Nachtschwärmer

Im 17. Jahrhundert wurde die Nacht, die bis dahin terra incognita gewesen war, durch die verbesserten Formen der Beleuchtung, neu erschlossen. Die Straßenbeleuchtung wurde heller und kontrollierbar, die Festbeleuchtung heller und glanzvoller. In den europäischen Metropolen bildete sich das Nachtleben heraus. Im Mittelalter und in der frühen Neuzeit waren die Feste noch bei Tageslicht gefeiert worden. Das änderte sich jetzt. Parallel dazu ergab sich eine Verschiebug des Tagesablaufs nach hinten. Man kann diese Zeitenverschiebung am deutlichsten an den Mahlzeiten ablesen. In einer französischen Sittenschilderung von 1801 heißt es, die Franzosen hätten vor 200 Jahren ihre Hauptmahlzeit noch um 12 Uhr eingenommen. Heute, heißt es, speisten der Handwerker um 2 Uhr, der Kaufmann um 3 Uhr, der Angestellte um 4 Uhr, der Unternehmer um 5 Uhr, der Minister um 6 Uhr. Die unterschiedlichen Tagesabläufe entwickelten sich also entlang einer sozialen Skala. Je später der Tag begonnen wurde, umso höher der soziale Rang. Früh aufstehen, früh zur Arbeit zu gehen, früh zu Bett gehen wird zu einem Erkennungszeichen der einfachen Leute. Der späte Tagesablauf war ein Privileg der Bessergestellten, und so wie sich der Adel durch spätere Zeiten vom Bürgertum absetzte, so setzte sich das Bürgertum durch spätere Zeiten von den Kleinbürgern und Handwerkern ab. Der Adel ging am Abend ins Theater oder in die Oper. Dann folgten das Soupée. der Spielsalon, der Ball oder das Bordell. Gegen drei Uhr morgens begegneten die Nachtschwärmer auf dem Heimweg den Frühaufstehern, die auf dem Weg zur Arbeit waren. (Schivelbusch, Wolfgang: Lichtblicke. Zur Geschichte der künstlichen Helligkeit im 19. Jahrhundert. Frankfurt am Main: Fischer, 2004: 133-137)

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