Jerez (2016)

17. März (Donnerstag)

Am Morgen läuft im Radio auf dem Weg zum Flughafen spanische Gitarrenmusik.

Vor dem Flughafen läuft uns im Nebel fast ein Mann vors Auto. Absichtlich. Er will uns zwingen, stehenzubleiben. Wild mit einem Rucksack vor dem Fenster wedelnd, ruft er immer wieder: „Hahn, Flughafen“. Dabei ist der  Flughafen direkt hinter ihm, näher als von unserem Parkplatz aus. Ist er verwirrt oder tut er das mit Absicht?

Als wir uns Jerez nähern, heißt es, wir könnten im Moment nicht landen. Nebel. Verrückt. Wir drehen ein paar Runden über Jerez in der Hoffnung, dass der Nebel sich lichtet. Aber dann wird es knapp mit dem Treibstoff. Statt in Jerez landen wir in Sevilla.

Es werden Busse bereitgestellt, die einen nach Jerez bringen, aber viele haben ohnehin andere Reiseziele. Und die Organisation unten am Flughafen richtig schlecht. Man läuft irgendwie der Masse hinterher.  Es wird erst gar kein Versuch gemacht, zu prüfen, ob auch alle mitkommen.

Zum Glück hat sich Xia gegen mich und meine Bedenken  durchgesetzt. Wir bleiben gleich in Sevilla. Da wollten wir doch sowieso mal hin.

Es gibt einen modernen Bus ins Zentrum. Hier ist strahlender Sonnenschein, man kann sich kaum vorstellen, dass in Jerez neblig sein soll.

Wir steigen am Busbahnhof aus, um uns Fahrkarten für Jerez zu kaufen, für den Abend. Gar nicht so leicht. Es gibt eine ganze Reihe von Schaltern, alle von privaten Busunternehmen betrieben. Als wir schließlich unsere Karten bekommen, werden wir von einem Deutsch sprechenden jungen Spanier angesprochen. Er macht mich darauf aufmerksam, dass man Rucksack offen ist. Damit müsse man in Spanien vorsichtiger sein als in Deutschland. Es ist nicht das erste Mal, dass ich im Ausland auf den offenen Rucksack aufmerksam gemacht werde.

Im Bushahnhof können wir auch gleich für wenig Geld unser Gepäck einschließen. Der Busbahnhof ist ein heller, lichter Ort, mit viel frischer Luft, mit Arkaden auf beiden Seiten, die auf gelb gestrichenen Pfeilern ruhen. Was für ein Unterschied zu den düsteren, grauen, stickenden Busbahnhöfen, die ich kenne!

Auf dem Weg ins Zentrum trinken wir in einer typischen spanischen Bar einen Milchkaffee. Die Bar ist mit allem möglichen Zeugs vollgestellt, und auf dem Boden liegt Papier herum. Für Xia die erste spanische Bar, und die hinterlässt Eindruck.

Wir fragen nach dem Alkazar, aber die mexikanische Frau hinter der Theke weiß nicht Bescheid und verweist uns an den Chef. Der geht eigens mit uns hinaus und weist uns den Weg. Aus alcázar wird bei ihm arcázar, typisch andalusisch, und als ich das höre, finde ich, dass sich die Reise beinahe schon gelohnt hat.

Als er gerade wieder drinnen ist, wendet sich eine Frau an uns und schiebt noch eine weitere Erklärung hinterher, nur so, um sicherzustellen, dass wir richtig verstanden haben. Von der Hochnäsigkeit der Sevillanos nichts zu spüren, alle sind äußerst freundlich.

Wir überqueren die Hauptstraße und kommen durch einen kleinen Park. Dort steht ein Denkmal für Kolumbus mit einer bronzenen Karavelle ganz oben, geteilt in zwei Teile durch die hohe Säule.

Wir kommen an schönen andalusischen Häusern mit vorkragenden Holzbalkonen vorbei. Xia merkt, dass die von unten über und über mit Schnitzereien ausgestattet sind. Sie ist begeistert.

Wir kommen an riesigen Mandarinen vorbei, eine Klasse uniformierter Schulkinder kommt uns entgegen, wir setzen uns auf eine gekachelte Parkbank. Auch die Namensschilder der Straßen sind gekachelt. Es geht durch die Judería, mit Lokalen und schönen Innenhöfen und gemütlichen Plätzen. Man ist sofort angetan.

Die meisten Bäume haben schon volles Laub. Ein Baum ist noch kahl, aber als wir näher herankommen, sehen wir, dass er zwei kleine weiße Blüten trägt.

Dann kommt schon der Alkazar. Und wir wundern uns, dass der Mann aus der Bar uns erst mit der Straßenbahn hierher schicken wollte.

Der Alkazar gehört zu den drei Weltkulturstätten Sevillas, wie wir aus dem Mund eines Lehrers hören, der seine Schulklasse informiert. Nicht Sevilla insgesamt gehöre dazu, sondern „nur“ drei einzelne Gebäude: der Alcazar, die Kathedrale und das Archivo de las Indias. Spanien habe, so sagt er, die zweitmeisten Weltkulturstätten der Welt.

In den Alkazar geht es durch das Löwentor. Dort hängen Granatäpfel. Der Alkazar ist viel größer als man meint, wenn man ihn betritt. Vom Innenhof aus geht es in verschiedene Richtungen weiter. Und dann kommt man dann nicht nur in einzelne Räume, sondern eigenständige, weitläufige Gebäudeteile, mit einem großen Garten mit Brunnen und Grotten an einem Ende. Dort gelingt uns ein schönes Photo: Ein Maler steht, etwas abseits, mit seiner Staffelei vor einer Mauer. Das Photo selbst sieht wiederum wie ein Gemälde aus der Zeit des Impressionismus aus.

Rechts vom Innenhof sind Räume, die ganz anders aussehen als das, was man hier erwartet, repräsentative Räume aus der Zeit der Katholischen Könige. In einem von ihnen wurde Kolumbus vor seinem Start auf eine Amerikareise von den Katholischen Königen empfangen. Ein Wandgemälde zeigt alle zu der Zeit existierenden Typen von Schiffen.

Links vom Innenhof geht es in einen anderen Innenhof mit Ruinen aus der Zeit der Mauren, ein Gerichtssaal wohl.

Ein Teil des alten Alkazars ist zerstört worden, nicht durch Feindeshand, nicht durch Brand, nicht durch Vernachlässigung, sondern durch das Erdbeben von Lissabon! Unglaublich. Ein Teil des Gartens sank dabei ab. Erhalten geblieben in diesem Teil sind die Baños de Doña María. Von Bädern ist zwar nicht mehr so viel zu sehen, aber was das ist, ist die reinste Augenweide: ein im Halbdunkel nach hinten verlaufender „Kanal“, dessen rötlich schimmernde Pfeiler und Gewölbe sich im Wasser spiegeln. Indirektes Licht dringt von den beiden parallel laufenden Gängen hinein.

Das Schmuckstück des Alkazar ist jedoch der Palast von Pedro el Cruel: Säulengänge, Stuckdekor, Wandfliesen, Zackenbögen, Zedernholzportale, alles wirkt arabisch. Entstand aber für einen christlichen König. Für ihn arbeiteten arabische Baumeister. Das ist das berühmte Mudéjar. Die arabischen Baumeister wurden Pedro von Mohamed V. geschickt, dem Herrscher von Granada, als Dank für ein Bündnis. Das spricht Bände. Die Vorstellung, dass es jahrhundertelang immer nur Mauren gegen Christen ging, ist verfehlt. Es gab immer wieder Zweckbündnisse über die Grenzen hinweg.

Bei dem Patio de las Doncellas, mit Wasserbassin und doppelstöckigen Arkaden, fühlt man sich wie in der Alhambra. Es fehlen nur die Löwen. Aber ansonsten kann der Alkazar es locker mit der Alhambra aufnehmen. Die Sonne, die vielen Verzierungen, das Wasser, die immer neuen Durchblicke durch die Arkaden, das ist alles vom Feinsten.

Das obere Stockwerk hat eine Renaissancegalerie, angelegt für die Hochzeit Karls V., aber sie fügt sich gut in das maurische Ensemble ein.

Dann gibt es immer wieder neue Säle und Innenhöfe, einer prächtiger als der andere. Besonders schön die Kuppelgewölbe, aber auch die Durchblicke von einem Raum in den nächsten durch Hufeisenbogen. Ein paar Mal gibt es Inschriften mit Zitaten aus dem Koran, in arabischer Schrift. Die Bedeutung ist umstritten: Hat Pedro sie absichtlich anbringen lassen oder verstand er einfach nicht, dass es sich um Koranverse handelte? Auch am Eingang zum Palast sind die Inschriften bemerkenswert: auf Latein, in gotischen Buchstaben, eine Inschrift, die auf Pedro verweist und darunter, auf Arabisch, eine Inschrift, die auf Allah verweist! In gewisser Weise die Quintessenz des Alkazars.

Nach dem Alkazar gehen wir wieder zu der Bar vom Vormittag. Wir setzen uns draußen in die Sonne und bestellen Tapas und Bier. Xia ist sehr angetan, obwohl ich mich bei der Bestellung etwas ungeschickt anstelle und allzu viele Tapas mit Kartoffeln bestelle. Fragen muss ich nach salmorejo auf der Speisekarte. Der Erklärung zufolge handelt es sich um eine Suppe, dem gazpacho ähnlich. Wir bestellen sie. Tatsächlich dem gazpacho zum Verwechseln ähnlich, aber dickflüssiger.

Dann gehen wir durch den modernen Teil der Innenstadt mit breiter Fußgängerstraße und vielen Modegeschäften – erst kommen Familienbetriebe, dann internationale Ketten – in Richtung der „Pilze“. Das ist eine moderne Skulptur, die sich über einen ganzen Platz erstreckt und verschiedene Ebenen hat. Sie ist Skulptur, hat aber auch eine Funktion, indem sie Dach und Zugang zu verschiedenen Geschäften und Unterhaltungsorten bietet. Wir sind allerdings etwas enttäuscht. Die Skulptur sah auf den Bildern besser aus, und der Platz hat keinen besonderen Charme.

Auf dem Rückweg trinken wir in einem modernen Innenhof noch einen Kaffee. Der ist längst nicht so gut wie der am Vormittag. Die Geschäfte rund um uns herum, meist Juweliere und Kunstgeschäfte, sind alle noch geschlossen. Xia macht eine kuriose Ableitung: joya hat mit joy zu tun!

