Budapest (2010)

4. April (Ostersonntag)

Neuerung am Düsseldorfer Flughafen: Man kann nur noch elektronisch einchecken. Ohne Bordkarte kann man sein Gepäck nicht aufgeben. Das hat aber seine Tücken: Der Apparat erkennt meine Buchungsnummer nicht und lässt den Zielort Budapest nicht zu. Ich muss erst Hilfe anfordern. Der Zielort muss Zürich sein, da dort zuerst hingeflogen wird.

 

Ostersonntag reisen nicht so viele Menschen, und danach geht alles zügig und ohne Komplikationen. Allerdings kommen wir in Zürich trotz pünktlichen Abflugs mit fast halbstündiger Verspätung an. Warum, ist nicht ganz klar. Es ist zwar von Turbulenzen die Rede, aber ob das die Verspätung erklärt, wissen wir nicht. Beim Aussteigen drückt mir ein ungarisches Mädchen ein Blatt Papier in die Hand. Es ist eine Zeichnung mit ihrem Konterfei und Namen und ein paar Sternen und „Tank you“ darunter. Ich habe ihr vorher den Fensterplatz abgetreten und das Schokoladen-Ei, das im Flugzeug verteilt wird, das ich ohnehin nicht wollte. In dem Blatt liegt noch der Bleistift. Ich will ihn ihr zurückgeben, aber der gehört auch zum Geschenk. Sie hat vermutlich vorher beobachtet, wie ich meinen Reiseführer mit einem Bleistiftstummel bearbeitete. Bestärkt in meinem Glauben an das Gute im Menschen trete ich die Weiterreise an.

 

Im nächsten Flugzeug sitze ich neben einer Kanadierin aus Quebec, die in Lausanne als Krankenschwester arbeitet, ungarische Wurzeln hat und ihre kanadische Freundin in Budapest besucht. Sie bringt mir das ungarische Wort für danke bei, köszönöm, und sagt mir, wie der Forint zum Euro steht: für einen Euro bekommt man 250 Forint.

 

Ihr, d.h. das kanadische Französisch, erklärt sie mir, unterscheide sich deutlich vom Schweizer Französisch und wieder auf andere Art vom französischen Französisch. Vor allem von Franzosen werde sie für unhöflich gehalten. Außerdem sei ihr Französisch etwas antiquiert. Jedenfalls sehe man das in Europa so.

 

An einem englischen Werbespruch von Swiss Air gefällt mir irgendetwas nicht, aber ich weiß nicht genau, was: You only pay one price, and everything is already included. Es ist vermutlich der überflüssige und unidiomatische Gebrauch von already.

 

Am Flughafen werde ich von einem Taxifahrer abgeholt, ein Service, den man von zu Hause aus buchen kann. Auf eventuelle Verspätungen reagieren sie von selbst. Angesichts der weiten Entfernung zur Innenstadt lohnt sich die Investition.

 

Ich grüße auf Englisch, er antwortet auf Deutsch. Und legt gleich los, um bis zur Ankunft nicht mehr aufzuhören. Von meinem Hotel hat er noch nie gehört, und das ist dann wohl ein vernichtendes Urteil. Und es läge sowieso am falschen Bahnhof, am Ostbahnhof, zumal, wenn ich zum Paszmaneum wolle. Die Züge dorthin führen vom Westbahnhof ab.

 

Sein Urteil über den Euro fällt ebenso vernichtend aus. In Ungarn bekämen sie ihn wohl demnächst. Ein Fehler. Die Tschechen, wie immer die Klügeren, hätten ihn nicht, die Slowaken, wie immer die Dümmeren, hätten ihn.

 

Deutsch hat er von seiner strengen Großmutter gelernt, in den Ferien am Balaton. Dort habe es für die armen Kinder jeden Tag eine Stunde Deutschunterricht gegeben. Wer schwänzte oder nicht aufpasste, bekam kein Mittagessen. Typisch Deutsch. Ich mache einen vorsichtigen Einwand, aber den lässt er nicht gelten. Später stellt sich heraus, dass er dachte, ich sei Schweizer, weil ich mit einer Schweizer Maschine gekommen bin. Woher denn die Großmutter Deutsch gekonnt habe? Dumme Frage! Das sind die Donauschwaben. Hochdeutsch und Schwäbisch. Am Balaton hätten sich immer die Ostdeutschen und die Westdeutschen in den Ferien getroffen. Und die hätten immer geschrien. Die Deutschen müssten immer schreien.

 

Er kann mich nicht bis vor das Hotel fahren, da der ganze Bahnhofsplatz umgebaut wird. Das Hotel Baros, nach einem Politiker benannt, wie ich später erfahre, der sich um den Ausbau der Eisenbahn gekümmert hat, liegt im 5. Stock eines Hauses, das einst einer gut situierten Familie gehört haben muss, mit schöner Fassade in Blau

und Weiß und einem offenen Innenhof mit Brunnen. Um den Innenhof herum, hinter einem Gang mit schönem Gitter, gruppieren sich die Wohnungen. Auch hier ist alles in Blau und Weiß, wobei Hellblau mit Dunkelblau abwechselt.

 

Als ich im Zimmer bin, merke ich, dass der Schlüssel zum Koffer im Koffer gelandet ist. Bedingt durch das schöne Wetter ist die Jacke mit dem Schlüssel im letzten Moment im Koffer gelandet. Als ich das später im Kollegenkreis erzähle, findet man es völlig überholt, den Koffer abzuschließen. Ob denn jemand an meiner Wäsche interessiert sein könne. Früher hieß es immer, als ich den Koffer nicht abgeschlossen habe: Bist Du verrückt? Da kann sich doch jeder nach Herzenslust bedienen. Du hast doch gar keine Kontrolle über deinen Koffer.

 

Jetzt stehe ich jedenfalls vor dem abgeschlossenen Koffer und versuche mich hilflos an dem Schloss. Ohne Werkzeug keine Chance. An der Rezeption gibt es Hilfe. Man führt mich zum Werkzeug-schrank und gibt mir freie Auswahl. Mit Hilfe einer Zange und viel Gewalt gibt das Schloss dann nach. Glücklicherweise habe ich Schokoladentäfelchen dabei, um mich an der Rezeption zu bedanken.

 

Dann mache ich einen kleinen Spaziergang um den ziemlich verlassenen und angesichts der Bauzäune ziemlich trostlosen Platz herum und durch das Bahnhofsgebäude. Dort werde ich von zwei Männern angesprochen, die mich zum Schachspielen einladen. Sie haben ein ausklappbares Schachbrett auf einem Mauervorsprung platziert. Ich kann weder Schach noch Ungarisch, und meine Absage kommt ihnen vermutlich unhöflich vor.

 

An einem Stand gibt es Gyros, für den auf einer großen Tafel handschriftlich geworben wird: Pipi Gyros. Ich probiere trotzdem. Das Brot ist weicher als bei uns, das Fleisch viel kleiner geschnitten, und alles ist viel schärfer.

 

Die Fassade des Bahnhofs, im Stil der Neo-Renaissance, hat einen gläsernen Halbkreis im Zentrum der Fassade. In den Nischen stehen an den Seiten James Watt und George Stephenson.

 

Wie die anderen großen Bahnhöfe Budapests ist der Ostbahnhof ein Kopfbahnhof. Er gehörte zur Zeit seiner Erbauung zu den modernsten Europas, mit einer riesigen Bahnhofshalle, einer beeindruckenden Glas- und Eisenkonstruktion.

 

Ich besorge mir noch eine U-Bahn-Fahrkarte für den nächsten Tag. Sie kostet 320 Forint, nicht mehr, wie zu sozialistischen Zeiten, 1 Forint. Aber die Fahrkarten sehen noch aus wie damals, ganz schmal, aus dünnem Papier, mit neun Feldern, in die die Maschine, wenn man die Karte einführt, ein Loch frisst. Die neun Felder sind aber nur ein Relikt aus alten Zeiten, man kann mit der Karte nur eine Fahrt machen, für umgerechnet 1,20 €. An den Fahrkartenschalter kommt man über eine steile, lange, schnelle Rolltreppe, die einen weit unter die Erde führt, genauso wie in Moskau. Kein Zufall: Die U-Bahn wurde von den Russen gebaut.

 

Auf dem Rückweg zum Hotel fällt mir eine Sparkasse auf. Sie heißt Erste und hat das Symbol mit dem roten S der deutschen Sparkasse. Ist das ein deutsches Exportgut?

 

5. April (Ostermontag)

Der Ostermontag ist auch in Ungarn Feiertag. Es gibt einen besonderen Brauch: Frauen werden von Männern begossen, mit Parfüm in der Regel, damit sie im nächsten Jahr nicht verwelken. Als Gegenleistung gibt es Küsschen, Ostereier oder Schnaps. Um das zu erleben, muss man allerdings aufs Land fahren. In Budapest sehe ich jedenfalls nichts davon.

