26. Dezember (Samstag)
Egal, wohin man schaut, Lauftreff, Lesekreis, Kollegium, Familie: Jeder war schon mal in Sardinien. Und jetzt, in den letzten Tagen, wie auf Bestellung, auch eine Dame am Nebentisch in einem italienischen Café, die sich laut und vernehmlich mit der Kellnerin hinter dem Tresen über Sardinien unterhielt. Sie wie auch alle anderen: hellauf begeistert.
Darauf gibt es zwei Reaktionen: Da muss ich auf jeden Fall auch hin! Oder: Muss man wirklich auch hin? Die Entscheidung für Sardinien fiel dann letztlich aus einem ganz banalen Grund: dem schnöden Mammon. Jetzt, wo es überall teuer ist, kommt man nach Sardinien für’n Appel und’n Ei. Ein echtes Schnäppchen.
Schon vor der Abfahrt habe ich mit ungläubigem Staunen zur Kenntnis genommen, dass a) Sardinien näher an Tunesien als an Italien liegt und dass b) wir Sardinien die Sardellen und das sardonische Lachen zu verdanken haben. (Diese Herkunft ist allerdings umstritten).
Sardinien ist von den Römern nach der Eroberung links liegen lassen worden. Sardinien war jahrhundertelang verhältnismäßig isoliert, und das Sardische hat deshalb viele Wesenszüge des Lateinischen behalten. Dazu kommt der Einfluss des Spanischen als Resultat der vierhundertjährigen Herrschaft der Spanier. In dem wunderbaren Roman Sottosopra von Milena Agus, in dem hin und wieder einzelne Gesprächsfetzen auf Sardisch erscheinen, bekommt man einen Eindruck davon, wie anders das Sardische ist. Kaum zu verstehen, nicht einmal in geschriebener Sprache.
Die sardischen Artikel sind nicht von ille, illa, illud abgeleitet, sondern von ispe, ispa, ispud. Ein kleiner, aber charakteristischer Unterschied, und ein auffälliger. Überall werden wir in den nächsten Tagen darauf stoßen: Su Cumbido, Su Tempieso, Sa Testa, Sa Domu Sarda, Sos Alinos, Sos Molinos, Sas Linnas, Sas Concas.
Erstaunlich, dass viele der sardischen Schriftsteller keine professionellen Schriftsteller sind, sondern Arzt, Jurist, Theologe usw. Wörter wie arm, düster, rückständig, rau kommen in den Kommentaren zu den Büchern immer wieder vor. Auch bei denen von Grazia Deledda. Die erhielt als zweite Frau überhaupt den Literaturnobelpreis.
Erst jetzt höre ich zum ersten Mal den Namen Gavino Ledda. Der ist vor allem für seine autobiographischen Romane bekannt. Er wuchs als Hirtenjunge auf – sein gewalttätiger Vater hatte ihn nach einem Monat aus der Schule genommen – brachte sich selbst Lesen und Schreiben bei und brachte es zu Abitur und Studium. Und was ist er heute? Professor für Sprachwissenschaft!
Völlig unbekannt sind mir auch die Nuraghen. Das sind kegelförmige Festungstürme aus Steinblöcken. Sie haben einer ganzen Kultur den Namen gegeben, der nuraghischen Kultur, einer vorgeschichtlichen Hirtenkultur, die es wohl nur auf Sardinien gibt. Es ist umstritten, ob sie von auswärts kamen oder ob es sich um Sarden handelte, die ihren Lebensstil änderten.
Sardinien ist groß, noch größer als Kreta, die zweitgrößte Insel des Mittelmeers. Unser Ziel ist Cagliari, ganz im Süden. Das Gegenstück dazu im Norden ist Alghero.
Über Cagliari hört man lauter überschwängliche Kommentare. Komisch, mir sagt das bisher so gut wie gar nichts. Die einzige Assoziation, die ich mit Cagliari habe, ist US Cagliari, die in meiner Gymnasialzeit mal sensationell italienischer Meister wurden, mit Gianni Riva.
Einerseits all die Lobeshymnen, andererseits Wörter wie Lärm, Hektik, Drogen, Hochhäuser, die in den Beschreibungen auftauchen. Und dem Hinweis darauf, dass die Innenstadt im Krieg zu zwei Dritteln zerstört wurde. In den letzten Jahrzehnten hat Cagliari tatsächlich Einwohner verloren – von 240.000 auf 170.000 – während die Nachbargemeinden stark gewachsen sind. Da darf man sich überraschen lassen.
Am Morgen des Abflugs zwitschern die Vögel. Sie glauben, es wäre Frühling. Wegen der Temperaturen braucht man nicht in den Süden zu fahren.
Und bei der Fahrt zum Flughafen sieht man rosarote Wolken und einen rosaroten, fast mysteriösen Streifen am Himmel und dann, als es hell wird, einen unwirklich großen Vollmond ganz niedrig am Himmel hängen.
Dann erreicht einen aber schnell die Wirklichkeit wieder mit den üblichen Kontrollen am Flughafen. Erstaunlicherweise brauchen wir kein einziges Mal unsere Pässe vorzeigen. Jeder andere hätte an unserer Stelle reisen können. Und eine Papierschere, die heute unbeanstandet durchgeht, wird auf der Rückreise konfisziert.
Der Flughafen von Cagliari heißt Elmas, was nicht sehr italienisch klingt. Das ist ein erster Vorgeschmack auf sardische Namen, die uns in den nächsten Tagen immer wieder begegnen.
Alles hier ist modern und funktionstüchtig. Die Automaten, an denen man die Fahrkarten für den Zug kauft, sind mehrsprachig und einfach zu bedienen. Der Zug ist pünktlich und hat bequeme Ledersitze. Schon nach ein paar Minuten sind wir am Bahnhof von Cagliari.
Der erste Eindruck ist positiv. Die schönen mehrstöckigen, auf Arkaden ruhenden Häuser an der Meeresfront, jedes anders als das andere, haben etwas Repräsentatives und sind dennoch nicht allzu sehr herausgeputzt. Eins sieht irgendwie venezianisch aus, ein anderes wird im Reiseführer merkwürdigerweise als neugotisch eingeordnet. Es ist das auffälligste Gebäude der Häuserzeile und das Rathaus von Cagliari.
Dann geht es links den Berg hinauf ins Castello, über Treppen, Plätze und Gassen und durch ein Tor, das Elefantentor. Das Castello ist eins der Stadtviertel Cagliaris, das historische Viertel, hinter mächtigen Festungsmauern gelegen.
Die Pension, die Antica Torre, liegt mitten in Castello. Die Querstraßen haben denselben Namen wie die Straßen von den sie abgehen, und sind nummeriert: Vico dei Genovesi I, Vico dei Genovesi II, Vico dei Genovesi III, alle von der Via dei Genovesi ausgehend.
Die Wirtin erwartet uns schon. Das Zimmer ist wunderbar, mit einer Holzbalkendecke, Keramikleuchten, schönen dunklen Möbeln. Gleichzeitig hat es alle modernen Bequemlichkeiten, die man sich wünschen kann. Das Türschloss ist eines Tresors würdig, oder eines Gefängnisses.
Die Suche nach dem Föhn, am Ende erfolgreich, bringt das kleine Taschenwörterbuch ins Spiel, das wir für Notfälle mit uns führen. Mir fällt asciugacapelli nicht ein, und das Wörterbuch führt nur fon auf, als Entsprechung zu Föhn. Die Gegenprobe ergibt, das fon im italienischen Teil nicht aufgeführt ist. Ich behaupte, es müsse sich um den Wind handeln, denn der Haartrockner werde Fön geschrieben. Das stimmt aber seit der Rechtschreibreform nicht mehr, und tatsächlich bezeichnet fon den Haartrockner.
Wir gehen, nachdem wir den Dom vergeblich gesucht haben, etwas planlos durch die Stadt und kommen dabei an vielen Stellen vorbei, die wir in den nächsten Tagen immer wieder passieren werden. Der Blick von der Brüstung am Elefantentor in die Stadt hinunter und in die Ferne ist enttäuschend. Cagliari ist keine schöne Stadt. Von den Alliierten wurde sie im 2. Weltkrieg bombardiert, und zwar nicht deshalb, weil sie strategisch wichtig war, sondern um von dem Angriff auf Sizilien abzulenken. Cagliari wurde mit dem Titel Stadt der Märtyrer „entschädigt“. Zynischer geht es nicht. Was die Bombardierung begann, wurde von den architektonischen Sünden der Nachkriegszeit vollendet. Schön an der Aussicht ist lediglich die Sonne, die ganz hinten mit senkrechten Strahlen durch die Wolken bricht.
In einem Café auf der Terrasse gibt es Tiramisu und Mousse, beides gut, mit schlechtem Kaffee, nicht den letzten, den es in den nächsten Tagen gibt. Dabei hatte ich vorher noch von der Qualität des Kaffees in Italien geschwärmt.
Wir kommen zur Piazza Yenne, dem eigentlichen Zentrum Cagliaris, in der Unterstadt. Hier steht die Statue von Carlo Felice, dem Herrscher, als Sardinien zum Königreich mutierte, aber von Savoyen regiert wurde. Carlo Felice hält eine Papierrolle in der Hand und weist damit in Richtung der Straße, deren Bau er in Auftrag gab, dem Vorläufer der Straße, die heute noch, teils als Autobahn, an die Westküste führt. Die Straßen Sardiniens werden alle von diesem Platz aus gemessen, und der Nullpunkt wird hier durch einen kleinen Obelisk markiert.