Die Kathedrale ist verriegelt und verrammelt. Vor der Kathedrale sind Tribünen aufgebaut. Alles das ist für die Prozessionen der Semana Santa. Die Kathedrale ist eine der größten Kirchen der Welt. Da wollte man was beweisen, als Südspanien mit Verzug im Laufe der Reconquista die Gotik entdeckte. Und sie ist nicht nur riesig, sondern auch verwinkelt, mit Anbauten zu allen Seiten, so dass man sich kaum orientieren kann.

Leicht zu identifizieren ist die Giralda, der Glockenturm. Man sieht deutlich die drei verschiedenen Entstehungszeichen: unten Römer (mit deutlich erkennbaren Spolien), darüber Almohaden, darüber Almoraviden. Und wenn man die christliche barocke Haube noch dazu nimmt, sind es sogar vier Epochen. Die Giralda ist das Wahrzeichen Sevillas. Xia macht mich auf etwas aufmerksam, was ich nicht gesehen haben: Die Giralda ist viereckig, sonst haben die Minarette Bleistiftform.

Auf einem sehr schönen Platz, auf den wir durch Zufall gelangen, hören wir laute Stimmen sich nähern, die etwas skandieren. Eine Demonstration? Krawalle? Eine Veranstaltung der Semana Santa? Die Stimmen kommen näher. Sie gehören zu einer Gruppe, die meist aus Männern besteht. Ich spreche ein paar von ihnen an. Es sind offensichtlich keine Spanier. Aber wer sie sind, können sie mir trotzdem sagen: Fußballanhänger des FC Basel!

Auf diesem Platz und anderswo haben die Kirchen die typischen offenen Glockenstühle, die man später mit Lateinamerika verbindet.

Auf dem Weg zum Bahnhof sehen wir eine hypermoderne Straßenbahn und kommen an der Fábrica de Tabaco vorbei und am Archivo de las Indias.

Nachdem wir am Bushahnhof über die Liebe junger Mädchen zu Pferden gesprochen haben und uns bei dem Thema nicht einigen konnten, geht es mit einem modernen Bus bei Einbruch der Dämmerung nach Jerez. Durch eine langweilige, flache Landschaft, mit bewässerten Feldern. Als wir in Jerez ankommen, ist es dunkel.

Wir sind ziemlich orientierungslos. Der Bahnhof ist auf dem Stadtplan des Reiseführers nicht drauf. Wir sollten ein Taxi nehmen, wird uns gesagt, aber wir gehen einfach die Hauptstraße entlang, auf gut Glück. Es klappt. Wieder geben lauter freundliche Menschen Auskunft, u.a. ein Ehepaar, das in gebrochenem Deutsch erklärt, wo das Hotel ist und hinzufügt, die deutschen Katholiken seien katholischer als die spanischen.

Je weiter es auf das Zentrum zugeht, umso schöner wird es. Am Ende führt uns eine Frau, deren Tochter gerade nach Deutschland „ausgewandert“ ist, weil sie dort Arbeit gefunden hat, zu dem farbig beleuchteten Hotel, gleich der Kathedrale gegenüber gelegen.

Das Hotel ist schön, aber das Zimmer ist eng und verbaut. Im Bad ein riesiger Boiler. Bei dem Wasserhahn muss man sich daran gewöhnen, dass C nicht für Cold, sondern für Caliente steht.

18. März (Freitag)

In der Nähe des Hotels finden wir eine Bar, in der es ein gutes Frühstück gibt, mit andalusischem Einschlag. Es ist rappelvoll, die Bedienung ist sehr freundlich. Man wird sofort angesprochen, wenn man hineinkommt.

An der Plaza del Arenal, nur ein paar Minuten vom Hotel entfernt, liegt die Touristeninformation. Die Plaza sieht franquistisch aus und ist es auch. Im Zentrum ein Reiterdenkmal von Primo de Ribeira. Der langgezogene, rechteckige Platz ist so etwas wie das Zentrum der Stadt. Hier ist immer was los. An einem Ende ein großes Straßencafé, am anderen ein auffälliger modernistischer Bau.

Die junge Frau in der Touristeninformation ist sehr freundlich und sehr hilfsbereit. Dabei sind die Grenzen der Provinz auch die Grenzen dessen, worüber sie Bescheid weiß. Das ist sehr spanisch. Von der Cueva de la Pineta hat sie zwar schon gehört, aber Auskunft kann sie darüber nicht geben: „Das ist ja schon in Cádiz“. Sie sucht aber in den Broschüren und im Internet, bis sie etwas findet.

Wir gehen gleich, ihrem Tipp folgend, zu San Miguel, der Pfarrkirche von Jerez, etwas außerhalb der Plaza del Arenal gelegen. Obwohl es nur ein paar Minuten Fußweg sind, befindet sich die Kirche außerhalb des historischen Zentrums. Erst nachdem die Grenzen endgültig nach Granada verlegt wurden, entstanden in diesem „Vorort“ auch die ersten christlichen Kirchen.  Bis dahin hatte man sich hier mit Kapellen begnügt. Der Kirchenbau begann um 1500.

Die Hauptfassade, in drei Geschosse geteilt, mit Triumphbogen und mächtigen Säulen, wirkt wie ein Turm. Sie entstand erst ca. 150 Jahre nach Baubeginn. Auffällig ist obere Bereich, ein Glockenturm mit blauen und weißen Kacheln.

Die Kirche wirkt wie eine Hallenkirche. Ganz wunderbar sind die Gewölbe. Da gibt es ganz einfache, andere, die spinnenartig sind, wieder andere, die wie eine mehrblättrige Blume aussehen, und in den Seitenschiffen sind in die Gewölbe alle möglichen bizarren Figuren eingelassen. Xia wird gar nicht müde, immer neue zu entdecken, auch an den Pfeilern, die das Hauptschiff von den Seitenschiffen trennen.

In dem anderen Seitenschiff ist ein Altar für die Prozession der Semana Santa aufgebaut. Xia klettert darunter und entdeckt, dass er hohl ist. Die Madonnenfigur mit den vielen Kerzen davor steht auf einer mit weißen Tüchern bedeckten Stellage, die den Anschein erweckt, als wäre es ein Altar.

Typisch spanisch ist der Hauptaltar, der die ganze Höhe und Breite des Chorabschlusses einnimmt, in drei horizontale und drei vertikale Bahnen geteilt. In allen Teilen vollrunde, fast lebensgroße Figuren. Der Mittelpunkt des Skulpturenprogramms ist natürlich San Miguel. Der wird als Sieger der Engelsschlacht dargestellt.

Auf diese Kirche, San Miguel, werden wir in den nächsten Tagen immer wieder stoßen, auch unverhofft, meist dann, wenn wir vom Bahnhof in die Innenstadt kommen und die Orientierung verloren haben.

Auf dem Weg zurück fällt mir La Parra Vieja auf, der Name einer Bar. Das hört sich irgendwie anzüglich an, aber ich habe das wohl zwei Wörter miteinander verwechselt. Die ist einfach ‚Die alte Rebe‘.

In der Nähe ist ein Bekleidungsgeschäft, vor dem ich rätseln stehen bleibe: La mala ñ. Keine Ahnung, wie das zu verstehen ist.

Wir sind auf dem Weg nach einer anderen von der Frau in der Touristeninformation empfohlenen Sehenswürdigkeit, dem Palacio del Virrey Laserna. Erst nach mehreren Runden entdecken wir ihn und stellen dann fest, dass er nur ein paar Meter von der Plaza del Arenal entfernt ist. Er steht nicht frei, sondern ist in die Häuserzeile eingefügt.

Man tritt etwas unsicher ein, aber das Mädchen an der Rezeption sagt, die Führung könne sofort beginnen. Und schon erscheint der Hausherr: „Willkommen in meinem Palast!“. Wohl dem, der das sagen kann. Wir rätseln danach und in den nächsten Tagen, ob er ein armer Schlucker ist, der auf das Eintrittsgeld der Besucher angewiesen ist oder ob er ein reicher Adeliger ist, der die Führungen als Zeitvertreib macht. Es stellt sich jedenfalls heraus, dass er sehr stolz ist, fließend Englisch spricht und Humor hat.

Seine Großmutter, die Mutter seiner Mutter, stammte aus Hamburg. Seine Mutter wohnt nur im Sommer in Jerez, nicht im Winter. Dann wohnt sie in Madrid. Warum wohl, fragt er uns. Die Antwort: Hier gibt es keine Heizung!

Es geht durch eine verwirrende Folge von Sälen, Zimmern und Korridoren und schließlich in den Garten. Der Garten hat einen gepflegten Rasen und zugeschnittene Buchsbäume,  aber dazwischen auch mächtige „natürliche Bäume“, darunter  die typischen Jacaranda, von den wir, wenn wir nach Cádiz fahren, noch ein paar richtige Prachtexemplare sehen würden.

Der Stammbaum der Familie ist alt, und das Grundstück, auf dem der Palast steht, geht auf die Zeit Alfons des Weisen zurück! Der heutige Palast ist eine Mischung aus Barock und Neoklassizismus, aber spanischer Spielart. Wenn man die weiß getünchte Fassade sieht mit den Holztüren und den schmalen Gittern an Fenstern und Balkonen, dann weiß man: Das ist Spanien.

Bei der Führung taucht an drei Stellen in drei verschiedenen Räumen ein bargueño auf, und in dem Moment, wo das Wort fällt, erinnere ich mich wieder, was das ist. Auch sehr spanisch, eine Mischung aus Sekretär und Kommode, fein verziert, mit vielen kleinen Fächern und Schubladen hinter der aufklappbaren, schrägen Schreibfläche. In dem letzten bargueño gibt es ein Geheimfach, das der Herr des Hauses stolz vorführt.

Immer wieder tauchen Portraits eines Mannes auf, der in der Geschichte der Familie eine besondere Rolle spielt, der Großvater oder Urgroßvater des heutigen Besitzers. Der wurde vom spanischen König zum Conde de los Andes gemacht, ein Titel, den auch der heutige Besitzer noch trägt. Die Geschichte war verwickelt, denn der Großvater war zwar königstreu, war aber in Verantwortung, als die ersten Länder Südamerikas in die Unabhängigkeit entlassen wurden.

Gemälde, Skulpturen, schwere Leuchter, gerahmte Spiegel gibt es in fast jedem Raum. Die Gemälde sind guter Qualität, wenn auch nicht allererste Auswahl. Ein Gemälde stammt aus der „Schule von Goya“, und man kann die Handschrift des Meisters deutlich erkennen. Ein anderes kurioses Gemälde ist Ergebnis einer Kooperation zweier niederländischer Meister. Einer hat die Szenerie gemalt, der andere die Figuren! Und dann gibt es noch ein großes Gemälde, das nicht mehr komplett ist. Das sieht man aber nur, wenn man darauf hingewiesen wird. Das Gemälde wurde bei Krawallen aus dem Fenster geworfen und an den Rändern beschädigt. Daraufhin wurde es gestutzt und neu gerahmt.

