1418 wurden die Juden vom Erzbischof aus Trier ausgewiesen. Viele ließen sich in den Dörfern der Umgebung, z.B. in Aach nieder. Ab 1620 wurden Juden wieder zugelassen, aber diesmal wurde ihnen nicht mehr der alte privilegierte Standort am Hauptmarkt zugewiesen, zentral gelegen, mit eigener Gerichtsbarkeit, sondern einer an der Weberbach, im Viertel der Tuchweber und Gerber, das wegen des Geruchs und wegen des Schmutzes nicht besonders angesehen war.
Der jüdische Friedhof Weidegasse ist nicht der älteste jüdische Friedhof Triers. Der älteste befand sich in der Nähe der alten Synagoge, an der Jüdemer Straße. Der Name ist Programm: Jüdemer bedeutet ‚Judenmauer‘!
Die jüdischen Friedhöfe lagen, wie die römischen, immer außerhalb der Stadtmauern. Der Friedhof an der Jüdemer Straße wurde geschleift, als die Juden vom Bischof aus Trier vertrieben wurden. Der hatte, wie es heißt, rein „ideologische Gründe“. Die Juden hatten einfach nicht die richtige Religion.
Auf dem Boden dieses alten jüdischen Friedhofs entstand ein christliches Kloster. Von dem ist heute nur noch die Augustinerkirche erhalten. Bei den Ausgrabungen für die Viehmarktthermen kamen dann jüdische Grabsteine zum Vorschein. Die Christen hatten sie als Spolien für ihre Bauten benutzt.
Der jüdische Friedhof Weidegasse stammt aus der Zeit, als die Juden wieder zugelassen wurden. Der älteste Grabstein stammt von 1686, der letzte von 1922. Insgesamt sind heute noch 547 Grabsteine sichtbar. Dieser Friedhof wurde dann geschlossen – wegen Überfüllung. Der Grund war die Spanische Grippe. Die hatte ihren Tribut gefordert und war dafür verantwortlich, dass sogar die Gehwege zwischen den Gräbern belegt wurden. Die jüdische Gemeinde kaufte dann ein kleines Areal auf dem Städtischen Friedhof an der Paulinstraße.
Während der Nazizeit blieb der alte jüdische Friedhof unversehrt. Nach dem Krieg wurde die Umfassungsmauer erhöht. Trotzdem kam es zu Friedhofsschändungen, mit antisemitischen Parolen an der Friedhofsmauer und beschädigten oder umgeworfenen Grabsteinen.
Wenn man durch das Tor in der Begrenzungsmauer tritt, erkennt man sofort die Zweiteilung des Friedhofs: links traditionellere Gräber, rechts neuere, die der assimilierten Juden. Überall wachsen Gräser und Bodendecker, die sich teils der Grabsteine bemächtigt haben. Einige verschwinden komplett unter ihnen. Das entspricht der jüdischen Tradition.
Die Bestattung findet bei den Juden so bald wie möglich statt: am Morgen gestorben, am Nachmittag beerdigt. Das wird auf die Zeit des Auszugs aus Ägypten zurückgeführt. Da habe man immer weiter gehen müssen und habe sich nicht aufhalten können, wenn jemand starb. Man grub ein Loch, bestattete den Toten in einfachen Kleidern und legte einen Stein auf die Grabstelle. Daher soll die Tradition stammen, dass Juden noch heute kleine Steinchen auf Grabsteinen deponieren.
An der Erklärung stören mich zwei Dinge: Das schnelle Begräbnis gibt es auch bei Muslimen und bei Christen in Südeuropa, und die haben keine Wüste durchquert. Vielleicht hat die schnelle Beerdigung eher hygienische Gründe. Außerdem waren die Juden beim Auszug aus Ägypten ja nicht ständig unterwegs. Schließlich haben sie vierzig Jahre für die paar Kilometer gebraucht. Sie waren Nomaden und hielten sich so lange wie möglich in den Oasen auf, die sie erreicht hatten. So viel Bock scheinen sie auf das gelobte Land nicht gehabt zu haben.
Die jüdischen Frauen werden noch heute, sofern sie gläubig sind, in einfachen Leinentüchern beerdigt. Die jüdischen Männer im Tallit, dem Gebetsmantel, den sie bei der Bar Mitzwa bekommen. Deshalb muss der so groß sein! Hab’ ich mich schon immer drüber gewundert. Diese ganz einfache Bestattung gibt es noch bei einigen wenigen gesetzesgläubigen Juden, aber die meisten werden jetzt in einem Sarg bestattet. Allerdings ist es weniger ein Sarg im christlichen Sinne als eine einfache Holzkiste. So ist es auch hier auf dem Friedhof.
Die Gräber hatten ursprünglich Grabeinfassungen, die hier aber nicht mehr vorhanden sind. Sie verhinderten das Betreten des Grabs und hatten keinen Blumenschmuck. Die Grabsteine ließ man verwittern und auch dann liegen, wenn sie umgestürzt waren.
Was man als Laie nicht ohne weiteres erkennen würde, ist die Bedeutung der Embleme auf den Grabsteinen, obwohl sie sich sofort erschließen, wenn man die Erklärung hört: eine abgebrochene Stele (als Symbol für ein zu früh zu Ende gegangenes Leben), eine nach unten gerichtete Fackel, eine Mohnkapsel (für eine Droge, die einen in tiefen Schlaf versetzt). Auf einem Grabstein ist das „Auge Gottes“ angebracht, ein von einem Strahlenkranz umgebenes Auge, von einem Dreieck umschlossen, ein ursprünglich christliches Symbol, aber auch ein Symbol, das die Freimaurer verwandten.
