Marx (1)

Beim Aufgang zu den Ausstellungsräumen erfährt man, dass Marx bereits mit 23 promoviert wurde, und zwar in Jena. Dass auch Paris zu seinen Stationen gehörte, noch vor Brüssel und London, nach Bonn, Berlin und Köln. Und dass er Staatenloser war. Seine preußische Staatsbürgerschaft, heißt es, habe er „abgelegt“, 1845. Man fragt sich, ob das nicht bei den weiteren Stationen im Ausland, aber nicht nur da, schwierig war.

Die Ausstellung macht es einem nicht leicht und ist nicht jedermanns Sache, wie ich bereits gehört habe. Man muss lesen und sich konzentrieren, dann lohnt es sich.

Ganz am Anfang stehen einige Ausstellungsstücke, die auf Borsig Bezug nehmen. Darunter eine Lokomotive im Kleinformat und eine große, bauchige Vase, auf der Borsig gefeiert wird. Die Eisenbahn gehört zu den Erfindungen, die das Leben der Zeit auf rasante Art veränderten. D Als Marx geboren wurde, gab es noch keine Eisenbahnen, jedenfalls in Deutschland nicht. Als er nach Berlin kam, gab es ein paar von den Briten betriebene Eisenbahnen mit britischem Personal! Borsig forderte daraufhin Stephenson heraus und gewann eine Wettfahrt. Danach wurden unter seiner Regie deutsche Lokomotiven gebaut.

Am besten lassen sich die Eindrücke anhand von konkreten Exponaten zusammenfassen. Unter denen befinden sich einige, die von Marx selbst stammen. Am Anfang liegt die Doktorurkunde aus. Im Original. Alles ist auf Latein, auch die Namen sind latinisiert. Die Urkunde beantwortet endgültig eine Frage, die ich mir schon länger gestellt hatte: Marx wurde, obwohl ursprünglich in Jura eingeschrieben, zum Dr. phil. promoviert.

Marx wurde in Jena promoviert, in Abwesenheit, ohne mündliche Prüfung! Das ist einer der Gründe, warum er das Jenaer Angebot annahm. Ein anderer ist, dass er seine Dissertation zwar fertig hatte, die aber auf Deutsch abgefasst war. Er hätte sie in Berlin noch übersetzen müssen. Es scheint, dass die Universitäten autark genug waren, das selbst zu entscheiden. In Berlin war ihm das Geld ausgegangen. Sein Vater war inzwischen verstorben, und die Mutter drehte den Geldhahn zu, zum Entsetzen des Sohnes. Sie fand, dass genug Geld in die Förderung des Lieblingskindes geflossen war, dass jetzt auch mal die anderen an der Reihe waren. Das leuchtete Marx überhaupt nicht ein.

In einem verdunkelten Raum hängt ein Porträt von Proudhon. Der war Orientierung für Marx, aber er war, wie er fand, in der These steckengeblieben, der notwendigerweise die Antithese folgen musste. Seine Replik auf Proudhon schrieb er eigens auf Französisch, aber Proudhon antwortete nicht. Der Titel enthält eine typische Marxsche Volte: Misère de la philosophie. Réponse a la philosophie de la misère de M. Proudhon.

Dann kommt eine Seite, handschriftlich, aus dem Kommunistischen Manifest. Es soll die einzig erhaltene Seite sein. Die handschriftlichen Seiten wurden peu à peu, so wie sie zum Drucker kamen, vernichtet. Diese eine Seite muss durch einen Zufall erhalten geblieben sein. Vielleicht kam sie noch einmal zurück, weil es Unklarheiten gab. Es ist eine kleine, eng beschriebene Seite mit Unterstreichungen und einigen Korrekturen, ohne Linienblatt geschrieben, in einer  sehr krakeligen Handschrift. Man fragt sich, wie der Drucker das lesen konnte. Irgendwo heißt es, die arme Jenny habe alle seine handgeschriebenen Texte in Schönschrift übertragen. Auch Schreibmaschinen gab es zu der Zeit noch nicht. Erst Tussie Marx besaß gegen Ende ihres Lebens eine Schreibmaschine.

Rechts und links von der handschriftlichen Seite Ausgaben des Kommunistischen Manifests aus verschiedenen Zeiten in verschiedenen Sprachen, auch in Esperanto und in Blindenschrift. Das Manifest soll unter Zeitdruck entstanden sein. Es war eine Auftragsarbeit. Im Allgemeinen gilt Marx als ein akribischer und ausführlicher Autor, dem Sarkasmus und Polemik nicht fremd waren.

Zensur gab es nicht nur in der Literatur, auch in der Malerei. Das wird hier durch ein Gemälde veranschaulicht, Im Kerker von Ludwig Knaus. Der Gefangene ist alleine in einem dunklen Verlies. Er trägt aber Kleidung des 16. Jahrhunderts, um von der Gegenwart abzulenken. Gleichzeitig ist aber eine Fahne ein Hinweis auf die Gegenwart.