Am Ende der Besichtigung weiß man kaum mehr, was man am Anfang gesehen hat, so viele Details gab es zu sehen. Aber irgendwie bleibt uns diese Besichtigung in den nächsten Tagen als etwas Besonderes in Erinnerung.

In einer der eher teuer aussehenden Bars gegenüber dem Rathaus, in der Fußgängerzone, bestellen wir Tapas. Das ist ein Volltreffer. Es werden die besten Tapas sein, die wir während der ganzen Woche bekommen. Und am Ende ist es gar nicht so teuer.

Unterwegs fällt mir in der Nähe des Alkazars ein Straßenschild auf: Manzana No 216. Dass man in Spanien in Wohnblöcken denkt, und dass diese Wohnblöcke manzana heißen, ‚Apfel‘, ist nicht neu, aber ich habe das noch nie bewusst als Straßenname gesehen. Scheint hier die Regel zu sein.

Und noch ein kurioser Straßenname: Amargura. Der Name der Straße ist vermutlich religiösen Ursprungs und übersetzt sich, statt mit ‚Bitterkeit‘, wie man normalerweise annimmt, wohl eher mit ‚Betrübnis‘. Der Name der Straße hat jedenfalls Eingang in eine spanische Redewendung gefunden: le trae por la calle de la amargura er (oder sie) macht sich das Leben schwer.

Was darf in Jerez nicht fehlen? Der Jerez! In welche Bodega man geht, ist eigentlich egal. Das sagen übereinstimmend Reiseführer und Touristeninformation. Wir landen bei Fundador, auf einer ansteigenden Straße unweit des Alkazars gelegen, an dessen ganzer Breite wir bei dieser Gelegenheit vorbeigehen. Es herrscht eine frühlingshafte, fast sommerliche Atmosphäre. Die Menschen sind freundlich, es herrscht Betrieb, aber überhaupt keine Hektik, und das Zentrum von Jerez ist einfach schön. Zwei Fragen stelle ich mir: Warum hat der deutsche Mann im Flugzeug, der uns zugetextet hat mit seinem Wissen über Andalusien, so negativ über Jerez gesprochen? Und woher stammen meine Vorbehalte gegenüber Andalusien? Eher von dem Klischee, dem spanischen Oberbayern, als von der Wirklichkeit.

In der Bodega bekommen wir eine Führung zusammen mit einem jungen deutschen Paar. Die sind zum Surfen hier, in einem kleinen Ort an der Küste Richtung Gibraltar. Sie sind davon sehr angetan. Von Spanien wissen sie so gut wie nichts. Von der Semana Santa haben sie noch nie was gehört.

Das Wort Bodega, erfährt man, ist beim Sherry etwas irreführend. Die Bodegas befinden sich nicht im Keller, sondern sind ebenerdig.

Es gibt ein Museum, in dem man Gerätschaften wie Korkmaschinen sehen kann und alle Paraphernalia, die man mit dem Sherry verbinden kann, von Etiketten über Plakate bis zur Rinde, aus der die Korken gewonnen werden.

Interessanter sind aber die Bodegas selbst. Sie sind weiß getüncht, aber die Wände haben fast flächendeckend einen schwarzen Überzug. Das ist wohl das Resultat von Witterung und Ausdunstung. Jedenfalls wird dieser Überzug nicht entfernt. Er dient der Isolierung und hilft, die Temperatur konstant zu halten. Die konstante Temperatur ist das Mantra der Sherry-Hersteller.

Am Eingang zu einer Bodega stehen wir auf einer Karte von Andalusien mit dem  „Sherry-Dreieck“. Das wird gebildet von der Küste und zwei Flüssen, und nur in diesem relativ begrenzten Raum wird Sherry hergestellt.

Die Fässer sind leicht versetzt aufeinandergestapelt, immer drei aufeinander. Das hat seinen Sinn: Der oberste ist der jüngste, der wird nach einiger Zeit der Reife mit den Hälfte des mittleren gemischt, und die andere Hälfte des mittleren mit der Hälfte des unteren. Sherry ist also immer ein „Verschnitt“. Es gibt keinen bestimmten Jahrgang. Die Qualität ist immer konstant.

Im Wesentlich unterscheidet man, nach Reifegrad, drei Sorten. Das sollte leicht genug sein, aber bei den Bezeichnungen kommen wir etwas durcheinander. Hier ist viel die Rede von Pedro Jiménez, aber es ist nicht klar, ob es sich dabei um eine Rebsorte handelt und einen Reifegrad. Der Name soll die spanische Adaptation von Peter Siemens sein, einem Deutschen, der eine Rolle bei der Entwicklung des Sherrys gespielt haben soll. Der hellste, trockenste Sherry heißt fino, der halbtrockene amontillado. Der dritte schließlich heißt manchmal oloroso, aber dieser Begriff fällt bei der Führung nicht.

Etwas abseits stehen, im Halbdunkel sehr schön wirkend, drei flach liegende Fässer aufgebockt nebeneinander. Sie sind fast ganz gefüllt, nur oben ist noch ein schmaler Streifen frei. Der Sherry darunter ist goldgelben in dem mittleren, rötlich in dem linken und dunkelbraun in dem rechten Fass. In einem davon schwimmt auf der Oberfläche die Hefe. Die wird, soweit wir verstehen, nur bei einer Art von Sherry eingesetzt.

In einer anderen Ecke sind viele Fässer unregelmäßig aufeinandergestapelt. Jedes enthält an der Stirnseite die Unterschrift eines berühmten Besuchers der Bodega, darunter Octavio Paz und Plácido Domingo, aber auch Hollywoodstars. Ich entdecke etwas weiter unten José María Pemán und spreche den Führer darauf an, aber er belässt es bei einem kurzen Kommentar und geht dann weiter.

Die Bodegas Fundador gehen auf einen Franzosen zurück, Pedro Domecq, den „Gründer“. Es muss aber später eine Fusion gegeben haben, denn hier wird auch Harveys Bristol Cream hergestellt, der vielleicht bekannteste Sherry überhaupt, und der wurde von Harvey aus Bristol zuerst hergestellt. Fundador macht auch Brandy, mit Terry als der bekanntesten Marke.

Gerne würde man auch etwas über die sozialen Verhältnisse wissen und den politischen Einfluss der Sherry-Barone, aber das wird nicht angesprochen. Jedenfalls wirken die Bodegas, die riesige Flächen der Innenstadt von Jerez einnehmen, wie eine Mischung aus Burg und Hacienda und sind wie eine Stadt in der Stadt.

Bei der Verkostung haben die jungen Leute die ganze Palette gewählt, mit dem Resultat, dass es ihnen am Ende zu viel ist und sie ihre Proben mit uns teilen. Wir sind uns alle einig, dass der fast zähflüssige, sirupartige Sherry, der reifste unter den Proben, nicht das Maß aller Dinge ist. Alle anderen sind richtig gut, obwohl sehr unterschiedlich im Geschmack. Auch wenn die Mengen klein sind, hat man schnell einen sitzen.

19. März (Samstag)

Am Morgen tut mir die Kellnerin in der Bar den Gefallen, von der Zemana Zanta zu sprechen. Wunderbar. Wir sind mitten in dem Teil von Andalusien, wo das ceceo vorherrscht, das Gegenstück zum seseo, das sich dann nach Amerika verbreitet hat.

In einer Apotheke bekommen wir einen fürchterlich schmeckenden Hustensaft. Ob die Besserung in den nächsten Tagen dem Hustensaft zuzuschreiben ist oder den Globuli oder keinem von beiden bleibt unklar.

Mit dem Bus geht es nach Cádiz. In Cádiz erkenne ich fast nichts wieder, obwohl ich da mal ein paar Tage war. Dagegen kommen mir in Jerez, wo ich nur mal einen Tag war, ein paar Ecken bekannt vor. Ich bin auch verblüfft, dass Jerez viel größer ist als Cádiz, mehr als doppelt so groß.

In Cádiz leihen wir uns Räder aus und radeln einmal um die Innenstadt herum. Das ist perfekt. Es gibt einen Radweg, die Sonne scheint, man kommt immer wieder am Meer vorbei, es gibt schöne Ausblicke. Die schöne Atmosphäre täuscht darüber hinweg, dass die ganze Umgebung passabel, aber auch nichts Besonderes ist.

Wir kommen an einer Büste von José Martí vorbei und sehen dann die angekündigten Jacaranda, die wunderbar in einem kleinen Park am Wegrand stehen.

Einmal geht es sogar richtig aufs Meer raus. Über einen befestigten Steg geht es auf eine ins Meer hineinragende ehemalige Festung, zackenförmig angelegt, mit einem Leuchtturm. Hier ist auch einer der Sandstrände der Innenstadt.

Als wir einmal rum sind, habe ich noch nicht genug und schlage vor, den Paseo Marítimo stadtauswärts zu fahren. Keine gute Idee. Es geht an endlosen Sandstränden mit Hotelklötzen und modernen Lokalen entlang, und am Ende bleibt uns nichts anderes übrig als zurückzukehren, kilometerlang zwischen Kindern, Hunden und Laternenpfählen hindurch manövrierend.

Am Ende schieben wir die Räder Richtung Innenstadt. Dabei kommen wir am Teatro Romano vorbei. Das ist wegen Renovierung geschlossen. Es soll das größte Spaniens und das zweitgrößte des römischen Reichs sein.

Xia treibt die Frage um, warum es so viele verglaste Balkone gibt. Meine Hypothese, es wäre eine Verlängerung des Wohnraums, wird zurückgewiesen. Zu recht. Dafür sind die Balkone zu klein. Und als Mirador? So viel Aufwand für so wenig Wirkung?

Zufällig stoßen wir auf die Markthalle. Die macht gerade zu, aber es gibt noch einen zweiten „Ring“ um sie herum von kleinen Verkaufsständen, die auch Getränke und kleine Gerichte anbieten, die man stehend an runden Tischen verzehrt. Wir bestellen Ziegenkäse und manzanilla. Das ist ein dem Sherry verwandter trockener Weißwein. Er schmeckt hervorragend.

Erst später stellt sich mir eine linguistische Frage: manzanilla? Ist das nicht Kamillentee? Zum Test bestellen wir in den nächsten Tagen irgendwo zu einer unverdächtigen Tageszeit manzanilla und bekommen tatsächlich Kamillentee. Das Wort hat zwei Bedeutungen.

Wir gehen ein bisschen ziellos durch die Straßen. Unterwegs fällt mir ein Plakat auf, auf dem man ein geknebeltes Mädchen sieht. Darunter steht: Te amo # Tu amo.

Auf dem großen Rathausplatz machen wir Pause mit Törtchen, die wir in einer alten Konditorei gekauft haben.