Von hier aus geht die Via Mannu ab, die Haupteinkaufsstraße Cagliaris, auch sie steil ansteigend. Einige Geschäfte sind geöffnet, vor allem Kleidungsgeschäfte, meist teuer. In einem Restaurant gehobener Klasse gibt es ostriche, ‚Austern‘, in allen Variationen.
Als es schon dunkel ist, kommen wir an einem Theater vorbei, in dem nur Stücke auf Sardisch gespielt werden. Die Titel sind kaum zu identifizieren, so anders ist die Sprache. In einem kommt malatiu vor, mit typisch sardischer Endung, und wir können uns nicht einigen, ob es sich um den Eingebildeten Kranken handelt.
Dann kommen wir auf einen schönen, kleinen Platz, mit kitschiger, aber trotzdem ganz schöner Weihnachtsdekoration. Sogar der Abfallkorb ist in „Geschenkpapier“ eingewickelt.
Überall in den historischen Vierteln der Stadt haben die Häuser einheitliche, nur farblich unterschiedliche schön gestaltete Briefkästen aus Eisen, mit einem Wappen im Zentrum.
Wir kommen an einer ganz merkwürdigen Konstruktion vorbei. Es ist eine der Bastionen der Stadt, San Remy. Im 19. Jahrhundert wurde sie durch eine Aussichtsplattform erweitert, die bald zum zentralen Treffpunkt wurde, später aber ihre Bedeutung verlor. Jetzt wird sie renoviert. Wir sehen sie von unten. Auf einer unteren Umfassungsmauer ruht ein großes Tor mit runden Mauern zu beiden Seiten. Es ist eine Stelle, an der man in Cagliari immer wieder vorbeikommt, auch ohne es zu wollen.
Der Hunger treibt uns, da alle anderen Lokale noch geschlossen sind, in einen einfachen Pizzaladen, in dem die Pizza mit der Hand gegessen wird. Dazu gibt es Ichnuso, das sardische Bier, auch ein Name, der nicht sehr italienisch klingt. Auf dem Etikett die vier Mohren, das Emblem Sardiniens. Es stammt aus der aragonesischen Zeit und soll angeblich auf vier maurische Reiche verweisen, die von Aragon erobert wurden. Die vier Mohren tragen ein Stirnband. In einigen Abbildungen bedeckt das Stirnband die Augen. Es heißt, das gehe schlichtweg auf den Fehler eines Zeichners zurück. Die Pizzeria heißt Lapola, und die Nachfrage ergibt, dass es einfach der Name des Viertels innerhalb des Stadtviertels ist. Wir befinden uns in der Marina, dem einstigen Fischerviertel am Hafen.
Danach fragen wir in einem Café an einem kleinen Platz nach dem sardischen Schnaps, bekommen aber stattdessen einen Grappa. Der ist wunderbar mild, preiswert und wird sehr großzügig serviert, in einem Sektglas! Dieser Platz wird uns noch verfolgen, denn in den nächsten Tagen werden wir ihn auf langen Spaziergängen immer wieder suchen, vergeblich, obwohl wir am Tag danach noch mal fast zufällig an ihm vorbeikommen. Er ist wie vom Erdboden verschwunden.
27. Dezember (Sonntag)
Am Morgen werde ich aus der Hausapotheke der Wirtin mit Mitteln versorgt. Sie, Violetta, erzählt stolz von ihrem Enkel, sieben Monate alt, der jetzt zusammen mit seiner Mutter, ihrer Tochter, zu Besuch ist. Die Tochter lebt und arbeitet in Mailand, wahrscheinlich kein untypisches Schicksal für eine junge Sardin.
Vom Balkon aus sieht man, dass der Himmel strahlend blau ist. Im Haus ist das nicht zu merken. Die Häuser sind auf den Sommer ausgerichtet und bieten Schatten und Kühle.
Den Bahnhof erreichen wir zu spät, um noch einen Zug zu bekommen, damit sich die Fahrt nach Onstano und weiter auf den Spuren der Nuragen noch lohnt. Also bleiben wir hier und versuchen, bei Verkehrsverbund, Touristeninformation und Fahrradverleih Informationen einzuholen, mit wechselndem Erfolg. Nur ein Rad steht an dem Fahrradständer, an dem man, wie jetzt in vielen Städten Räder ausleihen kann, und wir erfahren, dass dieser Ständer ohnehin momentan außer Funktion ist und dass diese Räder eigentlich ohnehin nur für Einheimische vorgesehen sind.
Also machen wir uns zu Fuß auf den Weg und erkunden die Stadt in einem großen Bogen um das Castello herum. Dabei kommen wir an mehreren Aufzügen vorbei, aber alle sind außer Funktion, und das, wie wir später von Violetta erfahren, schon seit September. Dabei gibt es insgesamt fünf Aufzüge, und die wären bei dem Gefälle wirklich sehr willkommen.
Von hier unten sieht man aber die hohen, massiven Festungsmauern. Ganz oben, praktisch auf der Mauer, stehen Gebäude. Eins davon ist, wie ich zu meinem Erstaunen erfahre, der Dom, von hinten gesehen. Die Apsis schwebt fast über dem Abgrund.
Wir kommen an einem modernen, verschlossenen Gebäude vorbei, in dessen Innenhof moderne Skulpturen stehen, die uns beiden irgendwie bekannt vorkommen. Auch von hier aus gibt es keinen Zugang nach oben.
Der erfolgt dann außen herum. Ganz oben gelangen wir durch ein weiteres Tor wieder nach Castello rein. Dort bekommen wir in einem winzigen, gemütlichen Café Kaffee mit leckeren Teilchen zu Spottpreisen. Xia entdeckt einen Bildband mit Schwarz-Weiß-Photographien, von sardischen Photographen, oft mit dem Thema Vater & Sohn. Die Beschriftungen sind in Sardisch. Schwer zu verstehen. Am Tresen steht ein Priester im Ornat, ein Zeichen dafür, dass der Dom in der Nähe ist.
Und dann kommen wir tatsächlich zum Domplatz, einem langen, ovalen Platz, auf dem Eisengerüste stehen, schräg versetzt, die Buchstaben darstellen und E-U-R-A-S-I-A ergeben, der Titel der Ausstellung, die in einem Museum am Domplatz gerade läuft.
Der Dom ist nicht freistehend, sondern in die Häuserzeile eingepasst. Wenn man vor der Fassade steht, glaubt man, in Pisa zu sein. Nicht zu unrecht. Die Fassade des Doms wurde zu der Zeit der Herrschaft Pisas über Sardinien erbaut. Diese Fassade ist zwar modern, gerade mal hundert Jahre alt, aber sie ist ein Versuch, den „Originalzustand“ wiederherzustellen und damit die barocke Veränderung aus der Zeit der ungeliebten Aragonesen rückgängig zu machen.
Wir gehen rein und erwischen eine Messe, die gerade erst angefangen hat. Es ist das Fest der Hl. Familie, und der Bibeltext wird in der Predigt für eine rechtskonservative Betrachtung über den modernen Zerfall der Familie ausgeschlachtet.
Die Kirche ist voller barocker Pracht, aber nicht so erdrückend wie sonst, da sie zumindest hell ist. Die mächtigen Skulpturen von herabstürzenden, aus dem Himmel verbannten Engeln und anderen Wesen, haben eine unglaubliche Dynamik und große Theatralik. Nicht jedermanns Geschmack, aber doch irgendwie beeindruckend.
Nach dem Ende des Gottesdienstes werden wir von einem nicht sehr freundlichen Küster bald hinausgeworfen. Die Krypta ist verschlossen, und wir haben gerade mal Zeit, uns die alte pisanische Kanzel mit einigen aufregenden Skulpturen von Teufeln und Ungeheuern anzusehen. Das passt gar nicht schlecht zu der späteren barocken Ausstattung.
Am Nachmittag werde ich zur Genesung im Bett zwischengeparkt, während Xia sich das Archäologische Museum vornimmt. Als sie wieder zurückkommt, hat sie rituale Schiffe gesehen und Figuren, die sich zur Schmerztherapie an verschiedene Körperteile fassen. Auch hat sie ihr Italienisch eingesetzt, um bei der Bezahlung eines Kaffees einen Hunderter zu wechseln. Das hat geklappt, obwohl sie von mille gesprochen hat. Der Kellner hat mitgedacht und keine Miene verzogen. Sie hat außerdem ihr Italienisch eingesetzt, um sich Zugang zum Haus zu verschaffen. Das ist nötig, weil ich das Klingeln beim Gesundschlafen einfach überhöre.
Am Abend gibt es den ersten, kleinen Fortschritt bei der Nahrungsaufnahme im Vergleich zu der Pizzabude von gestern, ausgerechnet in einem indischen Lokal. Hier ist das Besteck zwar aus Plastik, aber immerhin gibt es Besteck. Das Essen ist einfach und gut und preiswert. Vor allem die Vorspeise, eine „Linsensupp“, hat es uns beiden angetan. Danach gibt es Chicken Tandoori und Curry, komischerweise ohne Reis.
