und es hier trostlos aussah!
In der Nähe entdecke ich noch eine Kirche, dem Hl. Paraskewi geweiht. So heißt auch der Freitag. Ob das Wort von dem Heiligen abgeleitet ist oder umgekehrt?
Die Banken sind geöffnet. Es gibt viel Kundschaft, aber keinen Andrang. Das gleiche Bild vor den Geldautomaten.
Am Abend im Park Unterricht mit Rania. Der Name des Cafés ist Ξαρχάκος. Es ist ein Eigenname. So heißt ein griechischer Komponist. Wir fragen die Kellnerin, warum das Lokal so heißt. Sie hat keine Ahnung, fragt aber nach. Es stellt sich heraus, dass der Besitzer ein Cousin des Komponisten ist.
Rania erklärt im Brustton der Überzeugung, warum anderthalb Stunden Singular sein muss. Nicht etwa, dass das zufällig im Griechischen so wäre. Es ist logisch, ein Gesetz der Natur. Wer das anders sieht, ist blind.
22. Juli (Mittwoch)
Bei der Gymnastik herzlicher Abschied. Es wird mit Sangria angestoßen, und dann werden ein paar zu viele Photos gemacht. Nach dem anschließenden Kaffee Rückweg auf ungewohntem Pfad. Ich muss mehrmals nachfragen. Einstimmige Reaktion: Oberstadt? Das ist aber weit!
Am Nachmittag führt dann kein Weg mehr am Packen vorbei. Es geht alles ganz schnell. Mit Verblüffung packt man die ungelesenen Bücher ein und die dicke Regenjacke, die Wärmflasche und die Decke und wundert sich, dass die vor kurzem noch gute Dienste geleistet hat.
Kleiner Vorschlag zur Behebung der griechischen Finanzkrise: Wie wäre es mit Ausschalten der Weihnachtsbeleuchtung im Sommer? In dem kleinen Park an der Bücherei der Oberstadt gehen zusammen mit den Laternen die Weihnachtssterne an.
22. Juli (Donnerstag)
Letzter Versuch, in die Ruinen des Palasts des Galerius zu kommen. Alles verrammelt und verriegelt. Am Kassenhäuschen haben sich bereits Spinnenweben gebildet. Wie sind nur die Touristen da reingekommen, die ich jetzt zweimal da herumlaufen sehen habe?
Hirnrissiger Artikel in der New York Times. Deutschland und Griechenland werden mit sehr unterschiedlichen Statistiken miteinander verglichen, vom Konsum von Olivenöl bis zu Wochenarbeitsstunden. Aus dem Vergleich, der allerhand Unterschiede aufweist, wird die Folgerung abgeleitet, die den Titel des Artikels bildet: „Why Greeks and Germans just do not get along?“ Die Unterstellung ist, dass man nicht miteinander auskommen kann, wenn man verschieden ist. Was völliger Unsinn ist. Und Unterschiede lassen sich immer finden. Wie hier, wie die Zahl der Zitate von Platon mit denen von Nietzsche verglichen wird. Warum nicht Kant mit Heraklit? Oder sonst wem? Und was hat das schon zu besagen? Gar nichts. Und so ein Artikel steht in der New York Times!
Am frühen Nachmittag geht es zum Flughafen. In der Ankunftshalle kann man Blumensträuße aus einem Automaten ziehen. Mit 10 € ist man dabei. Aber ich bin zu geizig.
In der Menge der Wartenden schleicht sich von hinten ein kleines Mädchen, das gerade gelandet ist, von hinten an ihren Opa an und überrascht ihn. Ein kleiner Schreck, und dann pure Wiedersehensfreude bei beiden. Für einen Moment gibt es für beide nichts anderes auf der Welt. Mit ein bisschen Neid sieht man Menschen, die so ganz und gar in dem Moment aufgehen können. Dann kommt der Moment nach einer stürmischen Begrüßung, wo man nicht so richtig weiß, wie es weitergehen soll. Das Hochgefühl ist vorbei. Man nimmt Zuflucht zum banalen Alltagsgespräch, merkt aber, dass es unpassend ist.
Xia macht es mit mir genauso. Sie schleicht sich von hinten an und schafft es, mich zu Tode zu erschrecken. Wiedersehensfreude vereint sich mit dem Gefühl, dass der Schrecken nachgelassen hat.
Wir fahren mit dem Bus in die Innenstadt. Vom Aristoteles-Platz geht es nach Hause. Und dann nach kurzer Pause gleich wieder zurück.
An der Kamara bietet uns eine deutsche Frau, die neben uns an der Ampel steht und mich niesen hört, Allergietabletten an. Sehr freundlich.
Wir „schaffen“ nicht einmal die Hälfte des vorgesehenen Programms, aber es lohnt sich auch so. Wieder, wie in Kreta, mache ich die Erfahrung, dass die Besucher mehr sehen als ich. Mit wachem Auge entdeckt Xia, dass Philipp auf einem Auge blind ist, dass es in Agia Sofia „hohle“ Kapitelle gibt, Kapitelle, hinter die man greifen kann, und dass der Weiße Turm unten im Mauerwerk ein schönes Backsteinmuster hat. Am schönsten findet sie selbst aber die Ofenrohre, die sie in verschiedenen Kirchen entdeckt.
Am Abend gehen wir in die Oberstadt und sitzen lange in einem vollbesetzten Lokal draußen auf der Terrasse. Xia hat unterwegs einen Baum entdeckt, den wir nicht identifizieren können, aber zur Hilfe eine Frucht mitgebracht. Die Kellnerin weiß nicht Bescheid, wohl aber der Wirt: Es ist eine Platane.
24. Juli (Freitag)
Aufbruch: Am Morgen geht es mit vollbepacktem Auto Richtung Norden, Richtung Heimat. Über den Balkan.
Auf der Autobahn geht es Richtung Ioannina. Erst dichte Wälder zu beiden Seiten, dann ändert sich die Landschaft fast schlagartig. Es wird kahl. Auf den Schildern am Straßenrand, die auf die Fahrbahn kreuzende Tiere hinweise, sind hier keine Rehe zu sehen, sondern Bären! Uns stellt sich aber keiner in den Weg.
Ioannina ist schön an einem See gelegen, mit Bergen an der anderen Seiten des Sees. Dessen Wasser ist allerdings nicht klar, und an der Oberfläche schwimmen Ölflecken.
Unter Bäumen eine ganze Reihe von Cafés. Sie sind alle rappelvoll. Sind das griechische Urlauber oder Einheimische?
Wir setzen uns ins Aigli, und ich frage dummerweise nach dem Namen. Dabei müsste ich das Wort kennen. Genauso heißt nämlich ein Lokal in einem Hamam in Thessaloniki, ganz in der Nähe der Wohnung. Die Kellnerin kennt das Wort nicht, der Wirt versucht, zu erklären: ‚Etwas Gutes, das einem widerfährt. Es ist wirklich ein schweres Wort, wenn man es definieren soll. Es heißt ‚Segen‘.
Vom See aus sieht man ein schlankes, spitz zulaufendes Minarett in der Innenstadt. Wir gehen ein bisschen durch die fast leeren Gassen, sehen eine Osmanische Bibliothek und ein Volksmuseum. Während Xia dort schöne Funde macht, bleibe ich faul auf einer Mauer sitzen und werde von einem athletischen, attraktiven Mann, der seine alte Mutter ganz fürsorglich am Arm führt, angesprochen. Er fragt, woher wir kämen und wohin wir führen.
Am Ende sehen wir noch einen Stand mit einem Händler, der alle möglichen alten Eisenwaren anbietet, vom Flaschenöffner bis zu einem Kaffeeroller, einem Gerät, mit dem man über Kaffeebohnen fährt, um sie zu zermalmen.
Weiter geht die Reise. Plötzlich setzt der Routenplaner aus. Das wird er in den nächsten Tagen immer wieder tun. Xia findet das wunderbar. Man sei auf sich selbst verwiesen, zurückgeworfen auf die eigenen Fähigkeiten, Richtungen zu erahnen, Karten zu lesen, nach dem Weg zu fragen. Ich finde, wenn man schon so ein Ding hat, dann soll es auch funktionieren, eine Haltung, die sie phantasiefeindlich und engstirnig findet.
Wir fragen tatsächlich nach dem Weg und bekommen eine gute Erklärung für den Weg Richtung Perama. Wir folgen der Erklärung und geraten in die Berge. Keine Beschilderung, keine Menschen, keine Orte. Ich versuche, anhand der Karte herauszufinden, ob wir richtig sind und habe dabei das leichte Gefühl, dass wir ganz falsch sind, jedenfalls der Position des Sees nach zu urteilen. Aber es hat keine Abbiegemöglichkeit gegeben. Also geht es weiter. Dann macht Xia kurzentschlossen ein Manöver und bringt einen entgegenkommenden Jeep zum Stehen. Wir erfahren, dass wir umkehren müssen. Es scheint mir, dass das vorläufig meine letzte Gelegenheit war, Griechisch zu sprechen. Das soll sich als falsch erweisen.
Wir fahren und fahren, finden aber nirgendwo Ktissmata ausgeschildert, den Ort an der Grenze zu Albanien. Dann fällt der Groschen. Nicht Ktissmata ist ausgeschildert, der griechische Grenzort, sondern Kakavie, der albanische Grenzort.
Wir haben von den drei Strecken von Griechenland nach Albanien die kürzeste gewählt, fürchten aber Warteschlangen an der Grenze. Diese Befürchtung erweist sich aber als gegenstandslos. Es gibt zwar Kontrollen auf beiden Seiten, Autopapiere und Ausweise, aber keine Durchsuchungen und nur eine Handvoll Autos vor uns. Bald sind wir durch und kommen in ein Land, das, trotz der Normalisierung der letzten Jahre, immer noch etwas Geheimnisvolles hat.
An der Grenze geht Xia in die Wechselstube. Und tauscht dort unglaubliche 10 Euro um. Damit kommt man auch in Albanien nicht weit. Aber sie hat jetzt wenigstens albanisches Geld in der Hand. Ich stehe dagegen mit leeren Händen da. Ich verlasse mich auf meine Geldkarte. Und das ist noch viel schlechter als nur zehn Euro umzutauschen: In ganz Albanien kann ich mit meiner Karte nicht landen. Und auch nicht in den nächsten Ländern, durch die wir kommen. Das geht erst in Österreich wieder!
Auf dem Weg nach Gjirokastra sehen wir am Straßenrand immer wieder die Bunker aus der Zeit Enver Hodschas, kleine, runde, mit Zementplatten abgeschlossene Löcher im Erdreich, die höchstens für ein paar Personen reichen, manchmal wohl nur für eine einzige Person. Ich erfahre, dass Autos unter Enver Hodscha verboten waren. Und dass Gjirokastra nicht, wie ich dachte, ‚alte Burg‘ heißt, sondern ‚Silberburg‘.
In Gjirokastra angekommen, bleiben wir etwas ratlos an einem großen Platz stehen. Wir fragen ein paar Männer in einem Lokal nach der Pension Kotoni. Danach brauchen wir von uns aus gar nicht mehr fragen. Man kommt von selbst auf uns zu und fragt uns, was wir suchen. Eine junge Frau klopft, als wir an einer engen Kreuzung über das Kopfsteinpflaster fahren, sogar an unsere Scheibe und bietet ihre Hilfe an.
