Marx (2)

Am Treppenaufgang zur Ausstellung links eine Landkarte Europas, mit den Grenzen der Zeit von Marx und den heutigen Grenzen. Viele Dinge sind gleich geblieben, aber es gibt auch Unterschiede: Griechenland, Polen und Irland existierten (noch) nicht. Und im Osten gab es drei Großreiche: das Zarenreich, das Osmanische Reich und Kakanien.

Rechts eine Wand mit großflächigen Reproduktionen von Photos von Marx. Alle stammen aus der Londoner Zeit. Auf allen trägt er das Haar lang und hat einen Rauschebart. Es gibt kein Photo von ihm und Jenny. Wenn Frauen neben ihm posieren, sind es seine Töchter oder, in einem Fall, eine seiner Töchter neben der Tochter von Engels.

Die Ausstellung ist nicht im engeren Sinne über Marx Leben, sondern zeichnet die Stationen seines Lebens nach, eine ganze Menge, von Trier bis nach London. Dass er auch einmal in Algier war (um sich in dem milden mediterranen Klima von seinen vielen Leiden zu erholen), wusste ich nicht. Auf dem Rückweg war er sogar in Monte Carlo.

Es ist bezeichnend, dass Trier am Anfang steht, das kleine, provinzielle Trier mit gerade mal 10.000 Einwohnern, und London am Ende, die riesige, moderne Metropole, die größte Stadt Europas zu der Zeit. Sie hatte zu Zeiten von Marx schon fünf Bahnhöfe! Die verbanden sie mit allen Teilen Englands. Auf Gemälden – die meisten Exponate sind Gemälde – sieht man St. Pancras Station – romantisch in Abendlicht gehüllt, die Bahnhofshalle im Zwielicht fast verschwimmend, die Fassade wie eine gotische Kirche – und King’s Cross Station, geschäftig, mit großem Auflauf angesichts des Eintreffens der Königin.

Die meisten Exponate sind Bilder. Die nehmen Bezug auf die Lage in den verschiedenen Städten zu Marx‘ Zeiten. Für die Zeit in Trier steht ein Gemälde, das eine erwischte Reisigsammlerin im Wald zeigt. An ihrer Seite ihre weinende Tochter. Neben ihr ein Gendarm mit einem Notizbuch. Das Sammeln von Reisig, früher erlaubt, war von den Preußen unter Strafe gestellt worden. Das führte zu noch mehr Elend bei den Armen.

Die Franzosenzeit hatte für Trier Fortschritt bedeutet, hinsichtlich der Institutionen und hinsichtlich der Gesetze. Zum ersten Mal waren alle (Männer!) vor dem Gesetzt gleich. Hier ist eine Zeichnung von Goethe zu sehen, die die Freiheit feiert. Oben steht: Cette terre è libre. Im Hintergrund sieht man einen kleinen Ort: Schengen!

In der Preußenzeit wurde das alles rückgängig gemacht. Und es gab einen großen materiellen Rückschritt. Trier waren nach der Napoleonischen Zeit Absatzmärkte abhandengekommen.  Das beeinträchtigte die Lage der Kleingewerbetreibenden. Darunter litten auch die Winzer. Und die litten außerdem unter der Steuerlast. Weine aus dem Rheinland galten in Preußen als Auslandsprodukte und unterlagen hohen Zöllen. Dann schlug auch noch die Reblaus zu.Die Lage der Menschen wurde durch eine Schlacht- und eine Mahlsteuer noch verschlimmert. Viele lebten unter dem Existenzminimum, und in einigen Jahren waren 1.700 Menschen inhaftiert, von insgesamt 11.000!

Das führte zu Auswanderungen in großem Stil, von Trier aus u.a. nach Brasilien. Vor allem viele Winzer wanderten dahin aus. Auf einem Gemälde sieht man Auswanderer beim Aufbruch, auf einem anderen eine Amtsstube, in der man sich seine Papiere besorgen musste. Man benötigte einen Pass. Das bedeutete nicht dasselbe wie heute. Ein Pass war eher das, was man heute als Visum bezeichnen würde, aber man brauchte ihn nicht, um reinzukommen, sondern um rauszukommen! Die Länder wollten ihre Bürger behalten! Sie waren wichtig als Arbeitskräfte, als Erzeuger von Nachkommen, als Steuerzahler, als Soldaten. Rein kam man überall, ganz anders als heute. In einer Vitrine ist ein Pass ausgestellt, ein großformatiges Blatt Papier mit den üblichen Unterschriften und Stempeln.

