Naive Dichtung?

Über naive und sentimentale Dichtung ist der Titel eines großen Essays von Schiller. Darunter können wir uns heute wenig vorstellen. In moderner Terminologie würde es vermutlich heißen Über das Verhältnis von Realismus und Idealismus. (Burschell, Friedrich: Schiller. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt: 134)

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Kleiner Eingriff

Geschlecht ist nur erlernt. Um diese These zu beweisen, befreite John Money, amerikanischer Sexualforscher, den zweijährigen Bruce Reimer von seinem (bei der Beschneidung beschädigten) Genital und ließ ihn als Mädchen aufwachsen.  Kastration und Herstellung von Schamlippen konnten als “Therapie” durchgehen. Alice Schwarzer rühmte das Experiment als eine der wenigen Forschungen zum Geschlechterverhältnis, die nicht manipulieren, sondern aufklären. Der erwachsene Reimer ließ die Umwandlung rückgängig machen und nahm sich das Leben. (Martenstein, Harald: „Schlecht, Schlechter, Geschlecht“, in: Zeitmagazin 24/2013: 12-19)

 

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Altherrenclub?

Marguerite Yourcenar wurde als erste Frau in die Académie Française aufgenommen, damals eine konservative, wenn auch prestigeträchtige Altherrenversammlung. Als der Vorschlag gemacht wurde, gab es einen Aufruhr. Fast alle vierzig Mitglieder waren dagegen. Es wurde ironisch argumentiert, man wolle es ihr ersparen, unter lauter alten Männern alt zu werden. Jean d’Ormesson, der sie vorschlug, hatte zur Verteidigung seines Vorschlags, wie er selbst später sagte, auch keine sehr “eleganten” Begründungen vorgebracht: Marguerite Yourcenar sei zwar eine Frau, aber keine sehr weibliche, und außerdem werde sie vermutlich ohnehin nicht sehr häufig kommen. Marguerite Yourcenars Biographie machte die Entscheidung nicht leichter: Sie war in Brüssel geboren, war amerikanische Staatsbürgerin geworden (erst wegen der Aufnahme in die Académie Française nahm sie wieder die französische Staatsbürgerschaft an), und sie lebte mit einer Frau zusammen. Sie wurde trotzdem gewählt. Ihr Künstlername ist ein Anagram ihres bürgerlichen Namens, Crayencour.

 

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Was Frauen wünschen

Aphrodite ist mit Hephaistos vermählt. Er steht für handwerkliche Kunstfertigkeit, für technisches Know-how, für schöpferische Phantasie. Das Zepter des Zeus ist sein Werk, ebenso die Ägis oder der Wagen des Helios, vor allem aber der Schild, den er in einer Nacht für Achilles herstellt. Mit Hephaistos und Aphrodite vereinen sich höchste Vollendung in der Kunstfertigkeit und höchste Vollendung in der Liebe. Und was macht Aphrodite? Sie geht fremd. Mit Ares, dem Kriegsgott! Dämonische, urtümliche, vom Menschen kaum zu kontrollierende Mächte sind hier am Werk. (Bannert, Herbert: Homer. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1992: 100-103)

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Nützliche Götter

Expedit esse deos et, ut expedit, esse putamus – Es ist nützlich, dass es Götter gibt, und da es nützlich ist, wollen wir daran glauben. So fand es Ovid. Klingt zynisch. Aber die Religion bedeutete ein stabilisierendes Element im Leben der staatlichen Gemeinschaft, und das wurde als notwendig empfunden nach den traumatischen Erfahrungen des Bürgerkriegs. Religion war einfach nützlich. Gesinnungsschnüffelei wurde nicht betrieben. Jeder konnte seine Teilnahme an Festen und Riten als Traditionspflege verstehen und als Wahrung eines kulturellen Erbes. (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52003: 96-97)

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Sprachgeschichte

Jefferson plädierte dafür, dass an der von ihm gegründeten Universität Virginia in Charlottsville nur “nützliche Wissenschaften” studiert werden sollten. Eine Professur für Theologie gab es nicht. Zu den “nützlichen Wissenschaften” zählte dagegen auch Altenglisch. (Nicolaisen, Peter: Thomas Jefferson. Reinbek: Rowohlt, 1995: 132)

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Totenreich

420.000 amerikanische Soldaten fielen im 2. Weltkrieg, 620.000 im Amerikanischen Bürgerkrieg. In Vietnam fielen 58.000, in Afganistan und im Irak 6.600.  (Piper, Nikolaus: „Revolution ohne Anführer“, in: Süddeutsche Zeitung 297/2015: 25)

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Echt falsch

Im 2. Teil des Don Quijote begegnet Don Quijote – Don Quijote! Der zweite Don Quijote schaut in Gesellschaft von Sancho und der einiger Freunde auf den ersten Don Quijote. Er erlebt ihn als Kunstwerk und kommentiert und kritisiert ihn. Fiktion steht im Gegensatz zur Wirklichkeit, die aber selbst auch Fiktion ist.  Das wiederholt sich, als Don Quijote Lesern des Don Quijote des Avellaneda begegnet und ihnen versichert, ihr Don Quijote sei nicht real. Er sei der wahre Don Quijote. (Dietrich, Anton: Cervantes. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1984: 118-119)

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Getisch lernen!