Auf dem Rückweg gibt es auf einem kleinen Platz unter dem Domplatz einen Kaffee. Hier gibt es den „richtigen“ sardischen Schnaps, Filu è Ferro. Der hat seinen Namen davon, dass er in der Regel heimlich privat gebrannt wird und bei den zu erwartenden Razzien der Behörden im Garten versteckt und mit einem Stück Draht markiert wurde. Der schmeckt allerdings nicht so gut wie der Grappa vom Vortag und ist auch nicht ganz so mild. Aber man kann draußen sitzen, und die freundlichen Kellner bedienen uns noch, obwohl sie, als wir ankommen, schon dabei sind, Tische und Stühle wegzuräumen.
28. Dezember (Montag)
Am Morgen bekomme ich ein Dampfbad verpasst, bevor es ans Frühstück geht. Das Frühstück nehmen wir gemeinsam mit einem anderen Gast einem, einem Mann aus Korsika. Er spricht etwas Italienisch, aber mit Xia spricht er Französisch. Er ist mit dem Auto hierhergekommen, es sind nur ein paar Kilometer mit dem Schiff. Er zeigt uns auf einer Karte, welche Strecke er gefahren ist. In Cagliari bleibt er ganz in Castello. Das gefalle ihm. Der Rest sei nicht so schön.
Als wir unten an der Meeresfront auf den Bus warten, beobachten wir Fischer, die ihre Beute aus dem Netz holen. Es sind Tintenfische.
Mit dem Bus geht es nach Pola, und von dort zu Fuß nach Nora, unserem eigentlichen Ziel. Die Fahrt führt an Salinen vorbei, an denen Flamingos stehen, und dann an einem großen Industriekomplex, petrochemische Industrie. Ich verpasse den richtigen Moment, ein Photo zu machen. Das müsste man zu Hause zeigen und sagen: „Das ist Sardinien“. Die Ansiedlung von Industrie in Sardinien ist politisch gewollt, Teil der Cassa per il Mezzogiorno, des umstrittenen (und teils gescheiterten) Plans zum Aufbau von Industrien in Unteritalien.
Die Fahrt danach ist langweilig. Weder die Natur noch die Orte sind in irgendeiner Weise bemerkenswert und schon gar nicht in einer besonderen Weise „sardisch“.
Von Pola aus geht es zu Fuß nach Nora, über eine breite Straße mit breitem Gehweg. Wir gehen durch dichtes Laub, große, gelbe Blätter. Die Bäume verlieren ihre Blätter, aber langsamer und später als bei uns. Wenn auch einige schon ganz kahl sind, haben andere noch dichtes Laub.
Durch eine unklare Beschilderung kommen wir vom Weg ab auf eine einsame Straße mit einer großen Kaktushecke. Aggressive Hunde hinter den Gittern und Mauern der Villen machen uns klar, dass wir hier nicht willkommen sind. Sonst rührt sich hier gar nichts. Wir müssen ein Auto anhalten, um nach dem Weg zu fragen.
In Nora bekommen wir eine ausgezeichnete Führung, ganz für uns allein. Man wird mit einem Audioguide als Übersetzer ausgestattet, aber darauf verzichten wir bald, das Original, eine junge Italienerin, deren Ehemann in Deutschland, in Plettenberg, aufgewachsen ist, ist viel besser. Sie kennt und erkennt eine Reihe von deutschen Wörtern, vor allem solchen, die eine Beziehung zu den Ausgrabungen haben. Bei frühlingshaftem Wetter führt sie uns über das Areal.
Was man hier zu sehen bekommt, ist meist römisch, aber die Anlage ist phönizisch, und das macht die Sache aus. Das Forum liegt zum Beispiel nicht, wie sonst immer, im Zentrum, sondern am Wasser. Die Römer glichen ihre Anlage einfach dem an, was sie schon vorfanden. Das gilt auch für Cardo und Decumanus. Sie sind schmaler als sonst – eigentlich gilt die Regel, dass zwei Wagen aneinander vorbeifahren können – und sie sind nicht schnurgerade. Da machte man gleich Nägel mit Köppe und erklärte das ganze Gebiet zur Fußgängerzone! Die Nähe des Meeres machte es möglich. Vom Hafen aus wurde alles gleich in die Stadt geschafft, per Karren.
Die Römer hatten zwei Häfen, in den Reiseführern ist sogar von drei die Rede. Damit machte man sich von den Windverhältnissen unabhängig.
Die Führerin macht uns auf eine Rille in einem Quader am Boden aufmerksam. Was kann das für eine Funktion haben? Man denkt an eine Schiene für eine Tür. Stimmt nicht ganz. Es war die Schiene für die Verankerung der Ladentheke. Wir befinden uns auf der Geschäftsstraße. Im hinteren Bereich befand sich jeweils die Werkstatt (bottega), vorne der Verkaufsbereich, durch die Ladentheke von der Straße abgetrennt, und oben die Wohnungen. Alle Häuser waren mehrstöckig.
In der Nähe sieht man Zisternen. Die meisten Menschen sammelten das karge Regenwasser für den eigenen Verbrauch. Es gab auch einen Aquädukt, aber dessen Wasser wurde nur für die Thermen und für die Häuser der Elite zur Verfügung gestellt.
Ob wir denn schon sardische Spezialitäten probiert hätten, will unsere Führerin wissen. Die Mandelplätzchen vom Frühstück gehen durch, das Pan d’oro vom Frühstück nicht. Das gebe es in ganz Italien. Sie nennt ricci und bottarga, Seepferdchen und Rogen. Beide gibt es nur zu dieser Jahreszeit. Man ist beide auch gerieben als Soße für Pasta.
Und was die Nuraghen angeht, sollen wir nach Su Nuraxi reisen, bei Barumini. Das sei besser, weil es da nicht nur einen einzelnen Turm, sondern eine ganze Anlage gebe, die Reste eines Nuraghen-Dorfes.
Von der Mitte unserer Anlage sehen wir auf einen auf einem Felsen am Hafen liegenden Turm. Das ist die schönste Ansicht weit und breit. Diese Türme, irreführenderweise Sarazenentürme genannt, stammen aus der aragonesischen Zeit. Alle fragten, sagt unsere Führerin, ob das die Nuraghentürme seien oder ob es einen Zusammenhang mit denen gebe. Die Antwort lautet nein.
Nur von diesem Felsen aus hat man einen guten Blick auf die Reste eines Turms aus der phönizischen Zeit. Von dort aus könne man gut dessen Struktur sehen. Er hat die Form einer Stufenpyramide. Genau solche Pyramiden gebe es eben auch im Nahen Osten, im Libanon. Mir kommen auch die Zikkurats aus Mesopotamien in den Sinn. Alles aus derselben Ecke.
Wir kommen zum römischen Theater. Es hat heute noch neun Ränge, ursprünglich waren es wohl doppelt so viele. Das Theater soll 1000 Zuschauer gefasst haben. Im Sommer gibt es hier Konzerte. Xia will wissen, ob die Römer auch das Meer als Kulisse genutzt hätten. Nein, bei den heutigen Konzerten sei das zwar der Fall, aber die Römer hatten eine große Leinwand, auf der die Szenerie des Schauspiels abgebildet war. Das galt ihnen vermutlich mehr als das Naturschauspiel. Passt irgendwie.
Unten, vor der Bühne befinden sich Halbkugeln, in den Boden eingelassen, wie die Boxen der Souffleusen von früher. Xia vermutet, das habe etwas mit der Akustik zu tun, aber die Führerin winkt ab. Die Kugeln stammten aus einer späteren Zeit und seien Vorratsspeicher für Getreide gewesen. Die Erklärung mit der Akustik klingt irgendwie einleuchtender.
In den privaten Häusern sehen wir gut erhaltenen Mosaikfußböden, fast ausschließlich geometrische Muster verwendend. Vereinzelte Herzchen sind die Signatur des Künstlers, der das Mosaik gemacht hat. Die Führerin erzählt, dass sie manchmal Schulklassen hier hätten. Wenn die Schüler sich an Mosaiken versuchten, stelle sich immer heraus, dass der nicht gleichmäßige Rand, der den Gegebenheiten angepasst werden muss, die schwerste Aufgabe ist.
An den Mauern der Häuser sieht man deutlich, dass die Römer bereits eine frühe Form von Zement verwendeten. Alle Wände waren mit Marmor verkleidet. An einigen Wänden sieht man noch Reste. Woher kam der Marmor? Wieder eine überraschende und doch so einleuchtende Antwort: aus Afrika! Karthago ist nicht weit!
Wir bedanken uns für diese ausgezeichnete Führung und machen uns mit wunden Füßen auf den Rückweg Richtung Pola. Dabei kommen wir an San Efisio vorbei. An den Wänden sieht man Photos von blumengeschmückten Straßen. Das ist die Prozession, bei der im Mai die Statue des Heiligen, des Lokalmatadors, von hier nach Cagliari (oder umgekehrt) gebracht wird. Das ist das große Patronatsfest der Gegend.