 

Der Feiertag bietet Gelegenheit zur Stadt-besichtigung, allerdings bei grauem Himmel und Nieselregen. Am Treffpunkt für den Stadtrundgang („An der weißen Kirche“) ist niemand, und das Büro, das die Stadtrundgänge organisiert, ist noch geschlossen. Also gehe ich in ein hochmodernes, teures Café, um die Zeit zu überbrücken. Die ganze Gegend hier ist anders, heller und gepflegter, als die Gegend um den Ostbahnhof.

 

Dann stellt sich heraus, dass ich ein altes Faltblatt hatte und der Rundgang eine Stunde später beginnt. Am Treffpunkt warten zwei Frauen, die auch mitgehen wollen, zwei Kanadierinnen, die sich nicht kennen. Beide kennen Deutschland von Reisen her und sprechen sehr positiv davon. Dann kommen zwei Studentinnen aus Singapur, die ein Studienjahr in Holland verbringen, eine Belgierin, Amerikaner, ein englisches Paar. Die Führerin ist eine ganz junge Lehrerin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, Englisch und Japanisch, und noch bis zum nächsten Tag Ferien hat.

 

Wir steigen gleich in die U-Bahn. Die sieht ganz anders aus als die, mit der ich gekommen bin. Nach ein paar Stufen ist man am Bahnsteig, ohne Rolltreppe. Die Decke ist niedrig, der Bahnsteig schmal, als Materialien sind Kacheln und Gusseisen vertreten. Sieht schön aus, geradezu gemütlich. Diese U-Bahn, erfahren wir, ist die zweitälteste in Europa und die älteste auf dem Kontinent.

 

Wir fahren zum Heldenplatz, einem riesigen Platz, an dem die ungarische Geschichte zelebriert wird. Auf einem in der Mitte geteilten Halbkreis stehen Statuen bedeutender Figuren der ungarischen Geschichte – fast nur Herrscher – und dazwischen auf einer hohen Säule ein Engel, der in die Geschichte eingegriffen hat – zugunsten Ungarns, versteht sich. Auf den Halbkreisen stehen Stammesfürsten und Könige. Es geht um nationale Einigung, Landnahme, Eroberungen, mit den Slawen und Türken als Lieblingsfeinde. Bedeutsam ist, dass Ungarn früher viel größer war – das erklärt unter anderem die ungarischsprachige Minderheit in Jugoslawien – und ihre Heimat nicht in Europa liegt – das erklärt die fremde Sprache. Zur Zeit der größten Ausdehnung soll Ungarn, heute ein Binnenland, bis zur Adria, zum Schwarzen Meer und zur Ostsee gegangen sein.

Angesichts all der Zahlen und Namen wird einem schwindlig. Immer wieder fällt der Name der Arpaden, einer bedeutenden Dynastie.

 

Die letzten drei Originalstatuen sind entfernt worden. Sie stellten die ungeliebten Habsburgerkönige dar. Deren Statuen wurden ersetzt durch welche von denen, die sich gegen sie auflehnten.

 

Am Schluss wird noch auf die beiden Kunst-museen hingewiesen, die den Platz flankieren, und dann machen wir uns auf zu unserem nächsten Ziel, dem idyllischen Stadtwäldchen, der größte denkbare Kontrast zu dem Heldenplatz. Hier geht es über eine kleine Brücke zu einem Gebäude-ensemble in historisierendem Stil, das als Burg bezeichnet wird. Was das genau ist, verstehe ich nicht. Wir sollen schätzen, die alt die Burg ist und ich schaffe es nicht, die Klappe zu halten und sage: “Nicht so alt, vielleicht 100 Jahre.” Stimmt. Alle anderen wollen es kaum glauben. Das sieht doch so alt aus. So, wie man sich Mittelalter vorstellt.

 

Alles ist säuberlich geplant, und jedes der Gebäude bildet einen anderen Stil nach, eine andere Zeit.

 

Vor der Burg steht eine große Statue eines Mannes mit Feder in der Hand, vor der man sich gerne fotografieren lässt. Er heißt Anonymus. Es ist die Statue eines Chronisten, der die ersten historischen Berichte über Ungarn verfasst hat, vor etwa 1000 Jahren.

Gleich hinter der Burg liegt eins der berühmten Bäder Budapests. Davon hat man mir schon zuhause erzählt. Es ist ein prachtvoller Bau mit einer Freitreppe, über die man in das Atrium gelangt. Von hier aus kann man in die Badesäle sehen, mit heißem und kaltem Wasser, innen und außen. Es wimmelt nur so von Menschen, von denen die wenigsten allerdings schwimmen. Darum geht es wohl nicht. Eher um Erholung. Und prompt bietet sich uns auch eines der emblematischen Motive Budapests dar: im Wasser um ein Schachbrett herumstehende Männer. Zusehen und kommentieren scheint genauso wichtig zu sein wie spielen.

 

Hinter dem Bad liegen Zoo und Botanischer Garten. Der Turm des Elefantenhauses wurde 1915 abgerissen. Aus politischen Gründen. Nur: Hat Politik etwas mit Elefanten zu tun? Offensichtlich ja. Der Turm sah dem Minarett einer Moschee ähnlich, und dagegen protestierte die Türkische Botschaft schon anfangs des 19. Jahrhunderts. Später fand der Protest Gehör, während der k. u. k. Monarchie. Denn die war mit der Türkei verbündet.

 

Von hier aus geht es zur Oper. Sie liegt auf der Andrassy, der Prachtstraße Budapests. Graf Andrassy, ein liberaler Adeliger des 19. Jahrhunderts, wurde wegen seiner staatsfeindlichen Umtriebe zum Tode verurteilt, war aber geflohen, als er hingerichtet werden sollte. In Ermangelung des Delinquenten wurde daraufhin ein Ölgemälde, das ihn darstellte, zur Exekution gebracht. Nach politischen Veränderungen machte Andrassy noch Karriere und wurde am Ende Ministerpräsident und dann Außenministers eines Landes, das ihn einst aufknüpfen wollte. Dagegen wirken die heutigen politischen Karrieren ehemaliger Alternativer geradezu harmlos.

 

Die Oper wurde nach dem Vorbild Wien gebaut und ist bekannt für seine Akustik. Wir werden nach ungarischen Komponisten gefragt, aber außer Bartok fällt kaum einem etwas ein. Es gibt aber noch einen viel bekannteren: Liszt. Der sprach zwar kein Wort Ungarisch, verstand sich aber selbst als Ungar. Eine der beiden Statuen zur Seite des Eingangs stellt ihn dar. Auf der Statue steht: Liszt Ferenç. Das lässt das Herz des Sprachbesessenen gleich dreimal schlagen. Sein deutscher Vorname ist durch das ungarische Äquivalent ersetzt worden, die Reihenfolge von Vor- und Nachname ist der unseren entgegengesetzt und es erscheint <sz> statt <s>. Warum das so ist, verstehe ich jetzt: Im Ungarischen steht der Buchstabe <s> für den Laut, der bei uns mit <sch> wiedergegeben wird; der Laut, für den bei uns das <s> steht, muss daher extra markiert werden, und das geschieht durch das zusätzliche <z>. In den nächsten Tagen begegne ich Diszkont, Busz und Szendvics.

 

Dass die Ungarn den Vornamen nachstellen, ist mir bei der zweisprachigen Homepage meines Gastgebers aufgefallen, des Vorsitzenden der Anglistik des Paszmaneums. Wenn man von Ungarisch auf Englisch umschaltet, verwandelt sich Andras Czer in Czer Andras. Es scheint nahezuliegen, diese Konvention mit dem außereuropäischen Ursprung der Ungarn in Verbindung zu bringen.

 

Seitlich der Oper befindet sich ein Restaurant, mit dem es eine spezielle Bewandtnis hat: Alle Angestellten, vom Geschäftsführer über den Koch bis zum Tellerwäscher, müssen, um eine Anstellung zu bekommen, nachweisen, dass sie ein Musikinstrument spielen können!

 

Von der Oper geht es zur Basilika – die keine ist, aber im Volksmund so heißt, eine mächtige Kuppelkirche, das höchste Gebäude Budapests. Ihre Erbauung ist eine Geschichte der Rückschläge, mit falschen Berechnungen, Überflutungen, Einstürze. Ihr Hauptportal geht auf einen großen Platz hinaus, auf den, in gerader Achse auf das unverstellte Portal ausgerichtet, eine breite Straße führt.

 

Dann geht es zur Donau runter. Vor einem Hotel weht eine kanadische Flagge. Das hat etwas mit einer Umweltschutzbewegung zu tun, aber was es genau ist, bekomme ich nicht mit.