Bald finden wir unsere Pension, von Xia mit Bedacht gewählt und gebucht, die einzige für die ganze Reise. Sie liegt erhöht, in einem alten Haus, direkt an die Bergewand gebaut. Wir bekommen etwas altmodische Zimmer mit riesigen Betten und einer kleinen, mit einem bestickten Band verzierten Nische, in der ein winziger Fernseher steht.
Wir gehen in die Stadt hinunter und treffen wieder auf die junge Frau, die an unsere Fensterscheibe geklopft hat. Sie hat einen Souvenirladen und zeigt uns eine Ansichtskarte von Gjirokastra mit den dicht gedrängten Häusern der Innenstadt, bei der man das gleiche Bild erhält, wenn man sie auf den Kopf hält.
Autos fahren hier überall her, aber man hat nicht den Eindruck, dass sie stören, auch wenn man sich manchmal auf den hohen, schmalen Bürgersteig flüchten muss, um sie vorbeizulassen. Es geht alles mit Ruhe zu.
Albanien war das einzige offiziell atheistische Land der Welt. Hier in Gjirokaster hat sich ein Minarett bewahrt, das einzige. Aber die Stimme des Muezzins, die wir später am Abend hören, kommt aus einer Gaststätte!
Der Name ‚Silberburg‘ hat nichts mit dem Metall zu tun, sondern kommt von dem im Regen leicht silbrig glänzenden gräulichen Stein, der hier überall gebraucht wird. Auch die Dächer der Häuser sind, wie ich mir erklären lasse, nicht mit Schindeln Ziegeln gedeckt, sondern mit Platten aus eben diesem Stein. Man fragt sich, wie das hält.
Hoch oben sieht man, eindrucksvoll, aber auch etwas bedrohlich, die Burg von Gjirokastra. Sie war in der kommunistischen Zeit das gefürchtetste Gefängnis des Landes.
Wir trinken, auf dem schmalen Bürgersteig sitzend, einen Kaffee in der Straße, die nach Kadaré benannt ist, dem Autor der Chronik in Stein, die Xia mit Begeisterung gelesen hat. Bei der Frau von dem Souvenirladen gibt es den Roman in verschiedenen Sprachen.
Gjirokastra war an der Spitze der Albanischen Unabhängigkeitsbewegung und hatte die erste Schule, an der Albanisch unterrichtet wurde, 1908. Gleichzeitig wollte man sich gerne als Autonomes Gebiet Epirus Griechenland anschließen, aber das wurde von den Großmächten verhindert. Es gibt in den Dörfern der Umgebung eine griechischsprachige Minderheit, wie wir in den nächsten Tagen noch sehen werden. Die Gegend leidet heute unter dem Rückgang der Industrie nach dem Sturz des Kommunismus und ist auch von der griechischen Krise betroffen.
Bei der Suche nach einem im Reiseführer empfohlenen Lokal stoßen wir auf ein anderes. Man sitzt draußen, mit einem schönen Blick auf die Berge rundherum.
Wir wundern uns, dass die Maßeinheit für alles Speisen Liter ist, bis wir merken, dass es Lek heißt. Das ist der Name der Währung. Es gibt ein nicht sehr appetitlich aussehendes, aber sehr gut schmeckendes typisch albanisches Gericht in Blätterteig, dazu Froschschenkel und dazu gebackener Käse und Tirana, albanisches Bier. Alles zusammen kostet zehn Euro!
Wir lernen faleminderit, das Wort für ‚danke‘, vergessen es aber immer wieder und müssen in den nächsten Tagen immer wieder nachfragen.
Nach dem Essen kommen wir an einem schönen Platz vorbei. Die Geschäfte sind immer noch geöffnet, Eisdielen, Tante-Emma-Läden und Berber. Das sind Frisöre, Barbiere.
In der Pension angekommen bringt uns der Wirt noch einen Absacker aufs Zimmer, einen Raki für den Mann und einen Likör für Frau. Wir lernen, wie man ‚Prost!‘ sagt: Gezuar! Und sind von all dem so angetan, dass wir gleich für eine Nacht verlängern.
25. Juli (Samstag)
Die ruhige Atmosphäre und die freundlichen Menschen lassen uns schnell alle Stimmen vergessen, die vor einer Reise durch den Balkan warnten. Alles Quatsch. Ich lasse über Nacht meinen Computer und Dokumente im Auto und über Tag Geld und Ausweis im Zimmer. Alles völlig unproblematisch. Auch unterwegs hat man nie auch nur das geringste Gefühl, dass einem jemand an die Tasche will. Und das gilt für die gesamte Reise.
Meistens treffen wir auf mehr als eine Schreibweise für die albanischen Städte, vermutlich eine albanische und eine internationale. Als Alternative zu Gjirokastra sieht man hier oft Gjirokastër, mit dem in vielen Ortsnamen auftretenden <ë>.
Die Pension wirkt auf mich ganz gemütlich, mit all ihren Läufern, Holzdecken, Spiegeln mit Holzrahmen und verwinkelten Treppen, aber ich lasse mich beim Frühstück belehren, dass da viele schlimme Eingriffe gemacht wurden.
Das Frühstück wird in einer Art Garage serviert. Der Kaffee ist schlecht, erfahre ich. Da bin ich mit meinem Tee besser dran. Am Nebentisch ein Ehepaar aus Slowenien. Xia kennt die Umgebung, aus der sie kommen. Es entspannt sich ein längeres Gespräch. Die beiden reisen jedes Jahr in ein anderes Land. Diesmal ist Albanien dran. Sie sind sehr angetan davon und schimpfen nur über den überall herumliegenden Müll.
Der Wirt, Haxhi, zeigt uns den Weg zu einem traditionellen Haus, das man besichtigen kann. Xia erkennt schon von hinten, dass es etwas Besonderes ist. Erst als wir es von vorne sehen, merken wir, dass es das Haus ist, das wir suchen. Erst am Abend stellt sich heraus, dass es doch nicht das Haus ist, was wir eigentlich besichtigen wollten. Aber es erfüllt seinen Zweck.
Wir werden, zusammen mit einem holländischen Paar, von dem Eigner durch das Haus geführt. Er spricht schwer verständliches Französisch, wird aber später von seiner Tochter abgelöst, die fließend Englisch spricht.
Das Haus stammt von 1700. Mit viel Emphase weist der Eigner auf eine Vorrichtung hin, durch die man nicht nur auf den Personeneingang sehen, sondern auch schießen konnte, um unliebsame Gäste abzuschrecken.
Das Haus ist eine sehr verwinkelte Sache, mit vielen Räumen auf zwei Etagen. Allgemeine Charakteristik ist die Trennung der Bereiche für Frauen und Männer und die unterschiedliche Benutzung im Sommer und Winter. Im Sommer wurde draußen gekocht, im Winter in der Küche, und das hat vielerlei Auswirkungen auf die Funktionen der anderen Räume. Eine andere Besonderheit ist das WC mit Wasserspülung und die Vielzahl von Kaminen, neun insgesamt. Das galt als Zeichen des Wohlstands. Der im Brautzimmer ist mit Granatäpfeln geschmückt.
Der Eigner wurde in der Zeit des Kommunismus enteignet. Später musste er das Haus zurückkaufen. Mit viel Häme erzählt er, das Geburtshaus von Enver Hodscha, das sich auch in Gjirokastra befindet, sei einfach und einstöckig gewesen, später aber aufgestockt und verschönert worden, als er an die Macht gekommen war.
Am Ausgang des Hauses werden Bilder von Mutter Theresa verkauft, auch Broschüren und Andenken. Sie gilt hier als Albanierin. Das ist nur halb richtig. Sie wuchs noch im Osmanischen Reich auf. Aber das kann man natürlich gut ignorieren. Der Reiseführer spricht von ihrer Aufopferungsbereitschaft und ihrer Zuversicht. Dafür ist sie weltweit bekannt. Aber es ist auch die Rede von ihren unbedingten, unkritischen Papsttreue. Und dann kommt noch etwas, und das vermutet man nicht unbedingt: Am Ende ihres Lebens kamen ihr immer stärkere Zweifel an der Existenz Gottes. Und die hat sie auch gelegentlich geäußert.
Als wir ins Zentrum zurückgehen, fällt mir auf das Wort für ‚Straße‘ auf: rruga. Erstens fällt das doppelte <r> am Wortanfang auf, dann die Verwandtschaft mit rúa und rue.
Sonst kann man kaum Wörter ableiten, aber an den einfachen Grundzahlen sieht man dann doch, dass Albanisch eine indoeuropäische Sprache ist: nje (oder nji), dy, tre, katë. Albanisch hat 36 Buchstaben, aber man entdeckt außer dem <ë> kaum mal eins auf den Schrifttafeln. Man unterscheidet zwei hauptsächliche Dialekte, manchmal auch als verschiedene Sprachen klassifiziert: Gegisch und Toskisch. Die Grenze zwischen ihnen bildet ein Fluss: der Shkumbin.
Wir kommen an einer schönen Ruine vorbei, aus deren Fenster Ranken wachsen, deren Muster wiederum als Schatten auf der Hauswand erscheinen. Ein wunderbares Photomotiv. Aber die Abbildung hat dann doch nicht die Wirkung wie die Wirklichkeit.
Dann kommen wir an einem Haus vorbei, das gerade renoviert wird. Die Arbeiter fordern uns trotzdem freundlich auf, hineinzugehen und es anzusehen. Es ist das Geburtshaus von Kadarè. Von der anderen Straßenseite winkt ein Mann uns von einem Balkon freundlich zu. Nur so.
Wir trinken auf einem Platz mit einer weitverzweigten Platane, die alle Tischen gleichzeitig Schatten spendet, einen Kaffee. Frapé gibt es hier nicht, und es wird auch nicht Englisch gesprochen. Aber hier stellt sich eine wunderbare, gelassene Urlaubsatmosphäre ein.
In einem kleinen Eckgeschäft lassen wir uns von einer redegewandten Frau T-Shirts zeigen, mit Motiven aus Gjirokastra. Die T-Shirts sind bestickt. Die Frau erklärt, sie entwerfe die Motive, aber die Stickarbeiten würden anderswo gemacht. Sie und ihr Mann können ein paar Ausdrücke in allen möglichen Sprachen. Der Mann sagt danke auf Chinesisch, die Frau sagt danke auf Deutsch, praktisch akzentfrei. Ich sage auch danke. Denn ich verlasse das Geschäft mit einem T-Shirt.
Am Nachmittag fallen ein paar Tropfen. Es braut sich etwas zusammen, es donnert, dann kommt heftiger Regen, aber nicht das erwartete Gewitter. Der bewölkte Himmel vor den gräulichen Bergen und über der grünen Ebene und den silbrig schimmernden, verzogenen Dächern der Häuser, das ist was.
Wir gehen zur Burg hinauf, die etwas bedrohlich über der Stadt liegt, mit einem markanten Uhrenturm am östlichen Ende.
Xia macht die Bekanntschaft eines älteren Paars aus Brünn. Beide sprechen gut Deutsch mit österreichischem Akzent. Xia staubt ein paar Tipps für die Weiterfahrt ab. Dann lernen wir ein albanisch-deutsches Ehepaar aus Leverkusen kennen, mit zweisprachigen Kindern, alle sehr nett und kommunikativ. Sie erzählen von dem Blauen See, den Xia bereits als ein Reiseziel ausgesucht hat. Die Kinder seien sogar reingesprungen, bei zehn Grad! Die Mutter war mit achtzehn zum ersten Mal in Albanien. Damals sei es eine Katastrophe gewesen, dann sei es jedes Mal besser geworden. Der Mann stammt aus Mazedonien, gehört aber zur albanischen Minderheit.
