Ich habe zu fragen, nicht Er

Marinelli ist in Emilia Galotti der Kammerherr des Prinzen. In einem Dialog im ersten Akt geht es um Emilia Galotti: „Sie irren sich in dem Namen“, sagt der Prinz. Und auch später sagt er Sie. Dann stellt Marinelli eine Frage, und der Prinz antwortet: „Ich habe zu fragen, nicht Er.“ (15) Mit einem Mal ist das alte, asymmetrische Verhältnis wieder hergestellt. Aus dem Vertrauten wird wieder der Untertan. Seit dem Aufkommen von Sie gegen Ende des 19. Jahrhunderts war Er gebräuchlich gegenüber Angehörigen weniger vornehmen Standes (92). Odoardo, Emilias Vater, spricht Claudia, seine Ehefrau, mit du an, sie sagt durchgängig Sie zu ihm (21-22). Sie selbst sagt Sie zu Marinelli, bis sie merkt, dass der am Tode ihres Mannes beteiligt oder sogar dafür verantwortlich ist. Dann wechselt sie in einer leidenschaftlichen Rede zum du: “Abschaum aller Mörder! Was ehrliche Mörder sind, werden dich unter sich nicht dulden! Dich! Denn warum soll ich dir nicht alle meine Galle, allen meinen Geifer mit einem einzigen Worte ins Gesicht speien: Dich! Dich Kuppler!” (53) Es sind soziale und situative Kriterien, die die Variation bedingen. (Lessing, Gotthold Ephraim: Emilia Galotti, hrsg. von Jan-Dirk Müller. Stuttgart: Reclam, 2001)

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