Trier ist die kleinste Stadt auf Marx‘ Lebensweg, mit Ausnahme vielleicht von Bad Kreuznach. Dort heiratete er. Jenny war nach dem Tod des Vaters mit der Mutter dorthin gezogen. Auf der Hochzeitsreise, die ihn nach Bingen und Baden-Baden führte, kam er zum ersten Mal ins Ausland! Bingen gehörte zu Hessen.

Eine Bleistiftzeichnung zeigt den jungen Marx als Studenten in Bonn, mit 17. Er hatte schon mit 16 Abitur gemacht und Trier verlassen! Diese Bleistiftzeichnung ist die älteste erhaltene Darstellung von Marx.

Es gibt nur wenige Exponate mit direktem Bezug auf Marx. Eins davon ist ein Karzerbuch der Universität Bonn. Dort wird er, Carl Marx, zu einem Tag Karzer verurteilt, wegen „nächtlicher Ruhestörung”. Kurios, dass es bei der Schreibung des Namens noch keine Einheitlichkeit gibt. Außer Bonn gibt es zu der Zeit keine einzige Universität im Rheinland und in Westfalen!

In Bonn machte Marx, was man als Student so macht: Liebesgedichte schreiben, die Vorlesungen schwänzen, saufen, feiern, lärmen. Sein Vater sorgte dafür, dass die Sache bald ein Ende nahm, nach zwei Semestern. Er empfahl  Berlin als seriösen Studienort. Es ist genau das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.

Tatsächlich wurde Marx in Berlin sofort zu einem ernsthaften Studenten, so sehr, dass der Vater sich jetzt sorgte, weil der Sohn nur noch die Bücher im Kopf hatte. Berlin war die erste Großstadt, die Marx kennenlernte, mit Fabriken, Palais, Paraden, Theater und 200.000 Einwohnern.

Entgegen der allgemeinen Vermutung musste Marx Berlin nicht wegen seiner politischen Einstellung verlassen, sondern weil er die Regelstudienzeit überschritten hatte! Promoviert wurde er dann in Jena, in Abwesenheit! Die Stadt hat er nie betreten!

Köln war, wie Trier, katholisch, liberal und antipreußisch. Wie sehr die Preußen diese Ideologie fürchteten, sieht man darin, dass sie den Rosenmontagszug verboten. Der war ihnen zu politisch.

In Paris lebten zu der Zeit, als Marx dorthin übersiedelte, 80.000 Deutsche, 8% der  Bevölkerung! Trotz der hohen Einwohnerzahl waren Teile der Stadt noch ganz ländlich. Auf einem Gemälde von Corot sieht einen Hügel mit Feldern, einem Felsen und einer Mühle: Montmarte!

In einer Schatulle ist ein Reiseschreibset aufbewahrt. Ob es von Marx selbst stammt, wird nicht ganz klar. Jedenfalls enthält es, säuberlich geordnet, Federn unterschiedlicher Stärke, zwei Tintenfässer und zwei Schreibstiele. So was muss Marx ständig bei sich gehabt haben. Bei Umzügen war man nicht zimperlich. Man schleppte den gesamten Haushalt mit. In der Regel fuhr Marx, mit dem Nötigsten ausgestattet, vor, und Jenny kam mit dem gesamten Haushalt hinterher.

Auf einem Gemälde sieht man ein Pfandleihhaus. Das hatte nichts Anrüchiges an sich. Man ging ins Pfandleihaus, wenn man einen Kredit brauchte, so wie man heute zur Bank geht. Auf dem Gemälde sieht man folgerichtig eine Familie aus dem Establishment, gut gekleidete, vornehm. Anders war es mit der Zwangsverpfändung. Auch die wird auf einem Gemälde illustriert. Die Zwangsverpfändung trat ein, wenn man seine Schulden endgültig nicht mehr bezahlen konnte. Das bedeutete dann auch den Verlust der Wohnung. Und genau das passierte bei Marx zu Beginn der Londoner Zeit: Die hochschwangere Jenny wurde mit mehreren kleinen Kindern auf die Straße gesetzt. Die Familie stand am Abgrund. Später wurde die Situation besser, durch verschiedene Erbschaften und durch die Unterstützung durch Engels. Aber die Klagen rissen nicht ab, aber es waren jetzt Klagen auf höchstem Niveau: Der Italienischlehrer will mehr Geld, wir können und den Klavierunterricht für Jenny nicht mehr leisten, der Preis für den Wein ist gestiegen usw.