Im Innenhof der Burg steht ein amerikanisches Flugzeug, das hier in der Nähe abgestürzt war. Die Propaganda machte daraus ein abgeschossenes Flugzeug. Das Flugzeug wurde als Beleg für die ständige amerikanische Bedrohung verstanden, Albanien einzunehmen.
Auch verschiedene Kanonen stehen im Innenhof, aus der Osmanischen Zeit. Die Zentrale versorgte die lokalen Fürsten absichtlich mit veralteten Kanonen, so dass sie nicht zu mächtig werden konnten. Dagegen wehrte sich Ali Pascha, der in Ioannina eine eigene Waffenschmiede aufbaute und moderne Kanonen fertigte. Er wurde gefangengenommen und auf der Insel von Ioannina, wo wir gestern noch waren, enthauptet. Sein Kopf wurde nach Istanbul geschickt.
Wir sehen vom Innenhof aus in die Stadt hinunter und auf die Häuser am Berghang. Wir suchen unsere Pension, können sie aber nicht finden, bis wir ein rotes Auto sehen!
In den Innenhof kommt man durch eine überwölbte, hohe, langgezogene Galerie. In den Nischen stehen überall Panzer und militärisches Gerät. Alles sieht sehr martialisch aus.
In einer Nische befindet sich eine Turbe, ein unscheinbarer Bau mit zwei kitschig verzierten Sarkophagen. Hier sind die Begründer einer islamischen Sekte beigesetzt, eine Sekte mit sehr liberaler Ausrichtung und ohne feste Gebetszeiten. Ihr Hauptquartier befand sich in Tirana.
Ich dränge darauf, dass wir uns das Museum ansehen, auch im Innern der Burg angesiedelt. Ich habe kein großes Interesse an dem Museum, aber die Kartenverkäuferin, die sich so viel Mühe gemacht hat, uns die verschiedenen Teile der Burg schmackhaft zu machen, tut mir leid.
Tatsächlich erweist sich das Museum als nicht sonderlich interessant. Man sieht Zellen des ehemaligen Gefängnisses, man sieht, wie Soldaten darauf getrimmt werden Stacheldrahtverhaue zu überwinden, nämlich mit Schafsfell und einem Geflecht aus Reisig, und man sieht in welchen Teilen Albaniens, nämlich im Süden, der Widerstand gegen die deutsche Besatzung sich konzentrierte.
Von der Burg gehen wir runter in die Stadt und suchen dann noch einen Aquädukt. Die Suche erweist sich als schwierig, und wir sind schon drauf und dran, es aufzugeben. So wichtig ist uns das Aquädukt nun auch wieder nicht. Aber eine junge Frau, mit Kind im Schlepptau und schweren Einkaufstüten in der Hand, sieht unsere suchenden Gesichter und will unbedingt helfen. Sie kann nur bruchstückhaft Englisch, aber genug, um uns klar zu machen, dass sie jetzt ihren Sohn anruft. Der könne gut Englisch. Sie ruft ihn an. In sechs Minuten soll er da sein. Nach einigem Hin und Her schaffen wir es dann, sie zu überzeugen, dass es so wichtig nicht ist. Mit einem etwas mulmigen Gefühl machen wir uns von dannen. Man ist geradezu gerührt von der Hilfsbereitschaft der Menschen hier.
Statt zum Aquädukt gehen wir dann zum Frisör. Ein altmodisch aussehender Herrenfrisörsalon war uns gestern aufgefallen, jetzt geht es aber erst mal zum Damenfrisör. Das sollte für mich eine angenehmere Erfahrung werden als für Xia. Die wird einer wahren Tortur unterzogen von der Frau, die ihr das Haar wäscht. Sie zerrt an ihrem Haar herum, wäscht sie mit eiskaltem Wasser, drückt ihr den Daumen ins Auge und den Busen auf die Schulter. Sie ist einfach zu sehr mit Reden beschäftigt. Zum Schluss wird auch noch ordentlich abkassiert.
Mir geht es dagegen gut. Ich befinde mich in der Gesellschaft von zehn Frauen jeden Alters. Alle sind freundlich und sehr kommunikativ. Und dann schnappe ich ein bekanntes Wort auf und frage nach, was das denn sei. Griechisch! Alle hier sprechen Griechisch. Einige der jungen Frauen haben mehrere Jahre lang in Athen gelebt, und alle gehören zu der griechischen Minderheit hier in Albanien. Auf die Frage, welche Nationalität sie hätten, antworten sie ausweichend: Sie fühlten sich als Griechen.
Ich erfahre auch, wie man Shqipëri ausspricht, den albanischen Landesnamen Albaniens. Die Form Shqipërisë kommt auch vor (meistens in Republika e Shqipërisë), aber was es damit auf sich hat, können mir die Frauen nicht erklären. Jedenfalls finden sie, auch die sei „richtig“.
Dann geht es zum Berber, zur Rasur. Der Salon weckt Erinnerungen an die Kindheit, mit dem einzigen, breiten Sessel mit Kopfstütze, mit der Schale, in der der Rasierschaum angerührt wird, in dem ausklappbaren Rasiermesser. Auch das Wehen mit dem Handtuch nach dem Auftragen des Rasierwassers und das Auftragen eines beißenden Flüssigkeit auf meine Schnittwunde sind Echos aus alten Zeiten, als man selbst noch Kind war und dem Frisör beim Handwerk zusah. Die Rasur ist gründlich, aber sanft. Der Barbier zeigt stolz auf Photos, die Kundne aus Holland und Frankreich zeigen. Ein Kumpel, der kommt, um ihn auf einen Raki abzuholen, lässt er abblitzen. Erst erledigt er seine Arbeit.
Was es damit auf sich hat, sehen wir dann am Abend, als wir vom Essen zurückkehren. Aus einem Raum mit offenem Fenster in einem schlossartigen Gebäude hört man sonore Männerstimmen. Man hört einen langgezogenen Ton und darüber eine Solostimme, und zum Schluss ertönt ein Tusch aus allen Kehlen. Wunderbar! Da entdecken wir, dass der Barbier und sein Freund unter den Sängern sind.
Der Wirt, Haxhi, fragt abends immer, wann man frühstücken will. Er drängt auf eine verbindliche Antwort, und wenn er die bekommt, sagt er: Ganz egal. Wir sind sowieso hier. Und dann lädt er zu einem Raki auf Kosten des Hauses ein.
Abends geht mir durch den Kopf, wie ich im Laufe des Tages ein Taschenmesser und eine Taschenlampe gebraucht hätte, aber nicht finden konnte. Xia hatte dagegen Zahnstocher und Mückenstichtinktur, als sie gebraucht wurden, sofort griffbereit.
26. Juli (Sonntag)
Am Morgen nach dem Frühstück begegnet Xia irgendwo einem alten Herrn, der sie in fließendem Deutsch ausfragt und berät. Er ist mit unserer Reiseroute sehr zufrieden. Die Pension sei die beste in Gjirokastra. Er spricht mit ihr über Reisen, über den Kommunismus, über Griechenland. Und sagt, er warte in dem Café auf sie, falls sie weitere Fragen habe. Großartig!
Wir fahren nach Süden, eigentlich die falsche Richtung, denn wir wollen auf jeden Fall noch Butrint mitnehmen, mit seinen klassischen Ruinen. Und das Blaue Auge, ein Naturwunder.
Unterwegs fallen uns auf großgedruckten Schildern die Namen Tea und Kastritis ins Auge. Das sind Tankstellenketten.
Überall sieht man deutsche Autos, sowohl neue als auch gebrauchte. Viele Lieferwagen haben noch den Namen der deutschen Firma, der sie früher gehörten. Auch heute, am Sonntag, sind Lastwagen unterwegs. Wir wundern uns und merken erst dann, dass hier Sonntag nicht Sonntag bedeutet. Wir sind in einem muslimischen Land.
Zum Blauen Auge muss man abbiegen und an einem Stausee entlang fahren. Man hat schon den Eindruck, falsch zu sein, aber dann kommt man zu einem vollbesetzten Parkplatz mitten in der Landschaft. Nach kurzer Distanz kommt man dann zu Fuß zum Blue Eye. Hier ist es voll. Eine richtige Touristenattraktion. Xia kennt etwas Ähnliches aus Bayern, den Blautopf in Blaubeuren. Das ist auch eine Karstquelle. Da entspringt die Blau. Die heißt wirklich so.
Auch das Blaue Auge, Syri i Kaltër, ist auch eine Karstquelle. Sie sprudelt aus der Tiefe hervor und bildet eine Art See, der grünblau schimmert. Daraus fließt ein Fluss ab, und der wird dann wohl zu dem Stausee gestaut, an dem wir vorbeigekommen sind. Jetzt blubbert die Quelle nur ein bisschen, aber im Winter, erfahre ich, schießt die Quelle in einer Fontäne nach oben. Die Temperatur ist konstant niedrig, und das macht auch den Reiz der Sache aus. Es gibt einen Vorsprung, von dem aus einige Verwegene, meistens junge Leute, direkt in das Wasser springen. In ca. 12°. Xia hat den Mut, mit den Beinen an der anderen Seite hineinzugehen und sich an Felsen festzuhalten. Ich folge dem Beispiel. Man muss sich anstrengen, um stehenzubleiben. In dieses Wasser will man nicht unbedingt hineinfallen. An die Temperatur gewöhnt man sich überhaupt nicht. Es ist kalt und bleibt kalt. Aber die Szenerie mit der üppigen Vegetation am Ufer ist sehenswert.
Es geht weiter nach Butrint, im äußersten Südwesten des Landes gelegen. Als wir dort ankommen, winkt uns ein uniformierter Parkwächter von weitem heran und dirigiert uns in eine Parklücke. Er kommt auf uns zu, und wir erwarten, dass er Parkgebühren kassieren will. Stattdessen heißt er uns willkommen, fragt, wohin wir wollen und weist uns den Weg. Eine Kleinigkeit, aber eine Szene, die mir monatelang danach noch in Erinnerung bleibt.
Wir kommen direkt in das große Ausgrabungsfeld. Es gibt zwar Schatten, aber es ist ein großes Areal. Die Besichtigung ist anstrengend.
Gleich am Anfang steht ein venezianischer Turm. Xia misst dem keine Bedeutung bei. Ich finde ihn interessant. Es ist ein Verteidigungsturm, der gegen die Osmanen gerichtet war und zum Schutz von Korfu diente. Wir sind ganz in der Nähe von Italien.
Der wichtigste Komplex des Ausgrabungsfeldes ist ein ehemaliges Heiligtum, Äskulap geweiht, aus dem sukzessive ein Theater und ein Versammlungsort wurde. Es ist viel erhalten, sowohl am Boden als auch am Berghang, aber man kann trotz der detaillierten Beschriftung nicht gut erkennen, was was ist.
Wir gehen weiter und stoßen immer wieder auf Mosaike, deren Beschreibung sich interessant anhört, die aber mit Sand bedeckt sind. Zu ihrem eigenen Schutz.
Wir kommen zu einer Basilika und zu einem großen Wohnhaus. Beide liegen ganz in der Nähe des Kanals. Der scheint See und Meer zu verbinden. Schon auf der Fahrt hierher tauchte am Ende zu beiden Seiten der Straße Wasser auf, und wir fragten uns, was er war.
