Marx (3)

Das Karl-Marx-Haus, das Haus, in dem Marx geboren wurde (aber nur wenige Monate lebte) hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Lange wusste man gar nicht, dass es das Haus war, in dem Marx geboren wurde. Das fand man erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts heraus. Daraufhin erwarb die SPD das Haus (ein Prozess, der sich jahrelang hinzog, da so viele Parteien involviert waren) und machte es zu einer Gedenkstätte. Den Nazis war die ein Dorn im Auge. Sie enteigneten die SPD und brachten hier demonstrativ die Zentrale der Parteizeitung unter. Nach dem Krieg kam das Haus dann wieder an die SPD und wurde schließlich an eine Stiftung überführt. Brandt eröffnete hier 1968 das Karl-Marx-Museum, das dann regelmäßig von Politikern aus den Ostblockländern besucht wurde, bis zum Mauerfall. Seitdem sind es vor allem chinesische Politiker und chinesische Touristen, die das Geburtshaus besuchen.

Von dem alten, 1725 entstandenen Haus ist nicht mehr viel übrig. Das Haus wurde nach einem Brand verändert wiederaufgebaut, mit einem zusätzlichen Dachgeschoss und einer Erweiterung nach hinten hin. Von Marx und seiner Familie ist so gut wie gar nichts ausgestellt, einfach, weil nichts erhalten ist. Alle privaten Besitzstücke wurden längst weiterverkauft.

Eine kleine städtische Paradoxie besteht darin, dass das Karl-Marx-Haus nicht in der Karl-Marx-Straße steht, sondern in der Brückenstraße. Die Karl-Marx-Straße ist eine Verlängerung der Brückenstraße zur Mosel hin. Als man sich in Trier endlich entschied, eine Straße nach Marx zu benennen, konnte man sich nicht dazu durchringen, ihm eine Straße nahe der Innenstadt zu widmen. Heute befindet sich in der Karl-Marx-Straße – passenderweise? – das Trierer Rotlichtviertel.

Marx war eins von neun Kindern seiner Eltern. Von denen überlebten nur er und drei Schwestern. Das war nicht ungewöhnlich.

Die politische Situation stand unter dem Zeichen der Restauration. Die Freiheiten, die man in den zwei Jahrzehnten davor genossen hatte, wurden meist wieder zurückgenommen. Trier war ein Teil von Frankreich gewesen und die Trierer Franzosen. Das bedeutete auch, dass junge Männer aus Trier für den Kriegsdienst rekrutiert wurden und in den Napoleonischen Kriegen auf Seiten der Franzosen kämpften.

Trier hatte zu der Zeit von Marx’ Geburt gerade einmal 11.000 Einwohner. Die Armut war allgegenwärtig. Zwei Drittel der Bevölkerung lebte unter dem Existenzminimum. Mit dem Wiener Kongress und der Schließung der Grenze nach Frankreich war ein wichtiger Absatzmarkt weggefallen. Und die deutschen Kleinstaaten nahmen Zölle für die Einfuhr. Auch Trier, obwohl es zu Preußen gehörte, musste Zölle auf den Export von Wein nach Preußen zahlen. Für den Weinexport blieb in erster Linie England.

Dazu kamen Missernten. Die wichtigste wurde ausgelöst durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien (1815). Der brachte Westeuropa ein “Jahr ohne Sommer”. Später kam für die armen Winzer noch die Auflage hinzu, nur noch Riesling anzubauen. Das hatte der Erzbischof dekretiert, um die Qualität des Weins zu verbessern. Das Problem: Vielen armen Winzern fehlten die Reben und sie mussten sie für teures Geld beim Adel oder bei der Kirche kaufen. Marx erlebte diese Armut hautnah, auch wenn er selbst einer privilegierten Familie angehörte.

An der Ecke zur Innenstadt, nur wenige Meter von dem Marx-Haus entfernt, befindet sich ein Haus mit einer Apotheke im Erdgeschoss. Das ist die Villa Venedig, einst ein Hotel. Hier übernachtete Marx bei einer seiner wenigen Besuche Triers. Er wollte mit allen Mitteln der Mutter aus dem Weg gehen. Die beschuldigte er – unberechtigterweise – ihm Geld vorzuenthalten, das ihm zustand.

In der Neustraße befindet sich, durch eine moderne Plakette mit dem Profil ihres Gesichts gekennzeichnet, das Elternhaus von Jenny. Marx kam mit ihr durch ihren Bruder in Kontakt, einem gleichaltrigen Schulkameraden. Die Kinder spielten zusammen. Dabei bestimmte Marx, einer späteren Notiz Jennys zufolge, immer, was gespielt wurde. Er war erfindungsreich und duldete keinen Widerspruch.