 

Seitlich davon das sehenswerte Gebäude der Akademie der Wissenschaften, für mich das schönste Gebäude Budapests, ein dreigeschossiger Bau mit einer stark gegliederten und gleichzeitg harmonischen Fassade mit doppelten Säulenreihen und breiten Fenstern mit Rundbögen, alles im Stil der Neo-Renaissance. An der Fassade allegorische Figuren und die Statuen von Galilei, Lomonossow, Descartes, Leibniz, Newton und einem gewissen Revai, einem ungarischen Sprachforscher.

 

An der Seite ein Relief, das eine turbulente Szene in einer Sitzung darstellt: Der Graf, auf dessen Initiative die Akademie zurückgeht, stellt in einer dramatischen Szene sein gesamtes Jahres-einkommen dafür zur Verfügung. Daran kann man sich ein Beispiel nehmen.

 

Als wir vor der Akademie stehen, werden wir gefragt, welche ungarischen Erfinder wir kennen. Fehlanzeige. Dann nennt unsere Führerin eine ganze Reihe, die einem tatsächlich bekannt vorkommen, unter anderem den Erfinder des Zauberwürfels. Auch Streichhölzer wurden in Ungarn erfunden. Und dann fällt es mir, angesichts des Namens, wie Schuppen von den Augen: Byro, der Erfinder des Kugelschreibers.

 

Von der Akademie geht es auf die Kettenbrücke, die berühmteste Brücke Budapests, zwischen der Elisabethbrücke und der Margaretenbrücke gelegen. Alle verbinden Pest, wo wir uns befinden, mit Buda auf der anderen Seite. Der Unterschied ist augenfällig: Pest ist flach, Buda hügelig. Aus der Nähe sieht man später auch, dass Buda verwinkelt ist und krumme Gassen hat und Pest regelmäßig angelegt ist und breite Straßen hat, dass Buda eher gediegen und ruhig und Pest laut und  dynamisch ist.

 

Die Kettenbrücke wird von zwei Löwen ohne Zähne bewacht. Der Legende zufolge machte ein Kind den Architekten darauf aufmerksam, der sich daraufhin, verzweifelt über seinen Fehler, das Leben nahm. Stimmt aber nicht.

 

Am Ende der Kettenbrücke befindet sich in gerader Linie ein Tunnel, der genauso lang ist wie die Brücke. Kindern erklärt man, bei Regen werde die Brücke in den Tunnel geschoben.

 

Am anderen Ende befinden sich der Nullpunkt für alle Entfernungsmessungen in Ungarn und eine Drahtseilbahn, die auf den Burghügel hinaufführt. Wir nehmen aber den gewundenen Fußweg den Berg hinauf.

 

Unterwegs machen wir Halt und blicken auf das neugotische Parlamentsgebäude am anderen Ufer, das berühmteste Gebäude Budapests. Es ist genau symmetrisch, mit der Kuppel in der Mitte. Die beiden Flügel repräsentieren die beiden Kammern des Parlaments. Es weist eine große Zahl an Superlativen aus. Es ist 268 Meter lang, hat 691 Räume, 242 Statuen, 13 Aufzüge und 20 km Treppen. Der Präsident residiert oben auf der anderen Seite, auf dem Burghügel.

 

Oben auf dem Berg steht die Matthiaskirche, weiß, mit glasierten Kacheln auf dem Dach und einem spitzen Turm, der sich jetzt unter einem Gerüst versteckt.

 

Auf dem Platz davor die Reiterstatue von König Stephan, dem Staatsgründer, würdevoll, majestätisch, mit Königskrone, Heiligenschein und Kreuzesstab. Das Pferd hat alles Mögliche Schmuckwerk umgehängt.

 

Davor steht die Fischereibastei, herrlichster Kitsch, mit Zinnen und spitzen Türmchen und Fenstern mit eingestellten Säulchen, eine Aussichts-plattform, die aussieht wie ein Teil einer Ritterburg aus dem Märchenbuch, Fototreff und Fotomotiv gleichzeitig. Mit Fischern hat das wenig zu tun. Der Name kommt wohl daher, dass sich das Viertel der Fischer in der Nähe befand.

 

Hier endet die Tour. Ich gehe zu Fuß über einen gewundenen Weg zur Donau hinunter und suche etwas zu essen. Fast lande ich in einem China-Restaurant, bin aber gedankenschnell genug, rückwärts wieder rauszugehen. Eine gute Entscheidung, denn ich finde zufällig ein rustikales Lokal in der Nähe der Basilika, das alle Erwartungen erfüllt: gutes Essen, gute Atmosphäre, gute Bedienung. Erst später lese ich in einem Reiseführer, dass man das Lokal empfiehlt, aber dass es kaum einmal einen freien Platz gibt. Ich habe Glück.

 

Der Raum ist klein, mit Backsteinwänden, einer niedrigen Decke mit einem pflanzenumrankten Holzgestell und karierten Tischdecken. Es herrscht Rauchverbot, aber am Nebentisch rauchen zwei Spanierinnen, und keiner stört sich daran.

 

Die Spezialität des Hauses scheint Geflügel zu sein, denn das gibt es in allen möglichen Variationen: Hähnchen mit Spinat und Schafskäse, Hähnchen mit Speck und Roquefort, Hähnchen mit Bacon und Pfirsich, Truthahn in Pflaumensoße. Ich entscheide mich für Hähnchen mit Honig und Senf. Hervorragend! Dazu gibt es leckeres ungarisches Bier, Soproni. Es heißt, dass in Budapest mehr Bier als Wein und in der Provinz mehr Wein als Bier getrunken wird.

 

Zum Nachtisch gibt es Kaffee. Den gab es in Ungarn schon, als er in Deutschland noch unbekannt war. Das ist ein Erbe der Türken. Ich finde in einem Reiseführer den Bericht eines Augsburgers, der im 16. Jahrhundert auf einer Reise in Berührung mit dem Kaffee kam, damals noch ein unbekanntes Getränk, und ihn, mangels eines Wortes, wortreich umschreibt: Farbe, Geschmack, Temperatur, Wirkungen, Trinkgefäße. All das war neu.

 

6. April (Dienstag)

Budapest ist nicht wiederzuerkennen: Alltags-hektik statt Sonntagsruhe. Um den Bahnhof herum, auf den Bahnsteigen und in den Zügen wimmelt es nur so von Menschen. Und man hat es eilig. Auffällig die fast einheitlich dunkle Kleidung: grau, blau, schwarz.

 

Auf dem schmalen Weg zwischen den Bauzäunen hindurch zum Bahnhof bilden Bettler Spalier, einige von ihnen schlimm verkrüppelt. Da zögert man nicht, etwas zu geben. Aber wenn ich, wie das in den nächsten Tagen immer wieder passiert, mehrmals am Tag an ihnen vorbeikomme, werde ich geiziger. Ich gehe vorbei und richte schuldbewusst den Blick woanders hin.

 

Auch um diese Zeit schon gibt es an den Bahnhöfen überall kleine Verkaufsstände, von denen her es verlockend nach frischen Backwaren riecht, schon aus einiger Entfernung. Gut für mich, denn ich musste das Hotel noch vor dem Frühstück verlassen. Mein erstes Seminar ist um 8 Uhr.

 

Glücklicherweise brauche ich nicht alleine den Weg zu der außerhalb Budapests liegenden Uni zu finden. Eine Kollegin will mich mitnehmen. Ich soll zum Moszkva tér kommen. Und da auf sie warten. Treffpunkt McDonalds.

 

Es regnet ein bisschen und es ist bedeckt. Der Platz ist so groß, dass ich erst McDonalds gar nicht finde und aufgeregt überlege, ob ich vielleicht falsch bin. Dann sehe ich aber das bekannte Emblem am anderen Ende des Platzes. Ich postiere mich dort und frage mich, wo die Kollegin wohl halten will. Bis zur vereinbarten Zeit warte ich an Punkt und Stelle, beginne dann auf und ab zu wandern. Dann kommt eine SMS mit der Information, es werde 5 Minuten später. Dann eine weitere, es werde noch 5 Minuten später. Und dann ein Anruf mit der Ankündigung, jetzt dauere es nicht mehr lange.

 

Ich bin längst über die Phase der Nervosität hinaus, als sie endlich vorfährt, in einem kleinen, voll bepackten Auto. Sie ist eine junge, etwas rundliche, ausgesprochen freundliche und sprachbegabte Frau. Auch Deutsch kann sie, obwohl sie es als angerostet bezeichnet, ganz gut. Besonders aber hat es ihr Russisch angetan. Das kommt in Ungarn wohl nicht so oft vor.