Durch ein niedriges Löwentor, das einen Querbalken hat, der wo woanders stammt, verlässt man das eigentliche Ausgrabungsgelände. Aber es ist gar nicht so einfach, wieder zum Eingang zu kommen.
Als wir das schaffen, bemerken wir die Fähre. Es ist nicht mehr als eine Art Floß, das Passagiere und ein paar Autos über eine ganz kurze Strecke, keine hundert Meter vielleicht, herüberbringt. Die Vorstellung, auch noch eine Fähre nehmen zu müssen, hatte uns davon abgehalten, hier über die Grenze zu fahren, eine etwas weitere, aber „logischere“ Alternative. Die Entscheidung gegen diesen Weg wirkt jetzt, angesichts der Fähre, fast lächerlich.
In einem gepflegten Park ein kurzes Stück vom Ausgrabungsgelände entfernt machen wir Rast bei einem Frapé in einem Gartenlokal.
Wir wissen noch nicht, wohin die Reise geht, außer nach Norden, und fahren erst einmal Richtung Sarande. Wir verfahren uns. Abgemagerte Kühe grasen in Geröll und Müll, Ziegen weiden auf den kargen Abhängen. Es ist eine unwirtliche Gegend. Und dann ist auf einmal Ende vor einem Steinbruch. Wir kehren um, und ein junger Mann am Straßenrand gibt uns in hervorragendem Englisch ganz genaue Auskunft.
Wir kommen über eine einsame Bergstraße und dann ans Meer. Wir versuchen, an ein oder zwei Orten was zu finden und landen schließlich in Dhërmi, einem Dorf in den Bergen, dessen Strand sich zu einem Touristenort entwickelt hat. Wir machen verschiedene Runden durch den Ort, ohne etwas Passendes zu finden. Am Ende fahren wir, einem handgeschriebenen Schild folgend, eine Schotterpiste hinunter, an deren Ende nur eine Ruine zu sehen ist. Aber dahinter taucht dann tatsächlich ein Haus auf. Der Besitzer spricht ein paar Brocken Italienisch, vor allem aber Griechisch! Wir sind immer noch im Gebiet der griechischen Minderheit. Er holt aber seine Schwiegertochter, eine ganz junge Frau, die freundlich, aber entschieden die „Verhandlungen“ führt. Sie will mit dem Preis noch runtergehen, wenn wir nicht zufrieden sind, aber der ist ohnehin schon so niedrig, dass wir nur nach W-LAN fragen. Dafür wird ihr Mann sorgen. Der kommt später.
Wir gehen gleich zu dem kleinen Strand runter. Da stehen zwar viele Sonnenschirme, aber überlaufen ist er nicht. Es geht gleich ins Wasser. Der Strand, ein Kieselstrand, ist sauber, aber das Wasser nicht so klar wie in Griechenland. Xia ist gar nicht zu halten. Als ich kaum im Wasser bin, ist sie schon weit am Horizont verschwunden.
Als wir wieder in die Pension kommen, ist der Sohn des Vermieters da und richtet die Internetverbindung ein. Er sagt, Deutsche sprächen am besten Griechisch. Das habe etwas mit den zwölf Stämmen Israels zu tun, aus deren Sprache sich sowohl Griechisch als auch Deutsch entwickelt hätten. Er sieht mein skeptisches Gesicht und beeilt sich zu sagen, das höre sich zwar unglaublich an, aber er wisse das von einem Freund, der sich da auskenne.
Abendessen gibt es auf der Terrasse eines Hotels unweit der Pension. Der albanische Kellner, aus Tirana stammend, ist das einzige albanische Element. Hier gibt es internationale Küche, hier verkehren keine Albaner. Da wir nicht recht entscheiden können, wohin wir uns setzten sollen, führt er uns nach oben auf die Terrasse. Da sind wir die einzigen Gäste. Und das bedeutet, dass er Dutzende Male im Laufe des Abends rauf und runter muss. Aber davon, dass das zusätzliche Arbeit für ihn sei, will er nichts wissen. Wir nehmen das Angebot an und bleiben bis in die Dunkelheit oben sitzen.
27. Juli (Montag)
Die Funktion des Weckers wird von einem Hahn, der laut und insistent und ohne Ende kräht, so, als wäre er über etwas ungehalten.
Am Morgen bringen wir einen jungen Mann in Verwirrung. Wir setzen uns irgendwo auf dem Weg nach unten zum Strand an Tische neben einem Haus und bestellen einen Kaffee. Der Mann ist ganz verdutzt, bringt uns dann aber einen Kaffee. Er weiß auch nicht so recht, wie viel er dafür nehmen soll und nimmt dann auf gut Glück einen Euro. Was es damit auf sich hat, wissen wir nicht. Vielleicht sind es nur Tische für die Pensionsgäste. Aber er hat uns nicht weggeschickt, sondern freundlich bedient.
Der winzige, dünne Kaffee wird aber unseren Ansprüchen an ein Frühstück nicht gerecht. Also kaufen wir unterwegs zum Strand an einem Stand etwas Obst. Xia handelt den Preis von 1,20 € auf 1,00 € runter. Muss das sein? Ja, das mache man in diesen Ländern so, sagt sie. Ich nehme das unzufriedene Gesicht des Verkäufers eher als Zeichen dafür, dass er lieber nicht gehandelt und seine 1.20 € bekommen hätte.
Wir kaufen dann in einem kleinen Geschäft etwas Brot und Käse. Das soll in einem großen Café am Strand verzehrt werden, in dem wir nur einen Kaffee bestellen, aber das scheitert an meinem Widerstand. Den gebe ich auch nicht auf, als ich darauf aufmerksam gemacht werde, dass das an anderen Tischen auch so gehandhabt wird und dass der freundliche Kellner, der zwei Jahre in Düsseldorf gearbeitet hat, vermutlich nichts dagegen hätte.
Dann stellen wir fest, dass der Reiseführer fehlt, und der hat uns bis jetzt sehr gute Dienste geleistet. Er findet sich in dem Lebensmittelgeschäft wieder.
Kurz vor der Abreise werfen wir noch einen schnellen Blick in die Kapelle, die vor der Pension steht. Scheint eine Art Privatkapelle zu sein, mit zwei Kreuzen draußen und Ikonen und Kopftüchern drinnen.
Wieder geht es erst durch die charakteristische Landschaft dieser Gegend: grüne Hügel vor kargen Bergen, mit schlauchartig von oben nach unten verlaufenden, parallelen Strängen, vielleicht Folge der Erosion, jedenfalls aber etwas ganz Typisches hier.
Es geht beständig bergauf, über einen Bergpass, durch die Wolken. Vorher sehen wir noch ganz unten am Strand ein riesiges Erholungsheim, das frühen den Bonzen des Regimes diente. Heute weiß man nicht, was man damit anfangen soll.
Hier oben haben die Straßen Leitplanken, weiter unten war es eine Mauer, die die Straße begrenzte, von unten aber so aussah, als wäre sie eine natürliche Mauer.
Ganz oben gibt es eine Aussichtsplattform, mit verschiedenen kleinen Ständen. Hier kaufe ich eine Flasche Wasser. Auf Griechisch. Das ist das letzte Mal, das Griechisch zum Einsatz kommt.
Etwas weiter steigen wir bei einem Mann mit einem Verkaufsstand aus. Xia macht einen Großeinkauf und wird danach von dem Mann so geherzt, dass man den Eindruck hat, er wolle sie gar nicht mehr loslassen. Es gibt Honig, (gelb gefärbten) Raki, Tee und ein Konzentrat, das gegen alle Krankheiten der Welt zum Einsatz kommt, darunter Erkältung und Verkalkung. Der Bergtee bringt den Menschen hier einen guten Nebenverdienst. Dabei resultieren aus 20 kg gepflückten Blättern gerade einmal 7 kg getrockneter Tee, und für das Kilo bekommt man gerade mal einen Euro.
Anschließend kommen wir durch einen Nationalpark mit ganz veränderter Natur und dann durch Vlora, einen hässlichen Ort, den wir nur durchfahren. Dann landen wir auf einer einsamen Landstraße. Plötzlich taucht rechts ein richtiges Restaurant auf, mit Tischen unter Sonnenschirmen. Die Gelegenheit lassen wir uns nicht entgehen.
Es wird eine bleibende Erfahrung. Der ganz junge Mann, der uns bedient, spricht praktisch gar kein Englisch. Als wir zum Essen um Salz bitten, wechseln Fragen und Gesten einander ab, und nach geraumer Zeit kommt er mit einem Teller Jogurt zurück. Da hat wohl was nicht geklappt.
Das Bier hat manchmal Drehverschlüsse, manchmal Kronenkorken, und darin sind die Vereinszeichen von Bayern München und Bayer Leverkusen.
Die Hühner laufen hier zwischen den Tischen herum, und wir befürchten, dass eins für uns geschlachtet wird. Das, was dann serviert wird, ist aber zäh wie Leder. Dafür aber ziemlich vollständig, einschließlich Herz und Leber.
Die Rechnung ist ziemlich undurchsichtig und fällt etwas hoch aus. Dazu kommt noch, dass eine Null zu viel drauf ist. Das ist eine Eigenart des Landes. Man rechnet noch mit den alten Werten, zieht dann aber eine Null ab. So ähnlich erklärt es jedenfalls der Reiseführer. Diesmal verhandelt Xia nicht, sondern weigert sich schlichtweg, zu bezahlen. Sie sagt dem Jungen, wieviel er bekommt: 15,000 statt 22,500. Er akzeptiert, aber sieht nicht sehr glücklich aus.
Da unser Routenplaner jetzt mal wieder funktioniert, kommt er zum Einsatz. Er soll uns nach Kruje führen. Wir erwarten eine einsame Landstraße, es wird aber immer belebter. Plötzlich tauchen auch Hochhäuser am Straßenrand auf, wir kommen auf einen Boulevard, und ich glaube, an einem Gebäude die Aufschrift Ministerium gesehen zu haben und irgendwo gibt es eine Abbiegung zum Flughafen! Wir sind in Tirana gelandet! Warum, ist uns nicht klar. Es liegt abseits von Kruje, aber vielleicht führt ja die bessere Straße hierher. Dann kommen wir in ein Residenzviertel und werden immer wieder durch Einbahnstraßen um einen Block geführt. Und dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen: Ich habe zwar Kruje eingegeben, aber nicht die Stadt, sondern die Straße, die so heißt! Da ist der beste Routenplaner machtlos.
Wir fahren zurück. Wir brauchen Benzin und fahren eine Tankstelle an. Sehr modern, aber mit der deutlichen Aufschrift, dass man bar bezahlen müsse. Erst als es ans Bezahlen geht, fällt mir ein, dass ich zwar Bargeld, aber kein albanisches habe, nur Euros. Der Tankwart ist zwar etwas verdutzt, nimmt das Geld aber an.
Wir wollen auch den Reifendruck prüfen lassen. Das macht aber nicht die Tankstelle, sondern ein kleiner Schuppen am anderen Ende der Straße, in einer alten Garage untergebracht, ärmlich aussehend. Der junge Mann erledigt die Aufgabe für uns. Wir fragen, was es kostet, und er sagt: Nichts. Er will keine Bezahlung haben. Ich versuche daraufhin, ihm ein Trinkgeld zu geben. Das nimmt er nicht an. Wir fahren weiter und ich bekomme zu hören, mein Verhalten sei peinlich. So etwas mache man nicht. Der Mann habe das aus reiner Freundlichkeit getan. Ich finde ganz im Gegenteil, dass ich auf dem Trinkgeld hätte bestehen und es einfach irgendwo hätte hinlegen müssen. Bestimmt könnte der Mann das Geld gebrauchen, bestimmt würde er sich nicht in seiner Ehre gekränkt fühlen. Aber mit dieser Einstellung beiße ich auf Granit.