Im Ort angekommen, stoßen wir auf ein sehr freundliches und gesprächiges Ehepaar. Sie kommen aus Brescia, kennen sich hier aber gut aus und führen uns zur Bushaltestelle. Unterwegs erfahren wir, dass er Handelskaufmann war und viel mit Deutschland zu tun hatte. Er belieferte Edeka mit italienischen Produkten. Er kennt Trier und den Flughafen Hahn. Er bedauert, nie Deutsch gelernt zu haben. Das liege daran, dass seine deutschen Freunde so gut Italienisch konnten!
Wir schaffen es nicht ganz bis zur Bushaltestelle, aber der Busfahrer hält für uns an. Das ist nicht das erste Mal, dass mir das in Italien passiert. Man wünschte, das wäre auch in Deutschland so. Im Bus ist die Stempelmaschine außer Betrieb, das war bei der Hinfahrt auch schon so. Man legt dem Fahrer die Karten vor, und er entwertet sie handschriftlich.
In Cagliari ist es schon dunkel. An einem Graffiti auf Sardisch beißen wir uns die Zähne aus: A brenti prena si dromi mellusu.
Wir fahren mit dem Bus zum Teatro Lirico, um Karten für La Vedova Allegra zu besorgen, für den nächsten Tag. Meine Sparsamkeit, von anderen Geiz genannt, setzt sich durch und wir nehmen Karten ganz oben im obersten Rang.
Wegen der wunden Füße gibt es am Abend Essen in der Pension. In unserer Straße ist ein Lebensmittelladen – Alimentari – mit einer Krippe im Eingang. Krippen sind in Italien der ganz große Renner. An jeder Ecke gibt es eine.
Wir nehmen sardischen Wein, Monica, aber der ist eine Enttäuschung. Auch das Brot, das „ungesäuert“ ist, also wohl ohne Hefe gebacken wurde, hat nicht gerade viel Geschmack. Der Käse ist dagegen ein Hit. Wir bekommen zwei zum Probieren, halb Kuh, halb Schaf der eine, halb Ziege, halb Schaf der andere.
Erst in der Küche der Pension entdecken wir, dass wir keinen Korkenzieher haben. Da mir cavatappi nicht einfällt, muss ich am Telefon im Gespräch mit Violetta paraphrasieren. Es klappt. Wir streiten uns aber danach darüber, ob man es nicht einfacher hätte formulieren können. Meine Umschreibung war etwas umständlich ausgefallen. Ich hätte, wird mir gesagt, einfach sagen sollen „Wir wollen eine Flasche öffnen“.
29. Dezember (Dienstag)
„I tedeschi“, sagt Violetta, als sie auf unserem Frühstückstisch den Käse sieht. Was das Frühstück angeht, sind Italiener und Deutsche unterschiedliche Spezies.
Sie erzählt, wie gebannt ihr Enkel gestern Xia zugehört hat. Diese Laute, die waren doch anders als das, was er sonst so hörte. Das erste zarte Wahrnehmen einer Fremdsprache.
Ausgerechnet über eine Straße mit dem Namen San Lucifero gehen wir nach San Saturno, einer Kirche, die in den Reiseführern aufgrund ihrer Baugeschichte besonders erwähnt wird. An einer Stelle wissen wir nicht mehr weiter. Wir fragen mehr als einmal und bekommen immer die gleiche Reaktion: „San Saturno? Ja, natürlich, kenn ich doch. Aber wo ist die? San Saturno … San Saturno …“ Einer weiß, wo sie ist, aber nicht, wie wir dorthin kommen, einer weiß, dass sie in Cagliari auch Saturnino genannt wird und am Ende entschließt sich einer, mit uns zu gehen. Er wollte die Kirche sowieso schon immer ansehen.
Die Kirche ist eine der ältesten Sardiniens. Es stehen nur noch die Apsis und der überkuppelte Ostchor. Der Rest wurde von den Aragonesen für den Umbau der Kathedrale genutzt. Wir gehen einmal ganz um den Gitterzaun herum, der die Kirche und die Palmen und Pinien um sie herum einschließt, aber kein Eingang ist offen.
Eine Alternative wäre Tuxixeddu, eine antike Nekropole, eine der aufsehenerregendsten Sehenswürdigkeiten Sardiniens, aber der Reiseführer beklagt, dass sie fast immer geschlossen sei.
Also entscheiden wir uns um und leihen uns Fahrräder aus. Wir haben Glück. Das Wetter ist auf unserer Seite. Und der Mann im Fahrradverleih empfiehlt uns eine Strecke, die sich als optimal erweist. Sie führt an den Salinen und dann am Meer entlang und ist von der Straße abgetrennt. Der Radweg ist im Boden gekennzeichnet.
Auf dem Strand stehen in regelmäßigen Abständen moderne Holzhäuschen, in denen Cafés untergebrach sind. Das ist im Sommer die Strandmeile von Cagliari. An einer der letzten machen wir Halt und trinken den erwartet teuren Kaffee. Es ist so sonnig, dass man sich fast schützen muss.
Dann geht es der Straße entlang. Das ist nicht gerade reizvoll. Wir biegen ab, versuchen, auf anderem Wege zurückzukommen, landen dabei aber in einer Sackgasse nach der anderen. Wir müssen einfach zurück. Zwischendurch essen wir im Stehen ein teures Baguette, das uns eine wenig freundliche Verkäuferin in einem Café verkauft hat.
Wir kommen wieder ans Meer und fahren hier immer entlang. Dann sind wir plötzlich zu weit. Ich habe die Orientierung völlig verloren. Erst auf der Karte sehen wir später, dass wir die Salinen verpasst haben und immer am Meer entlang gefahren sind. Wir sind jetzt auf der anderen Seite Cagliaris. Am Wegesrand liegt ein gemütlich aussehendes Lokal, aber da bekommen wir nichts. Die Küche hat geschlossen, und Kaffee gibt es hier nicht.
Der Name des Lokals ist Jakaranda. Das ist, wie ich dieser Tage gelernt habe, ein Baum, und zwar ein Baum, dessen Holz besonders wertvoll, weil besonders hart sein soll. So erklärt es Xia jedenfalls. Ich konnte mich revanchieren mit den Würgefeigen und deren seltsame Art, sich ihren Platz in der Natur zu erobern. Die sieht man hier an verschiedenen Stellen, u.a. in dem zentralen Park am Hafen.
Xia fragt nach dem Weg und trifft dabei auf eine Deutsche, die in Cagliari wohnt, aber auch nicht gut Bescheid weiß, ich treffe auf einen etwas finsteren Gesellen, der sich als die Freundlichkeit in Person erweist. Es ist immer dasselbe. Er geht sogar noch ein paar Schritte hinterher, weil er mein verstörtes Gesicht gesehen hat und sicherstellen will, dass ich die richtige Straße erwische.
Wir geben die Räder ab und gehen in das Burgviertel rauf, zur Pension. Im Castello muss man sich bei vorbeifahrenden Autos in die Hauseingänge drücken.
Nach kurzer Pause geht es zum Teatro Lirico, diesmal zu Fuß. Man spürt die vielen Stunden im Freien und in Bewegung, aber der Weg ist nicht weit. Wir kommen an Wänden mit Graffiti und Malereien vorbei, ein ganzes Viertel ist ausgemalt.
Schon von weitem sieht man das erleuchtete Theater und die vielen Besucher, die sich in diese Richtung begeben. Dabei ist es noch früh. Auch vor dem Parkhaus steht man Schlange.
Die Italiener haben sich herausgeputzt für den Theaterbesuch, aber oben auf den billigen Plätzen fallen wir mit unserer Freizeitkleidung nicht weiter auf. In der Reihe vor uns sitzt eine Frau, die einen neuen Rock trägt. Das erkennt man an dem Etikett, das noch dranhängt. Hätte mir passieren können.
Mit etwas schlechtem Gewissen lasse ich es über mich ergehen, dass wir immer höher geschickt werden. Von hier oben sieht man wirklich nicht gut. Aber die Akustik ist gut. Und wie ist es mit der Qualität? Das Orchester gut, die Sänger weniger, erfahre ich.
Die Operette ist so bekannt, dass man einige „Schlager“ kennt und man sich auf die Zunge beißen muss, um nicht mitzusingen: „Das Studium der Weiber“, „Dann geh ich ins Maxim“, „Lippen schweigen“. Wunderbar! Dafür lässt man dann auch die vielen Bälle, Empfänge, Feiern und die Zylinder und Samthandschuhe über sich ergehen.
Es gibt Übertitel, so dass man die Handlung der Operette, der Lustigen Witwe, ganz gut verfolgen kann, obwohl man bei den unterschiedlichen Figuren leicht durcheinander gerät. Es geht um Liebe und um Geld. So weit, so gut. Aber es geht auch um Politik. Das Erbe der lustigen Witwe ist so groß, dass es die gesamten Schulden ihres kleinen Heimatlandes decken würde. Deshalb wird jemand auf sie angesetzt, um an das Geld zu kommen. Da ist durchaus Zunder drin, eine selbstbewusste, starke Frau, die finanzielle und damit auch persönliche Unabhängigkeit genießt und mit diesem Pfund wuchern und unter den Kandidaten auswählen oder sogar, horribile dictu, ledig bleiben und ihre Unabhängigkeit genießen könnte. Aber das kommt natürlich nicht in Frage, und der konventionelle Schluss ist enttäuschend, gerade im Vergleich zum Land des Lächelns, das kein operettenhaft glückliches Ende hat. Trotzdem war Die Lustige Witwe Lehars erfolgreichste Operette. Und Hitlers Lieblingsoperette.