 

Ich erfahre, was es mit dem Pászmaneum auf sich hat. Es handelt sich um eine alte, während der Zeit der Gegenreform von Péter Pászman gegründete Universität, die sich durch alle Epochen und viele Veränderungen, auch der k. u. k.-Zeit und der sowjetischen Zeit, gehalten und in Ungarn einen sehr guten Ruf hat. Den alten Namen hat sie erst seit dem Fall der Mauer wieder. Die meisten Fakultäten sind in Budapest, die Theologische Fakultät ist in Esztergom, und die Philologische in Pilisvörösvar. Dahin geht unsere Fahrt. Wir kommen an Wiesen und Feldern vorbei und durch Orte mit deutschen Namen – dies ist das Land der Donauschwaben. Begeistert erzählt sie mir, wie hier immer noch in Donauschwäbischem Dialekt gesprochen wird. Als wir an der Universität ankommen, sind wir noch gut in der Zeit.

 

Gleich der erste Eindruck der Universität ist ausgesprochen einnehmend. Sie ist schön und sie liegt schön, in einem waldähnlichen Gebiet, jenseits von Gut und Böse. Die Architektur hat etwas Märchenhaftes. Unregelmäßige, an Formen aus der Natur, wie zum Beispiel einen Pilz, erinnernde, Gebäude, jedes anders als das andere, alle in Weiß, mit schwarz-grauen, teils schief aufgesetzten Dächern. Es erinnert an Gaudí. Offensichtlich wurde ein namhafter ungarischer Architekt dafür gewonnen, dessen Name mir aber nichts sagt. Die Universität liegt charakteristischerweise auf dem Gelände einer sowjetischen Kaserne, und die alten Kasernengebäude dienten nach der Wende als provisorische Unterrichtsräume.

 

Ich werde in einen der Räume der Anglistik geführt und einem englischen Kollegen vorgestellt, der mich gleich fragt, was mich denn aus der Zivilisation in die Wildnis geführt habe. Er spricht fließend Ungarisch und scheint schon geraume Zeit in der Wildnis zugebracht zu haben.

 

Dann kommt auch meine Gastgeberin, noch eine sehr freundliche Kollegin, in deren Seminar ich heute unterrichten soll, über britisches und amerikanisches Englisch. Sie warnt mich, nicht allzu große Erwartungen zu haben. Die Studenten kämen gerade erst aus den Ferien zurück. Ich befürchte eher, dass das, was ich vorbereitet habe, zu elementar ist. Es stellt sich aber heraus, dass es gerade richtig ist. Die Studenten brauchen eine gewisse Anlaufzeit, tauen aber bald auf. Sie kennen viele der Konzepte schon, aber wenig von dem konkreten Material und haben ein paar Aha-Erlebnisse. Ich habe mit Hilfe unserer ungarischen Studentin ein paar ungarische Formen vorbereitet, die sie in die beiden Varietäten übersetzen sollen. Sie schätzen meine Mühe sehr und übersehen höflich ein paar Rechtschreibfehler, die ich gemacht habe.

 

Anschließend kann ich im Lehrerzimmer ein paar Notizen am PC machen. Gar nicht so einfach. Einige deutsche Buchstaben fehlen. Es gibt zwar ö, aber nicht ä, und ö kann mal leicht mit ő verwechseln. Außerdem ist die Anordnung der Tasten etwas anders: die 0 ist links von der 1, das @ versteckt sich unter dem V. Und wenn man speichern oder öffnen will, sieht man sich mit den ungarischen Wörtern konfrontiert, und man muss aus dem Gedächtnis die richtige Stelle anklicken.

Dann werde ich bald einem Dutzend anderer Kollegen vorgestellt, die alle irgendwie schon von mir wissen. Wer wer ist, weiß ich am Ende nicht mehr.

 

Dann werde ich über den Campus geführt. Im Zentrum des Hauptgebäudes steht eine mächtige Bronzeskulptur des Gründers, Péter Pászman, mit Kardinalshut. Es heißt, Ungarn sei, als er geboren wurde, ein protestantisches Land gewesen, und ein katholisches, als er starb. Wichtiger als der konfessionelle Aspekt scheint aber der kulturelle und politische zu sein, denn es ging um die Durchsetzung einer christlich geprägten Universität zur Zeit der Türkenherrschaft. Das wurde geduldet. Der Islam ist, trotz aller Kriege gegen die „Ungläubigen“, dem Christentum gegenüber oft sehr aufgeschlossen gewesen.

 

7. April (Mittwoch)

Im Laufe der Tage entdecke ich mit Erstaunen, wie viele ungarische Vornamen man kennt: István, Lazlo, Janos, Ferenç, Sandor, Gabor, Bela, Gyula, Imre.

 

Meine Gastgeberin hat mir angeboten, mich heute zur Universität mitzunehmen. Sie hat dort eine Halbtagsstelle und eine weitere Halbtagsstelle in einem Forschungszentrum oben an der Burg. Mein Vortrag ist erst am frühen Nachmittag, und ich habe noch Zeit, mir vorher etwas anzusehen. Eigentlich will ich ins Parlament, aber daraus wird nichts. Als ich endlich den richtigen Eingang gefunden und es geschafft habe, nach mehrmaligem Schlange stehen vor der Kartenverkäuferin zu stehen, erfahre ich, dass die frühe Führung bereits ausgebucht ist.

 

Um das Parlament herum herrscht eine englische Atmosphäre, mit den historisierenden Bauten, dem gepflegten Rasen und den Gebäuden mit Säulen im zweiten Stock. Vor dem Parlament weht eine ungarische Flagge mit einem Loch in der Mitte. Was fehlt, ist das Mittelstück mit den kommunistischen Emblemen. Es wurde bei dem Aufstand von 1956 entfernt. Das Loch, um das sich alles dreht, kann man heute aber nicht sehen. Es ist ein sonniger und windstiller Tag, und die Flagge hängt reglos am Mast herunter.

 

Ich gehe über die Kettenbrücke gleich zur Burg hinauf. Besser gesagt, ich fahre, denn ich nehme diesmal die Drahtseilbahn, eine Schweizer Konstruktion. Ein Prospekt spricht von den Vorteilen der Drahtseilbahn, die energiesparend und sicher sei.

 

Oben angekommen, will ich zuerst in die Matthiaskirche, werde aber am Eingang gleich wieder zurückgeschickt. Hier wird Eintritt gezahlt. Die Karte gibt es in einem Kiosk gegenüber.

 

Wenn man die Kirche betritt, muss man sich erst an die Dunkelheit gewöhnen und ist dann gleich erschlagen angesichts all der Pracht. Ob das schön ist oder nicht, ist schwer zu sagen, aber hier hat das 19. Jahrhundert ganze Arbeit geleistet und alles Barocke beseitigt oder übermalt, mit bunter Ornamentmalerei an Wänden und Pfeilern, und die transparenten Fenster durch Buntglasfenster ersetzt, um so den „Originalzustand“ wieder herzustellen.

 

Original erhalten ist, in einer Seitenkapelle, das Grabmal von Bela III. und Gemahlin aus der Dynastie der Arpaden (XII),  aus weißem Marmor, ganz das Ideal des Ritterkönigs darstellend. Er wurde in Byzanz erzogen, wurde aber nicht Kaiser und begnügte sich als Ersatz mit dem Königsjob in Ungarn. Er führte regelmäßige Aufzeichnung ein, holte Mönche des gerade gegründeten Zisterzienserordens ins Land und legte die Festung auf dem Burghügel an. Die verschiedenen Viertel auf dem Burghügel wurden verschiedenen Nationen zugeteilt. Das erklärt, warum mir vieles so bekannt vorkommt. Hier haben Deutsche ihre Spuren hinterlassen.

 

Bei dem schönen Wetter kann man den Burghügel mit seinen verwinkelten Straßen und pittoresken Häusern richtig genießen.

 

Einige Häuser auf dem Burghügel haben Sitznischen. Ihre Funktion ist unbekannt. Vielleicht wartete man hier auf Einlass, vielleicht saß hier der Hüter des Hauses.

 

Bei der Suche danach lande ich in einem Café, von dem ich, erst als ich sitze, feststelle, dass es das bekannt Ruszwurm ist, das mir schon zu Hause empfohlen wurde. Es ist ein besseres Wohnzimmer, ein langgestreckter, schmaler Raum mit einem langen Sofa und kleinen runden Tischen, einem Kachelofen und Schwarz-Weiß-Photographien von Budapest an den Wänden. Hier gibt es den berühmten, hauseigenen Cremekuchen, der nicht auf Vorrat gebacken wird, sondern je nach Nachfrage und daher immer frisch ist. Schmeckt wunderbar!