Die Umgebung ändert sich wieder. Es wird einsamer, der Weg führt, auf flacher Strecke, durch eine gesichtslose Landschaft. Wir passieren zwei Brücken, über die seit Menschengedenken keiner mehr gefahren ist, und dann stehen wir plötzlich vor zwei Frauen am Straßenrand, die eine Decke oder einen Teppich über die Fahrbahn ausgebreitet haben und die erst mal wegräumen müssen, damit wir weiterfahren können. Eine unwirklich anmutende Szene. Eine Erklärung dafür fällt uns nicht ein.
Schließlich kommen wir aber nach Kruje, einem schönen Bergdorf. Am Ende der Serpentinen kommen wir auf einen Platz. Xia ist so fertig, dass sie mich die letzten zweihundert Meter fahren lässt. Ich fahre zurück, zum Hotel Panorama. Das ist eine Kategorie zu groß für uns, aber ich verlasse mich auf den Reiseführer und habe auch keine Lust zum Weitersuchen.
Das Hotel ist wirklich das Gegenteil von unseren bisherigen Unterkünften, mehrstöckig, mit Aussichtsterrasse, Fahrstuhl, uniformierten Kofferträgern, eigenem Restaurant, großem Frühstücksbuffet, Reisegruppen. Aber es ist nicht teuer und sehr angenehm. Der Mann an der Rezeption hat in Mannheim gelebt und spricht gut Deutsch, und später treffen wir auf einen älteren Kellner, der in Germersheim gearbeitet hat.
Der Platz vor dem Hotel, der zentrale Platz des Ortes, ist geschmückt. Hier gibt es am Abend ein Defilee. Die frisch gebackenen Abiturienten kommen von der Schule auf einem abgesperrten Weg zum Hotel hinauf, wo die Feier stattfindet.
Wir machen einen Spaziergang durch den Ort. Überall bilden die Menschen Spalier, es herrscht eine erwartungsvolle Atmosphäre, und wir sehen, wie die Abiturienten in großen Karossen durch die Gegend gefahren werden, vermutlich zum Startpunkt des Defilees. Als wir wieder oben am Hotel ankommen, herrscht schon dichtes Gedränge. Auf der niedrigen Mauer gibt es schon fast keine Sitzplätze mehr. Wir stehen neben drei kugelrunden Maronen mit unglaublich hässlichen Handtaschen. Es sind Russinnen.
Polizisten kümmern sich darum, dass die Leute nicht hinter die Absperrung gehen, aber sie machen das ohne großes Aufhebens und mit freundlichen Gesichtern und Worten.
Dann geht es endlich los. Elegant gekleidete, schlanke Mädchen in langen Kleidern werden an der Hand von Jungen im Anzug zur Feier geführt, ein Paar nach dem anderen. Es gibt allerdings Frauenüberschuss, und manche Jungen kommen mit einem Mädchen rechts und einem links.
Wir bleiben noch voller Erwartung stehen, aber es tut sich nichts. Wir setzen uns dann noch auf die Terrasse des Hotels und sehen von oben zu. Aber es tut sich auch weiter nichts. Das war’s wohl. Alles Weitere spielt sich drinnen ab.
Wir sehen aber noch drei junge Frauen, vermutlich auch aus der Abiturientengruppe. Sie verschwinden hinter einem Fenster hinter uns und kommen dann, als Braut und Brautjungfern gekleidet, wieder zum Vorschein. Hier macht es jemand wohl im Doppelpack: Abitur und Hochzeit. Sie nutzen noch schnell die fünf Minuten, die ihnen verbleiben, um auf dem Balkon unbeobachtet eine zu rauchen.
28. Juli (Dienstag)
Wir beschließen, noch einen Tag hier zu bleiben. Der Ausblick von der Terrasse ist am Morgen genauso schön wie am Abend. Beim Frühstück auf der Terrasse kommt das Gespräch auf eine Rockband, die Klassik modern spielte. Wir wissen beide, wen wir meinen, kommen aber nicht auf den Namen. Aber dann hat Xia den Lichtblick: Ekseption.
Wir gehen durch die Straßen der Innenstadt und kommen in eine Markthalle. Hier gibt es Obst- und Gemüsestände. Alles sieht sehr „authentisch“ aus. Die Früchte sind oft etwas schrumpelig, und kein Stück gleicht dem anderen. Die Produkte kommen bestimmt aus dem Eigenbau. Grüne Zweige, die wir nicht identifizieren können, erweisen sich als Haselnusszweige. Wir kaufen kleine, runde, harte, etwas wie Mirabellen aussehende Früchte. Die schmecken aber nicht besonders. Wir werden sie aber schnell wieder los. Ein bettelnder Junge, der sie erst zurückweist, nimmt sie schließlich an, als er merkt, dass er kein Geld bekommt.
Ein junger Mann, der länger in Italien gelebt hat und sich in Siena mit der Pferdezucht beschäftigt hat, spricht uns an. Mir ist er etwas suspekt, Xia hat keine Berührungsängste. Er sagt, Albanien sei wie ein kleines Kind, von dem man erwartet, dass es sich wie ein Erwachsener benehme. Er erzählt von der Korruption in Albanien, wie es Leuten gelingt, einen Mercedes zu fahren – ohne Fahrerlaubnis, ohne Versicherung usw. Er spricht auch von einem unsäglich hässlichen, unpassenden Hochhaus schräg gegenüber dem Hotel. Das soll jetzt, kurz vor der Vollendung stehend, wieder abgerissen werden. Es ist unter Hintergehung aller Regeln erbaut worden.
Er führt uns zu einem kleinen Mausoleum, in dem Imame begraben sind. Ich halte etwas Abstand, Xia folgt ihm. Er fragt, wohin wir wollten, und als wir sagen, zur Burg, sagt er, er wohne dort. Es sieht so aus, als würden wir ihn nicht mehr los, aber Xia schafft es dann doch. Vorläufig jedenfalls. Später taucht er an der Burg wieder auf. Er wohnt hier nicht, er hat hier einen Stand. Er verwickelt Xia in ein endloses Verkaufsgespräch, aber sie schafft es, ihm nichts abzukaufen, ohne ihn zu brüskieren.
Vorläufig sind wir aber noch im Zentrum. Überall sieht man das Schild Shitet. Es bedeutet: ‚Zu Vermieten‘. Xia erkundigt sich in einem Laden nach Handypreisen.
Vor einem anderen Laden spricht uns eine sehr freundliche Frau an. Sie ist Chemielehrerin und erkundigt sich nach unseren Plänen und Eindrücken.
Dann stehen wir vor zwei unmittelbar benachbarten Geschäften. Beide sind Apotheken. Der Kontrast könnte größer nicht sein. Links sitzt der Apotheker hinter einer Glasscheibe, wie früher bei deutschen Behörden. Eine Glastür mit einem rostigen Eisenrahmen führt in den kleinen Raum. Der Raum ist karg. Die Arznei steht in kleinen Döschen in Regalen hinter dem Apotheker. Über der Tür steht, mit aufgeklebten Buchstaben: FARMACIA. Die Nachbarapotheke hat automatische Türen, die in einen offenen Raum führen. Der Name der Apotheke erscheint in Neonlicht. Überall hängen Plakate mit Werbung für moderne Pharmazieprodukte. Alt und Neu, Vergangenheit und Zukunft. Über der linken Apotheke steht Shitet.
Wir gehen den gepflasterten, von Souvenirständen gesäumten Weg zur Burg rauf. Kruja ist ein Touristenort. An einer Platane auf einem kleinen Platz unmittelbar vor dem Aufgang zur Burg sitzt ein Dudelsackspieler auf dem Boden. Daneben auf einer Bank drei alte Männer, drei Typen, mit sehr eigenen, charakteristischen Gesichtern. Der eine elegant, in kerzengerader Haltung mit Hut, der andere in sich zusammengesunken, mit Stock, mit unbedecktem Kopf, der dritte mit Baskenmütze und gekreuzten Beinen. Der erste trägt Schuhe, die beiden anderen Sandalen, mit Socken.
Ich gebe dem Dudelsackspieler einen Obolus und bitte die Männer um ein Photo. Sie stimmen zu. Als ich gerade das Photo mache, kommt eine alte Frau hinzu und sagt mir mit lauter Stimme und mit forschem Ton, ich solle lieber dem Dudelsackspieler einen Obolus geben als Photos zu machen.
Auf dem Weg hinauf zur Burg komme ich mit einer ganz jungen Souvenirverkäuferin ins Gespräch. Sie spricht fließend Englisch. Sie sei viel gereist, sagt sie: Holland, Deutschland, Italien, und ihre Brüder leben in England, in Croydon. Überall sei es sehr schön, aber am schönsten sei es in Albanien. Das habe sie selbst gesehen.
Oben treffe ich wieder auf Xia, die sich gerade von ihrem Begleiter loseist. Wir gehen in das Historische Museum. Es befindet sich, unterhalb der Burg, in einem modernen Bau, von der Tochter Enver Hodschas geplant.
Im unteren Stockwerk gibt es Funde, Gefäße, Münzen, Statuetten aus Albanopolis, der Hauptstadt Illyriens. Der Name ist mir so vertraut, dass ich mich selbst wundere, dass ich nicht wusste, dass es das moderne Albanien ist.
Was unten als ein ganz passables archäologisches Museum aussieht, verwandelt sich oben in einen Tempel. Gehuldigt wird der albanischen Geschichte, verehrt wird Skanderbeu, der Nationalheld. Beides, Land und Held, werden auf unerträgliche Weise glorifiziert. Ehe ich es mich versehe, hat Xia das Weite gesucht. Und macht damit das einzig Richtige. Mein Versuch, noch irgendetwas zu finden, was auch nur eine Notiz wert ist, zieht sich in die Länge. Ist aber vergeblich. Bis auf die Variation im Namen des Nationalhelden (Skanderbeu, Skënderbeut Scanderbegus, Skënderbeu) und ein Zitat von Demosthenes, das angesichts der jüngeren albanischen Geschichte wie Spott klingt: „Das Volk lässt sich nicht unterdrücken“.
Wir gehen noch in ein kleines ethnographisches Museum, in dem man Stoffe, Wandbehänge, Einrichtungsgegenstände und Kleidungsstücke sehen kann, darunter einen Wandbehang, der Ringer im Freien darstellt und aus Schafswolle hergestellte Filzhüte und Filzpantoffeln.
In der heißen Mittagssonne gehen wir durch die stillen, an Wiesen vorbeiführenden Wege um die Burg herum. Ich habe genug und will zurück, aber Xia besteht darauf, sich noch „e Kersch“ anzusehen. Bei der Kersch handelt es sich um eine Moschee, genauer gesagt um zwei, eine für Männer, eine für Frauen. Das bekomme ich aber schon nicht mehr mit, denn irgendwie verlieren wir uns und begegnen uns erst unten wieder. Ich habe irgendwie gebummelt, und Xia kommt schon aus dem Hotel zurück.
Am Nachmittag macht sie dann noch auf eigene Faust die Kleidungsgeschäfte Krujas unsicher. Ein Verkäufer wird so sehr bezirzt, dass er sie ein komplettes traditionelles albanisches Kostüm mit Schärpe anziehen lässt, ohne ärgerlich zu sein, als sie ohne Kauf das Geschäft verlässt.