Anschließend gehen wir durch die verlassenen Straßen des Zentrums. Plötzlich stehen wir, wieder mal unfreiwillig in die Nähe der Piazza Yenne geraten, vor dem Antico Caffè. Da wollten wir ohnehin mal hin. Es steht im Reiseführer, ein Traditionslokal, in dem schon Grazia Deledda, D.H. Lawrence und Gabriele D’Annunzio verkehrt sind. Eine explosive Mischung!
Drinnen herrscht klassische Kaffeehausatmosphäre, und es gibt auch noch was zu essen, wenn auch bei eingeschränkter Auswahl. Man wird gleich von drei Kellnern umschwänzelt, aber es dauert was, bis man den erwischt, bei dem man die Bestellung fürs Essen aufgeben kann. Das stellt sich dann als durchschnittlich in Qualität und überdurchschnittlich im Preise heraus. Der Wein ist ordentlich, aber nicht mehr. Am besten schmeckt das Brot, das mit ausgezeichnetem Olivenöl serviert wird.
30. Dezember (Mittwoch)
Genau da, wo wir am Vortag die Fahrräder geliehen haben, leihen wir heute ein Auto. Das albernste aller Autos, ein Smart. Ich bin froh, dass ich nicht fahren muss.
Die Buchung des Autos ist umständlich, und für einen Moment stutzen wir, als es darum geht, dass eine Geldsumme als Sicherheit – natürlich nur virtuell – hinterlegt werden muss, aber alles geht mit rechten Dingen zu.
Auf der Fahrt sehen wir zufällig einen Wegweiser nach San Sperate und entschließen uns spontan, jetzt schon dahin zu fahren. Eine richtige Entscheidung, denn noch ist das Wetter gut.
San Sperate ist ein Volltreffer. Gleich gegenüber der Stelle, wo wir parken, befindet sich ein Obst- und Gemüseladen, der innen noch übertrifft, was er außen verspricht. Die Auslagen, vor dem Laden, seitens des Eingangs und im Laden, sind frisch, farbenfroh und vielfältig. Hier könnte man glatt zum Vegetarier werden. Und der junge Verkäufer erklärt uns geduldig die Früchte, die wir nicht identifizieren können. Der Laden gefällt uns so gut, dass Xia sich hinter der Ladentheke photographieren lässt.
Aber wir sind nicht wegen des Ladens nach San Sperate gekommen, sondern wegen der murale, der Wandmalereien. Die sind hier über den ganzen Ort verteilt und längst so bekannt, dass es Wegweiser gibt. Aber man kann sich auch einfach treiben lassen. Das tun wir.
San Sperate ist für seine murale bekannt, aber es ist nicht der einzige Ort, der sie hat. Im Anfang gab es nicht nur Beifall, und es ist der Initiative eines couragierten Bürgermeisters zu verdanken, dass sie sich durchgesetzt haben.
Bei dem Rundgang kommen mir die großen Wandmalereien aus Mexiko in Erinnerung, und es gibt tatsächlich einen Zusammenhang. Fast schon am Ende sehen wir eine mexikanische Landschaft, von Mexikanern gemalt, und da erfährt man, dass das Vorbild tatsächlich aus Mexiko stammt.
Wir sind beeindruckt von der Vielfalt und der Kunstfertigkeit der Malereien. Einige stellen scheinbar naiv Szenen aus dem Arbeitsleben der Bauern dar, aber diese Bilder drücken auch, in Gesichtern und Haltung, Last und Bürde der Arbeit wieder. Hier gibt es keine tanzenden, singenden, feiernden Italiener. Sondern Menschen, die sich ihr tägliches Brot verdienen.
Als Ergänzung dazu kann man eine längliche Wand sehen, auf der die Arbeitsgeräte der Bauern dargestellt sind, alle in Schwarz, mit einem gemalten Schatten, der auf die weiße Wand zu fallen scheint. Den alltäglichen Objekten wird Würde zugesprochen, und Schönheit.
An der Seitenfassade eines Wohnhauses ist mit illusionistischer Malerei eine Fassade aufgetragen, eine Fassade mit Balkon, Geländer, Fenster, Tür, so täuschen ähnlich, dass wir uns gegenseitig davor photographieren. Eine Spielerei, aber sehr gut gemacht.
Von ganz anderem Kaliber ist eine Weltkugel, hoch an einem Haus angebracht, mit blauen Ozeanen und grünen Wäldern, an der eine Nabelschnur hängt. Von unten blicken im Schattenriss dargestellte Menschen nach oben und sehen sich das Wunder der Geburt der Welt an.
Es heißt zwar, dass die ursprünglich politisch motivierte Malerei inzwischen von Volkskunst verdrängt sei, aber ganz stimmt das nicht. Wir sehen auch sehr kritische Malereien, mit Kritik am Kapitalismus in vorderster Reihe.
An einem Hauseingang fällt unser Blick auf eine der schön gestalteten Keramiktafeln, auf denen der Name des Besitzers steht. Hier steht dabei: „Hier wohnt eine katholische italienische Familie. Wir bitten Zeugen Jehovas, nicht bei uns zu schellen.“
Einige der Wandmalereien sind hochmodern. Eine Gruppe von Menschen, die nur aus Kuben bestehen, ein skelettartiger, nackter, verschlungener Körper, der die Hand voller Verzweiflung an den Kopf gelegt hat.
Sehr gelungen ist auch eine Reihe von rostigen Eisenteilen, nicht gemalt, sondern als Objekte, die auf einer Brüstung, von der aus man auf eine Häuserfront sieht, in regelmäßigen Abständen auf die Steinpfeiler aufgesetzt sind.
Schließlich sehen wir noch einen deutschen Beitrag zu den Wandmalereinen. An einer Doppelwand gibt es ein Bilderlexikon. Einfache Objekte sind aufgemalt. Daneben steht das entsprechende Wort auf Deutsch und auf Italienisch: pesce – Fisch, fuoco- Feuer, albero di mele – Apfelbaum, gatto – Katze, sedere – Po.
Das kleine Reiseziel San Sperate hat sich als großes Reiseziel erwiesen. Der Halt hat sich gelohnt. Beeindruckt fahren wir weiter. Zu einem großen Reiseziel.
Als wir weiter ins Landesinnere kommen, tauchen zweisprachige Ortschilder auf – Las Plassas bzw. Is Pratzas – und Schilder zu Orten mit spanischen Namen wie Burgos und Iglesias.
Der Himmel zieht sich immer mehr zu, als wir Richtung Su Nuraxi kommen. Kurz vor der Ankunft steht mitten in der Ebene ein kegelförmiger Berg mit einer Befestigung oben drauf. Wir sind so auf Nuraghen fixiert, dass wir glauben, es wäre aus der Zeit. Es ist aber eine mittelalterliche Burg, entstanden als Grenzbefestigung des hiesigen Judikats gegen Cagliari.
Der Führer in Su Nuraxi ist das Gegenteil der quirligen Frau in Nora: ruhig, sachlich, zurückhaltend, leise, In unserer Gruppe ist auch ein Italiener, ein Sarde, der seit Urzeiten in Deutschland lebt und seine Tochter mit ihrem deutschen Freund. Das Mädchen übersetzt für ihren Freund, fragt aber hin und wieder bei dem Vater nach, was gemeint ist- oder wird von ihm korrigiert. Sie ist zwar zweisprachig aufgewachsen, aber die spezifische Sprache der Sehenswürdigkeiten hat sie nicht ohne weiteres drauf. Der Vater, in Sardinien aufgewachsen, kennt sich gut aus und hat keine Scheu davor, seine Kenntnisse zu zeigen.
Die Nuraghen sind ein Rätsel. Das sind sie auch für den Führer geblieben, auch nach all den Jahren der Beschäftigung mit ihnen. Diese Anlage hier ist eine ganze Ortschaft gewesen, nicht nur ein Turm, wenn auch der Turm das Zentrum der Anlage ist. Der stammt von ca. 1500 v. Chr. Seine Funktion muss sich im Laufe der Zeit verändert haben. Darauf weisen Baumaßnahmen hin. Der Turm wurde von weiteren Türmen und von einem Mauerring umgeben. Und er wurde abgeschirmt. Die Eingänge wurden verschlossen und der Zugang erfolgte dann von oben. Es ging also jetzt um Verteidigung. So konnte sich die Nuraghen jahrhundertelang behaupten. Aber: gegen wen? Gegen andere Nuraghen? Gegen auswärtige Feinde?
Der Führer spricht immer wieder voller Bewunderung von den Nuraghen. Das versteht man, schon wenn man die gewaltigen Mauern sieht, die aus lose aufeinandergesetzten, riesigen Steinquadern bestehen, in Grau und Schwarz.
Xia treibt die Frage um, ob denn diese Steine unverputzt stehen geblieben sind. Ein Volk, das in der Lage war, solche Bauwerke zu schaffen, muss doch auch ein ästhetisches Empfinden gehabt und den Wunsch gehabt haben, die Steine zu verkleiden oder zu verputzen. Aber davon scheint es keine Spuren zu geben.