 

Dass Budapest aus Buda und Pest besteht, wissen viele. Aber dass es auch noch Obuda gibt, als dritten Teil, ist weniger bekannt. Woher kommt die Ähnlichkeit von Buda und Obuda? Bei der Lektüre zum Kaffee im Ruszwurm finde ich eine Erklärung: Das heutige Buda entwickelte sich zu einem “richtigen” Ort, bekam Markt- und dann Stadtrechte und wurde dann zur Hauptstadt Ungarns. Als Stadt wurde es aber von Deutschen regiert. Die nannten es Ofen, in Anlehnung an Pest, die Ungarn aber übernahmen den Namen den alten Siedlungsnamen Buda und nannten das alte Buda jetzt Obuda – ‘Alt-Buda’!

 

Ich lande in einem Labyrinth, den unterirdischen Gängen unter der Burg. Es ist gerade erst eröffnet worden, und als ich später den Ungarn davon erzähle, hat noch niemand etwas davon gehört.

 

In prähistorischer Zeit haben die Gänge schon als Zufluchtsort gedient, im Mittelalter als Weinkeller, Gefängnis, Folterkammer, Schatzkammer, und im 2. Weltkrieg als Militärhospital und Schutzbunker. Hier konnten 10.000 Menschen Platz finden. Ursprünglich gab es keine Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen. Die wurden aber von Menschenhand geschaffen, und die haben die Höhlen erst zu einem richtigen Labyrinth gemacht.

 

Da die Räume leer sind, hat man, um die Tour aufzuwerten, alle möglichen Figuren, Skulpturen und Installationen eingebaut und den einzelnen Teilen hochtrabende philosophische Namen gegeben wie Weltachse und Labyrinth der Liebe. Das ist nicht sonderlich interessant, mit Ausnahme eines Brunnens, aus dem Rotwein fließt. Man hört den Wein schon aus der Ferne plätschern und nähert sich ihm durch die fast dunklen Gänge. Das hat Atmosphäre.

 

Eigentlich hält mich aber nichts mehr hier, und ich entscheide mich, wieder ans Tageslicht zu gehen.

Es gibt nur ein Problem: Ich befinde mich in einem Labyrinth. Und das bekomme ich jetzt zu spüren. Erst gehe ich noch mit sicheren Schritten dem Ausgang entgegen und kann verschiedene Stationen, an denen ich vorher vorbeigekommen bin, wiedererkennen. Außerdem bin ich doch die ganze Zeit geradeaus gegangen. Glaubte ich. Aber da, wo der Ausgang war, ist er nicht mehr. Man läuft ins Leere. Ich muss zurück. Dabei achte ich darauf, immer geradeaus zurückzugehen, dahin, wo ich hergekommen bin, aber plötzlich komme ich an Stationen vorbei, die ich nicht wiedererkenne. Dann wieder an welchen, die ich kenne, aber sie tauchen plötzlich und ungefragt an allen möglichen Stellen auf. Plötzlich überkommt mich ein richtiger Schauer. Aber ich beruhige mich sofort, indem ich mir sage, dass dies kein richtiges Labyrinth ist. Verenden werde ich hier schon nicht. Mit neuer Zuversicht mache ich einen neuen Anlauf. Und sofort erweitert sich der Weg und es wird etwas heller. Das muss richtig sein. Ist es aber nicht. Von jetzt an komme ich immer wieder an den beiden gleichen Stellen aus, von denen eine eine Kreuzung ist, an der mehrere Wege zusammenlaufen und an dessen Wand ausgerechnet das Relief eines Labyrinths angebracht ist.

 

Richtig unwohl wird es mir bei dem Gedanken, dass ich einen Termin mit einer ungarischen Kollegin habe und dass ich am Nachmittag einen Vortrag an der Universität halten muss. In dem Moment kommt die Rettung: eine andere Besucherin. Die ist gerade erst hereingekommen und weist mir den Weg zum Ausgang. Aber da ist der Ausgang nicht. Sie muss auch schon die Orientierung verloren haben. Jetzt kommt Panik auf. Schweiß bricht aus und ich laufe nur noch immer schneller. Und planlos. Das mit dem planvollen Suchen hat ja auch nichts gebracht. Irgendwann muss man ja, wenn auch nur zufällig, zum Ausgang kommen. Schon aufgrund der Wahrscheinlichkeit. Schließlich bin ich an allen markanten Punkten schon dutzende Male vorbeigekommen, da sollte doch auch der Ausgang irgendwann dabei sein. Dann komme ich tatsächlich zu einer Stelle, die ich gleich nach dem Eintreten gesehen habe. Ich versuche, von ihr aus in alle Richtungen zu gehen, ohne mich so weit von ihr zu entfernen, dass ich sie aus dem Auge verliere. Aber so reicht es nicht bis zum Ausgang. Dann kommt plötzlich Rettung: eine Gruppe von jungen Deutschen weist mir den Weg. Endlich bin ich wieder im Freien.

 

Ich komme noch gerade rechtzeitig zum Treffen mit der Kollegin. Sie aber nicht. Sie kommt später, sommerlich gekleidet, und führt mich erst noch in aller Ruhe durch das Collegium Budapest, eine Forschungseinrichtung, an der sie halbtags arbeitet. Es ist in einem historischen Eckhaus gleich am alten Rathaus auf dem Platz vor der Matthias-Kirche untergebracht, in privilegierter Lage. Es herrscht eine ruhige, gediegene Atmosphäre, ganz anders als an der Uni. Hier lässt sich ungestört forschen.

 

Ich werde langsam nervös wegen des bevorstehenden Vortrags, aber die Kollegin ist völlig gelassen, sagt, wir seien voll in der Zeit und erledigt noch ein paar Dinge. Tatsächlich kommen wir pünktlich, aber auch nur gerade rechtzeitig im Paszmaneum an. Der Vortragssaal ist abgeschlossen, und erst mal findet sich kein Schlüssel. Die ersten Zuhörer kommen, und die Kollegin ist erst einmal von der Bildfläche verschwunden.

 

Dann kommt irgendwer mit dem Schlüssel, aber der versprochene Laptop muss noch organisiert werden. Der Vortragssaal ist inzwischen voll, und ich stehe vorne etwas verloren herum. Dann kommt der Laptop, aber die Verbindung zum Projektor funktioniert nicht. Wir sind inzwischen eine Viertelstunde hinter der Anfangszeit. Die Leute bleiben aber ganz gelassen. Die Kollegin und der Vorsitzende der Anglistik versuchen sich an dem Laptop, aber erfolglos. Dann wird ein Student nach vorne geholt, und der hat die Sache in zwei Minuten geregelt.

 

Endlich kann es losgehen. Ich bin inzwischen schweißgebadet, aber die Sache geht gut, mit einem sehr dankbaren, aufmerksamen Publikum.

 

Zurück geht es mit dem Zug. Das Paszmaneum hat eine eigene Haltestelle. Und eine kleine Wartehalle, wo tatsächlich noch ein richtiger, lebendiger Mensch Fahrkarten verkauft. Ich bin ganz alleine in der Wartehalle und kann in Ruhe mit der Frau hinter dem Schalter über den Kauf der Fahrkarte verhandeln.

 

Die Fahrt endet am Westbahnhof, der für seine Architektur bekannt ist. Das Problem ist, dass ich vom Zug in die Metro wechseln muss, und mich dabei im unterirdischen Labyrinth verlaufe. Das hatten wir doch heute schon einmal. Und dann finde ich noch nicht einmal heraus, genauso wie heute Morgen. Fragen nutzt zuerst auch nichts, aber dann zeigt mir jemand den Weg.

 

Ich mache keinen weiteren Versuch, die Metro zu finden, sondern suche ein Taxi, um mich zu einem Restaurant fahren zu lassen. Dabei bleibt nur ein flüchtiger Blick auf die feingliedrige Fassade des Bahnhofs mit seinem gläsernen Mittelteil. Komischerweise liegt der Westbahnhof gar nicht im Westen, sondern im Osten der Stadt. Er heißt so, weil hier die Züge Richtung Westen abgehen. Hier fuhr der erste ungarische Zug überhaupt ab, und hier gab es einmal einen spektakulären Unfall, als ein Zug nicht zum Halten kam, die Glasfront durchstieß und erst auf der Straße zu halten kam.

 

Die Taxifahrer können erst mit dem Namen nichts anfangen, aber der Reiseführer hilft. Es geht ins Kispipa, dem ‚Pfeifchen‘, im jüdischen Viertel. Das Lokal ist noch ganz leer. Ich bin der einzige Gast, und trotz der frühen Zeit brennen in dem schummrigen Raum schon Kerzen. Da kommt man sich merkwürdig vor, und es hilft auch nicht, dass die Kellnerin gelangweilt ist oder verärgert darüber, jetzt schon arbeiten zu müssen. Aber das Essen ist gut. Und das Bier auch. Die Kellnerin spricht vegetable so aus, als wenn der zweite Bestandteil table wäre: vege-table.