An der Rezeption des Hotels können wir noch eine sprachliche Frage klären, die uns schon seit Gjirokastra beschäftigt. Dort haben wir an einer öffentlichen Toilette an einem Eingang Grash gesehen. Ist das ‚Männer‘ oder ‚Frauen‘? Ich entscheide mich für ‚Frauen‘, da das Gegenstück, Burra, eher nach ‚Männer‘ klingt. Es stimmt.
29. Juli (Mittwoch)
Als wir Kruja am Morgen verlassen, ergibt sich eine Begebenheit, die uns beiden in Erinnerung bleibt. Wir werden von hinten von einem Auto bedrängt, als wir, nach dem Weg aus dem Ort suchend, die Straße hinunter fahren. Es wird uns richtig mulmig. Ein schwarzes Auto, modern, deutsches Fabrikat – VW oder BMW – ein einzelner Mann drin. Xia fährt bei der nächsten Gelegenheit auf der schmalen Straße so weit rechts, dass er vorbei kann. Das tut er. Aber als er auf unserer Höhe ist, dreht er die Fensterscheibe runter und ruft uns freundlich zu: „Ihr seid falsch, ich weiß, wohin ihr wollt. Ich kann Deutsch. Ich zeig euch den Weg.“ Er führt uns aus dem Ort heraus. Er hätte uns auch an unseren Zielort gebracht, wenn wir das gewollt hätten. Wir schämen uns nachher ein bisschen unserer Angst.
Der Routenplaner schickt uns in Richtungen, die es nicht gibt, oder gibt ganz den Geist auf. Es geht langsam voran, Kurven, Laster, Karambolagen halten uns auf. Dann fahren wir nach Shkodrar rein, um die weitere Route bei einem Kaffee zu besprechen. Was nach Albanien kommt, darüber haben wir uns bisher nicht den Kopf zerbrochen.
Shkodrar ist eine große, lebendige Stadt mit einer riesigen, von Saudi-Arabien gespendeten weißen Moschee mit zwei Minaretten, bei der Einfahrt in die Innenstadt. Danach kommt man auf eine Straße mit Geschäften, Ständen und Cafés und viel Verkehr, vor allem Fahrrädern und Motorrädern. Die Straße ist nach Edith Durham benannt, einer Reiseschriftstellering, die Albanien bereiste, als das noch kein Mensch tat.
In einem Kleidungsgeschäft machen wir den Versuch, ein Kleid für Xia zu kaufen. Die Kleider hängen an allen drei Wänden in mehreren Reihen übereinander und werden mit der Stange heruntergeholt. Wir finden aber nichts Passendes. Das tut mir in der Seele weh für die netten und geduldigen Besitzer, einem Ehepaar. Sie können kaum Englisch, aber irgendwie kommt doch eine Unterhaltung zustande. Als der Mann über das Verhältnis der Albaner zu Deutschen spricht, benutzt er ein Wort, das wie kotza klingt. Aber der Ton und die Mimik lassen vermuten, dass sie die Deutschen nicht zum Kotzen finden.
Auch nach Shkodrar geht es schleppend weiter. Die Gegend wird immer einsamer und karger. Es sieht immer mehr nach Karl Mai aus. Wir kommen in Richtung Grenze. Unser Zielort an der Grenze heißt Hott i Hot.
Dann werden wir angehalten, zum ersten Mal, von dem letzten albanischen Polizisten vor der Grenze. Alle möglichen wilden Vorstellungen laufen vor meinem geistigen Auge her: Grenze gesperrt, Terroristen gesucht, saftige Geldstrafe, korrupter Polizist. Da die Verständigung ausschließlich durch Gesten erfolgt, lassen sich die Befürchtungen auch nicht so leicht ausschließen. Am Ende ist dann alles ganz harmlos: Licht an! Es gibt aber nur eine Ermahnung, nicht einmal ein Knöllchen.
Gleich danach kommt die letzte Tankstelle in Albanien. Der junge Mann, der uns bedient, ist sehr gesprächig. Merkel sei gut, findet er. Sie solle den Griechen gegenüber nicht zu nachgiebig sein.
An der Grenze haben wir nur drei oder vier Autos vor uns. Alles geht glatt, und wir sind in Montenegro. Ein anderes Land. Und das merkt man sofort. Alles sieht ganz anders aus: sehr grün, kleine Häuschen mit eingezäunten Gärten! Balkan!
Wir kommen nach Podgorniza, und fahren ohne Halt durch. Es ist eine hässliche Stadt. Am Rand der großen, wenig befahrenen Boulevards, auf denen man sich in Moskau wähnt, hängen große Banner mit Werbung: Telekom.
Es geht langsam voran, die Gegend wird immer einsamer, die Landschaft immer dramatischer. Die kurvenreiche Strecke führt durch kurze, schlecht beleuchtete Tunnel, die in kurzen Intervallen aufeinander folgen und bietet wunderbare Ausblicke. Wir haben die Felswand zur einen und den Abgrund zur anderen Seite. Dann sieht man in der Ferne einen See mit grünem Wasser, ein Stausee, wie sich herausstellt, riesengroß. Als wir dort ankommen, machen wir einen Halt und ausgerechnet hier, in der Einsamkeit, macht Xia eine neue Entdeckung: Sie sieht zum ersten Mal eine Selfie-Stange. Ein junges Paar, das am selben Platz Halt gemacht hat, photographiert sich vor dem See.
Dann kommt die nächste Grenze. Xia hat ihren Ausweis nicht zur Hand. Der Grenzbeamte fragt sie nach ihrem Namen. Ob es Ärger gibt? Aber dann sagt er, ohne den Ausweis zu sehen: „You can go, Maria.“
Sind wir schon in Bosnien oder noch im Niemandsland? Nach einer Strecke, die einem lang vorkommt, tauchen wieder Grenzhäuschen auf. Wir sind noch nicht in Bosnien. Jetzt haben wir die Pässe zur Hand. Aber dann kommt die Frage: „Und die grüne Versicherungskarte?“ Mir wird es sofort mulmig. Die Suche beginnt. Im Rucksack ist sie nicht, im Handschuhfach ist sie nicht, bei den anderen Papieren ist sie nicht. Zum letzten Mal habe ich die Versicherungskarte vor knapp einem Jahr in der Hand gehabt. Lange wurde diskutiert, ob sie überhaupt nötig sei. Wir werden gebeten, links ranzufahren. Ein grimmig aussehender Grenzbeamter kommt auf uns zu. Xia unterhält ihn, während ich suche. Und mir vorstelle, wie wir an der Weiterreise gehindert werden, wie das Auto beschlagnahmt wird – in Dänemark, habe ich vor kurzem gehört, werden Autos bei heftigen Geschwindigkeits-überschreitungen beschlagnahmt – wie wir verdächtigt und verhört werden. Aber dann taucht die Karte irgendwo auf. Wir können weiterfahren.
Trotz langer Leitung geht uns irgendwann auf, dass BiH für ‚Bosnien und Herzegowina‘ steht. Warum ist /i/ in so vielen Sprachen das Wort für ‚und‘? Dann aber sind wir überfordert, denn jetzt sind wir auf einmal in der Republika Srpska. Was ist das denn? Erst nach der Rückkehr können wir die Wissenslücke schließen: Die Republika Srpska ist ein merkwürdiges Gebilde, ein Teil von Bosnien und Herzogowina. Sie nimmt ungefähr die Hälfte des Staatsgebiets ein und ist zweigeteilt, ein einen östlichen und einen nördlichen Teil. Wir kommen durch beide durch.
Wieder ändert sich alles schlagartig. Es sieht irgendwie wilder aus. Die Straße ist schlechter und verwandelt sich bald in eine Schotterpiste. Nach einer Kurve stoßen wir dann auf eine Figur, die uns noch lange in Erinnerung bleibt: ein Mann, ein Männlein, mit einem Charakterkopf, gegerbter Haut und einem freundlich-ironischen Lächeln auf den Lippen, ein kleines Verbotsschild in der Hand. Das bewegt er hin und her, mit kurzen Bewegungen, aus dem Handgelenk. Durchfahrt verboten. Geduldig winkt er uns zurück, während er auf das Auto zukommt. Die Autos hinter uns müssen auch zurücksetzen. Und dann kommt von vorne ein Baustellenfahrzeug. Wir mussten nur die Baustelle freigeben. Danach geht es weiter.
Am späten Nachmittag erreichen wir Sarajevo. Es sieht wie eine Mischung aus West-Berlin und Ost-Berlin und Innsbruck aus. Wir finden eine bewachte Tiefgarage in der Nähe des Hotels, das wir vorsichtshalber gebucht haben. Alle sind sehr freundlich, als wir nach dem Weg fahren.
Das Mädchen an der Rezeption schüttelt den Kopf. Es liegt keine Buchung vor. Das Hotel ist voll. Wir bestehen darauf, dass wir gebucht haben. Das Mädchen bietet an, die Chefin herbeizurufen. Die kommt nach Anruf kurz darauf, von draußen. Sie ist sofort im Bilde: Es liegt tatsächlich eine Buchung vor. Von uns. Aber nicht für heute. Für gestern. Kleinlaut nehmen wir den Tadel hin, dass wir uns noch nicht einmal abgemeldet haben. Aber sie wird dann allmählich freundlicher und findet doch noch Platz für uns. Glück gehabt.
Das Hotel liegt ganz zentral. Ganz kurz durch eine Seitenstraße, und wir sind mitten in der Altstadt. In den Schaufenstern Fußballtrikots. Hier ist nicht Messi der Star, und auch nicht Ronaldo, sondern Džeko. Wir tauschen Geld um, kaufen Zigaretten, bummeln etwas durch die Gegend und gehen ein kaltes Bier trinken. Das ist teuer. Sarajevo ist eine Touristenstadt. Tolle Atmosphäre, voll, aber kein Touristenrummel, eher gediegen. Darauf trinken wir dann noch ein zweites Bier.
Von der Kneipe geht es fast auf direktem Weg in ein Restaurant. Wir türmen aber wieder, sobald wir uns hingesetzt haben und bevor der Kellner kommt – hier gibt es keinen Alkohol.
Dann landen wir auf der Seitengasse, die zurück zum Hotel führt. Hier sitzt man auf langen Bänken vor der Front des Hauses. Es gibt bosnische Spezialitäten und Wein. Der Kellner ist sehr gesprächig. Er hat studiert, Wirtschaftswissenschaften, hat sich dann aber für das Kellnern entschieden. Da verdient man mehr. Und warum arbeitet er als Kellner? Weil die ganze Familie da dran hängt, Eltern, Geschwister und auch noch irgendwelche Onkel und Tanten!
Dann machen wir noch einen Spaziergang durch die erleuchteten Straßen. Was besonders ist an Sarajevo, das sind die Moscheen in einem ganz mitteleuropäisch aussehenden Kontext.
30. Juli (Donnerstag)
In Bosnien hat die Mark überlebt. Sowohl im Namen der Währung als auch im Wert: 2 Mark sind 1 Euro. Der Name der Währung ist Konvertible Mark. Das erklärt das rätselhafte KM auf den Münzen.
