Die Strecke gilt als „leicht“. Aber was ist das schon, ein „leichter“ Marathon? Und dann gibt es eben doch diese zwei nickligen Steigungen, und die kommen natürlich, wie immer, zur Unzeit.
Wenn die Strecke leicht ist, dann ist sie aber auch noch was anderes: langweilig. Und hässlich noch dazu. Fast die ganze Strecke geht es die Nationalstraße entlang. Und dabei passiert man nur einen einzigen Ort. Alles andere ist unbewohntes Industriegelände, grau, schmutzig, leblos. Am Ende ist das vielleicht egal. Wenn die Füße nicht mehr tragen, nutzt auch der schönste Ausblick nichts, kein See, kein Berg, kein Meer.
Mit Bussen werden wir von Thessaloniki nach Pella gekarrt. Immerhin 1800. Da kommen einige Busse zusammen. Auf dem Weg dahin hat es ein Läufer so eilig, dass er fast mit einem Radfahrer zusammenstößt. Der kommt ohne Licht und mit hoher Geschwindigkeit die Hauptstraße hinunter.
Im Bus sitzt ein gesprächiger Mann neben mir, Jannis. Er arbeitet in einem Krankenhaus, in der Nähe des Flughafens. Arzt? Nein, Koch! Er hat Spaß an seiner Arbeit, sagt er. Ob meine Studenten wüssten, dass ich Marathon laufe. Nein, die wissen das nicht.
Es ist sein erster Marathon. Aber er ist hervorragend vorbereitet. Bis zu sechs Mal pro Woche sei er gelaufen. Dabei hat er auch mehrere Strecken von 30 km geschafft. Und zweimal einen Halbmarathon gelaufen, in Kavala und in Philippi. Mit ordentlichen Steigungen. Da sei das hier heute ein Kinderspiel dagegen.
Ob ich auf dem Sportplatz trainiere, will er wissen. Nein, auf der Piste. Im Wald oder am Fluss. Er läuft meistens auf dem Sportplatz. Runden. Das sind keine βόλτες, wie ich meine, sondern γύροι – wie beim Gyros, beim Girokonto oder beim Giro d’Italia. Und noch was lerne ich dazu: προπόνηση. Das Wort habe ich schon gestern nicht verstanden. Dabei ist die Bedeutung naheliegend: Training.
Er ist ein ganzes Stück jünger als ich. Überhaupt ist das hier eher eine Veranstaltung für Jüngere. Und für Männer. Die Frauen sind deutlich in der Minderzahl. Mein Alter sehe man mir nicht an, meint er. Was kann einem da schon ein Marathon anhaben, wenn der Tag so beginnt, noch vor dem Morgengrauen.
Es ist nämlich immer noch dunkel, als wir in Pella ankommen. Als aber der Startschuss fällt, ist es hell. Aber bewölkt. Eine lückenlose Wolkendecke. Wenigstens braucht man heute keine Sonnencreme.
Diesmal achte ich von Beginn an auf die Schmerzen. Schon bei den ersten Schritten tut das Knie weh, aber nach einem Kilometer verabschiedet es sich und meldet sich erst am Ende des Laufs wieder. Dann, nach etwa 13 km, fangen die Füße an, weh zu tun, vor allem die Zehen. Bei der Hälfte kommen die Oberschenkel dazu, und dann der Rücken, vor allem der untere Teil der Wirbelsäule. Und dann meldet sich auch noch der Bauch zu Wort. Ich habe viel Wasser getrunken, vielleicht zu viel, auch weil immer so viele freundliche Helfer am Wegesrand stehen. Und am Tag zuvor fast ungewollt zwei Kaffee getrunken, am Vormittag, und die waren beide so stark, dass sie mir sogar ein paar Stunden Schlaf geraubt haben.
Ich schließe zu drei jungen Männern auf, und einer von ihnen fragt: „Belgien?“ Nein, nicht ganz, aber die Richtung stimmt. Wir kommen ins Gespräch. Der in der Mitte läuft seinen ersten Marathon, die beiden anderen, τα παιδιά, haben ihn in die Mitte genommen. Sie witzeln herum über die Troika und über den Marathon, und ich lache mit ihnen. Der erste fragt mich, ob ich Deutsch-Grieche sei. Das hat mir noch nie jemand gesagt. Ich fühle mich geschmeichelt. Und der andere Begleiter, der links, kommt auf mich zu und will mir sein griechisches Kopftuch geben. Ein Geschenk. Die Griechen können umwerfend sein! Aber auch Stinkstiefel. Ich weiß nicht recht, wie ich meine Freude aussprechen soll, aber einer von ihnen merkt, dass ich jetzt mit dem Kopftuch nicht so viel anfangen kann, und wir einigen uns auf „später“. Dann aber komme ich nicht mit. Ich habe sie noch lange im Blick, aber dann verschwinden sie.