Marx selbst und Jenny und die auf dem Kontinent geborenen Kinder waren staatenlos. Hier galt das ius sanguinis. Das galt nicht für die in England geborenen Kinder. Sie hatten die britische Staatsangehörigkeit. Hier galt das ius soli.

In einer Vitrine sieht man zwei Schreiben von Marx aus Brüssel an Trier, an den Oberbürgermeister, der gleichzeitig der Preußische Gesandte ist. Er benötigt Unterlagen für seine geplante Auswanderung in die USA. Daraus wurde nichts.

Ein aufgeschlagenes Exemplar der Rheinischen Zeitung liegt in einer Vitrine, mit einem eng gedruckten Text zu der Debatte in Preußen zum Holzdiebstahl. Geschrieben ist der Artikel „von einem Rheinländer“ – Marx. Er war Chefredakteur der Zeitung. Die Rheinische Zeitung wurde verboten, dann, nach der Revolution, als Neue Rheinische Zeitung wiedergegründet. Nach dem Niederschlag der Revolution wurde Marx aus Preußen ausgewiesen. Das letzte Exemplar der Neuen Rheinischen Zeitung, unmittelbar vor dem Verbot erschienen, ist ganz in Rot gehalten. Ein Exemplar ist in der Ausstellung zu sehen.

Vor der Ausweisung aus Brüssel landete Marx tatsächlich im Gefängnis – für eine Nacht. Zusammen mit Jenny, aber natürlich getrennt von ihr. Die war zusammen mit Wucherinnen und Prostituierten interniert. Marx lancierte die Sache geschickt und es kam zu einem öffentlichen Aufschrei, nicht so sehr wegen Marx, sondern wegen La Baronesse de Westphalie!

Für Manchester gibt es einen eigenen Raum, obwohl Marx nie dort wohnte. Er verbrachte aber lange Zeit dort, bei Engels, und in der Bibliothek. Kurz gesagt, wurde in Manchester aus dem Philosophen ein Wirtschaftswissenschaftler. Trotzdem hat Marx nie eine Fabrik von innen gesehen!

Hier gibt es auch ein Gemälde, das eine Fabrik mit hammerschwingenden Arbeitern zeigt. Hier ist alles hell, die Atmosphäre ist betriebsam, die Mühen der Arbeit und das Elend der Arbeiter bleiben verborgen. Hier wird die Industrialisierung gefeiert. Im Vordergrund, erst bei genauem Hinsehen zu erkennen, sitzt ein Mädchen mit einem Mathematik-Buch. Sie gehört zu den Gewinnern der Industrialisierung.

Daneben ein Bild, La Nena Obrera, das in der Zeit Furore machte. Ursprünglich großformatig, über zwei Meter lang, und so erfolgreich, dass der Maler,  Joan Planella, dieses zweite, kleinformatige Bild folgen ließ. Das erste war auf Ausstellungen in New York, Buenos Aires, Paris usw. gewesen. Das Bild zeigt eine Fabrikarbeiterin, eine absolute Neuheit. Die Malerei hatte früher Adelige, heute Unternehmer dargestellt, aber keine Arbeiter, und schon gar keine Frauen oder Kinder. Hier, bei der Nena Obrera, sind Kind und Frau gleichzeitig erfasst.

Von Algier, wo er von London aus hinreiste, um in dem milden Mittelmeerklima seine vielen Gebrechen zu kurieren, gibt es eine Tagebuchaufzeichnung von Marx, von der wir wissen, dass er einen Termin beim Photographen und einen beim Barbier hatte. In dieser Reihenfolge. Beim Barbier ließ er sich den Bart abnehmen. Wenn dieser Reihenfolge gibt es kein Photo des bartlosen Marx.

Die Hoffnung auf das milde Mittelmeerklima erwies sich als trügerisch. Es stürmte und regnete ununterbrochen. Danach ging die Reise nach Monto Carlo, ausgerechnet nach Monte Carlo. Marx (und Marxismus) und Montecarlo – kann man sich einen größeren Gegensatz denken?

Von den sieben Kindern von Marx und Jenny starben vier als Säugling oder im Kindsalter. Nur drei erreichten das Erwachsenenalter, drei Töchter. Sie hießen, um Verwirrung zu stiften, mit erstem Vornamen alle Jenny! Alle drei wirkten zu irgendeiner Zeit als Sekretärin oder Assistentin von Marx.