Bevor man in den engeren Bereich kommt und über eine schmale, steile Treppe in den Turm gelangt, sieht man die Reste der Wohnhäuser der Nuraghen, kreisrunde Strukturen mit Sitzbänken innen. Das Dach bestand aus Tuch und wurde zeltartig über den Bau gespannt. In den Rundhütten, von denen über einhundert erhalten sind, hat man Haushaltsgegenstände gefunden. Es muss Küchen, Backöfen und Ölmühlen gegeben haben.
Im Turm selbst wurden später Zwischenböden eingezogen, auf die treppenartige Stufen an der Innenwand führten. Wozu sie dienten, ist weiterhin unklar.
Am Anfang der Führung kommen mir die irischen Felsengräber in den Sinn, auch wenn ich nicht genau weiß, warum, am Ende sogar die ägyptischen Pyramiden. Das ist weit hergeholt, aber der imposanten Größe der Bauten geschuldet.
An einigen Wänden erkennt man Brandspuren. Die Anlage ist wohl mehr als einmal niedergebrannt.
Nach der Führung fahren wir in das nahegelegene Barumini auf der Suche nach einem Café. Der Ort ist wie ausgestorben, und auch im dem als „Centro storico“ ausgewiesenen Teil finden wir rein gar nichts. Am Ende gehen wir in die Dorfkneipe an der Hauptstraße. Drinnen und draußen sitzen Männer beim Bier. Uns ist eher nach Kaffee. Auch drinnen ist es jetzt kalt.
Als wir rauskommen, hat es angefangen zu regnen, und das Wetter wird immer schlechter. Aber wir wollen noch die Gelegenheit nutzen, nach Santa Vittoria zu fahren. Dort gibt es ein nuraghisches Brunnenheiligtum.
In einer Kneipe bekommen wir eine Karte und einen Schlüssel und machen uns alleine auf den Weg durch den großen Tempelbezirk. Dies war ein vorgeschichtlicher Wallfahrtsort, und neben dem Tempelbezirk gibt es Reste von großen Herbergen für die Pilger. Kernpunkt des religiösen Bezirks ist der Brunnentempel. Hier wurden im Vorraum den Göttern Opfer gebracht, darunter auch das Blut geschlachteter Tiere. Für das Blut gab es einen eigenen Abflusskanal. Damit wurde verhindert, dass das Quellwasser verunreinigt wurde. Man kann ein paar steinerne Treppenstufen in das Heiligtum hinabsteigen. Der Tempel ist allerdings heute ausgetrocknet.
Ganz am Rande des weitläufigen Areals befindet sich ein Kirchlein. Von hier aus hat man einen trotz des diesigen Wetters beeindruckenden Blick auf die Ebene.
Der riesige Eisenschlüssel, ganz mittelalterlich wirkend, verschafft uns Zugang zu dem dunklen, zweischiffigen Innenraum. Wir zünden ein paar Kerzen an und halten einen Moment Stille.
Als wir wieder zum Auto kommen, fängt es an zu regnen, und während der Rückfahrt wird der Regen immer stärker. Das Fahren ist kein Vergnügen, und ich kann von Glück sagen, dass es an mir vorüber gegangen ist. Es wird dann noch schlimmer, als wir nach Cagliari kommen und der Verkehr immer dichter wird. Es gibt praktisch gar keine Beschilderungen, und wir beginnen uns zu fragen, wo wir wohl gelandet sind und ob wir noch rechtzeitig kommen, um das Auto abzugeben. Immer wieder kommt es mir so vor, als würde ich etwas erkennen, als kämen wir auf den Hafen zu, aber das ist pure Einbildung. Der Wunsch ist Vater des Gedankens. Und dann sind wir plötzlich wirklich am Hafen, und nach einem zweiten Anlauf stehen wir direkt vor der Autovermietung.
Nach einer kurzen Pause zuhause geht es in ein sardisches Lokal, das Pani e Casu. Es liegt in einer Häuserreihe und ist leicht zu übersehen. Der freundliche Kellner führt uns an einen Tisch und beantwortet gleich die wichtigste Frage: Was bedeutet der Name des Lokals. Die Antwort ist so einleuchtend, dass man sich schämt, überhaupt gefragt zu haben: ‚Brot und Käse‘. Das Sardische hat sich hier, wie das Spanische, das einheimische Wort bewahrt, im Gegensatz zu dem ausländischen formaggio des Italienischen.
Vier junge Männer am Nebentisch, alle irgendwie gleich aussehend, mit kurzem Haar und gestutztem Bart, das Handy neben dem Teller auf dem Tisch, scheinen das Lokal und seine Portionen gut zu kennen. Sie lassen einen Gang einfach aus. Die Fleischstücke, die wir bekommen, sind geradezu unanständig groß. Man wählt zwei von drei Fleischsorten. Wir entscheiden uns für Lamm und Pferd. Dazu gibt es als Gemüse rohe Möhren und Selleriestangen, in einem Korb serviert. Sardinien ist nicht gerade für seine Gemüsespezialitäten bekannt. Dabei gab es bei der Vorspeise, außer Salami und Schinken in Spitzenqualität, leckere Auberginen. Der Wein ist der beste, den wir bisher bekommen haben, aber immer noch keine Offenbarung. Was die Männer vom Nebentisch ausgelassen haben, ist die sardische Pasta, malloreddus und culurgiones, kleine, muschelförmige Nudeln, pikant serviert, und Nudeln, die den Ravioli ähneln, aber mit Kartoffelpüree gefüllt sind.
Zwischendurch verschwinden die vier Männer vom Nebentisch. Aber ein Handy liegt noch auf dem Tisch. Dann kommen sie wieder. Sie haben als Zwischengang eine Zigarette zu sich genommen. Es ist verblüffend und widerspricht allen Stereotypen, mit welcher Selbstverständlichkeit in Italien das Rauchverbot beachtet wird, seit es in Kraft getreten ist.
Am Nebentisch sitzt ein Paar, er wesentlich älter als sie, mit zwei Mädchen. Der Mann scheint sehr unterhaltsam zu sein. Dann übernimmt sie das Ruder und zieht über Deutsche und das Deutsche her. Wie es nur so eine hässliche Sprache geben könne. Alle Sprachen der Welt – Urteile über Sprachen erfassen immer „alle Sprachen der Welt“ – hätten ein schönes Wort für Ti amo, nur das Deutsche nicht: Ich liebe dich. So wie sie es sagt, möchte man es wirklich nicht gesagt bekommen.
31. Dezember (Donnerstag)
Wir teilen uns auf zwei Museen auf. Xia geht in die Pinacoteca Nazionale, ich ins Archäologische Museum. Sie führt mich aber vorher noch an mein Ziel. Dort haben wir Gelegenheit, mit der zweisprachigen Kassiererin ein Schwätzchen zu halten. Sie spricht wechselseitig Italienisch und Französisch mit uns. Ihr Vater stammt aus Marseille. Sie erzählt stolz, wie sie französische Besucher betreut.
Xia sieht zwar ein paar schöne Bilder, meist Tafelbilder aus dem 16. und 17. Jahrhundert, meist mit religiösen Motiven, meist aus Aragonien, aber nichts, was sei vom Hocker reißt. Dazu hat man Ähnliches schon zu oft gesehen.
Das Archäologische Museum hat da mehr zu bieten. Seine Stars sind die Giganten, aber die kann man leicht übersehen. Sie befinden sich im Obergeschoss, während das Gros der Ausstellung sich im Untergeschoss und der Ausgang im Erdgeschoss befindet.
Die Giganten, auch Kolosse genannt, sind Statuen vom Monti Prama, Statuen der Nuraghen, Figuren aus weißem Kalkstein. Viele stellen Ringer (oder in der englischen Übersetzung Boxer) dar. Alle sehen seltsam aus, einige fast roboterhaft.
Die Giganten wurden in späterer Zeit zerstört, systematisch. Sie sollten die ihnen innewohnende symbolische Kraft nicht länger ausüben können. Jetzt wurden sie in jahrelanger Kleinarbeit wieder zusammengefügt. Man erkennt es an einigen Nahtstellen, aber nur, wenn man genau hinsieht.
Es gibt auch Figuren in Form von Häusern, mit Öffnungen für die Fenster. Sie wurden nur in sakralen Plätzen gefunden. Ihre Bedeutung ist unklar. Verwandt sind vermutlich mit sakralen Steinen aus dem vorislamischen Arabien. Die wurden von den Griechen baetyl genannt, und das wiederum verweist auf das phönizische bethel, in dem das ‚Haus‘ direkt drinsteckt.
Unten, wo der Kern der Ausstellung ist, haben es mir besonders die Figuren, bauchartige Terrakottafiguren, angetan, die mit der Hand auf einen bestimmten Körperteil deuten. Damit wurde die Heilung des jeweiligen Körperteils beschworen oder Dank für dessen Heilung abgestattet. Man sieht Figuren, die sich an den Kopf, an die Ohren, ans Knie, an den Bauch und an die Weichteile fassen. Ich fasse mich ans Knie. Kann ja nicht schaden.