Dann gehen wir in die Kathedrale. Die Fassade ist, gut erkennbar, unten barock und oben klassizistisch.

Für die Besichtigung wird ordentlich abkassiert. Xia ist am Ende arg enttäuscht: Und dafür auch noch Eintritt bezahlen? Recht hat sie, aber ich halte mich an kuriosen Details fest. Da ist in einer Seitenkapelle eine riesige Prozessionsmonstranz ausgestellt. Die hat wirklich etwas Monströses, das aber auch wieder etwas Bewundernswertes hat. Sie ist ganz aus Silber, ganz fein ziseliert und trägt auch das Wappen der Stadt Cádiz.

In einer anderen Seitenkapelle steht eine Figur von San Sebastián. Warum gibt es solche Figuren so oft? Er war der Helfer gegen die Pest! Im Kopf dieser Statue wurde bei der Restaurierung eine Notiz gefunden, die die Autorenschaft einer Frau zuschreibt! Der Mann, dem man die Statue bis dahin zugeschrieben hatte, war nur für die Farbfassung verantwortlich.

Die Krypta liegt unter dem Meeresspiegel. Dort ist Falla begraben. Er ist in Cádiz geboren und in Argentinien gestorben. Beides wusste ich nicht. Ich hätte ihn nach Kastilien verortet.

Gerade rechtzeitig schaffen wir es noch bis zur Torre Tavira. Dort gibt es eine Camera Obscura. Ich kenne das aus Havanna, kann mich aber nicht mehr an die Funktionsweise erinnern. Die Camera Obscura befindet sich in der Torre Tavira fast ganz oben. Es handelt sich um einen dunklen Raum mit einer runden, gekrümmten weißen Leinwand im Zentrum. Auf diese Leinwand werden, wie durch Magie – auch diesmal verstehe ich die Erklärung nicht – Bilder in Echtzeit projiziert, das heißt man sieht alles, was sich um die Torre Tavira herum in diesem Moment abspielt. Dabei sieht man auch entfernte Punkte ganz nah.

Die Führerin macht eine Art Stadtführung von oben und zeigt uns Cádiz, eine Festung, ein früheres Gefängnis, Stadtmauern, eine Kirche mit einer Fassade im Kolonialstil und vieles mehr. Sie spielt auch ein bisschen mit den Figuren, also den Menschen, die dort gerade unterwegs sind, indem sie sie scheinbar in die Luft hebt oder ihnen über ein Hindernis hinweg hilft. Vor allem aber zeigt sie uns die Türme. Die sind das Besondere an Cádiz, und die kann man von hier aus am besten sehen. Die Torre Tavira ist eine von ihnen. Es sind Wohntürme, die teils auf Häusern stehen. Noch heute gibt es mehr als hundert davon. Man kann deutlich verschiedene Formen unterscheiden, kegelförmige, eckige, Mischformen und solche mit einer Terrasse, wie dieser hier. Die Torres stammen aus dem 18. Jahrhundert und dienten den Kaufleuten als Wach- und Aussichtstürme, von denen aus sie die ein- und auslaufenden Schiffe beobachten konnten.

Mit dem Fahrrad geht es dann über Kopfsteinpflaster zum Bahnhof zurück. Das lohnt sich. Es geht gegen den Urzeigersinn, und man bekommt noch mal einen ganz neuen Eindruck von der Stadt.

Als wir dann zu Fuß auf dem Weg zum Bahnhof sind, kommen wir an einer breiten Straße noch an einer Reihe unterschiedlicher exotischer Bäume vorbei, einige davon mit Stacheln. Man kommt sich vor wie in Südamerika. Gerne wüsste man über diese Bäume ein bisschen mehr.

Am Bahnhof erfahren wir dann, dass heute kein Bus mehr nach Jerez fährt. Wir haben uns überhaupt nicht darum gekümmert. Es gibt aber vielleicht noch einen Zug. Während ich Erkundigungen einziehe, macht Xia fröhliches Treppenhüpfen und verletzt sich dabei übel den Fuß.

Wir haben Glück. Es gibt noch einen Zug. Ganz modern. Und so gut wie leer. Und warten brauchen wir auch nicht lange. Als der Schaffner kommt, finde ich die Fahrkarten nicht. Er bleibt ganz freundlich und sagt, er komme später wieder. Ich durchsuche sämtliche Taschen von Hosen, Hemd und Rucksack, und am Ende tauchen sie auf. Als wir schon fast in Jerez sind, kommt der Schaffner wieder. Mit einem Lächeln nimmt er die Karten entgegen. Und sagt: „Wenn ich bei Ihnen stehen bleibe, macht sie das nur nervös. Ich wusste, dass Sie die Karten finden würden, wenn ich nicht mehr vor Ihnen stehe“. Was für ein kluger Mann!

In Jerez hören wir gleich hinter dem Bahnhof Stimmen und Klänge. Wir folgen ihnen und als wir immer näher kommen, wir uns klar: eine Prozession! Das ist der Vorläufer der Semana Santa. Die fängt offiziell erst morgen an. Die hier machen ihre Prozession sozusagen „außer Konkurrenz“. Und dennoch, und obwohl es über die Hauptstraße geht und obwohl es noch nicht dunkel ist: Keine der Prozessionen der nächsten Woche wird uns so in Erinnerung bleiben, wird uns so bewegen wie diese hier. Für mich ist es die erste seit vielen Jahren, für Xia die erste überhaupt.

Die laute, rhythmische, manchmal etwas schrille Musik, die Hunderte von Kerzen, die bewegende, obwohl eigentlich ziemlich kitschige Christusfigur auf dem Altar, die plötzliche Stille zwischen den Musikstücken, die Büßer mit ihren altertümlichen Gewändern mit den spitzen Kapuzen, der Gleichschritt der Altarträger, die scharfen Kommandos, wenn der Altar abgesetzt wird oder hochgehoben oder um eine Ecke manövriert wird, das alles verbindet sich zu einem intensiven sinnlichen Erlebnis. Mit Religion hat das alles wenig zu tun, aber es ist doch irgendwie eine spirituelle Erfahrung.

Wir begleiten die Prozession bis in die Innenstadt. Der Weg führt an einer Kapelle vorbei, die an der Spitze zweier schräg zusammenlaufender Straßen steht. In der Kapelle steht ein Altar mit einer Madonna. Der Christus wird, in ganz langsamen Schritten, der Kapelle näher gebracht und bleibt dann ein paar Minuten vor der Madonna stehen. In der Stille flüstert eine Frau mir zu: „Le saluda – Er grüßt sie“.

Der ganze stille Ernst des Augenblicks bekommt noch eine komische Volte. Inmitten der dicht gedrängten Menge entdecke ich eine Statue, einer an dieser Stelle fest installierte Skulptur. Sie zeigt eine Flamencosängerin. Mit mächtigen Hüften, festen Brüsten, einem eng geschnittenen Kleid, das alle Kurven erkennen lässt und in einer lasziven Haltung. Die Ironie des Zusammenfalls scheint keinen der Zuschauer zu stören. Oder auch nur aufzufallen. Die Flamenco-Sängerin als Ergänzung zur Madonna. Eine Allegorie auf Andalusien?

Wir gehen Richtung Hotel und treffen dabei in dem Zigeunerviertel auf eine Bodega, die einladend aussieht. Sie ist rustikal eingerichtet und hat eine Galerie, auf der man auch sitzen kann. Das tun wir. Wir bestellen einen Wein und dann noch einen anderen. Das sind einfache Hausweine. Ordentlich, aber nichts Außergewöhnliches. Und wir bestellen eine ganze Palette von Tapas, mit zum Teil klingenden Namen: papas aliñadas, carne en zarza, sangre en tomate, albondigas, lágrimas de pollo, chicharrones, chocos fritos, chorizo. Was das denn sei, möchte ich wissen: carne en zarza. Es stellt sich heraus, dass es ein weit hergeholtes Wortspiel ist, basierend auf der andalusischen Verwechslung von /l/ und /r/ und dem ceceo. Deshalb ist zarza sowohl der Name des Viertels als auch die Soße des Gerichts, salsa.

20. März (Sonntag)

Nach dem Frühstück kaufen wir in dem Geschäft neben der Bar, das auch am Sonntag geöffnet ist, Obst und Wasser und Cremes gegen Wunden und Sonnenbrand.

Bei schönstem Sonnenschein machen wir uns auf den Weg zum Alkazar. Der ist so groß, dass auf seinem Areal ein ganzer Palast aus der Neuzeit (XVII) Platz gefunden hat. Uns interessiert aber der eigentliche Alkazar.

Vor dem Eingang zu dem Palast seht ein Modell der mittelalterlichen Stadt. Der Alkazar befand sich damals ganz am äußersten Rand der Stadt. Das Judenviertel befand sich ganz in der Nähe und hatte eine eigene Mauer. Die ganze Stadt war auch ummauert.

Der Alkazar wurde von den Almohaden gebaut und von Alfonso el Sabio erobert und verändert. Ein Schöpfrad, das wie ein Pater Noster funktioniert, mit einem Krug an jedem Speicher des Rads, stammt aus christlicher Zeit. Oben, bevor das Rad nach unten dreht, wird der jeweilige Krug ausgeleert.

Auch aus christlicher Zeit sind die Brennöfen. Das weiß man, weil man in muslimischer Zeit nie den Schmutz und Rauch eines Brennofens in der Nähe einer Moschee akzeptiert hätte.

Die Zisterne stammt auch aus christlicher Zeit und ersetzte die fortschrittlichere muslimische Wasserleitung. Das Wasser kam über einen Aquädukt hierher. Allerdings waren solche Wasserleitungen auch anfällig, sowohl technisch als auch durch Feindeseingriff. Die Christen wollten, genauso wie die Mauren, hier überleben können, wenn die Stadt angegriffen würde. Platz war für alle da.

Der anfälligste Teil der Festung war ganz oben, wo sich ein Tor für die eigene Flucht befand. Deshalb gibt es hier einen Puffer. Das Eingangstor führt nämlich nicht direkt in den Alkazar, sondern gegen eine Wand, in der sich ein weiteres Eingangstor befindet. Xia findet eine Parallele zu Knossos, wo es an der Hauptfassade überhaupt keinen Eingang gibt.

In der Mitte des Areals hat man einen Kräutergarten angelegt. Xia identifiziert Minze, Schnittlauch und Rosmarin.

Eine Empfangshalle, die jetzt zugemauert ist, muss man sich offen vorstellen. Hier wurden Würdenträger und wichtige Gäste empfangen. Die Halle war mit Teppichen und Kissen ausgestattet. Das muss wie die Quintessenz von Luxus gewirkt haben.