 

Über die unendlich sich hinziehende Rákóczi utca schleppe ich mich mit Blasen an den Füßen zum Hotel zurück.

Am Abend lese ich in einer deutschen Sprachgeschichte ganz zufällig, dass das Wort Tollpatsch aus dem Ungarischen kommt.

 

8. April (Donnerstag)

Diesmal muss ich auf eigene Faust zur Universität. Dabei lerne ich auch die dritte U-Bahn-Linie kennen, die blaue, die mich zum Westbahnhof bringt. Sie unterscheidet sich nicht besonders von der zweiten Linie, ist also auch ‚russisch’.

 

Da ich den Fahrplan der Züge nicht kenne, bin ich schon sehr früh unterwegs. Schon um diese Zeit ist an den Bahnhöfen und in der U-Bahn einiges los.

 

Bei den Namen der U-Bahnstationen sind nur die Eigennamen großgeschrieben, der Rest klein, anders als im Englischen: Keleti palyaudvar (Bahnhof), Kossuth ter (Platz), Bajza utca (Straße).

 

Ich bin früh am Westbahnhof und hole noch schnell das ausgefallene Frühstück nach. Das Verkaufsgespräch geht so: „Coffee?“ – „Zuckor?“ – „Yes.“ – Einen Finger heben als Zeichen für eins, mit fragendem Blick. – „Yes.“ Und schon habe ich einen wunderbaren Espresso vor mir, den richtigen ungarischen Kaffee. Der schmeckt viel besser als die hybriden Kaffees, die ich bisher getrunken habe. Als ich herausgehe, sagt die Verkäuferin: „Hello.“ Ich zögere einen Moment, dann antworte ich: „Hello.“

 

Bei der Sperre zu den Gleisen geht es auch ganz ohne gemeinsame Sprache. Ich weiß weder Zeit noch Gleis: „Pazmaneum?“ – „Pazmaneum … Paszmaneum!“ Dabei zeigt der Mann mit dem Finger auf den Zeiger meiner Uhr und bewegt ihn virtuell weiter, bis er auf der Abfahrtszeit steht: 7.20. Und deutet auf den Bahnsteig.

 

Ich werde in die richtige Richtung gewiesen, weiß aber nicht, ob der Zug mit der Endstation Esztergom der richtige ist. Dann erledigt sich aber jede Nachfrage. Der Zug ist vollgestopft mit Studenten.

 

Nach gut einer halben Stunde sind wir da. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Campus mache ich noch schnell im Gehen ein paar Fotos von den schönen Gebäuden, die sich bei strahlendem Sonnenschein von der besten Seite zeigen.

 

Die Natur ist hier weiter als in Deutschland, vielleicht zwei Wochen. Die meisten Bäume sind grün oder blühen, einige wenige haben Knospen. Der Winter, heißt es, sei auch hier sehr streng gewesen.

 

Dann geht es gleich ins Auto, um zu einer benachbarten Schule zu fahren. Wir sind eingeladen zu einem Unterrichtsbesuch beim Englischunterricht einer ehemaligen Studentin des Pazmaneums. Es ist eine Berufsschule für Agrarwirtschaft, Forstwirtschaft und Informatik. Das zweigeschossige Schulgebäude liegt sehr schön inmitten von Bäumen, sieht ganz und gar wie eine Schule aus, und ist auch wie eine Schule etwas vergammelt.

 

Die Lehrerin macht fast alles richtig. Sie hat eine freundliche und gleichzeitig strenge Art, die bei den Schülern offensichtlich gut ankommt. Sie arbeitet mit Gestik, Mimik, Körpersprache, sieht zu, dass alle beteiligt werden und wechselt zwischen Klassengespräch und Einzelarbeit, zwischen Schreiben und Sprechen, und hat auch einen Hőrtext dabei. Sie hat die Sache voll und ganz im Griff. Die Schüler sind mit Interesse bei der Sache. Und das soll was heißen. Die Berufsschule ist eine Art negative Auswahl. Hier sind die, die es nicht ins Gymnasium schaffen. Die Lehrerin schätzt, dass nur ein Viertel der Schüler in einigermaßen normalen Verhältnissen lebt. Alle anderen sind aus Familien, in denen die Eltern sich nicht um die Kinder kümmern, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist, in denen Alkohol und Drogen eine Rolle spielen, und die wenigsten leben bei beiden Eltern.

 

Für den Fremdsprachenunterricht – Welch ein Luxus! – werden die Klassen halbiert, um mehr Sprechmöglichkeiten zu bieten. Trotzdem, und trotz des guten Unterrichts hier, liegt Ungarn, so sagt man mir, zusammen mit England auf dem letzten Platz in der EU, wenn es um Sprachkenntnisse geht.

 

Hier sind es gerade einmal 12 Schuler, davon 11 Jungen. Das einzige Mädchen sitzt etwas verschüchtert abseits. Sie ist, wie ich später erfahre, als Kind regelmäßig verprügelt worden und hat erhebliche Lernschwächen. Dennoch macht sie ihre Sache, wenn auch langsam und etwas stotternd, ordentlich, wenn sie von der Lehrerin aufgefordert wird. Von selbst beteiligt sie sich nicht. Die Lehrerin macht es gut, indem sie ihre Sonderrolle einfach akzeptiert, aber sie doch in das Unterrichtsgespräch einbezieht.

 

Gegenstand der Stunde sind Beschreibungen. Zuerst werden mit selbst mitgebrachten Zeitungsausschnitten Adjektive der äußeren Charakteristika wiederholt, dann werden neue zur Beschreibung von Gefühlszuständen eingeführt. Das geht ein bisschen zu glatt, und später erfahre ich, dass das Material doch zum großen Teil nicht ganz neu ist, sondern recycelt wird.

 

Die Lehrerin sagt im anschließenden Gespräch, sie glaube an Lernen in konzentrischen, sich ausweitenden Kreisen, und beruft sich dabei auf die indische Philosophie. Das ist schweres Geschütz, aber das Prinzip ist überzeugend.

 

Das Problem ist die Sprache selbst. Das Englisch der Lehrerin ist, wenn auch mit viel Selbstbewusstsein gebraucht, alles andere als perfekt. Gut, dass sie den Hörtext hat. Das gibt den Schülern die Gelegenheit, gutes Englisch zu hören.

 

Dazu kommt das bekannte Phänomen, dass sich Sprecher mit einer gemeinsamen Muttersprache in einer Fremdsprache verständigen können, die sonst keiner versteht. An mir geht jedenfalls knapp die Hälfte vorbei. Sie arbeitet auch nicht systematisch genug mit der Aussprache des neuen Materials, und die Schüler sprechen systematisch bored, relaxed und scared mit einer zusätzlichen Silbe aus.

 

Der Unterrichtsbesuch hat die Funktion, zukünftige Möglichkeiten der Kooperation mit der Universität auszuloten. Meine Kollegin überlegt, ihre Studenten zur Unterrichtsbeobachtung hierher zu schicken. Das sollte sie auf jeden Fall machen.

 

Dann fahren wir zurück, und ich kann eine Sitzung in einem Fachdidaktikseminar miterleben. Eine reine Freude. Das ist hochmoderner Unterricht, praxisbezogen, aktiv, reflektiert. Drei Studenten führen, einer nach dem anderen, eine kleine Unterrichtseinheit, vielleicht zehn Minuten, vor, mit den anderen Studenten als Schüler. Die haben jeweils eine Rollenkarte gezogen, nach der sie sich verhalten sollen: der Streber, der Besserwisser, der Störenfried, der Schüchterne. Die Lehrer, die genauso wenig wie die anderen Schüler wissen, was die jeweils anderen haben, müssen darauf irgendwie reagieren. Nach jeder Präsentation gibt es ein kurzes, prägnantes Feedback der Dozentin, an der ich mich beteilige, und am Ende kann ich ein allgemeines Feedback geben. Die Studenten nehmen Lob und Kritik willig an.

 

Dann habe ich einen Termin mit der Leiterin der Germanistik. Die Sekretärin der Germanistik führt mich zu ihr. Die Sekretärin selbst spricht fließend Deutsch. Als ich wissen will, warum, sagt sie mir, sie komme aus Soundso. Den Ort kenne ich nicht. Es stellt sich heraus, dass es der oder ein Ort der Donauschwaben ist. Sie spricht aber Hochdeutsch mit mir.