Auch aus dieser Zeit ein wunderbares Halsband aus Bernstein, Nashorn und Glas mit Gesichtern mit langen Bärten. Homer hat ein eigenes Wort für solche kleine Objekte aus wertvollen Materialien: athyrmata,
Diese Exponate stammen aus der punischen Zeit. Die Nuraghen hatten ihren Auftritt zu Beginn der Bronzezeit, etwa in der Mitte des zweiten Jahrtausends vor Christus. Davor gibt es Statuetten aus dem Mesolithikum – fast alle sind weiblich, aber gar nicht so ohne weiteres als solche zu erkennen – und Statuetten aus dem Neolithikum, die an die auf das Essentielle reduzierten Statuetten aus den Kykladen erinnern. Hier gibt es auch kleine Schalen mit eingeritzter Dekoration und passgenauen Deckeln. Sehen aus wie Zuckerdosen.
Die gigantischen Grabmäler der Nuraghen, die tonde, haben von außen die Form eines Menschen, der mit ausgestreckten Armen auf dem Boden liegt. Die hügelartige Erhebung erinnert an die Hünengräber in Irland.
Zum Beginn der Eisenzeit erscheinen Votivschwerter mit einem doppelten Hirschkopf als Abschluss. Davon gibt es Dutzende von Exemplaren. Daneben Bogenschützen, betende Frauen, aufeinanderliegende Ringer, Dämonen mit vier Augen und vier Armen und Priester mit einem chinesisch aussehenden, spitz zulaufenden Hut. Die Hirschköpfe, immer doppelt, erscheinen auch auf Schiffchen, als Bekrönung der Masten oder als Galionsfigur.
Aus Santa Vittoria sind Figuren von Göttinnen erhalten mit Kindern mit Knollennasen und hervorquellenden Augen im Schoß. Das streng gescheitelte Haar der Mutter ist ganz genau ausgestaltet. Solche Figuren gelten als Vorläufer der christlichen Pietà. Einleuchtend.
Auch aus Santa Vittoria stammt das Modell einer Nuraghe, von den Nuraghen, mit Löchern, an denen Votivgaben aufgehängt wurden. Es sieht ganz anders aus als die Nuraghe, die wir gestern gesehen haben.
Fast gleichzeitig treffen wir in dem Café am Domplatz an und geben unsere Museumsberichte ab. Die junge Frau hinter der Theke sagt dem Mann, den wir für den Eigentümer gehalten haben, was er abhalten soll. Und prompt ist es viel teurer als dieser Tage.
Wir landen in einem Schuhgeschäft und geben viel Geld für gute Schuhe aus, Leder überall und handgenäht. Hoffentlich bewähren sie sich.
Wir erfahren von dem Besitzer und seiner Angestellten, dass sie auch heute Nachmittag, an Silvester, noch mal öffnen. Bei der Anprobe werden wir gefragt, mit welcher Fluglinie wir gekommen seien. Warum sollte das von Interesse sein? Es ist so: Die Billigfluglinie beabsichtigt, alle Flüge nach Sardinien zu streichen, und das, obwohl sie jetzt schon Geldmittel von der Regionalregierung bekommt. Die Geschäftsleute fürchten sich vor den Folgen. Unglaublich, welche Macht so eine Fluglinie ausübt.
Nach dem erfolgreichen Schuhkauf machen wir einen erfolglosen Kleiderkauf: zu teuer, zu rau, zu blau, zu weit, zu warm. Und das, obwohl die Besitzerin der Boutique die Modistin zu Hilfe ruft. Nachdem sie ihre Enttäuschung überwunden hat, wird sie aber noch ganz gesprächig und erzählt, dass sie mit einem Spanier aus Valencia verheiratet ist. Außerdem vermietet sie auch Zimmer. Beim nächsten Mal sollen wir zu ihr kommen.
Auch eine sprachliche Entdeckung gibt es noch: Die Verkäuferin präsentiert hintereinander zwei blaue Kleider, das eine blu, das andere azzurro. Das eine ist himmelblau, das andere marineblau. Das Italienische hat den Unterschied lexikalisiert, genauso wie das Russische.
In den Schaufenstern der Konfektionsgeschäfte sieht man überall rote Unterwäsche. Die schenken sich die Italiener zu Silvester. Sie bringt Glück. Man muss sie aber an Silvester zum ersten Mal tragen. Sonst funktioniert es nicht. Und es gibt noch einen Haken: Man kann sich die Wäsche nicht selbst kaufen. Man muss sie geschenkt bekommen.
In den Restaurants wird für das Silvestermenu geworben. Die Preise bewegen sich so etwa um die 70-75 €. Wir beschließen, uns das Geld zu sparen. Das Silvestermenu gibt es in der Küche der Antica Torre. Wir mixen den ganzen Laden auf, in dem wir die Zutaten besorgen, vor allem, als wir darum bitten, man möge uns die Weinflasche öffnen. Die Aktion ist etwas peinlich, als ich erfolglos mit dem Korkenzieher herumhantiere, während Verkäufer und Kunden amüsiert zusehen, aber am Ende ist die Flasche wenigstens offen.
In der Innenstadt werden Bühnen für die Konzerte am Abend aufgebaut. Die dumpfen Bässe dröhnen aus den Lautsprechern.
Wir kommen zum ersten Mal auf die Bastion San Remy, die wir immer nur von unten gesehen haben. Dort oben ist ein großes Plateau mit Aussicht in die Ferne. Die Bastion wird restauriert. Man kann sich gut vorstellen, was sich hier an Festtagen und an Sommerabenden tut.
Am Abend ist viel Volks unterwegs, vor allem junge Leute. Viele der Männer sehen ganz ähnlich aus, alle mit kurzem, dunklem Haar und mit Brille mit dunklem Gestell. Es herrscht keine überbordende Stimmung, und es geht sehr gesittet zu. Betrunkene sind nicht zu sehen. Das Bier wird in Plastikbechern serviert und ist kühl, wohlschmeckend und erwartet teuer. Man sieht aber auch Gruppen, die mit offenen Sekt- oder Weinflaschen durch die Gegend ziehen.
An der Piazza Yenne und oben in Castello gibt es Musik, aber keine italienische. Unten klingt es nach Karibik, oben nach Motown. Wir bleiben oben und sehen den Himmelslaternen zu, die, nach dem Prinzip der Heißluftballons funktionierend, man hier überall steigen lässt. In Deutschland scheinen sie verboten zu sein, aber sie sehen wunderbar aus, wenn sie langsam in den Nachthimmel entschwinden. Man wird auf eine schöne Art melancholisch, wenn man ihnen hinterhersieht.
Von hier, an der Brüstung stehend, kann man die Lichtinstallation sehen, mit der am Elefantentor die Zeit abwärts gezählt wird. Ehe man es sich versieht, ist es 2016.
Nachdem wir uns das bescheidene Feuerwerk angesehen haben, laufen wir noch durch die dunklen Straßen und brüskieren fast eine Gruppe junger Leute, weil wir nicht verstehen, was sie wollen: Wir sollen ein Photo von ihnen machen. Im letzten Moment wird aber noch alles zurechtgebogen.
1. Januar (Freitag)
Wie wir bereits am Vortag gesehen haben, sind heute alle Museen geschlossen. Es gibt nicht viel zu tun. Außer Spazierengehen. Das Wetter ist durchwachsen. Wir lassen uns treiben und gelangen durch Zufall in den Giardino Pubblico. Was für ein Treffer! Es gibt wunderbare Bäume mit gleich über dem Boden sich verästelnden Stämmen. Sie laden geradezu dazu ein, sich hineinzusetzen. Etwas weiter ein Rhododendron, der den gesamten breiten Mittelstreifen einnimmt und dessen Äste auf einer Seite bis auf den Boden reichen. Ich kenne den Rhododendron als Strauch, aber der Name verrät, dass es sich eigentlich um einen Baum handelt. Neben dem Baum sitzt auf einer Parkbank ein Mann, der wie ein Clochard aussieht, aber keiner ist. Er hat ein reichhaltiges Picknick und eine Flasche Wein neben sich aufgebaut und erzählt uns, dass der Rhododendron 500 Jahre auf dem Buckel habe. Es sei der zweitälteste Sardiniens.
Der Giardino Pubblico hat zwei Museen, aber auch die sind heute beide geschlossen. Wir gehen wieder zurück und entdecken weiter oben einen Kiosk, der geöffnet hat. Die freundliche Besitzerin lädt uns ein, Platz zu nehmen und weist uns ein, wo man rauchen kann. Eine Frau am Nebentisch spricht uns an. Eine Münchnerin, mit einem Italiener verheiratet und seit Jahrzehnten in England lebend, in Newcastle. Die beiden sprechen Englisch miteinander, aber mit uns Italienisch und Deutsch. Wir unterhalten uns angeregt über das, was es hier zu sehen gibt und was wir unternommen haben. Der Mann ist Sarde. Er sagt, wir könnten von Glück sprechen, in Cagliari zu sein. In Alghero seien heute höchstens ein oder zwei Cafés geöffnet. Alghero sei sehr schön, aber die Leute dort seien Halsabschneider. Er, ganz alter Hund, lasse sich da nicht ins Bockshorn jagen, aber die Leute von auswärts müssten büßen. Im Vergleich zu Alghero seien die Preise hier in Cagliari ganz annehmbar.