Im strengeren Sinne jüdische Symbole sind die geschwungene Thora-Rolle, die einige Grabsteine bekrönt, sowie die betenden Hände, die Wasserkrüge und das Messer. Die betenden Hände sind das Kennzeichen der Rabbiner. Das sind keine Geistlichen. Sie können zwar einen Gottesdienst in der Synagoge leiten, aber das kann jeder erwachsene Mann. Die Rabbiner sind Rechtsgelehrte, Experten. Die segnenden Hände, mit gespreiztem Mittel- und Ringfinger, führen den aaronitischen Segen aus. Dabei wird der Buchstabe schin nachgebildet, kurz für ‚Allmächtiger‘. Die Nachkommen der Priester, die diesen Segen erteilten, den kohanin, erkennt man an Nachnamen wie Kahn, Kohn oder Kuhn. Das Messer ist das Beschneidungsmesser und deutet, zusammen mit Salbgefäßen, darauf hin, dass der Verstorbene mohel war, also die Beschneidung durchführte. Die wurde acht Tage nach der Geburt in einer religiösen Zeremonie durchgeführt. Die Vorhaut wurde mit wenigen Schnitten abgetrennt, wobei der Mohel Segenssprüche aufsagte und den Namen des Kinds nannte. Es bedurfte einer besonderen Ausbildung, um dieses Amt auszuüben. Die Leviten reichen den Rabbinern das Wasser während der Zeremonie. Daher der Wasserkrug. Familiennamen wie Levi, Löw oder Lavi zeigen die Abstammung von den Leviten an.
Ein Unterschied zwischen dem traditionellen Teil des Friedhofs links und dem modernen rechts ist der Gebrauch der Schrift: Links haben alle Grabsteine Inschriften in Hebräisch, rechts ist es entweder eine Mischung aus Hebräisch und Deutsch oder nur Deutsch, Ausweis der immer größer werdenden Assimilierung. Bei den Inschriften rechts gibt es gelegentlich Rechtschreibfehler. Da waren christliche Steinmetze am Werk!
Außerdem sind die Grabsteine rechts größer und aufwendiger gestaltet. Man könnte glauben, auf einem christlichen Friedhof zu sein. Hier gibt es auch gelegentlich, entgegen der jüdischen Tradition, Familiengräber.
Nach der aschkenasischen Tradition sind die Gräber in Ost-West-Richtung anzulegen. Dadurch blickt der Verstorbene, wenn er aufersteht, Richtung Tempelberg. Der Grabstein steht am Fußende des Grabes. Aber auch hier muss ein Wandel der Auffassung stattgefunden haben. Bei zwei Kindergräbern, in dem einen ein Junge, in dem anderen ein Mädchen, steht der Grabstein in einem Fall am Fußende, im anderen am Kopfende. Die beiden Grabsteine stoßen also mit dem Kopf aneinander.
Jüdische Friedhöfe hatten auch immer eine Schandecke, für Selbstmörder (und wohl auch Verbrecher). Sie wurden zwar irgendwo in eine Ecke verbannt, aber immerhin wurde ihnen das Begräbnis auf dem Friedhof nicht verwehrt, wie bei den Christen. Wo sich die Schandecke dieses Friedhofs befindet, ist nicht bekannt.
Im alten Teil des Friedhofs sind die Großeltern von Marx bestattet, auf Grabsteinen mit einer hebräischen Inschrift. Marx’ Großvater war Rabbi und hieß Mordechai Marx Levy, seine Großmutter, Chaje Levofff, war die Tochter des Trierer Rabbiners Moses Lwow. Marx’ Vater, Heinrich Marx, konvertierte zum Protestantismus, um seinen Beruf als Rechtsanwalt voll ausführen zu können. Er ließ seine Kinder taufen. Bis zu seiner Konvertierung hieß er Heschel. Aus Heschel machte er Heinrich. Marx’ Mutter konvertierte erst viel später, warum, ist unklar. Marx ist ein sehr verbreiteter Name in dieser Region und deutet nicht auf eine Verwandtschaft mit KarlMarx hin. Es ist etymologisch eine Nebenform von Markus.
Auf diesem Teil des Friedhofs sind auch die Vorfahren von Marcel Proust begraben, in einem imposanten Doppelgrab. Prousts Großvater, Nathanael Bernkastel, knüpfte während der Zeit der Besatzung Kontakte nach Frankreich an und wanderte schließlich aus und ließ sich in Paris nieder. Prousts Großmutter, Adéle Bernkastel, verkehrte in mehreren literarischen Salons und gab ihrer Tochter, Prousts Mutter, eine gründliche humanistische Bildung mit.
Ein besonderes Schicksal ist verbunden mit dem Grab eines gewissen Siegfried Wolff. Er war Leutnant der Reserve und zog als Kompanieführer „für sein geliebtes Vaterland“ im Infanterieregiment in den Krieg. Er war Träger des Eisernen Kreuzes. Im Juni 1918 kam er, der einzige Sohn seiner Eltern, im Krieg ums Leben. Ein Eisernes Kreuz schmückte ursprünglich den Kopf des Grabsteins, wurde aber später entfernt. Sein Vater wurde mit 75 Jahren nach Theresienstadt deportiert und kam dort ums Leben. Den Sohn hätte dasselbe Schicksal ereilt, wenn er nicht gefallen wäre.