 

Die Geschäftsführerin ist eine kleine, schmale, fast schüchtern wirkende Frau, die sich mit der Literatur der Jahrhundertwende, vor allem der aus Österreich, beschäftigt, vor allem Musil. Freiwillig. Sie sagt, sie hätten große Schwierigkeiten, da die Zahl der Germanistikstudenten drastisch gesunken sei, vor allem jetzt, wo mit der Einführung der neuen Studiengänge das Einfachstudium eingeführt worden sei. Und Magisterstudenten haben sie noch nicht, da der Studiengang noch nicht akkreditiert worden ist.

 

Nach meinem Seminar gehe ich mit dem Geschäftsführer der Anglistik in die Mensa. Er hat gute passive Deutschkenntnisse, kaum aber einmal die Gelegenheit, sie zu aktivieren. Er hat Verwandte in Potsdam und kennt Münster, wo sein damals einjähriger Sohn erfolgreich operiert wurde. Er litt an einem Geburtsfehler. In der Universitäts-klinik, erzählt er, arbeiteten auch zwei ungarische Ärzte, von denen einer an der Operation beteiligt war.

 

Am Nachmittag werde ich von zwei Kolleginnen auf Kosten der Anglistik in ein Café eingeladen, das Emil Cukraszda, auf der Straße Richtung Budapest gelegen. Hier gibt es Cremetorten und Pralinen vom Allerfeinsten, in Glasvitrinen mit Goldstäben vor dunkler Holzpaneele präsentiert. Man kann sich gar nicht entscheiden angesichts all der herrlichen Sachen. Ich nehme auf Anraten meiner Gastgeberinnen Flödni, ein jüdischer Kuchen mit Wein und Nüssen. Erste Klasse.

 

Das Gespräch kommt auf die bevorstehenden Parlamentswahlen. Die junge Kollegin ist sehr besorgt aufgrund des Zuwachses der rechtskonservativen Partei, aber die andere Kollegin sieht das eher gelassen: Wird schon nicht so schlimm kommen. Das sehe ich auch so.

 

Das Paszmaneum hat auch einen Austausch mit einer finnischen Universität, und die junge Kollegin spricht auch Finnisch. Die Verwandtschaft von Ungarisch und Finnisch, erfahre ich, sei alles andere als offensichtlich. Der gemeinsame Ursprung liege in grauer Vorzeit. Am Vokabular könne man überhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr erkennen, mit der Ausnahme von ein paar Alltagswörtern wie Grundzahlen oder Körperteile. Sprachtypologisch gehörten sie aber zusammen. Die Struktur sei dieselbe, wenngleich die Anordnung der Elemente sich unterscheide. In beiden Sprachen gibt es Vokalharmonie, ein Merkmal, das man vom Türkischen kennt, von dem beide aber noch weiter entfernt sind als voneinander.

 

Wir sprechen noch über die Fortsetzung der Kooperation, und dann werde ich zur Straßenbahn gebracht, die mich ins Zentrum bringt. Der Weg ins Zentrum führt an einer Ausgrabungsstätte vorbei – das ist Obuda.

 

Ich komme noch gerade rechtzeitig zur Führung in die Staatsoper. Die Führung wird in sechs Sprachen angeboten, jede Gruppe mit einer eigenen Führerin. Unsere Führerin ist eine ganz wunderbare junge Frau mit entzückendem Lächeln, das sie ständig begleitet. Sie spricht Deutsch mit einem markanten, aber charmanten Akzent und wirbelt dabei alle Formen und Fälle wild durcheinander. Die deutschsprachige Gruppe ist, wie sie uns sagt, ungewöhnlich groß heute, und sie ist ein bisschen nervös, entledigt sich ihrer Aufgabe aber gut.

 

Die Oper wurde 1875 begonnen und in neun Jahren fertig gestellt. Sie ist im Neo-Renaissance-Stil gebaut und hat in verschiedenen Räumen Ausmalungen mit Motiven aus der klassischen Mythologie, in al-secco-Technik, angeblich, weil das schneller ging. In dem Raum, in dem wir uns befinden, dem Büffet der Aristokratie im 2. Stock, sind es nahe liegender weise Darstellungen von Dionysos, der in unterschiedlichen Altersstufen dargestellt ist. Im 3. Stock gibt es auch ein Büffet für die Bürgerlichen, die strikt von den Adeligen getrennt waren und über eine getrennte Treppe in das Haus gelangten.

 

Parallel zu dem länglichen Raum gibt es einen weiteren, sehr schmalen Raum. Das war der Raucherbereich. Alle Materialien kamen aus Ungarn, wie auch alle am Bau beteiligten Architekten, Künstler, Handwerker und Planer, aber hier gibt es eine Ausnahme: das Holz mit den geschnitzten Ornamenten wurde aus Italien importiert. Es fasst die Tapeten ein, die Ornamente aus feinen Goldfäden aufweisen. Jedenfalls sehen sie so aus. Die originalen Goldfäden wurden allerdings durch den dichten Rauch schon sehr bald beschädigt und mussten ersetzt werden. Dafür ersann man eine Mischung aus gelben und anderen Fäden, die in der Kombination dieselbe Wirkung erzielten. Der Saal wurde angeblich auch von jungen Liebespaaren genutzt, die sich in dem dichten Rauch heimlich treffen konnten.

Von hier aus gelangt man durch eine Glastür auf die Terrasse mit Blick auf die Andrassy-Straße, die Prachtstraße Budapests und das gegenüber-liegende Drechsler-Gebäude, das heute leer steht und früher Sitz der Ballettschule war.

 

Der Bau der Oper kostete 1,5 Millionen Goldgulden, eine riesige Summe. Für 7 Goldgulden konnte man damals ein Pferd kaufen. Der wichtigste Geldgeber war Franz-Josef, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, der allerdings zur Bedingung machte, dass die Oper kleiner als die von Wien zu sein hatte. Das ist sie auch. Er soll allerdings auch zur Bedingung gemacht haben, dass sie nicht schöner als die von Wien sein sollte und beim Besuch der Eröffnungszeremonie entrüstet gewesen sein, als er feststellte, dass das nicht der Fall war.

 

Wir gehen an der Haupttreppe vorbei, einer eleganten Treppe mit einem die ganze Wand einnehmenden Spiegel an der Stirnseite oben. Dieser Spiegel soll angeblich den Effekt gehabt haben, dass man sich schlanker sah als man wirklich war, was Kaiserin Sissi sehr gefallen haben soll. Wir können es leider nicht ausprobieren, da wir die Treppe nicht hinauf kommen. Die andere Funktion des Spiegels war die, dass so die hohen Herrschaften, denen das Protokoll es nicht erlaubte, sich umzudrehen, den ganzen Raum sehen konnten.

 

Die Pfeiler der Treppe sind aus dreifachem Marmor, auch der aus Italien. An der Decke vor dem Spiegel die Königskrone mit einem Kreuz, das etwas aus der Linie ist, wie auch bei dem Original. Es gibt zahlreiche Erklärungen für diese Unregelmäßigkeit. Jemand, der es genau wissen wollte, maß die Abweichung nach und fand heraus, dass sie genau der Abweichung der Erdachse entspricht.

 

Wir kommen in den Salon der vier Jahreszeiten, mit den entsprechenden Darstellungen an den vier Seiten und einem wertvollen Teppich, in einem Dorf in Ungarn gewirkt, der in seinem Wert und seinem Herstellungsverfahren einem Perserteppich entspricht. Er weist pro Quadratmeter 100.000 Knoten auf.

 

In einem der vielen Säle, an dessen Ende und in symmetrischer Anordnung, die Büsten von Bartok und einem gewissen Kodaly, einem Volksliedsammler und dem Erfinder der Do-Re-Mi-Tonleiter und entsprechender Gesten, die Kindern das Musiklernen erleichtern sollten.

 

Der eigentliche Höhepunkt ist für die Touristen aber der Besuch der mit rotem Samt ausgelegten Loge von Kaiserin Sissi. Fotos sind obligatorisch.

 

Interessanter ist das Parkett, wo wir auf den harten, aber nicht unbequemen Holzstühlen Platz nehmen und über den Bau informiert werden. Die Oper fasst 1.261 Zuschauer und damit weniger als Wien (2.500), hat aber nur Sitzplätze. Die Bühne ist 48 Meter tief und hat einen eisernen Vorhang, als Brandschutz. Diese eisernen Vorhänge hatte Churchill zum Vorbild, als er seine Metapher prägte.

 

Unter den Sitzen befinden sich merkwürdige runde Gitter. Die sind Teil der Klimaanlage. Die Luft zirkuliert durch die Gitter nach oben und tritt durch weitere Gitter oben am Kronleuchter wieder aus. Im Winter wird durch Dampf für Wärme gesorgt, im Sommer durch Eis für Kälte. Der Kronleuchter hat 250 Glühbirnen, und ihn herunterzulassen, ist Arbeit für eine ganze Kompanie. Das muss aber jedes Mal geschehen, wenn eine Glühbirne platzt. Als die Oper gebaut wurde, hatte man Gaslampen, und das hatte zur Folge, dass das Licht immer leise flackerte.