Sein Leben ist eine Erfolgsgeschichte. Er hat es geschafft. Er ist angekommen. Mit einer uneitlen Zufriedenheit, die sich unwillkürlich auf den Zuhörer überträgt, erzählt er, dass er in Newcastle eine eigene Firma betreibe, mit sechs Angestellten. Es ist eine Reinigungsfirma. Am meisten arbeitet er für wohlsituierte Singles. Dessen Wohnungen nimmt er sich ein- bis zweimal pro Monat vor und reinigt sie von Grund auf. Ich stelle mir die ganze Zeit vor, wie er sich gefühlt haben muss, als er vor mehr als 30 Jahren in die Fremde aufgebrochen ist, voller Ungewissheit, voller Ahnungslosigkeit, ohne Fremdsprachenkenntnisse. Was alles hätte schiefgehen können. Und wie stolz er jetzt sein kann, als Tourist in die alte Heimat zurückzukehren.
Die beiden sehen uns hinterher, als wir aufbrechen. Sie hätten vermutlich noch Stunden mit uns verbringen können.
Wir kommen an einer ganz merkwürdigen Anlage vorbei, etwas, was aussieht wie ein Grabungsfeld, aber keins zu sein scheint. Xias Adlerauge sieht Löwenmäulchen, die aus einer steinernen Mauer hervorlugen. Dann kommen wir an dem gewaltigen, in den Berghang eingefügtem Amphitheater vorbei, in das man von oben hineinsehen kann und dann am Botanischen Garten. An dessen Eingang, ebenfalls verschlossen, stoßen wir auf die Familie von gestern, aus Su Nuraxi. In der Gegend sehen wir ein kurioses Graffiti: E basta con queste scritte sui muri. Und an einer anderen Wand politische Graffiti auf Sardisch: A foras is basis. Dieser Tage haben wir irgendwo auf einen Felsen da hier gefunden: Fai un favore, leggi poesie.
Schließlich kommen wir auf die große Geschäftsstraße, die zur Piazza Yenne führt und die jetzt nicht so zur Geltung kommt, weil auf fast ihrer ganzen Länge ein Bauzaun steht. Hier entsteht Cagliaris erste U-Bahn. Die Geschäfte sind natürlich alle geschlossen. Eine Pelleteria halte ich für ein Pelzgeschäft. Es ist aber ein Lederwarengeschäft. Ein Pelzgeschäft wäre eine Pellicceria. Rätselhaft bleibt ein Geschäft, in dem es Vini Sfusi gibt. Erst das Wörterbuch bringt später Aufklärung: Wein vom Fass.
Wir sehen uns nach Menus für den Abend um, aber es ist vergebliche Liebesmüh. Auch die Lokale, die jetzt geöffnet sind, machen nach dem Mittagessen zu.
An der Piazza Yenne ist alles aufgeräumt. Die Bühne vom Vorabend ist abgebaut, und es liegen nirgendwo mehr Kippen, Flaschen oder Verpackungen herum.
Wir landen in einer Kirche, San Antonio. Kein frommer Drang hat uns hierher geführt, sondern die Suche nach einem WC. Tatsächlich werden wir auf die Toilette der Pfarrei gelassen.
Die Kirche ist unansehnlich und hat einziges Durcheinander wertloser Ausstattungsgegenstände, aber im Vorraum gibt es eine wunderbare Krippe. Ganz italienisch, werden hier Szenen aus dem Alltagsleben dargestellt: eine Frau, die auf einer Wiese ein Schaf schert, ein Schmied, der ein Pferd beschlägt, ein dicker Metzger vor seiner Metzgerei, in deren Türrahmen Schweine und Schinken hängen! Die Landschaft ist sicher nicht alpin, sondern eher eine Mischung aus Italien und Palästina. Die Krippe lockt viele Menschen an, und kaum einer lässt sich die Gelegenheit entgehen, sich vor ihr photographieren zu lassen.
Am Abend kommen wir noch zu einer Kirche, Santa Anna, einer Kirche, deren weiße Fassade wir schon oft von oben, von Castello aus, gesehen haben, auch gestern beim Feuerwerk. Die Kirche hat eine breite, elegante Freitreppe und ist eine der repräsentativsten Cagliaris.
Dann stoßen wir auf ein sardisches Lokal, an dem wir in den letzten Tagen mehrmals vorbeigekommen sind, Sa Domu Sarda. Es sieht wie ein Fast-Food-Laden aus, ist es aber nicht. Hier bekommen wir den besten Wein der ganzen Woche, Nepente di Oliena.
Die junge Kellnerin ist anfangs völlig verwirrt, vor allem, als wir uns gegen das Buffet entscheiden, für das sie so sehr geworben hat: Selbstbedienung und so viel man will. Ihre Verwirrung erreicht den Höhepunkt, als wir, durch Erfahrung klug, für jeden Gang nur ein Gericht bestellen, das wir uns teilen. Anfangs wirkt sie fast abweisend, aber im Laufe des Abends wird sie immer freundlicher und immer gesprächiger. Ihr Bruder, sagt sie sehnsuchtsvoll, sei schon einmal in Berlin gewesen. Eine Woche. Urlaub.
Es gibt richtiges sardisches Essen: culurgiones noci e pinoli, stuffato di capra, sebadas artigianale. Wunderbar! Genau das, was wir gesucht haben.
2. Januar (Samstag)
Der späte Abflug beschert uns noch einen kleinen Höhepunkt am letzten Tag, den Besuch der Eurasia-Ausstellung. Das Konzept ist ebenso einfach wie überzeugend: Funde aus Asien werden Funden aus Europa gegenübergestellt. Und die Parallelen werden sinnfällig. Die Exponate stammen einerseits aus der Eremitage (als Fundort taucht immer wieder Kurgan auf), andererseits aus sardischen Museen. Auf vier Etagen werden unter vier Überschriften Funde ausgestellt, alle aus der Jungsteinzeit. Ihr Alter ist ihnen nicht anzusehen. Eine doppelte Korallenkette könnte in jedem Juweliergeschäft stehen, eine männliche Statuette in einer Ausstellung moderner Kunst. Unglaublich. Sowohl das Kunsthandwerk als auch das Kunstverständnis.
Hirschgeweihe, wie wir sie in den letzten Tagen mehrmals in Sardinien gesehen haben, tauchen in täuschen ähnlicher Form an Votivstatuen aus Asien auf. Auch Gesichtszüge der Statuetten mit durchgehenden und mit der Nase verbundenen Augenbrauen tauchen in Europa wie in Asien auf. Vermittlung durch Kontakte? Oder sind das Naturprozesse?
Ein besonderer Hingucker ist eine Halskette, mit einem kleinen, fast quadratischen Goldstück und einem daran hängenden Backenzahn.
Sehr angetan hat es uns auch eine Fibel aus Bronze, in der ganz fein ein Muster eingearbeitet ist. Das besteht aus runden, wie Lakritzschnecken aussehenden Gebilden, die mit einem Strang miteinander verbunden sind und so eine Endlosschleife bilden. Sagenhaft! Daneben eine Bronzeaxt, in der ein Tier wie ein Seepferdchen eingearbeitet ist.
Nie zuvor gesehen haben wir eine Matrix zur Werkzeugherstellung. In einen Stein aus Steatit ist die Form einer Axt eingelassen. In die wurde vermutlich die flüssige Bronze gefüllt. Man hätte gerne mehr dazu erfahren, aber die Beschriftung ist nicht sehr detailliert, obwohl die Präsentation gelungen ist.
Ganz unten steht das Modell eines Hauses aus Ton. Das Haus ist dem Konzept der Ausstellung das Emblem überhaupt der neolithischen Revolution, Emblem der Sesshaftigkeit und allem, was die mit sich bringt. Die Menschen der Zeit waren sich wohl dessen bewusst. Warum sonst sollten sie das Modell gebaut haben?
Auffällig sind die Parallel zu Kreta. Immer wieder taucht der Stier auf, immer wieder verdoppelte Motive wie die kretische Doppelaxt, immer wieder flache Figuren mit hochgestreckten Armen, wie man sie zuhauf im Archäologischen Museum in Heraklion vorfindet.
Der Weg zum Bahnhof wird zu Fuß zurückgelegt. Cagliari verabschiedet uns mit strahlendem Sonnenschein. Unterwegs kommen wir noch mal an einer Kirche vorbei, die wir noch nicht und doch schon oft gesehen haben, nämlich von oben von der Brüstung, nachts, mit angestrahlter Fassade. Es ist San Michele.
Unterwegs fliegt ein Vogel vor uns auf, und die Reaktionen von zwei Männern, die uns entgegenkommen, bestätigen meinen Verdacht: falchetto. Wir haben es mit einem kleinen Falken zu tun.
Am Bahnhof bringen wir einen jungen Mann ganz durcheinander, dem wir unsere beiden nicht benutzten Busfahrkarten in die Hand drücken. Erst ganz zum Schluss erscheint ein Lächeln auf seinem Gesicht.
Im Zug sieht der Schaffner uns streng an, als wir, noch vor der Abfahrt des Zuges, auf ihn zugehen und fragen, ob wir was mit den Fahrkarten anstellen müssten. Er fragt, woher wir kämen, sagt dann bedeutungsvoll, dass in Italien jede Fahrkarte vor Gebrauch abgestempelt werden müsse. Sonst sei sie völlig wertlos. Dann hellt sich sein Gesicht auf und mit einem Lächeln sagt er, indem er unsere Fahrkarten mit seiner Zange durchlöchert: „Da haben Sie ein Andenken an Ihre Italienreise.“