Ich habe mir vorgenommen, wenigstens bis zur Hälfte durchzulaufen. Das klappt auch. Dann nehme ich mir die 25 vor. Auch das klappt. Inzwischen ist das Feld, hier bei uns langsamen Läufern, weit auseinandergezogen. Manchmal ist man ganz alleine, dann wieder trifft man auf andere, einzelne Läufer. Die meisten laufen schon gar nicht mehr. Es ist verlockend, es ihnen gleich zu tun, aber ich beiße mir auf die Zähne und laufe weiter, bis 28, dann bis 30. Aber 32 hört sich besser an, und ich versuche es weiter, aber es geht einfach nicht mehr. Und jetzt geht auf einmal gar nichts mehr. Ich spüre nur noch den schmerzenden Körper und kann auch schon gar keine zusammenhängenden Gedanken mehr denken. Nur noch Erschöpfung, Leere, Verzagtheit.
Hin und wieder stehen jetzt doch Menschen vor ihren Häusern oder auf Balkonen und feuern uns an. Dann laufe ich mal wieder ein paar Meter, aber die meiste Zeit gehe ich. Jetzt kommt noch der raue Asphalt dazu, den man durch die Schuhsohlen spürt, bei jedem Schritt.
Mir kommt das Unverständnis in den Sinn, mit dem die griechischen Freunde auf mein Vorhaben reagiert haben, einen Marathon zu laufen: „Was, von Pella aus? Bis nach Thessaloniki?“ Sie halten das für ziemlich verrückt. Und da haben sie nicht ganz unrecht. Ich könnte jetzt fünf Stunden im Bett liegen, fünf Stunden Griechisch lernen oder fünf Stunden in einer Taverne sitzen. Und ich wünsche mir sehnlichst, ich hätte mich für eine dieser Alternativen entschieden.
Sieben Kilometer vor dem Ziel stoße ich auf eine junge Frau, mit Kopfhörer und einem watschelnden Laufstil. Unsere Blicke treffen sich, wir lächeln uns an und ich frage sie, wie es denn gehe. Μια χαρά, sagt sie, ausgezeichnet. Und tatsächlich. Locker läuft sie weiter, immer watschelnd, nur ein ganz klein bisschen schneller als ich, aber sie kommt weiter und entschwindet dann ganz meinen Blicken.
Unter den Läufern ist auch ein junger Mann mit Gehbehinderung. Ich denke erst, er habe eine Verletzung. Und das denken wohl auch die Sanitäter, die fragen, ob sie ihn behandeln sollen, aber er winkt leicht verärgert ab. Es ist keine Verletzung. Er hinkt. Immer wieder rafft er sich auf, obwohl er mit den Kräften ziemlich am Ende zu sein scheint. Eine tolle Willensleistung. Ich stelle mir vor, wie er gegen alle Einwände, gegen alle Hindernisse, gegen die Blicke von uns allen, diesen Kraftakt hinter sich bringt. Ich bin gerührt. Fast zu Tränen gerührt.
Jetzt, am Ende, kommt die Solidarität unter uns Läufern, unter den schwachen Läufern, immer mehr ins Spiel. Immer wieder wird man mitgezogen: Πάμε! Und das hilft. Ein paar hundert Meter läuft man dann zusammen, vielleicht einen Kilometer, und muntert sich gegenseitig auf: Wir schaffen das!
Dann kommt das Meer in Sicht. Endlich! Jetzt beginnt der schönste Teil der Strecke, und man entwickelt noch einmal neue Kräfte. Unglaublich. Die letzten zwei, drei Kilometer gehen wieder gut.
Wir treffen auf die große Gruppe der 5000-Meter-Läufer. Mit ihnen zusammen geht es Richtung Ziel. Die Marathonläufer sind an der Startnummer zu erkennen und haben eine eigene Spur und werden ganz besonders angefeuert: „Gleich geschafft“, „Toll gemacht“, „Nur noch zweihundert Meter!“. Und die schafft man dann auch noch.
Alexander der Große ist übrigens der Name des Marathons.