In einer Vitrine steht ein verrostetes Eisenteil, wie ein übergroßer Tannenzapfen. Was kann das nur sein? Es ist eine Kartätsche, eine Streubombe. Solche Kartätschen wurden in Berlin bei der Niederschlagung des Aufstands von 1848 eingesetzt. Damit wurde nicht gezielt auf einen Aufständischen gefeuert, sondern wahllos in die Menge. Wobei es egal war, wer das Opfer war.

Bemerkenswert auch eine aufgeschlagene Kladde. Da sieht man Marx‘ Arbeitsweise. Beide Seiten der Kladde sind bis auf den letzten Zentimeter gefüllt mit Zeitungsausschnitten, handgeschriebenen Tabellen, Listen und Kommentaren, wieder in ganz kleiner Schrift. Von diesen Kladden soll Marx, thematisch unterschieden, mehr als 160 gehabt haben. Eine immense, gut organisierte Arbeit.

Die meisten Exponate beziehen sich eher auf die Zeit als auf Marx selbst. Gleich zu Beginn der Ausstellung sieht man ein Ölgemälde, ein Porträt (1848), von Adolf Menzel. Am dem ist zunächst nichts Besonderes zu merken. Die Besonderheit liegt in dem Porträtierten. Es ist ein Weber, einer Weber aus Schlesien, dort, wo der Weberaufstand stattfand. Dies soll das erste Porträt eines anonymen Arbeiters überhaupt sein. Auch in der Malerei bedeutete die Umwälzung eine neue Zeit.

In einer Vitrine sieht man Broschen und Tabakpfeifen mit den Porträts der Revolutionäre wie Blum und Hecker. Eine Art der politischen Meinungskundgebung. Die Namen sind unter den Porträts angebracht, außer bei Blum. Den erkannte man auch so, an seinen markanten Gesichtszügen.

In einem Saal geht es um die kommunikative Revolution des 19. Jahrhunderts. Keine Übertreibung, sie mit der heutigen zu vergleichen. Als Ausweis der neuen Techniken ist ein Lochstreifenstanzer ausgestellt. Er sieht aus wie ein Vorläufer des primitiven Computers. Er diente zur Übertragung von Morsezeichen. 1832 dauerte es noch 14 Tage, mit jemandem in New York zu kommunizieren, 1870 nur noch wenige Minuten. Es ist auch ein Originalteil der Kabels zu sehen, mit dem 1866 Europa und Amerika verbunden wurden, ein 3000 Kilometer langes Unterseekabel, das von The Great Eastern verlegt wurde. 1866 war es dann soweit. Die Verlegung des Kabels galt als achtes Weltwunder. Nicht zu unrecht.

In einem Gang sieht man ein Gemälde von Hasenclever, das, in den Worten eines Beobachters, die Lage der Arbeiter besser darstellt als tausend Worte. Düsseldorfer Arbeiter protestieren beim Stadtrat gegen ihre Entlassung. Drei ihrer Vertreter stehen vor den hohen Herren und übergeben eine Petition. Der Arbeiter, der die Petition übergibt, steht in gebührendem Abstand, hat aber, vorsichtig und doch selbstbewusst, einen Fuß auf den Teppich gestellt, der dem Revier der Arbeitgeber vorbehalten scheint. Eine Geste, die Würde und Anspruch der Arbeiter ausdrückt.

In einem anderen Saal steht ein Kaufladen (1880). Es gibt einen Tresen, auf dem Boden stehen Säcke und Fässer mit Schaufeln, hinter dem Tresen fein mit Keramikschildern bezeichnete Schubladen und alle möglichen Gefäße, auf dem Tresen eine Waage und daneben Gewichte. Eine Kasse ist komischerweise nicht zu sehen. Dafür aber Kehrblech und Handfeger, ein charakteristisches Detail! Die Bedeutung des Kaufladens erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Kaufläden gab es in Mittelstandfamilien. Deren Kinder wurden von früh auf „trainiert“, als Käufer und Verkäufer. Die industrielle Revolution hatte einen Überschuss an Waren hervorgebracht, zum ersten Mal in der Geschichte, und aus der Sicht der Kaufmannskaste ging es darum, den Konsum anzutreiben, auch Waren zu verkaufen, für die es eigentlich keinen Bedarf gab. Eine echte Revolution, deren Folgen wir erst heute in vollem Maße übersehen. Und unter der wir leiden. Marx hatte einen klaren Blick dafür.

Ein Raum ist ganz dem Kapital gewidmet. Verschiedene Exemplare des Buchs liegen aus, und an den Wänden erscheinen Zitate. Auch hier ein Einblick in Marx’ Arbeitsweise, die im wahrsten Sinne des Wortes Bände spricht: Als endlich der erste Band des Kapitals erschienen war und alle den zweiten erwarteten, machte sich Marx erst mal an die Revision des ersten Bandes. Er hatte so viele neue Daten, neue Erkenntnisse. Das Buch war alles andere als ein Verkaufsschlager und enttäuschte Marx’ Erwartungen auf ganzer Linie.