Die Bäder sind ganz nach römischem Vorbild angelegt, mit den drei verschiedenen Wärmegraden. Maurisch sind an ihnen vor allem die sternenförmigen Öffnungen in der Decke. Wie hier geheizt wurde, wird uns nicht ganz klar, vielleicht durch Heißluft unter dem Caldarium.

Wir haben uns eine ganze Zeit im Alkazar aufgehalten und suchen jetzt passenderweise nach einem arabischen Hammam, für den wir mehrmals Werbung gesehen haben. Die Suche stellt sich als schwierig heraus. Immer wieder geht es in der Mittagssonne durch schmale Gassen, die auf Plätze führen, wo es alles gibt, außer dem Hammam. Wieder geben alle sehr freundlich Auskunft. Am Ende finden wir den Hammam dann noch, aber der stellt sich als Enttäuschung heraus. Da ist nichts arabisches dran, er ist er wie ein moderner Schönheitssalon in pseudoarabischem Gewand. Als wir dann das Sträßchen hinuntergehen, stellen wir fest, dass der Hammam gleich hinter unserem Hotel liegt.

Die lange Suche hat auch ihr Gutes: In einer der stillen Ecken stoße ich auf eine weiße Wand mit zugemauerten Fenstern und Türen, auf deren abbröckelndem Putz alle möglichen Graffiti-Sprüche angebracht sind, nichts Besonderes, nur Kritzeleien, und obwohl die nichts Kunstvolles an sich haben, wirkt das Gesamtbild wie ein Kunstwerk.

Xia entscheidet sich für ein Bad im Hotel. Ich gehe derweil auf die Plaza de la Asunción, setze mich in die Sonne und bestelle einen Sherry. Und noch einen. Und noch einen. Und Käse und lagrimitas de pollo, gegrillte Hähnchenstücke. Endlich kann ich das Gebäude an der Stirnseite dieses schönen Platzes identifizieren, an dem wir immer wieder vorbeigekommen sind: Es ist das Cabildo, d.h. das alte Rathaus. Es hat einer schönen Loggia, flankiert von Statuen von Herkules und Cäsar. Sieht aus wie die Feldherrenhalle in München im Kleinformat. Der rechte Teil des Gebäudes ist eine Kirche, San Dionisio, deshalb sieht das Ensemble so komisch aus. Wenn man weiß, dass dies das alte Rathaus ist, sieht auch plötzlich die Verbindung zum neuen Rathaus. Dessen Fassade befindet sich auf der Calle Consistorio, gar nicht so weit von hier. Aber man verbindet die beiden einfach nicht miteinander. Tatsächlich ist es so, dass ein Innenhof, der allerdings beträchtlich groß sein muss, die beiden Rathäuser miteinander verbindet.

Als Xia kommt, beschließen wir, uns die erste Prozession des heutigen Tags anzusehen. Es gibt jeden Tag fünf, und sie sind alle genau getaktet, so dass sie nicht aufeinandertreffen. Das ist gar nicht so leicht, denn jede ist Stunden unterwegs und fast jede führen an der Kathedrale und an der Plaza de la Asunción vorbei.

Die Prozession geht in San José los. Überall warten schon Menschen in den Gassen vor der Kirche. Wir stellen uns dazu. Es ist noch taghell, und als die Prozession kommt, hat sie nicht mehr die intensive Wirkung wie die von gestern. Man sieht aber ein paar Details: Einige Büßer gehen barfuß, einige tragen zwei Kreuze auf einmal, einige tragen ein Kleinkind auf dem Arm mit sich. Der Altar stellt den Einzug in Jerusalem dar, eine ganze Szene mit mehreren Figuren. Jetzt verstehen wir auch, was es mit den Männern auf sich hat, deren Schultern mit einer Art Kissen gepolstert sind. Das sind die Altarträger. Und zwar die, die sich in der Pause befinden. Sie lösen sich regelmäßig ab. Die Büßer haben violette Hüte und verteilen Heiligenbildchen. Ein Mann neben uns schenkt uns eins.

Beim Weg zurück gibt es regelrecht Stau. In der gesamten Innenstadt ist neben den für die Prozessionen gesperrten Straßen und den Tribünen mit reservierten Sitzen für Zuschauer nur noch ein schmaler Streifen auf dem Bürgersteig frei. Und da geht es in beide Richtungen.

Wir flüchten uns in ein Café, wo man im oberen Stockwerk die Prozession aus einer anderen Perspektive verfolgen kann. Man ist auf der Höhe der Altarfiguren und sieht auf die Menge unten hinab.

Genauso viel Aufmerksamkeit haben wir aber für die Churros, die wir bestellen. Es gibt eine ordentliche Portion, und die Churros werden ihrem Ruf gerecht, wirklich sättigend zu sein. Das liegt an ihnen, aber auch an der dickflüssigen Schokolade, in die sie getunkt werden.

Ich löse Verblüffung aus bei einer Familie am Nebentisch, als ich frage, ob Churros aus Kartoffeln gemacht werden. Nein, natürlich nicht. Ich war selbst überrascht, als ich dieser Tage ein Schild gesehen habe, das solche Churros ankündigte. Die Familie hat davon noch nie was gehört. Churros werden aus Brandteig gemacht.

Am Abend setzen wir uns auf die Terrasse des Hotels und beobachten von hier aus die Prozessionen, die an der Kathedrale vorbeidefilieren. Es ist ein privilegierter Aussichtspunkt. Die barocke Fassade, der freistehende Glockenturm und die Kuppel kommen bei der nächtlichen Beleuchtung voll zur Geltung.

21. März (Montag)

Der Rucksack ist gerissen. Bei der Zigarette nach dem Frühstück spreche ich vor der Bar zwei Männer an. Gibt es hier so etwas wie eine Schusterei, wo man das reparieren lassen kann? Spontan kommt nichts, aber dann auf einmal: Rápido alemán. In der Calle Arcos. Beim Theater.

Wir machen uns auf den Weg dorthin und kommen in ein schönes, authentisches Viertel, wo wir noch gar nicht gewesen sind. Unterwegs bleibe ich stehen und mache ein Photo von Lo Spagnolo, einem Geschäft.

Rápido alemán ist eine traditionelle Schuhmacherei, mit einer Theke vorne und der Werkstatt hinter einem Vorhang. Und einem Schild mit Öffnungszeiten an der Tür: 8.30-1.30 und 5.30-8.30. Während einer der Männer hinter dem Vorhang verschwindet, macht sich der andere an einer Poliermaschine zu schaffen und unterhält sich mit uns. Bald kommt der andere zurück: alles in Ordnung, 3,50 €.

Wir machen uns zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Wir wollen zum Flughafen, um es doch noch mit einem Mietauto zu versuchen. Aber zum Flughafen kommt man nicht so ohne Weiteres. Laut Fahrplan fahren Stadtbusse dorthin, aber nirgendwo ist die Abfahrtstelle zu finden. Die privaten Buslinien fahren entweder gar nicht oder später. Dann versuchen wir es noch mit dem Zug. Der fährt nur einmal pro Tag. Da stimmt doch etwas nicht. Nach weiterem Fragen und Suchen versuchen nehmen wir schließlich ein Taxi.

Der redselige Fahrer erzählt von sich. Mit dem Stolz des Provinzlers sagt er, er sei in Jerez geboren und habe nie woanders gelebt. So, als wäre das ein Verdienst. Seine Tochter, die sei jetzt in Valencia. Krankenschwester. Keine Arbeit in Jerez. Alle Stellen abgeschafft.

Er sucht nach einem Adjektiv, um sich selbst zu beschreiben, kommt aber nicht drauf: „Yo soy …“ Ich mache einen Vorschlag: „…campechano?“ – Ja, das ist es.

Von der Cueva de la Pineta hat er noch nie was gehört. Aber Ronda kennt er natürlich, und Arcos auch. Da habe er neulich Freunde hingefahren, einen Professor aus Teneriffa und seine Frau. Die habe einen Preis bekommen für ihre Gedichte über Arcos, sei aber noch nie dagewesen. Als er sie dann in Arcos herumgeführt habe, habe sie vor Rührung geweint.

Am Flughafen übernimmt Xia Gott sei Dank die Verhandlungen bei den Autofirmen. Man muss an verschiedenen Schaltern nachfragen, aber der Preisvergleich ist gar nicht so einfach: Benzin schon mitgerechnet, welche Versicherungen, genaue Rückgabezeit, ein oder zwei Fahrer usw. Dann aber geht alles ganz schnell. Das Auto steht gleich auf dem Parkplatz vor der Abflughalle, und los geht es nach Arcos. Xia am Steuer.

Wir haben uns am Ende doch für ein Auto entschieden, da viele Ort schlecht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen sind und andere wie die Cueva de la Pineta gar nicht. Ich bereue es etwas, mich nicht auf den Vorschlag eingelassen zu haben, gleich von Deutschland aus ein Auto für die ganze Woche zu reservieren. Das wäre günstig und praktisch gewesen.

Arcos de la Frontera, Vejer de la Frontera, Jerez de la frontera, und keine Grenze weit und breit. Da, wo heute keine Grenze ist, war aber früher eine, die zwischen dem maurischen und dem christlichen Spanien.

Arcos ist eins der weißen Dörfer Andalusiens. Es ist auf den ersten Blick hässlich, auf den zweiten umwerfend schön, auf den dritten mittelschön. Es liegt hoch oben auf einem Felsen, der unten vom Guadalete umflossen wird. Von allen drei Seiten, wie es heißt. Das wird von oben aber nicht so deutlich. Die Aussicht ist schön, aber nicht überwältigend.

Es gibt eigentlich nur eine Hauptgasse, von der verschiedene Gässchen abzweigen. Xia gelingt es, ganz weit oben, unmittelbar vor dem Eintritt in die Hauptgasse, einen Parkplatz zu finden. Hier kann man eigentlich nur ein bisschen durch die Gassen schlendern. Das tun wir. Irgendwann kommt man auf einen größeren, rechteckigen Platz, der nicht so recht zu der Gesamtanlage der Stadt passt.

Auf verschiedenen Türmen sind auch hier Storchennester, wie wir sie auch in Jerez schon mehrfach gesehen haben.

Wir finden eine Bar, Alcaraván, mit einem niedrigen Eingang. Sie ist fast in die Stadtmauer eingelassen oder in einen Felsen gehauen. Hier gibt es leckeren Wein und wunderbare Tapas: Oliven, Auberginen, Käse, Schinken, salmorejo. Zu ihrem eigenen Erstaunen schmecken Xia sogar die Oliven. Zum ersten Mal. Die schmecken wirklich anders, nicht so streng. In den nächsten Tagen bekommen wir manchmal welche von dieser Art, manchmal von der anderen.