Jenny selbst hat nie eine Schule besucht. Sie war dennoch sehr gebildet. Das war ihrem Vater zu verdanken, Ludwig von Westphalen, einem preußischen Beamten. Er las mit seinen Kindern Literatur, deutsche, französische, englische, und förderte ihre geistige Entwicklung ganz allgemein. Davon profitierte auch Marx. An Wochenenden machte er Spaziergänge mit den Kindern und zeigte ihnen die allgegenwärtige Armut.

Jenny war adelig, Marx bürgerlich, Jenny war Protestantin, Marx Konvertit, vor allem aber war Jenny vier Jahre älter als Marx. Das war fast ein Hinderungsgrund für eine Verbindung. Die Familie von Westphalen hatte allerdings keinen Grundbesitz. Jennys Vater musste, im Gegensatz zu den “richtigen” Adeligen, für seinen Unterhalt arbeiten.

Schon in diesem Haus war Helene Demuth als Haushälterin angestellt. Jenny und Marx nahmen sie später mit. Sie blieb ein ganzes Leben lang bei ihnen. Sie konnte alles, kümmerte sich um alles. Jenny war ganz und gar unpraktisch: Nähen, Bügeln, Kochen waren Fremdwörter für sie.

Später, in London, bekam Helene Demuth ein Kind von Marx. Unehelich. Das wurde heimlich gehalten. In der Beziehung war Marx durch und durch Großbürger. Engels übernahm die Verantwortung und behauptete, er wäre der Vater. Das nennt man einen Freund! Ob Jenny etwas ahnte? Man weiß es nicht. Vielleicht wollte sie es nicht wissen. Das Kind wurde allerdings in Adoption gegeben. Auch der Schwester von Helene Demuth drehte Marx ein Kind an. Das wurde abgetrieben, und die Mutter starb bei dem Eingriff. Alles wurde natürlich unter den Tisch gekehrt. Wie muss es für Helene gewesen sein, für den Mann zu arbeiten, der letztlich den Tod ihrer Schwester zu verantworten hatte? Oder wusste sie von nichts?

Jenny galt als das “schönste Mädchen von Trier”. Marx muss Jenny beeindruckt haben, weil er einfallsreich, charmant, gesellig, intelligent war und wohl auch große erotische Anziehungskraft hatte. Aber trotzdem fragt man sich, wie sie es mit ihm all die Jahre aushielt.

Ganz in der Nähe befindet sich das Haus (oder die Stelle, wo sich das Haus ursprünglich befand), in dem Fischers Maathes, das Trierer Original, wohnte. Er war etwas jünger als Marx, aber wohl auch Schulkamerad. Er war nicht nur Witzbold, sondern auch politischer Aktivist, glühender Anhänger der Achtundvierziger Revolution. Nach der Niederschlagung der Revolution vergrub er kompromittierende Schriften im Trierer Weißhauswald.

Aber auch die Anekdoten, die man von ihm erzählt, haben teils eine soziale Komponente. Lehrer: “Wie, du kommst ungekämmt in die Schule? Hast du keinen Kamm?” Fischers Maathes: “Doch, aber ohne Zinken.” – Schulkamerad: “Wo hast du denn die tote Maus her?” Fischers Maathes: “Aus unserer Speisekammer. Die ist da verhungert.” Auch so kann man Armut charakterisieren.

In der Schule lernte man nicht nur Griechisch und Latein, sondern auch Englisch und Französisch. Davon sollte Marx später sehr profitieren. Offen ist die Frage, welches Deutsch er sprach. Es wird behauptet, im Hause Marx wäre bis zum Schluss, auch in London noch, Trierer Dialekt gesprochen worden. Jenny stammte zwar aus Preußen, war aber mit zwei Jahren schon nach Trier gekommen. Merkwürdig, sich die Thesen aus dem Kommunistischen Manifest im Dialekt vorzustellen.

Das Haus ist nur ein paar Schritte von der Jesuitenkirche (streng genommen Dreifaltigkeitskirche) entfernt. In den angrenzenden Gebäuden befand sich die erste Trierer Universität und später das Gymnasium, das Marx besuchte, sechs Jahre lang. Marx war ein guter Schüler, aber kein Überflieger. Bekannt geworden ist sein Abituraufsatz, in dem es um die Berufswahl ging. Man hat darin gedankliche Spuren seiner späteren Entwicklung sehen wollen. Erst jetzt hat ein findiger Forscher herausbekommen, dass Marx bei den Mathematikaufgaben im Abitur abgeschrieben hat – von Edgar von Westphalen.