Im Basar, wo wir schon am Abend durchgekommen sind, gibt es Kaffee, bosnischen Kaffee. Der könnte genauso gut griechischer Kaffee oder türkischer Kaffee heißen. Frühstück gibt es hier aber nicht. Wir werden zu einem Lokal geschickt, das Pod Lipom heißt. Mein Verdacht, was das heißen könnte, wird durch eine Wandmalerei bestätigt: ‚Unter der Linde‘. Wir sitzen tatsächlich unter einer Linde.
Wir sind die einzigen Gäste. Eine freundliche junge Frau bedient uns. Sie spricht wenig Englisch, bemüht sich aber, unsere Wünsche zu verstehen. Und zu erfüllen. Und das, obwohl sich herausstellt, dass wir noch zu früh sind und dass sie gar nicht zuständig ist: „I am not Kellner“. Ja, das Wort habe sie von deutschen Touristen gelernt. Sie bringt uns dann tatsächlich ein Omelette und Kaffee und Tee. Bei bosnischem Kaffee verzieht sie den Mund. Das Einheimische zählt nicht, das Fremde hat mehr Wert.
Dann kommt der Kellner. Der spricht fließend Deutsch. Ich frage nach der Sprache, einschließlich der Schrift. Von der bosnischen Sprache hält er nicht viel. Jedenfalls nicht davon, von bosnischer Sprache zu sprechen. Das sei Serbokroatisch. Nur meine man heute, dem selbständigen Staat eine eigene Sprache verpassen zu müssen. Er zeigt auf die Zigarettenschachtel. Dort steht die übliche Warnung auf Bosnisch und auf Serbokroatisch. Es gibt keinen einzigen Unterschied. Dann frage ich auch noch nach der Schrift. Immer wieder haben wir Wegweiser in zwei Alphabeten gesehen. Ja, das sei tatsächlich so, sagt er. Man benutze beide nebeneinander. Aber wie geht das denn, will ich wissen. Zum Beispiel in der Schule. Und dann kommt eine Antwort, auf die ich nie im Leben gekommen wäre: Eine Woche Kyrillisch, eine Woche Latein!
Bevor es weitergeht, machen wir einen ausgedehnten Spaziergang durch Sarajevo, auf beiden Seiten der Miljacka, die auch Roter Fluss heißt. Dabei kommen wir an die Lateinische Brücke, der Brücke, an der das Attentat auf den Thronfolger Österreich-Ungarn ausgeübt wurde. Der Name, Lateinische Brücke, erklärt sich aus der Bevölkerung, die in diesem Viertel ansässig war: Katholiken.
Das Stadtbild wird von den Minaretten der Moscheen geprägt, aber daneben gibt es eine katholische Kirche im gotischen Stil und eine orthodoxe Kirche im Barockstil! Dazu einen achteckigen Brunnen, ein muslimisches Gräberfeld, eine Synagoge, ein Rathaus mit Einschusslöchern an der Fassade und einen ganz modernen, in grellen Farben gehaltenen Klinikbau. Über Mangel an Abwechslung kann man nicht klagen.
Aber es nutzt nichts. Wir müssen weiter. Bei der Ausfahrt aus der Stadt spielt der Routenplaner mal wieder verrückt und schickt uns immer wieder um ein Stadion herum. Aber auch das hat sein Gutes: Wir bekommen dadurch einen Blick auf einen bemerkenswerten Friedhof, mit weißen Grabstelen auf dem Abhang eines Hügels. Christliche Gräber neben muslimischen Gräbern, friedlich vereint. Aus der Ferne vermuten wir sogar außerdem noch jüdische Gräber, aber das scheint nicht zu stimmen.
Unterwegs auch wieder Hinweisschilder in zwei Alphabeten. Dabei benutzt das kyrillische Alphabet hier auch Buchstaben, die das Russische nicht hat, wie <j>.
Irgendwo unterwegs machen wir Pause und kaufen in einem Obstgeschäft, das intensiv nach den reifen und überreifen Früchten riecht, für ein Spottgeld etwas Obst. Einen geeigneten Ort für einen Kaffee suchen wir lange. Am Ende gehen wir etwas widerwillig in ein modernes, aber etwas schummrig aussehendes Café, in dem einheimische junge Leute verkehren. Das bereuen wir, als wir auf die Toilette gehen. Aber der Kaffee ist ordentlich, und wieder ergibt sich ein Gespräch mit dem Kellner. Er spricht fließend Deutsch und hat lange in einer Kleinstadt im Sauerland gelebt.
An der Grenze gibt Xia unsere letzten Mark aus, für Mineralwasser und Kekse. An den Keksen habe ich noch wochenlang meine Freude, ebenso wie an der modernen Wasserflasche.
Kroatien. Wieder ist nicht zu übersehen, dass man eine Grenze überschritten hat: große, schnelle Autos, gebührenpflichtige Autobahnen, moderne Hochhäuser. Selbst die Grenzwärterhäuschen sind größer, besser und moderner als in Bosnien oder in Montenegro.
Die Fahrt geht auf Zagreb zu, und jetzt mache ich einen Vorschlag, den ich noch bereuen sollte: Es ist zu weit. Es wird dunkel sein, wenn wir ankommen, und dann in der riesigen Stadt Unterkunft suchen, das ist keine verlockende Perspektive. Wir sollten vorher irgendwo Halt machen. Aber wo? Hilfe kommt von unerwarteter Seite: von einem Polizisten. Der macht eine Routinekontrolle und empfiehlt uns anschließend einen Ort auf dem Weg: Ivaniçgrad. Dort kurven wir mehrmals durch die menschenverlassene Stadt, die nicht hübsch und nicht hässlich, sondern eher nichtssagend ist. Vom Flair des Balkans ist hier nichts mehr zu spüren. Das wirkt alles sehr mitteleuropäisch. Es sind verschiedene Hotels ausgeschildert, aber irgendwie kommen wir nicht dorthin. Am Ende landen wir in einem Wohnviertel. Hier sieht es richtig ländlich aus. Wir erwischen eine Frau, die gerade mit ihrer Tochter ihr Haus verlässt. Sie ist sehr, sehr freundlich und bemüht. Sie will uns den Weg zu einem Hotel erklären, aber merkt selbst, wie kompliziert das ist. Kurzentschlossen setzt sie sich in ihr Auto und sagt uns, wir sollten ihr folgen. So kommen wir zu einem modernen Sporthotel, das überall in Westeuropa stehen könnte. Es hat alle Einrichtungen, die man sich wünschen kann und ist trotzdem nicht teuer. Das Schwimmbad ist jetzt allerdings geschlossen.
Gleich nebenan ist ein Restaurant. In einem länglichen Raum mit eingedeckten Tischen in Reihen sind wir die einzigen Gäste. Mit der Kellnerin, die uns Empfehlungen für Speisen und Bier gibt, kommen wir schnell ins Gespräch. Auch sie hat studiert, arbeitet aber mangels Alternative hier im Restaurant. Als wir hinausgehen, bekomme ich den Kopf gewaschen. Ich habe wieder die falschen Fragen gestellt.
31. Juli (Freitag)
Am Morgen prasselt der Regen auf das Dach und auf irgendwelche Plastikabdeckungen neben dem Hotel. Am Abend zuvor waren schon ein paar Tropfen gefallen, und zum ersten Mal auf der Reise ist es kalt gewesen. Im Laufe des Tages bessert sich aber alles wieder auf. Später kann man auch wieder draußen sitzen und Kaffee trinken.
Die Entscheidung, doch noch nach Zagreb reinzufahren, fällt spontan, ein paar Hundert Meter vor der Ausfahrt. Es lohnt sich. Obwohl wir nicht viel Zeit haben, uns Details anzusehen.
Schon der erste Platz, an den wir kommen, ein repräsentativer Platz mit beeindruckenden barocken und klassizistischen Bauten, darunter Nationaltheater, Archäologisches Museum, Kunstpavillon, Mimara-Museum, Kathedrale, ist den Abstecher wert, und das ist nur die Unterstadt. Der Stephansdom, die Kathedrale, gilt als Wahrzeichen Zagrebs, aber sie kommt mir nicht bekannt vor. Überhaupt verbinde ich mit Zagreb gar nichts, außer vielleicht Partisan und Roter Stern.
Wir bleiben vor einer Bronzeskulptur stehen, einer im Kreis angeordneten Figurengruppe, die verschiedene Menschen in verschiedenen Seelenzuständen darstellt, die sich auf ihren Gesichtern zeigen. Beeindruckend.
Dann geht es über eine langgezogene Straße, über die eine moderne Straßenbahn fährt, Richtung Oberstadt. Es wird immer lebendiger und voller. Die Unterstadt hatten wir praktisch noch ganz für uns. Unterwegs lerne ich etwas über Fenster, nämlich auf solche zu achten, die glatt mit der Häuserfassade abschließen und nach außen öffnen.
Diese Straße führt auf den Ban-Jelacic-Platz, der Verbindung der Unterstadt und der Oberstadt. Zagreb ist ein Zusammenschluss zweier ursprünglich autonomer Städte, Kaptol und Gradec. Das erklärt vermutlich die heutige Struktur.
Der Platz ist benannt nach dem kroatischen Nationalhelden. Im Zentrum des Platzes steht sein Standbild. Heute tritt auf dem Platz eine traditionelle Tanzgruppe aus Slowenien auf.
Etwas abseits des Platzes setzen wir uns in ein schönes Straßencafé. Das Café heißt ganz unoriginell Amélie. Neben dem Namen steht aber das Motto an der Fassade: Slatka male radosti. Das dürfte so etwas heißen wie ‚Sahne ist ein kleines Glück‘.
Erstaunlicherweise können wir hier mit Euros nicht landen. Xia übernimmt die Aufgabe, in einer nahegelegenen Bank Geld zu tauschen. Das erweist sich als langwierige und umständliche Angelegenheit. Wir hatten gerätselt, wie denn die Währung von Kroatien heißt, und ich lag mit meinem Dinar ganz schön daneben. Sie heißt Kuna! Was ‚Marder‘ bedeutet!
Wir kommen mit einem älteren, Deutsch sprechenden Ehepaar ins Gespräch. Die beiden kommen aus Slowenien und kennen unser heutiges Reiseziel.
Wir gehen dann in die Oberstadt, und hier entdecken wir dann auch den Markt, den wir mehrmals auf Abbildungen gesehen haben, ein Markt mit vielen Reihen von Ständen mit immer den gleichen, knallroten Sonnenschirmen.
Auf dem Rückweg erwischen wir noch einen Blick auf den Eingang zur Burg, gehen durch eine schöne Ladenpassage, sehen die Seilbahn, die in die Oberstadt führt und kommen an einem Banner vorbei, das für ein Schauspiel von Schnitzler wirbt: Daleka Zemlja. Auch das kann man ableiten: ‚Das ferne Land‘. So bastele ich es mir jedenfalls zurecht. Allerdings heißt das Stück im Original Das weite Land.
Als wir wieder zu unserem Auto kommen, finden wir ein ordentliches Knöllchen an der Windschutzscheibe. Jetzt verstehen wir, warum wir so schnell einen Parkplatz gefunden haben.
Es geht weiter. Nach Slowenien. Wir fahren weder nach Slowenien, das sehr schön sein soll, noch nach Maribor, wo ich schon wegen des Namens mal hin will, denn wir haben eine Verabredung in Kobarid, ganz im Westen Sloweniens, nahe der italienischen Grenze. Xia lässt sich nicht lumpen und lädt zum Speisen in ein Gourmet-Restaurant ein. Die Unterkunft haben wir aber in Most na Soçi gebucht, in einem richtigen Landgasthof. Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Zimmer und der Schankraum sehen aus wie aus den Fünfziger Jahren. Um zu den Zimmern zu kommen, geht man hinter dem Tresen her.