Xia bemerkt, dass sie auf dem Hinflug überall Wasser gesehen hätte, kurz vor dem Anflug auf Sevilla. Was das denn sein könne? Keine Ahnung. Ich versuche mein Glück mit Raten: Stauseen. Der Blick auf die Karte bestätigt das. Überall Stauseen. Das Erbe Francos.

Von Arcos geht es nach Vejer, ein Arcos im Kleinformat. Auch Vejer liegt auf einem Hochplateau. Auch hier ist alles weiß, außer der vollständig erhaltenen Stadtmauer und der Pfarrkirche, die sich, steinsichtig, deutlich von den weißen Häusern absetzen. Wir machen Halt bei einem Kaffee auf der schönen, palmenbestandenen Plaza de España mit einem schönen, gekachelten Brunnen in der Mitte. Von hier aus sind es nur noch zehn Kilometer bis zur Küste. Und da wollen wir hin.

Es geht zum Kap Trafalgar. Je näher wir kommen, umso schöner wird die Umgebung. An der Straße, die zum Kap führt, stehen ganz dicht gedrängt, etwas unterhalb der Straße, Bäume mit einem dichten Dach in der Form von Regenschirmen. Von der Straße sieht das wie ein Teppich aus.

Man lässt das Auto am Straßenrand stehen und geht durch den Sand Richtung Kap. Noch ist es hell, als wir am Kap ankommen, dämmert es, als wir wieder zurück sind, ist es dunkel. Und wie werden mit einem spektakulären Himmel belohnt, der sich von Minute von Minute verändert.

Wir klettern auf den Felsen mit dem Leuchtturm und haben einen weiten Blick den Sandstrand entlang in die Ferne, mit dem Wasser vor der untergehenden Sonne und dem sich verfärbenden Himmel. Es ist einfach großartig.

Es ist warm, aber auch windig. Das ist typisch für diese Gegend. Heute zieht das Surfer an, früher war es eine gefährliche Stelle für die Schiffe. Das könnte auch bei der Schlacht eine Rolle gespielt haben. Der Wind bewirkt auch, dass es hier überall Dünen gibt, ein ungewöhnlicher Anblick in Spanien.

Bei der Schlacht hatten die Briten weniger Schiffe als die vereinte französisch-spanische Flotte, aber ihre Anordnung war anders. Das wird auf einer Schautafel deutlich. Auch der Laie kann sehen, dass die Briten so viel flexibler waren als die der Reihe nach aufgestellten Franzosen. Als der französische Oberbefehlshaber dann einen Befehl zum Wenden gab, brach das Chaos aus. Die Niederlage nahm ihren Lauf. Die Zahl der Toten ist unglaublich: 6000, die meisten waren Spanier und Franzosen.

Immer noch beeindruckt von dem wunderbaren Naturschauspiel treten wir die Heimfahrt an. Es ist noch ein ganzes Stück bis nach Jerez. Dort angekommen, finden wir per Zufall einen viel kürzeren Weg vom Bahnhof, wo wir das Auto in einem Parkhaus abgestellt haben, in die Innenstadt.

In einer schäbigen Bar gibt es ein paar ganz passable Tapas. Dann noch ein Bier in einem Café. Als wir gerade sitzen, kommt eine Prozession vorbei. Die Büßer tragen rot, und der Altar stellt die gesamte Abendmahlsszene dar.

Dann kommt irgendwie die Rede auf die Kamera, Xias Kamera: „Hast du sie?“ – „Nein, hast du sie?“ „Nein. Erst langsam wird es zur Gewissheit: Die Kamera ist weg. Unterwegs haben wir Photos gemacht, aber mit dem Handy. Ein gehöriger Schrecken, aber wir bleiben kühl und rekonstruieren den Verlauf des Tages. Gar nicht so einfach. Wir sind an so vielen Orten gewesen. Eins wird klar: Das Photo heute Morgen auf dem Weg zum Schuster muss ich mit der Kamera gemacht haben. Es ist auf den Handys nicht drauf. Auf der Theke beim Schuster liegen lassen? Das ist eine Möglichkeit. Aber so richtig überzeugend klingt es nicht. Am Flughafen? Im Taxi? In einer Bar? Im Auto? Es gibt unzählige Möglichkeiten. Keine guten Aussichten.

22. März (Dienstag)

Der erste Gedanken gilt der Kamera. Was kann man machen? Ohne große Hoffnung wenden wir uns an das freundliche Mädchen an der Rezeption und bitten sie, bei dem Taxiunternehmen anzurufen. Wann genau wir denn das Taxi genommen hätten? Wohin wir gefahren wären? Wer denn der Taxifahrer gewesen wäre? Sie kommt sofort durch und gibt einen genauen Lagebericht, aber das Gespräch ist nach einer Minute beendet. Hoffnung begraben? Noch nicht. Sie solle in einer Viertelstunde noch mal anrufen. Gespannt warten wir. Dann kommt das zweite Gespräch. Wieder gibt sie ihren Lagebericht. Dann gibt es eine Pause. Sie nickt, lächelt und legt auf. Jaaaa! Die Kamera ist in dem Taxi liegen geblieben. Der Taxifahrer habe sie gefunden, habe uns aber natürlich nicht lokalisieren können. Momentan sei der Taxifahrer  unterwegs, werde aber, sobald er seinen Fahrgast abgeliefert habe, hierher kommen. Große Erleichterung. Über den zufälligen Fund. Über die Ehrlichkeit des Taxifahrers. Der hätte sich die Kamera einfach unter den Nagel reißen können.

Xia schickt mich in eine Bar und wartet derweil auf den Taxifahrer. Ich gehe in die kleine Bar direkt gegenüber dem Hotel, nicht in unsere. Dort hängt hinter der Theke ein Schal, Fußball. Fanverbrüderung Sevilla – Schalke. Der Jerez hat Etikette, auf denen Policía Nacional steht. Dies scheint die Bar der Polizei zu sein. Deren Sitz ist gegenüber, gleich neben dem Hotel. Irgendwo hängt eine Privatanzeige für einen Autoverkauf: „¿Quieres dar de baja su coche?” Eine wunderbare Vermischung von du und Sie in einem einzigen Satz, der andalusischen Elision des finalen /s/ geschuldet. So was wie „Willst du Ihr Auto verkaufen?“

Als ich nach dem schnellen Kaffee wieder ins Hotel komme, steht Xia in der Eingangshalle mit der Kamera in der Hand. Noch mal Erleichterung. Und Verblüffung darüber, wie schnell das ging. Der Taxifahrer sei sehr freundlich gewesen. Und sie habe ihm ein ordentliches Trinkgeld gegeben.

Beruhigt können wir uns auf den Weg zu der Cueva de la Pileta machen. Unterwegs sehen wir einen Schrotthändler, der hoch oben über dem gusseisernen Eingang zum Schrotthof ein schrottgefahrenes Auto angebracht hat. Wie die Handwerkszeichen der mittelalterlichen Zünfte.

Als wir an der Cueva de la Pileta ankommen, wissen wir, warum man hier ein Auto braucht. Nach einer langwierigen Fahrt durch eine verlassene Gegend ist das letzte Stück eine Schotterpiste.

Man kann weder einen Platz für eine Führung reservieren, noch sicher sein, wann eine stattfindet. Es wird einfach gewartet, bis sich genug Besucher einfinden. Wir haben aber Glück. In einer halben Stunde beginnt die Führung. Wir sind eine große Gruppe, mit vielen Dänen, aber auch vielen Spaniern.

Die Temperatur in der Höhle ist konstant 15°. Die Höhle ist ein Habitat für Fledermäuse. 30.000 davon sollen hier leben. Eine davon bekommen wir zu sehen. Die klebt an der Wand. Im Winter bleiben sie in der Höhle, im Sommer verlassen sie sie, aber nur nachts und nur dann, wenn es nicht regnet. Es gibt mehrere „Kamine“, durch die sie der Höhle nach oben entkommen können.

Die Fledermäuse waren auch der Anlass für die Entdeckung der Höhle. Hier waren Bauern auf der Suche nach dem Dung der Fledermäuse, und, wie das so oft passiert, kam die Höhle mit den Felszeichnungen zufällig zum Vorschein.

Der vordere Teil der Höhle war bewohnt, in der Jungsteinzeit, vor etwa 15.000 Jahren. Hier hat man Essensreste, Scherben von Kochgeschirr und menschliche und tierische Knochen gefunden. Auch sind einige der Wände mit Ruß bedeckt, Resultat der kochenden Steinzeitmenschen.

Alle Felszeichnungen befinden sich in dem hinteren Teil der Höhle, und die war nie bewohnt. Daraus leitet man ab, dass die Felszeichnung eher den Charakter von Beschwörungsformeln und keinen rituellen oder praktischen Zweck hatten.

Wir müssen ein ganzes Stück in die Höhle hinein gehen, an den typischen Formationen von Stalaktiten und Stalagmiten vorbei, bis die ersten Felszeichnungen auftauchen. Nur ein ganz kleiner Teil von ihnen steht den Besuchern offen. Es gibt u.a. ein Pferd, einen Hirsch und einen Stierkopf zu sehen, aber auch Jagdinstrumente. Vieles ist nur in Andeutung zu sehen und nur dann zu erkennen, wenn der Führer sagt, was es ist. Die Zeichnungen wurden mit oxydierten Metallen und mit Tierfett gemacht. Zum Schluss gibt es noch eine Kritzelei. Die stellt einen Fisch dar. Daneben befinden sich alle möglichen Striche, hinter denen sich ein Kalender oder eine Berechnung verstecken kann.

Als wir wieder draußen sind, überwiegt doch irgendwie die Skepsis. Das ist alles ganz bemerkenswert, und das Alter der Zeichnungen ist ganz außergewöhnlich, auch im Vergleich zu den anderen prähistorischen Höhlen, aber die Qualität der Zeichnungen ist eher mäßig. Mit Altamira jedenfalls kein Vergleich. Und bei der letzten Kritzelei kommt doch der leise Verdacht auf, dass hier ein Kind oder ein Scherzbold zugange gewesen sein kann. Ist man vor so etwas gefeit?

Wir fahren in das nächste Dorf auf der Suche nach einem Lokal. Gleich an der zentralen Kreuzung gibt es eins, aber ein Mann aus dem Dorf empfiehlt uns ein anderes, am Ende des Dorfes gelegenes.

Hier sind wir die einzigen Gäste. Im Sommer ist es hier, nach der Auskunft des jungen Wirts, rappelvoll. Die Kneipe ist wenig geschmackvoll eingerichtet, hat aber am hinteren Ende eine Glaswand mit einer schönen Aussicht auf die Berge.