In der Jesuitenkirche wurde Marx getauft. Die Jesuitenkirche wurde von beiden Konfessionen benutzt! Marx’ Vater war zum Protestantismus konvertiert, ohne Überzeugung, aus rein pragmatischen Gründen: Er hätte als Jude nicht als Rechtsanwalt arbeiten können. Seine Frau konvertierte erst viel später. Ihr fiel es bedeutend schwerer.

Auf dem Trierer Viehmarkt steht das Casino, ein klassizistischer Bau. Er ist inzwischen, seit dem Abzug der Franzosen, anderen, meist gastronomischen Zwecken zugeführt worden. Zur Zeit von Marx war es eben das Casino – hat nichts mit Casino im Sinne von Spielcasino zu tun, sondern war eine Art Begegnungs- und Bildungsstätte für die Trierer Elite, zunächst ausschließlich die männliche Elite. Später fanden auch Festlichkeiten mit Frauen hier statt, und ging das schönste Mädchen von Trier auf ihren ersten Ball.

Eine Art Vorgänger des Casinos war ein Lesekreis, fortschrittlich, liberal gesinnt, den der Erzbischof 1773 genehmigte, aber 1793, unter dem Eindruck der Revolutionswirren in Frankreich, zur Sicherheit wieder verbot. Dann kam, nach dem Wiener Kongress, eben das Casino. Gleiche Ausrichtung. Beide Väter, Marx und von Westphalen, nahmen lebhaft an den Aktivitäten teil und hielten auch eigene Vorträge und waren wohl auch an einem denkwürdigen Tag präsent, als es hier, in weinseliger Stimmung, zum Absingen der Marseillaise kam. Das Casino wurde vorübergehend geschlossen. Marx wuchs also in einer weltanschaulich liberalen Atmosphäre auf und hatte das Glück, von drei gebildeten, weltoffenen Männern geprägt zu werden: seinem Vater, Jennys Vater und dem Direktor des Gymnasiums.

Das eigentliche Elternhaus von Marx ist ein kleines, zweistöckiges Haus in der unmittelbaren Nähe der Porta. Hierher war die Familie gezogen, als Marx gerade ein halbes Jahr als war. Hier blieb er bis zum Abitur und kehrte nie wieder hierher zurück. Dieses Haus war kleiner als das Geburtshaus, aber es war kein Rückschritt, sondern eine Verbesserung: Früher hatte man zur Miete gewohnt, jetzt hatte man sein eigenes Haus.

Marx’ Mutter lebte hier bis zu ihrem Tod. Sie überlebte ihren Mann um 25 Jahre. Ihr Sohn hatte da noch 20 Jahre zu leben. Der Tod der Mutter scheint keine große Trauer bei Marx hinterlassen, wohl aber ein Gerangel um das Erbe ausgelöst zu haben. Marx verhielt sich nicht gerade feinfühlig.

In dem Hausrat befanden sich beim Tod der Mutter 8 Fuder Wein, eine ungeheure, fast unvorstellbare Menge für einen Privathaushalt. Man fragt sich, wo man all das Zeug gelagert hat. Eins ist klar: Gesoffen wurde ständig, und Wein war durchaus auch für Kinder an der Tagesordnung, auch als Arznei. In Karls Aufzeichnungen aus London geht es auch ständig um Wein, die Sorge um den zu Neige gehenden Vorrat und die Versorgung mit qualitätsvollem Wein.

Nur ein paar Schritte vom Elternhaus entfernt steht Triers letzte Errungenschaft: die Marx-Statue, ein Geschenk der Volksrepublik China an Trier zum 200. Geburtstag von Marx. Die Statue ist, wie sollte es anders sein, umstritten, aber es gibt natürlich gute Gründe dafür, dass Trier seinem berühmtesten Sohn seine Reverenz erweist, bei aller Diskussionswürdigkeit einiger seiner Thesen. Dass viele seiner Ansichten hochaktuell sind, ist kaum zu bestreiten.

Die Statue ist eher konventionell, entspricht den Marx-Darstellungen auf unzähligen Abbildungen. Sie hätte sicher auch so in der DDR stehen können. Die Statue ist nicht glatt und rund, sondern eher kantig, ganz der Persönlichkeit Marx’ entsprechend. Er hält ein großformatiges Buch unter einem Arm. Und er macht einen Schritt nach vorn, so wie für ihn der Sozialismus einen Schritt nach vorn bedeutete. Er wendet seinem Elternhaus (und Trier) den Rücken zu und geht von hier in die große, weite Welt.

Als kleinen Gag hat man, kurz vor der Einweihung der Statue, an der Ampel vor der Statue aus dem Fußgängermännchen ein Marxmännchen gemacht.

 

 

 

 

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