Be(ob)achtung

Auf Wattebäuschen, die er mit Tabaksaft und Parfüm getränkt hatte, reagierten sie nicht. Sie hatten offensichtlich kein Riechorgan. Auch auf die Trillerpfeife seines Enkels Bernard hatten sie nicht reagiert. Sie mussten taub sein. Aber als er sie in ihren Töpfen auf das Klavier setzte, zogen sie sich sofort in ihre Höhlen zurück, als seine Frau auf dem Klavier das hohe C spielte. Sie mussten die Schwingungen und Erschütterungen durch den Resonanzboden des Klaviers gespürt haben. Auch einen glutroten Schürhaken hatte er ihnen, zum Entsetzen von Frau und Enkel, vorgehalten, um sie auf Wärme zu testen. Für die Beobachtung ihres Liebesspiels musste er sich Zeit nehmen. Es dauerte eine Stunde und zwanzig Minuten. Dass sie sich überhaupt miteinander vergnügten, war keine Selbstverständlichkeit, denn er hatte unter dem Mikroskop gesehen, dass jedes Individuum sowohl mit Hoden als auch mit Eierstöcken versehen waren. Sie könnten also auch ihre Eizellen mit den eigenen Spermien befruchten. In der Regel zogen sie aber das aufwändige Liebesspiel vor. Auf Kohlblätter und Zwiebel standen sie, auch der Meerrettich gehörte zu ihren Lieblingsspeisen, nur noch übertroffen vom Grün der Karotte. Natürlich führte er auch Buch über ihre Exkremente, zählte die Exkrementkügelchen und rechnete hoch, wie viel Fläche sie im Laufe eines Jahres damit bedecken könnten. Bei all den Beobachtungen hatte er sie liebgewonnen und erkannt, dass es auch bei ihnen feine Unterschiede in Farbe, Beweglichkeit und Hübschheit gab. Seinen Intelligenztest hatten sie mit Bravour bestanden: Papierschnitzel, die er ihnen hinlegte, fassten sie mit ihren Lippen an den Spitzen Enden und zogen sie mit der schmalen Seite voran in ihre Höhlen. Erstaunlich, was man alles mit Regenwürmern anstellen kann. Vorausgesetzt, man heißt Darwin. (Jerger, Ilona: Und Marx stand still in Darwins Garten. Berlin: Ullstein, 2018: 16-36)

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