Unsere Frage nach Sherry versteht er gar nicht. Wir befinden uns offensichtliche außerhalb des Sherry-Dreiecks. Wir bestellen erst mal Wasser. Dann hat er eine Idee und bringt uns einen Wein, der anders heißt, aber dem Sherry zum Verwechseln ähnlich schmeckt. Dazu gibt es einfache, aber schmackhafte Happen.

Weiter geht es nach Ronda. Ronda! Ein Traum aus der Studentenzeit! Immer wollte ich nach Ronda, nachdem mir irgendwer davon vorgeschwärt und ich in Reiseführern begeisterte Berichte gelesen hatte. Nie hatte es geklappt. Diesmal steht Ronda ganz hoch auf der Liste.

Und wie das in solchen Fällen so ist: Enttäuschung macht sich breit. So gut wie in meiner Vorstellung kann Ronda gar nicht sein. Wie zur Bestätigung bekommen wir an einem mobilen Eiswagen am Eingang zur Altstadt ein Eis, das vielleicht das schlechteste ist, das ich jemals gegessen habe. Die Kugel zu 2 €.

Ronda hat eine der bekanntesten Stierkampfarenen Spaniens. Ronda war die Heimat von zwei Dynastien des spanischen Stierkampfs, der Romero und der Ordóñez. Die Arena steht an einem Platz in der hoch gelegenen Neustadt, von dem aus eine Straße gleich zu einer Brücke und über die in die Altstadt führt. Der Blick von dieser Brücke in die Ferne und hinunter auf den Tajo und die wie überdimensionale Zahnstocher aussehenden Felsen gehört zu den Klassikern von Ronda.

Es geht dann hinunter in die Altstadt mit ihren unregelmäßigen Wegen. Hier gibt es arabische Bäder, einen Adelspalast, einen Park. Vor allem hat man von hier aber einen Blick nach oben auf den Puente Nuevo, eine der drei Brücken, die die beiden Stadtteile miteinander verbindet. Die ist flankiert von den Felsen, auf die wir vorher hinabgesehen haben. Der Architekt der Brücke ist auch der Architekt der Plaza de Toros sowie eines Aquädukts in Malaga. Der Bau der Brücke verzögerte sich immer wieder, vor allem durch finanzielle Engpässe. Nach mehr als vierzig Jahren war sie fertig. Und da soll sich der Architekt von der Brücke in den Tod gestürzt haben, der Legende zufolge deshalb, weil er nie mehr ein solches Bauwerk erstellen konnte.

Wir machen uns auf den Rückweg, denn wir haben noch ein ordentliches Stück vor uns. Andalusien ist groß, größer als man meint. Mit einem Standort entscheidet man sich gleichzeitig gegen andere Orte. Mit Jerez entscheidet man sich für Sevilla und Cádiz, aber gegen Córdoba und Granada, auch gegen Baeza. Was noch gerade machbar wäre ist Malaga. Wir liebäugeln einen Moment mit Malaga für den nächsten Tag, auf den Spuren von Picasso, verwerfen dann aber die Idee zugunsten des Parque de la Doñana. Das ist näher und ist mal was ganz anderes.

Am Abend suchen wir lange nach einem Parkplatz am Straßenrand, nachdem im Parkhaus am Vortag ordentlich abkassiert wurde. Das ist nicht so einfach, denn während der Semana Santa kommen viele auswärtige Besucher nach Jerez. Am Ende haben wir Erfolg. Auf dem Weg in die Innenstadt kommen wir an der Bodega „Conde de los Andes“ vorbei. Die nimmt ein riesiges Areal ein und braucht sich hinter Tío Pepe, Pedro Domecq und Sandeman nicht zu verstecken. Unser Führer in dem alten Palast, der heutige Conde, ist vielleicht doch kein armer Schlucker.

Diesmal setzen wir uns draußen an einen Tisch einer Bar, von der man direkt auf die Kathedrale sehen und die Prozessionen verfolgen kann. Es ist eine ununterbrochene Folge verschiedener Prozessionen. Wenn eine noch das Feld vor der Kathedrale räumt, ist die andere schon im Anmarsch.

Dies sind die teuersten Tapas der gesamten Woche. Kein Wunder, hier bezahlt man die Lage mit. Die Tische nehmen einen ganzen breiten Bürgersteig vor der Bar ein, und es herrscht reger Betrieb. Dabei ist die Bar selbst winzig. Es gibt nur einen Gang vor einem Tresen, keinen einzigen Sitzplatz, und nur ein einziges WC, in dem man sich kaum einmal um die eigene Achse drehen kann. Hier muss wohl der Betrieb das ganze Jahr über draußen stattfinden. Oder man macht im Winter eine längere Pause und genießt seinen Reichtum.

23. März (Mittwoch)

Dieser Tag verläuft ganz anders als geplant. Wir kommen in Sanlúcar, sehen aber kein Schild zum Parque de la Doñana. Dabei sind wir ganz nah dran. Wir halten und fragen eine Gruppe von Frauen. Die sind völlig verdutzt? Zum Park wollen sie von hier? Da sind sie völlig falsch. Sanlúcar liegt zwar in unmittelbarer Nähe zum Parque de la Doñana, hat aber keinen Zugang zu ihm.

Also begnügen wir uns einfach mit Sanlúcar, und das erweist sich als kleine andalusische Perle, mit kleinen Plätzen mit weißen Kirchen und Brunnen, perfekte Photomotive und schöne Anblicke. Dazu heller Sonnenschein. Wenn ich heute die Wahl hätte zwischen Sanlúcar und Ronda, ich würde Sanlúcar nehmen.

Wir gehen durch eine typisch spanische Markthalle, mit lebhaften Verkaufsgesprächen und Waren, die eine Augenweide sind. Vor allem die Fische und Meerestiere. Alles ist frisch, es riecht gut und es ist hell.

Wir gehen runter zum Wasser, über eine Allee, an deren Seite Adelshäuser stehen. Sanlúcar muss eine reiche Stadt gewesen sein. Oben an der Allee befindet sich das Castillo, erbaut zum Schutz der Schifffahrt auf dem Guadalquivir. Es wurde erbaut von einem Mitglied der berühmten Dynastie Medina Sidonia, auf die man hier alle Nase lang stößt.

Die Allee führt direkt zum Wasser runter. Hier mündet der mächtige Guadalquivir ins Meer. Links hat man den Fluss, rechts das Meer. Hier brach Kolumbus zu seiner vierten Amerika-Expedition auf. Wir gehen ein Stück die Uferpromenade entlang und dann durch ein stilles Wohnviertel wieder zurück.

Unterwegs fällt ein gekacheltes Straßenschild auf: Called los Saters. Das fehlende e ist in das d hinter calle eingeschrieben. Eine Platzsparmaßnahme. Wie in mittelalterlichen Manuskripten und in modernen Handys.

Dann geht es ins Barrio Alto. Da ist der Bär los. Auf den beiden benachbarten Plätzen sind die Cafés und Bars proppevoll, und überall hört man lautes Stimmengewirr.

Beide Plätze werden von historischen Gebäuden umgeben, Adelshäusern, Kirchen, dem Rathaus, dem Theater. Alles das ist vom Feinsten. Und es herrscht Urlaubsstimmung.

An einer Häuserwand ist eine Kachel mit einem Zitat aus dem Quijote angebracht, auf das ich bald bei der Lektüre wieder stoßen werde. Das Zitat bezieht sich auf einen Wirt aus Sanlúcar im Quijote, einem Andalusier, der sich wundert, dass Don Quijote ihn für einen Kastilier hält. Das tut der aber gar nicht. Er hält ihn, den Wirt, für den Burgherrn, castellano. Was die Inschrift nicht verrät ist, wie es im Quijote weiter geht, nämlich mit einem ziemlich abwertenden Urteil über Andalusier.

Ganz in der Nähe gerät man durch einen schmalen Häusereingang auf Umwegen in eine Kirche, deren Portal geschlossen ist. Xia zögert nicht, diese Möglichkeit zu nutzen. Drinnen wird ein Altar für die Prozession geschmückt. Bald ein Dutzend junger Leute ist damit zugange. Draußen im Flur stehen Eimer mit weißen Rosen, zwanzig in jedem. Ich überschlage und komme auf fünfzig Eimer, das sind eintausend Rosen, nicht gerechnet die, die schon verarbeitet sind, denn der Altar sieht schon fast fertig geschmückt aus. Ich fühle mich hier als Eindringling und ziehe mich zurück. Xia kommt später und berichtet ganz begeistert von ihren Erkundigungen. Die Leute seien sehr freundlich gewesen und freuten sich, dass sich jemand für ihre Arbeit interessiere. Man hat ihr sogar erlaubt, unter den Altar zu kriechen. Vor allem hat sie aber drinnen gesehen, dass die Figuren kopflos sind. Auf den Altären befinden sich offensichtlich nur Gestelle, die mit Kleidern umhüllt werden, und auf das Gestell wird dann für die Dauer der Prozession der Kopf der eigentlichen Statue aufgeschraubt. Die dann ihrerseits eine Zeitlang kopflos ist!

Wir lassen uns in der Mitte des Platzes nieder und genießen den Wein und die Tapas und die Atmosphäre. Sanlúcar hat es uns angetan.

Am Nachmittag machen wir dann doch noch einen Versuch, ein bisschen Parque de la Doñana mitzubekommen. Man kann aus Sanlúcar hinausfahren und dann in einen Feldweg hinein und kommt an der äußeren Rand des Naturschutzgebiets. So hat es uns das Mädchen in der Touristeninformation erklärt. Die Suche stellt sich als langwierig und letztlich erfolglos heraus. Wir fahren auf schmalen Wegen durch ein Sumpfgebiet durch, in dem durch natürliche Verdunstung Salz gewonnen wird. Zwischen den Pfützen hopfen lustige Vögel herum. Sie sehen aus wie Störche im Miniaturformat.

Irgendwie kommen wir aber nicht weiter. Wir versuchen es dann noch zu Fuß auf einem Waldweg. Der führt uns zu einer Aussichtstation auf einen See. Aber zu sehen ist hier außer Wasser nichts.

Am Ende geben wir auf. Werden aber noch durch ein optisches Highlight entlohnt: die helle, schon tief stehende, sich im Wasser spiegelnde Sonne hinter den Bergen aus Salz. Und noch ein schönes Photo nehmen wir mit: die gemusterte rot-graue Rinde eines Baums. Wenn man ganz nahe heran zoomt, weiß man nicht, was es ist.