In der Verbannung in Tomi, am Schwarzen Meer, erlebte Ovid sein blaues Wunder: Die Menschen dort sehen abenteuerlich aus: Sie tragen Felljacken und lederne Hosen gegen die Kälte, spitze Mützen und Kapuzen. Die Einheimischen, die zum Markt in die Stadt kommen, sind Nomaden. Der Dolch an der Seite wird oft gezückt. Latein spricht kaum jemand, das Griechische ist mit getisch-sarmatischen Wörtern vermischt und klingt ihm fremd, ist oft unverständlich. Die lingua franca ist Getisch. Die versteht er nicht. Angesichts der Lage fühlt er sich beargwöhnt und verfolgt, von Feinden umgeben. Im Laufe der Zeit wird das Verhältnis besser. Ovid lernt Getisch und dichtet sogar in der Sprache. (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52003: 119)

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Frauenversteher?

Eine Frau begehrt ihren Vater, eine Frau begehrt ihren Bruder, ein Mädchen, als Junge aufgezogen, verliebt sich in ein Mädchen, eine Frau begehrt den Anführer der gegnerischen Armee und verrät ihr Heimatland und opfert dabei ihren Vater. Menschen, die im Zwiespalt leben, ein Zwiespalt zwischen Leidenschaft und Vernunft, zwischen Trieb und Norm. Verborgene Seelenbereiche werden durchleuchtet, und die Frage wird gestellt: Was ist natürlich, was ist Konvention bei jenem komplexen Gefühl, das man “Liebe” nennt? Das sind moderne Motive, sollte man meinen. Aber neu sind sie nicht. Alles steht bei Ovid: Myrrha und Biblis, Iphis und Skylla heißen die Figuren. Ovid – ein Frauenversteher? (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52003: 60-61)

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Da ist der Wurm drin

Glühwürmchen sind keine Würmchen, keine Würmer. Trotzdem gibt es für das Wort eine Erklärung, eine Erklärung, die so einfach und naheliegend ist, dass man sich wundert (und ein bisschen ärgert), dass man nicht selbst darauf gekommen ist: Das Wort Wurm hat einfach seine Bedeutung verändert. Es bedeutete früher ‘Käfer’ oder ganz allgemein ‘Insekt’.  Etymologisch ist es auch verwandt mit engl. vermin, ‘Gewürm’, und mit schwed. orm, ‘Schlange’. Diese Bedeutung ist wiederum im Gebrauch von Wurm in älteren Bibelübersetzungen zu finden, wo es sich z.B. auf die Schlange im Garten Eden bezieht. Und dazu passt dann wiederum der Lindwurm.

 

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Dickmacher?

Dicke Kellner stimulieren den Konsum: Bei dicken Kellnern bestellen Gäste viermal häufiger einen Nachtisch und 17% mehr alkoholische Getränke. Dicke Kellner sind eine gute Investition für Wirte. (DLF 5. Januar 2016)

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Fest-Tag

Die Amerikanerin Anna Marie Jarvis wollte 1908 ihre eigene Mutter ehren, weil sie ihr Leben der Wohltätigkeit gewidmet hatte. Das war der Beginn der Muttertags. Später, als der Tag längst kommerzialisiert war, setzte sie sich für seine Abschaffung ein. Erfolglos. (Pfeifer, David: “Mamma mia”, in: Süddeutsche Zeitung 105/2016: 2)