Von einer ganz anderen Art ist die Heilige Familie, von Marx und Engels. Es greift aktuelle Situationen und Ereignisse auf. Der vollständige Titel ist Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Und der Untertitel lautet Gegen Bruno Bauer und Konsorten. Das Buch ist Ausweis des akribischen Vorgehens von Marx und Engels. Der Lohn eines Arbeiters in England belief sich zu der Zeit auf 11 Schilling. Schön und gut. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Marx und Engels arbeiteten heraus, dass 11 Schilling zwar der Durchschnittslohn eines Arbeiters war, dass aber der Lohn zwischen 1,5 Schilling und 40 Schilling variierte. Da stellt sich fast die Frage, was denn überhaupt ein Arbeiter sei.

Ähnlich mit der Kinderarbeit. Man denkt vermutlich an 14jährige oder 16jährige Kinder. Tatsächlich wurden aber auch Kinder von 5 Jahren (und darunter!) in der Industrie eingesetzt. Die ganz kleinen hatten die Aufgabe, den Staub unter den Maschinen, an denen die importierte Baumwolle gereinigt wurde, zu entfernen. Es hatte sich herausgestellt, das England und vor allem Nordengland das geeignete Klima hatte – relativ stabile Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit das ganze Jahr über – um die Baumwolle zu reinigen. Das war lukrativer als er vor Ort zu machen, da, wo die Baumwolle geerntet wurde.

In einem Saal ist symbolisch eine Fabrikhalle nachgebaut, mit einem Fließband, auf dem statt Waren Begriffe transportiert werden wie Mehrwert. Alles ist Grau in Grau, ohne Tageslicht, eine bedrückende Atmosphäre. Als Emblem der neuen Zeit steht in einer Vitrine ein Wecker (1990). Nicht mehr die Natur bestimmt den Tagesablauf, sondern die Gesellschaft, die industrielle Produktion.

An der Seite ein Zitat von Marx: „Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden.“

Am Rande dieses Raums eine Art Transparent, ein längliches Stofftuch mit einer Parole, Rot auf Weiß, zum Jahrestag eines Aufstands: „Rache für unsere Gemaſsregelten & Verfolgten. Hoch lebe die Social-Demokratie“.

In der Nähe ein besticktes, verziertes Stickbild, eines der wenigen Schmuckstücke aus den sonst kargen Arbeiterwohnungen. Auch hier ein Sinnspruch, mit den auf das ganze Bild verteilten Buchstaben, gar nicht so leicht zu entziffern: „Wir wollen den Frieden, die Freiheit und Recht dass Mensch (?) sei des anderen ???, dass Arbeit aller Menschen Pflicht und niemand es an Brod gebricht“.

Auch hier ein Marx-Zitat: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“ Die Arbeiterbewegung hat sich nicht daran gehalten.

Zum Schluss gibt es einen Nachruf auf Marx, erschienen in Der Sozialdemokrat. Es ist ein ganzseitiger Nachruf auf der ersten Seite. Bemerkenswert, denn Marx hatte sich nie parteipolitisch gebunden oder gar engagiert.

Den Abschluss der Ausstellung, schon nahe dem Ausgang, bildet eine Büste von Marx mit dem weltweit vertrauten Anblick. Verwunderlich, dass das so ist, denn bei seinem Tod war er weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. An seiner Beerdigung nahm nur ein Dutzend Trauernde teil. Das änderte sich dann bald, und am ersten Jahrestag waren es bereits 6000, mehr als Highgate fassen konnte, so dass man nicht alle zulassen konnte. Das war das Resultat des Wirkens von Engels, der Marx bekannt machte, nicht nur sein Werk, sondern auch sein Bildnis.

Über der Büste steht ein Zitat von Marx aus den Confessions: “An allem ist zu zweifeln.” Das sei allen ins Buch geschrieben, die von einem geschlossenen Theorie von Marx sprechen. Er setzte immer wieder neu an, revidierte seine Thesen. Als der erste Band des Kapital erschienen war und alle auf den zweiten warteten, machte sich Marx erst einmal an die Revision des ersten Bandes!

Vor dem Ausgang können Besucher auf rote Zettel ihre Eindrücke von der Ausstellung notieren. Der allgemeine Tenor: hochaktuell! Viele Dinge, die Marx für seine Zeit konstatiert hat, können auf unsere Zeit übertragen werden. Ein paar kuriose Zitate: „Ein Bartträger – der erste Hipster“, „Ein Trierer Jung, „Ein deutscher Denker, der Weltgeschichte gemacht hat, ohne es zu wollen“ und: „Junge, komm bald wieder“.

(„Karl Marx 1818-1883. Leben, Werk, Zeit“, in: Landesmuseum Trier, 2018)

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