Nur zwei überlebten Marx. Jenny Caroline, die älteste Tochter, starb wenige Monate vor Marx an Blasenkrebs, im selben Jahr, 1883.

Jenny Eleanor, “Tussy”, eine aktive Sozialistin, hatte ein Nerenkrankheit, von der sie auch mehrere Kurauftenhalte nicht heilten. Sie hatte ein Verhältnis zu einem Mann, der ihr verheimlichte, dass er verheiratet war. Die Nachricht davon könnte der Auslöser ihres Suizids gewesen sein. Sie nahm sich im Alter von 43 Jahren mit Blausäure das Leben.

Jenny Laura war die sprachbegabteste von allen und übersetze u.a. Ibsen und Flaubert. Ins Deutsche, vermute ich. Im Alter war sie so sehr von der Angst vor Armut und Gebrechen geplagt, dass sie sich auch das Leben nahm – zusammen mit ihrem Ehemann, Paul Lafargue. Sie hatten in den Jahren des erzwungenen Exils alle drei Kinder verloren.

Am Ende der Ausstellung stößt man in der Form von Faksimiles, aber auch als elekrtonische Dateien auf etwas, das den etwas irreführenden Namen Confessions trägt. Es sind keine Bekenntnisse im eigentlichen Sinne, sondern die Antworten auf Fragebögen, die man Freunden gab, eine unterhaltsame Art, etwas von sich preiszugeben. Jenny hielt ein komplettes Confessions Book. Da liest man einige eher nichtssagende, aber auch sehr originelle Antworten: Ihre Heldin? – Meine Kaffeekanne. Ihre Lieblingsbeschäftigung? – Luftschlösser bauen. Auch Schlafen und Rauchen werden als Lieblingsbeschäftigung genannt. Und „Bettler anbellen“. Das ist der Fragebogen von Whiskey. So hieß der Hund der Familie Marx. Bei der Antwort auf die Frage nach dem persönlichen Motto, der persönlichen Maxime, gibt es zwei, die mir auffallen: Fais ce que voudras, arrive ce que pourra. – Tue, was du willst. Es kommt, wie es kommt. Und: Là où il y a de la gène il n’est pas de plaisir.

Es bleiben ein paar Rätsel, und es sind ein paar neue hinzugekommen durch die Ausstellung, die Führung durch die Ausstellung und die Lektüre der letzten Wochen: Marx wurde mit einer Arbeit über griechische Philosophen promoviert, war aber als Jurastudent eingeschrieben. Ging das? Welchen Doktortitel erhielt er? Warum konnte er in Jena promoviert werden, obwohl er dort nie war? Ist es in Gerücht, dass Marx zeitlebens ein Photo seines Vaters mit sich trug? Stimmt es, dass die Photographie noch gar nicht erfunden war, als Marx’ Vater starb? Kann es statt eines Photos nicht eine Zeichnung gewesen sein? Wie ist es mit der Ausweisung aus Preußen? Ist das ein Mythos? Ist Marx gar nicht ausgewiesen worden? Schließlich hat er den Austritt aus der preußischen Staatsangehörigkeit selbst beantragt. Aber kann er nicht auch als Staatenloser ausgewiesen worden sein? Haben sich Marx und Engels kein bisschen um die Lage der Arbeiter in der Fabrik von Engels gekümmert? Wie konnten sie das mit ihren Theorien vereinbaren? Wie war es mit Engels und Marx’ unehelichem Kind? Irgendwo steht, es stimme nicht, dass er die Verantwortung für das Kind übernommen habe, das sei ein Gerücht. Aber vielleicht ist damit nur gemeint, dass er es nicht adoptierte, wohl aber sich dazu bekannte, der Vater zu sein. Und was hat es mit der Konversion von Marx’ Vater zum Protestantismus auf sich? Dass er zum Protestantismus und nicht zum Katholizismus konvertierte, ist eine Verbeugung vor den Preußen, ein Akt des Opportunismus. Aber warum überhaupt die Konversion? Stimmt es, dass er sonst nicht als Rechtsanwalt hätte arbeiten können? Oder hätte er als Rechtsanwalt arbeiten, aber nicht Beamter werden können?

(“Karl Marx 1818-1883. Stationen eines Lebens”, in: Stadtmuseum Trier, 2018)

 

 

 

 

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