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Arme Männer

Eine Frau, die 2014 geboren wurde, hat eine Lebenserwartung von 73,6 Jahren, ein Mann nur von 69,4 Jahren. Fast vier Jahre weniger. Im Durchschnitt. Weltweit. Dafür gibt es biologische Gründe. Das Immunsystem von Männern lässt im Laufe des Lebens stärker nach, und das weibliche Sexualhormon Östrogen schützt vor Herz-Kreislauf-Erkrankungen.  Wichtiger sind aber gesellschaftliche Faktoren: Männer achten weniger auf ihre Gesundheit, üben gefährlichere Berufe aus (Soldat, Bergarbeiter), haben gefährliche Hobbies (Motorradfahren, Eisklettern), trinken und rauchen mehr. Ziemlich unklar wird das Bild, wenn man sich die ganze Welt ansieht: In Schweden leben Frauen knapp vier Jahre länger, in Russland mehr als zehn Jahre länger, in Nigeria nicht einmal ein Jahr länger, in Brasilien sieben Jahre länger, in Peru fünf Jahre länger. In Mali leben Männer sogar länger als Frauen. In Afrika sterben viele Menschen an Infektionskrankheiten, und die trifft Frauen und Männer gleich. Und das Risiko, bei der Geburt zu sterben, ist höher. Beim Schritt vom Entwicklungs- zum Schwellenland wird die Lücke zwischen Frauen und Männern größer, beim Schritt von Schwellen- zum Industrieland schließt sie sich wieder. Das größte Paradox ist aber, dass Frauen länger leben, obwohl sie sich nicht so gesund fühlen und obwohl sie objektiv weniger gesund sind. Aber ihre Krankheiten sind nicht lebensbedrohend. (Endt, Christian: “Die Lücke”, in: Süddeutsche Zeitung 97/2016: 16)

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Romeo and Juliet

“Where is she, and how doth she, and what says/My concealed lady to our cancelled love?“. Something just sounds slightly wrong in Romeo’s speech here, in the second verse. But this is easily resolved. Shift the stress in concealed from the second syllable to the first, and everything falls into place. You shift the stress because this is how the word was pronounced at the time. Romeo and Juliet is a real treasure trove for language. And this one about the stress is just a minor case. Now for something major. Sex. Romeo and Juliet, despite its reputation as an elegiac tragedy, a romantic story, is really quite a saucy play. There is sexual innuendo all over the place. Perhaps words like prick, stand, O, circle, pencil, maidenheads, my naked weapon are rather obvious examples, and they practically never occur in the play without a secondary meaning. But there are also less obvious cases: dried herring, glove upon that hand, bow in the hams, poperin’ pair – none of these words is as innocent as it sounds. But most of us need an annotated edition to see this. One wonders what a modern English spectator makes of them and how they can be conveyed if the play is translated. But there is another kind of wordplay which is even more prominent in the play: repetition of words, juxtaposition of words, use of morphologically different forms of the same stem, that kind of thing. It pervades the whole play, and you get passages like as soon moved to be moody and as soon moody to be moved or single-soled jest, solely singular for the singleness or we waste our lights, in vain lights light by day. Makes you head grow dizzy. Mine at least. There is further wordplay on the bases of ay, ‘yes‘, being  homonymic with eye and I. Juliet has a good time exploiting it: Say thou but I/And that bare vowel I shall poison more/Than the death-darting eye of a cockatrice./I am not I if there be such ay/Or those eyes shut that makes thee answer ay. You tell me how a German school learner can understand this. But there’s more to confuse the reader. Shakespeare often gets his grammar wrong. Completely wrong. You get a troubled mind drive me to walk around and that crystal scales and the villain lives which slaughtered him and worser than Tybalt’s death and cruel death has catched it from my sight. One doesn’t trust one’s eyes. Or ears.  And then there is learn me how to lose a winning match. Curiously, in later editions of other plays, learn in this function is replaced by teach, suggesting that learn in the sense of ‘teach’ was already losing favour. And then of course there is the obnoxious thou and you (never mind ye, which also occurs). Now one might say, no big deal, one is du and the other is Sie. But isn’t it then at least odd that Juliet, despite the age difference (she is only 13!), consistently uses thou for the nurse whereas the nurse uses you for Juliet? But then, of course, it is social distinction that this is all about. But why does Juliet’s mother, in a longer dialogue, use thou and you alternately when speaking to Juliet? The social factor does not hold here, psychology is at work here. Romeo and Juliet use thou for each other, except the first time they meet when Juliet first addresses Romeo using you, but only once. And then there is Zounds! I always thought that it was a mild imprecation, it now sounding so dated. But it was quite strong at the time, so strong that it was removed from the Folio edition of several plays. The literal meaning, ‘by God’s wounds’, was perhaps still more present. I was further confused by Good-e’en. Romeo uses it shortly after midday! Today this would sound funny, at least in English. But not perhaps in modern Italian, where people use Buona sera earlier  than the word sera suggests. And finally, language as a conveyor of culture. A plate is mentioned by one of the servants as part of the Capulets’ household. Nothing to write home about? Well, there is. The plate here is a status symbol, a token of the Capulets’ affluence. Plates were only just beginning to replace the wooden trenchers (also mentioned in the play). And then there is the name of Susan. This is the nurse’s dead daughter. Sounds like a perfectly normal name to use. But at the time it carried certain undertones. It was a surprisingly Protestant name for Catholic Verona. And it was a modern name, a newcomer among English names of the period. And one the first Susans in Stratford-on-Avon was Shakespeare’s own daughter. Incidentally she was 13 when the first Quarto was printed.

 

 

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