Am Abend in Jerez ist es gar nicht so leicht, irgendwo Platz zu finden. In einer Bar, die wir gestern gesehen haben, als wir nach dem Abstellen des Autos durch die Straßen irrten – so sehr, dass mir einmal der ernsthafte Verdacht kam, wir wären gar nicht in Jerez, sondern in einer anderen Stadt gelandet – hat keinen freien Platz, in einer anderen klappt es mit der Bestellung nicht so richtig. Wir finden dann eine Bar der anderen Art. Man sitzt in einem überdachten, zweistöckigen Innenhof mit einer Galerie oben und runden Arkaden unten, alles in Rot und Weiß gehalten. Xia meint, es rieche hier etwas verdächtig. Vielleicht gibt es hier nicht nur Bier und Sherry. Wir lassen es jedenfalls mit einem Bier bewenden.

24. März (Gründonnerstag)

Es ist Feiertag in Spanien, und das merkt man. Die Straßen sind leer, die Geschäfte geschlossen, die Museen ebenfalls. Die Kathedrale hat geöffnet, aber hier wird abgezockt, und nach der Erfahrung von Cádiz lassen wir das lieber sein. Dadurch bleibt die Frage offen, ob wir überhaupt in der Kathedrale drin gewesen sind. Ich meine ja, bei einem Gottesdienst, bei einer Predigt zum Josefstag. Aber ist es nicht bezeichnend, dass man am Ende einer Woche nicht mehr weiß, was man gesehen hat?

In der Kathedrale kann man Ansichtskarten kaufen, aber keine Briefmarken. Später finden wir einen geöffneten estanco, aber die Verkäuferin weiß nicht, wie viel Porto auf eine Karte ins Ausland muss!

Wir bringen unser Gepäck zum Auto und sehen auf dem Weg wieder Störche. Und hören sie! Man sieht auch Nester auf Bäumen, auf einem Ast, und wundert sich, wie das hält.

Wir laufen ein bisschen durch die leeren Straßen und kommen am Ende zum Centro de Flamenco. Auch das hat geschlossen. Leider. Sonst gibt es dort Ausstellungen und Aufführungen, auch um die Mittagszeit. Es gibt auch eine Ruta del Flamenco, meist mit Statuen bekannter Interpreten markiert, aber deren Namen sagen uns natürlich nichts.

Dann fragen wir uns zum Archäologischen Museum durch. Kompliziert. Immer wieder geht es um Ecken herum, durch ein Viertel, das wir noch nicht kennen. Aber dann kommen wir auf einen schönen Platz, und da ist das Museum, und siehe da: Es hat geöffnet!

Der Empfang ist ausgesprochen freundlich. Alles wird erklärt, und man bekommt einen Audioguide, der die wichtigsten Exponate beschreibt. Und es lohnt sich!

Auf einer Karte sieht man die geologischen Veränderungen der Region: Cádiz war früher eine Insel! Und Jerez, oder das, was später Jerez werden sollte, lag in den Sümpfen. Viele Flüsse mündeten in das weit ins Land hineinreichende Meer, Flüsse, die jetzt Nebenflüsse des Guadalquivir sind.

Die ältesten Funde sind Faustkeile aus der Altsteinzeit, und was für welche! Die Form ist grob dreieckig, und man erfährt, dass sie zwei Zwecken dienten: Wurzel ausgraben und Tiere erledigen. Die wurden vorher in eine Falle gelockt.

Dann kommt die erste Keramik. Gleich zu Anfang eine schöne, tiefe Schüssel mit Bandverzierung am oberen Rand (3500 v. Chr.). Dass man jetzt Speisen zubereiten konnte, veränderte das Leben dramatisch. Babys konnten mit einem Brei aus Milch und Mehl versorgt werden, und die Mütter waren wieder eher empfängnisbereit! Das ließ die Bevölkerungszahlen nach oben schnellen.

Dann kommen zwei richtige Hingucker, zwei ähnliche, zylindrische Steinblöcke mit eingeritzten Gesichtern. Wenn man genauer hinsieht, haben sie hinten auch noch lange, gewellte Haare und im Gesicht „Tätowierungen“. Ihre Bedeutung liegt darin, dass sie die ersten Belege für Spiritualität der Steinzeitgesellschaften sind. Man glaubt, bei ihnen handele es sich um Abbildungen der Diosa Madre, der „Gottesmutter“.

Dann kommen ganz dünne Pfeilspitzen, immer noch aus dem dritten Jahrtausend, so fein gearbeitet, dass man kaum glauben kann, dass sie aus Stein sind. Auch würde man sie nicht ohne weiteres als Pfeilspitzen erkennen. Sie waren allerdings Grabbeigaben, und man glaubt, dass sie eine rein rituelle Funktion hatten.

Dann kommt die römische Abteilung, und hier ändert sich natürlich alles. Schlagartig. Interessant hier die Bestattungsformen, die dargestellt werden, Körperbestattung und Einäscherung. Beide Formen existierten Seite an Seite. Bei der Körperbestattung wurde hier über den Toten ein „Dach“ aus Steinplatten gebaut, ein Satteldach, mit sich gegenseitig stützenden Platten.

Bei einer späteren, christlichen Bestattung ist ein altes Taufbecken als Sarkophag umgenutzt worden. Auf den Außenseite Abbildungen, darunter der Pfau, dessen Fleisch als nicht verderblich galt und der deshalb als Symbol der Ewigkeit angesehen wurde!

Obwohl die Gegend längst besiedelt war, ist die Stadt Jerez wohl erst arabischen Ursprungs. Das erklärt wohl auch den „komischen“ Namen. Er ist abgeleitet aus Šariš. Die Bedeutung wird nicht erklärt. Unter den Almohaden war Jerez die wichtigste Stadt der Provinz Cádiz.

Aus der arabischen Zeit gibt es vor allem schöne Keramik, unter anderem ein bunter Teller mit einem Hirsch, der im Maul einen langen, beblätterten Ast hält.

Als die christliche Eroberung fortschritt, kam Jerez (1264) zu Kastilien. Einen Aufschwung gab es nach der Schlacht von Gibraltar (1340). Jetzt wurde Handel mit Valencia getrieben, aber auch mit Granada, dem letzten arabischen Königreich der Halbinsel, und mit England. Davon zeugt eine Auferstehung aus Alabaster, die aus England kommt, mit sehr schönen Wächtern, die alle in verschiedenen, offensichtlich mittelalterlichen Rüstungen dargestellt sind.

Wir haben richtig Glück gehabt, denn es ist inzwischen Mittagszeit, und das Museum schließt! Auf dem sonnenbeschienenen Platz ist inzwischen allerhand Betrieb in den Cafés, lauter Einheimische.

Wir gehen in die Stadt zurück und kommen dabei an einem Haus mit einer schönen Fassade vorbei, mit gusseisernen Laternen, deren Schatten sich auf der weißen Fassade spiegeln. Über dem Eingang zwei arabische Krummschwerter. Was mag das nur für ein Haus sein?

Dann kommt eine ganz trostlose Ecke mit verfallenen Häusern. Am schlimmsten ein palastartiger Bau mit hohen Blendarkaden. Der scheint dem Verfall gewidmet. Immerhin steht vorne ein Bauzaun.

Wir kommen dann zu einem sehr gepflegten, weißen Gebäude mit einem schönen Innenhof. Zufällig. Und erinnern uns, dass er im Reiseführer als Lieblingsort der Autorin aufgeführt ist. Es ist das ehemalige Wohnhaus einer andalusischen Gräfin, die wohl sehr aktiv und auch politisch engagiert war. Und dann kommt bei Xia der Gedankenblitz: Dies ist die Vorderseite des verfallenen Palastes! Verrückt! Der Kontrast könnte größer nicht sein.

Wir kommen an einem Gebäude vorbei, an dem sich was tut. Auf der seitlich gelegenen Freitreppe stehen Leute mit Weingläsern, man hört Stimmen aus dem Inneren. An der Fassade steht Peña Flamenca Buena Gente. Das ist das Stichwort für Xia. Unerschrocken erkundet sie Feindesland. Schon nach ein paar Minuten werde ich dazu gerufen. Sie hat inzwischen Freundschaft geschlossen mit einem Mann, der uns auf Französisch durch den Raum führt. Voller Begeisterung spricht er von den Interpreten, deren Bilder an den Wänden hängen.

Xia hat inzwischen erfahren, dass dies eine besondere Gelegenheit ist. Die Peña hat einen Wettbewerb durchgeführt, der weit über Jerez hinaus bekannt ist. Später spricht sie sogar mit einer Frau aus dem Baskenland, die eigens für den Wettbewerb angereist ist. Heute findet die Preisverleihung statt.

Inzwischen hat der freundliche, enthusiastische Mann uns ein Glas Sherry in die Hand gedrückt. Bald kommt Bewegung in die Sache. Die Gesellschaft – die meisten gut gekleidet – begibt sich in den oberen Saal. Wir dürfen mit. Der Präsident der Peña sagt, worum es geht, und dann werden in verschiedenen Kategorien Preise verliehen. Und dann geben die drei Hauptgewinner eine Demonstration ihres Könnens, ein junger, etwas dandyhaft aussehender Mann, dem man den Flamencosänger gar nicht ansieht, eine junge Frau und ein stämmiger, etwas älterer Mann, der Gesamtsieger. Der sagt vorsichtshalber, er habe am Vortag wohl etwas zu ausgiebig gefeiert und bittet um Verständnis für seine lädierte Stimme.

Ob das gut gesungen wird, ist schwer zu sagen, aber was bei allen dreien herüberkommt ist Leidenschaft, und zwar eine Leidenschaft, bei der die Verbindung mit Leiden deutlich wird. Die Darbietungen werden von „Kommentaren“ aus dem Publikum begleitet, lauten, schmerzhaften Ausrufen, die Empathie ausdrücken.

Als es die Treppe hinuntergeht, werden wir von hinten von einem Mann in fließendem Deutsch angesprochen, einem spanischen Germanisten, der unter anderem in Köln studiert hat. Er gibt uns weitere Informationen und sagt uns auch seine Meinung zum Ausgang des Wettbewerbs, den er offensichtlich von Nahem verfolgt hat. Seines Erachtens hätte eine Frau den Wettbewerb gewinnen müssen.

Auf unerwartete Art und Weise sind wir also doch noch zu einer Dosis Flamenco gekommen.

Inzwischen sind die Straßen belebt. Wir finden einen Platz in einem Straßencafé im Zentrum. Wie zum Abschluss der andalusischen Erfahrungen stellen sich dann am Nebentisch noch zwei Frauen mit Peineta ein. Xia taxiert genau den Unterschied zwischen den beiden und ebenfalls ihr Alter.

Auch von hier aus sieht man einen Kirchturm mit Storch.   Der steht so reglos da, dass er unsere Blicke aus sich zieht. Man kann in aller Ruhe ein Photo machen. Erst als wir das Photo nahe heranholen, merken wir, dass es eine Skulptur ist. Andalusien hat uns zum Abschluss noch einen schönen Streich gespielt.

 

 

 

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