Leider haben wir die Distanz zwischen Most na Soçi und Kobarid unterschätzt. Statt eines Spaziergangs von 20 Minuten ist es eine Autofahrt von 40 Minuten. Es geht durch ein wunderschönes Flusstal. Wir befinden uns in den Alpen, in den Julischen Alpen.
Was Xia an dem Restaurant, dem Hişa Franco, so gefällt, ist, dass es sich um junge Leute handelt, Aussteiger, die innovative Küche machen und dabei nicht so abgehoben auftreten wie andere.
Der Chef selbst, der mit privaten Gästen draußen sitzt, begrüßt uns persönlich. Dann geht es in einen Wintergarten. Im Laufe der Zeit trudeln immer mehr Gäste ein. Neben uns ein holländisches Ehepaar mit Tochter, an einem anderen Tisch ein libanesischer Geschäftsmann, der einen slowenischen Begleiter hat, vermutlich für den Zweck angeheuert. An den meisten Tischen sitzt man zu zweit.
Um zu bestellen genügt ein einziges Wort! In unserem Fall: „Fünf.“ Man kann zwischen fünf und acht Gerichten unterscheiden. Alles andere kommt von selbst, einschließlich der Getränke.
Bei jedem Gericht wird genau erklärt, was man da vor sich hat. Unter anderem gibt es Kartoffelschaum, Zunge mit Tomaten und Wassergelee, Muscheln mit Kapuzinerkresse, gefüllte Pasta, Kalbsrücken bzw. Fisch mit Auberginenpaste, und Ente. Dazu gibt es Sekt, Chardonnay, roten und weißen Cabernet Sauvignon. Und Mineralwasser bis zum Abwinken. Und ganz frisches, selbst hergestelltes Brot. Obwohl die Portionen winzig klein sind, ist man am Ende satt.
Alle Kellner sind jung, freundlich und sprechen gut Englisch. Einer, mit dem wir etwas ins Gespräch kommen, stammt aus einem Dorf ganz hier in der Nähe, ein paar Kilometer entfernt. Er hat woanders eine Ausbildung gemacht und ist glücklich und froh, jetzt so eine gute Stelle zu haben.
Als wir wieder in unseren Gasthof zurückkehren, befindet sich gerade eine Gruppe Einheimischer im Aufbruch. Der joviale Wirt serviert uns dennoch noch einen Kaffee. Und dazu gibt es einen Schnaps.
1. August (Samstag)
Am nächsten Morgen gibt es ein üppiges Frühstück, eine Mischung aus selbstgemacht und Massenware. Der Wirt erklärt, zu unserer Überraschung, dass der Betrieb jetzt im Sommer nicht auf Hochtouren laufe. Begründung: Es ist zu heiß. Dabei stehen vor dem Haus verschiedene Autos mit fremdländischen Kennzeichen. Die besten Monate seien Mai und September. Das Haus ist ein klassischer Familienbetrieb, alle sind mit eingespannt. Auf Nachfrage sagt er dann doch, das Hotel laufe recht gut. Nicht aber das Restaurant. Das habe 120 Plätze.
Er selbst hat in der Schule noch Serbokroatisch als Fremdsprache gelernt. Das hat sich geändert. Jetzt sind es Englisch und Italienisch.
Wir können unsere gestern erworbenen Sprachkenntnisse an den Mann bringen: Hvala! Das heißt ‚danke‘, im Slowenischen wie im Kroatischen. Als ich es höre, mit einem Anfangslaut wie dem des Konsonanten in ach, kommt mir das merkwürdige Kennzeichen von Kroatien, HR, nicht mehr so merkwürdig vor.
Wir kommen mit anderen Gästen ins Gespräch, zwei Frauen – Schwiegertochter und Schwiegermutter, wie sich herausstellt – mit Kindern, die eine slawische Sprache sprechen, die wir aber nicht identifizieren können. Sie sprechen zwei slawische Sprachen: Tschechisch und Ukrainisch.
Wir machen uns auf den Weg, machen aber gleich wieder Halt, um die letzten kroatischen Münzen loszuwerden. Ob das klappt? Ich bin skeptisch, aber es klappt. Xia hatte recht und ergattert ein paar Ansichtskarten.
Wir kommen wieder durch Kobarid und sehen diesmal eine dramatisch auf einem Felsblock stehende weiße Kirche, die gestern im Dunkeln war.
In Zeit von nichts sind wir in Italien und in Zeit von nichts sind wir auch schon wieder aus Italien raus. Dabei haben wir gerade angefangen, uns mit ein paar pseudo-italienischen Phrasen, die wir uns gegenseitig an den Kopf werfen, auf das Land einzustellen.
Dann kommt Österreich. Der nächste Schritt bei der Annäherung an die Heimat: Von Bosnien ist es über Kroatien, das schon in der EU ist, nach Slowenien, das den Euro hat, und von dort nach Österreich, wo Deutsch gesprochen wird.
Davon bekommen wir eine besonders charmante Probe in Villach, wo uns eine wunderbare rundliche Frau genauestens über die Lage unterrichtet: Es ist Kirchweih, d.h. die gesamte Innenstadt ist abgesperrt. Sie verrät uns aber einen Trick: Wir können noch bis zwölf warten und dann irgendwo parken und bekommen dann das Geld wieder zurück, wenn wie auf der Kirchweih etwas konsumieren. Ihr Elan ist kaum zu stoppen. Sie ist von selbst auf uns zu gekommen und hat unsere Frage beantwortet, bevor wir sie überhaupt gestellt haben. Als sie in einem Hauseingang verschwindet, sind wir froh, dass sie nicht mehr sieht, dass wir ihren Rat ignorieren und weiterfahren. Es geht uns nur um eine Kaffeepause. Die machen wir dann in Spittal. Und da holt uns die mitteleuropäische Wirklichkeit ein, als es ans Bezahlen geht: Für zwei Kaffee, zwei Wasser, zwei Stück Kuchen fallen 19 € an! Der erste Schock war schon die Maut in Slowenien. Der nächste soll bald folgen. Statt eines Tunnels, den wir geschickt umfahren haben, kommen wir durch einen anderen Tunnel, und auch hier wird abkassiert.
Meine Eigenschaft als vaterlandsloser Geselle stelle ich dann unter Beweis, als ich den Grenzübergang nach Deutschland, nach der langen Abwesenheit, schlichtweg verschlafe.
Wir haben uns lange den Kopf über die Route zerbrochen, aber am Ende habe ich mich durchgesetzt. Wir fahren über München, aller Sorgen um endlose Staus zum Trotz. Ergebnis: Es gibt nicht einen einzigen Stau, es sind nicht einmal viele Autos unterwegs.
Also steuern wir unsere letzte Station an: Augsburg. Xia hat es in schlechter, ich habe es in guter Erinnerung. Es erweist sich als gute Entscheidung. Wir finden ein ganz zentral gelegenes Hotel mit einem kuriosen Wirt, der in Künstlerkreisen verkehrt und ständig Seitenhiebe auf „die Bayern“ austeilt. Er ist ein Aussteiger und hat erst später die Hotelkarriere eingeschlagen. Für die Zimmer in seinem früheren Hotel hat er „Künschtler und Galerischten“ engagiert, und die haben die Zimmer „ausgemalen“.
In zehn Minuten sind wir im Zentrum und sehen uns bei einem Spaziergang um. Erinnerungen an das Rathaus, an die Fuggerei, an das Brechthaus, an die Augsburger Puppenkiste stellen sich ein. Xia ist ganz verwirrt: Das ist ja eine richtig sehenswerte Stadt! Bestätigt, dass es sich lohnt, überall immer noch ein zweites Mal hinzufahren. Ich mache die verblüffende Erkenntnis, dass die barocken Prachtbrunnen im Zentrum keine Spur in meiner Erinnerung hinterlassen haben. In der Nähe eines der Brunnen trinken wir in einem Straßencafé einen Tee. Bedient werden wir von einem sehr umgänglichen, gesprächigen Kellner.
Am Abend geht es dann in eine Eckkneipe in der Nähe des Hotels. Die Kneipe ist voller Krimskrams und Nippes und bietet deftige Küche mit einheimischen Bieren. Für die abschließende Zigarette werden wir vor die Tür gebeten. Es ist noch warm genug, draußen zu sitzen, aber zur Sicherheit gibt es einen Schnaps auf Kosten des Hauses dazu. Ist ja wie auf dem Balkan!
2. August (Sonntag)
Einen letzten Hauch von Internationalität erhält unsere Reise am letzten Tag beim Frühstück. Am Nachbartisch sitzen Mexikaner. Eine interessante Konstellation: zwei Schwestern reisen mit ihren Großeltern durch Deutschland. Und agieren dabei als Dolmetscher: Beide gehen auf die Deutsche Schule in Mexiko und sprechen fließend Deutsch. Durch das Spanische einerseits und die Musik andererseits ergeben sich zwei Anknüpfungspunkte. Die Mädchen spielen beide Musikinstrumente und sie haben große Pläne. Als Xia nachfragt, wo sie denn mal singen möchte, kommt, ohne jeden Anflug von Ironie, die prompte Antwort: in der Scala.
Erst geht es zügig weiter, sobald wir auf der Autobahn sind, aber dann kommen wir, nur noch ein paar Stunden vom Ziel entfernt, zum ersten Mal auf der Reise in einen Stau. Wir fahren auf die Landstraße und machen in Ettlingen Halt, um einen Kaffee zu trinken. Dort begegnen wir dem ersten Stinkstiefel auf der gesamten Reise, ausgerechnet einem Italiener, dem Besitzer eines Lokals, der unsere Absicht, bei ihm für einen Kaffee einzukehren, schroff zurückweist, mit unfreundlicher Miene und unfreundlichen Worten.
Anders in einer von Einheimischen betriebenen Gaststätte, direkt an der Alb gelegen, dem Fluss Ettlingens, und gegenüber von einem Stadttor. Hier erscheint als allererster Vorbote des Herbstes eine Tafel mit dem handgeschriebenen Hinweis: „Die ersten Pfifferlinge sind da!“. Der Kellner ist gesprächig und gibt uns ganz genaue Erklärungen, wie wir den Stau umfahren können.
Sein Tipp ist Gold wert. Wir vermeiden den Stau und kommen gut voran, wenn es auch die eine oder andere Engstelle gibt.
Ich sacke mit Kopf- und Gliederschmerzen immer mehr in mich zusammen und bin zum ersten Mal froh, nicht fahren zu müssen. Als Gesprächspartner tauge ich auch nicht mehr viel. Aber Xia hält mich bei Laune: Sie erklärt, was es mit Blaubeuren auf sich hat, was eine Wasserscheide ist, stimmt Lieder an und rezitiert den Zappel-Philipp: „Und die Mutter blickte stumm auf dem ganzen Tisch herum.“ Und fragt nach der morgen beginnenden Arbeit. Dabei gebrauche ich die Wendung „sich gegen etwa ansehen“. Wird nicht verstanden. Scheint regional zu sein. Aber was ist das schon gegen „der Klo“ und „die Albanier“, von denen sie die ganze Zeit gesprochen hat?
Und dann kommt das Moseltal in Sicht. Vertraute Gegend. Und mit einer kategorischen Meinungsäußerung geht die Reise zu Ende. Alle, sagt Xia, fänden die Weinberge an der Mosel so schön. „Isch net.“