Traumtod

Im Januar 1912 gingen der junge Dichter Georg Heym auf den Wannsee, zum Schlittschuhlaufen, in Begleitung seines Freundes Ernst Balcke. Beide kamen nicht mehr lebend zurück. Es gibt keine Zeugen für das, was geschah, aber man hat die Ereignisse rekonstruiert: Ernst Balcke geriet in eine Öffnung, die man für Wasservögel ins Eis gehackt hatte und schlug mit dem Kopf auf die Kante. Bei dem Versuch, den Freund zu retten, brach Heym ein. Er muss lange um sein Leben gekämpft haben, mit den schweren Schlittschuhen an den Füßen. Waldarbeiter berichteten von schrecklichen Schreien, die sie noch eine halbe Stunde lang gehört haben, ohne aber in der Lage zu sein, zu helfen, ohne Boote, Stangen, Leitern. Dann war Heym im Eis des Wannsees verschwunden. Die Einbruchstelle war wieder zugefroren, als man nach ihm suchte. Gefunden wurde er erst vier Tage später. Die Leiche, nicht vereist, lag auf dem Boden des Sees, die Hände zerkratzt von den verzweifelten Rettungsversuchen. In Heyms Gedichten tauchen immer wieder Tote unter Wasser auf. Er selbst hatte düstere Visionen vom eigenen frühen Tod, den er fürchtete. Und im Tagebuch, anderthalb Jahre vor seinem Tod, notierte er einen Traum, in dem er auf einem großen See stand, der voller Steinplatten war. Plötzlich fühlt er die Platten unter sich schwinden und versinkt ei dem grünen, schlammigen, schlingpflanzenreichen Wasser. In Traum kann er sich retten, im Leben nicht. Er wird auf dem Selbstmörderfriedhof Schildhorn begraben. Dort bestattete man die Toten, die im Wald und im See aufgefunen worden waren. Man legte ihn neben einen Handwerksgehilfen, der sich vor einen Zug geworfen hatte und den gefrorenen und aufgedunsenen Leichnam eines Malergehilfen, der in der Havel ertrunken war. Sein Kopf fehlte. Heym aber schien nur zu schlafen.  (Wieland, Rayk: “Unter uns Bäumen”, in: Süddeutsche Zeitung 11/2012: V2/7)

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