 

Einer Anekdote zufolge begegneten sich hier in der Oper Brahms und Liszt bei einer Gesellschaft. Brahms wusste nicht, ob er seine Orden anlegen sollte oder nicht. Er steckte sie in die Tasche, um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein, sah aus der Ferne Liszt, der seine Orden trug, verließ den Raum, legte die Orden an und ging zurück. Plötzlich steht er vor Liszt und sieht, dass der seine Orden abgelegt hat. Auf die Frage, wie das komme, sagt Liszt: „Ich wusste nicht, ob ich die Orden anlegen sollte. Aber als ich Sie ohne die Orden gesehen habe, bin ich schnell hinausgegangen und habe sie abgelegt.“

 

Nach der Besichtigung gehe ich die Andrassy entlang und trinke in einem teuren Straßencafé einen Kaffee, den ich voll und ganz genieße, bei völligem Nichtstun, die Ereignisse des Tages an mir vorbeiziehen lassend.

 

Am Abend geht es in die “Feldflasche”, ins Kulacs, einem traditionellen Lokal, das seine Bekanntheit seiner Verbindung mit einem gewissen Rezső Seress verdankt, einem ungarischen Sänger, der hier jahrzehntelang aufgetreten ist und Erfolge gefeiert hat. Er wurde zu einem internationalen Star, und das, obwohl er kein guter Pianist war und keine Noten lesen konnte. Visconti, Rubinstein, Toscanini, Steinbeck, Chruschtschow und Otto Klemperer kamen, um ihn zu hören. Einen Welterfolg hatte er mit Szomorú Vasárnap, dem Lied vom traurigen Sonntag. Für Freud verkörperte es die Sonntagsneurose schlechthin. Es löste angeblich eine Welle von Selbstmorden aus, und es wurde sogar gefordert, das Lied zu verbieten. Seress selbst starb 1968. Er beging Selbstmord.

 

Das Lokal hat die Atmosphäre klassischer ungarischer Restaurants. In drei langen Reihen stehen bereits eingedeckte Tische mit steifen, dicken Stoffservietten. Die Wände hängen voll mit aller möglichen Dekoration wie auf Samtkissen gebettete Silberlöffel oder Partituren. Was das soll, ist nicht klar. Ob es was mit Seress zu tun hat? Angeblich gibt es irgendwo im Lokal eine Gedenktafel an ihn, aber ich kann sie nicht finden, und auf meine Fragen antwortet man ausweichend.

 

Der Kellner gibt sich gelangweilt und eher unfreundlich, nachdem er vergeblich versucht hat, mir die Empfehlung des Küchenchefs aufzuschwatzen. Das Essen ist nicht gut und zu teuer, außer dem Palatschinken. Ungarn verirren sich nicht in dieses Lokal. Ich höre Deutsch und Englisch und zwei Frauen am Nebentisch, deren Sprache ich nicht identifizieren kann. Ungarisch ist es aber nicht. Sie sprechen Englisch mit dem Kellner.

9. April (Freitag)

An verschiedenen Geschäften habe ich ein Schild mit der Aufschrift Nyitva gesehen. Das heißt ‚geöffnet‘. Das hätte man auch geraten, wäre man vor die Alternative gestellt worden, ob es ‚geschlossen‘ oder ‚geöffnet‘ heißt. Zufall? ‚Geschlossen‘ heißt zarva, und das hört sich auch eher nach ‚geschlossen‘ als nach ‚geöffnet‘ an. Ebenso geht es mir bei nagy, ‚groß‘ und kicsi, ‚klein‘, bei hideg, ‚kalt‘ und heleg, ‚warm‘, bei tilos, ‚verboten‘ und szabad, ‚erlaubt‘. Weniger sicher wäre ich mir bei olcsó, ‚billig‘ und draga, ‚teuer‘ und bei bal, ‚links‘ und jobb, ‚rechts‘. Wäre einen Versuch wert, ein Experiment. Andererseits bin ich bei den Wochentagen und bei den Zahlen völlig aufgeschmissen. Höchstens egy, ‚eins‘ und pentek, ‚Freitag‘ hätte man erraten können.

 

Erst heute fällt mir auf, dass die Metro sogar in den Haltegriffen der Passagiere Werbung hat. Der Kapitalismus ist in Ungarn angekommen.

 

Auf dem Weg zur Basilika fällt mir etwas Merkwürdiges ins Auge, riesige Objekte, die auf einer abschüssigen Einfahrt in eine Unterführung stehen. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass es Skulpturen sind, moderne Skulpturen, die einfach Alltagsgegenstände darstellen und sie verfremden, indem sie sie vergrößern: ein Bügeleisen, Seidenstrümpfe, ein Fön.

 

Dann komme ich zur Basilika. Das Areal wurde erst im 18. Jahrhundert bebaut, und man ließ von vornherein einen großen Platz für die Kathedrale frei, einschließlich Vorplatz. Moderne Stadtplanung, und das Gegenteil von der “gewachsenen” Bebauung des Burghügels.

 

Die Baugeschichte der Basilika ist alles andere als glatt. Jeder Architekt änderte die Pläne seines Vorgängers oder sogar seine eigenen ab oder musste aufgrund der Gegebenheiten umplanen. So wurde aus dem klassizistischen Bau ein Bau im Stil der Neorenaissance, und so bekam der Bau, durch den weichen Boden bedingt – die Donau ist ganz in der Nähe – ein dreistöckiges Kellergeschoss, dass fast so tief ist wie die Kirche hoch. Und die Kuppel stürzte ein, kaum, dass sie fertig war, erstens weil man sie größer machte, als es die ursprünglichen Pläne vorsahen, zweitens aufgrund schlechter Materialien und drittens aufgrund von Fehlern bei der Ausführung der Bogenzwickel. Interessant die Änderung des Patroziniums: Der ursprüngliche “österreichische” Heilige, ein gewisser Lipot, wurde durch Stephan abgelöst, den ungarischen Nationalheiligen.

 

Obwohl die Kuppel beeindruckend ist, ist die Atmosphäre des Innenraums eher kalt. Ein bisschen zu viel Marmor, ein bisschen zu viel Gold.

 

Drinnen zieht es aber ohnehin alle in die Kapelle des Heiligen Leopold. Dort wird eine Hand aufbewahrt, die unversehrte rechte Hand des Hl. Stephan. Sie wurde in Siebenbürgen und Dalmatien aufbewahrt und landete schließlich in Buda und dann in die Basilika. Sie liegt in einem gläsernen Reliquienkästchen in Form einer gotischen Kirche. Wenn man 200 Forint in ein Kästchen wirft, wird es für zwei Minuten erleuchtet, so dass man Fotos machen kann.

 

Umsonst dagegen ist die Information zu Stephans Leben: Er wurde in Esztergom geboren und wurde schon mit 22 Fürst und am 25. Dezember 1000 zum ersten König von Ungarn gekrönt. Das allein rechtfertigt schon seine Sonderstellung. Er hat aber Ungarn noch einen besonderen Dienst erwiesen, indem er Konrad II. besiegte, der Ungarn erobern wollte.

 

Auf dem Vorplatz der Basilika gibt es in verschiedenen Cafés, darunter dem California, Muffins, Bagels und Panini. Typisch ungarisch.

 

Mein nächstes Ziel ist die Postsparkasse. Das hört sich nicht so verheißungsvoll an, lohnt sich aber. Es ist nicht das aktuelle, sondern das ehemalige Gebäude der Postsparkasse und eines der schönsten Häuser Budapests.

 

Bei der Suche nach dem Nationalmuseum komme ich an einem Platz mit ein paar schönen, alten Häusern vorbei, mit einer weißen Kirche mitten in der Häuserzeile. Leider ist alles durch Bauarbeiten etwas verdeckt. In fast allen Häusern sind Cafés, eine Mischung aus mondän und alternativ. Ich trinke einen Kaffee und erfahre, dass das Nationalmuseum ganz in der Nähe ist. Es liegt nur etwas abseits des Platzes.

 

Auch hier steht eine der modernen Skulpturen, wie ich sie am Morgen am Deak Ferenç ter gesehen habe. Hier ist es ein Stuhl, ein einfacher, gradliniger Stuhl, aber so hoch, dass man an den Sitz nicht einmal mit der Hand herankommt. Man sieht ihn so, wie Kinder die Stühle der Erwachsenen sehen.

 

Die Atmosphäre im Nationalmuseum, einem tempelartigen, klassizistischen Bau, ist eher düster und nicht sehr einladend, aber es gibt einiges zu sehen.

 

Da das Museum eine Million Exponate hat, nehme ich mir eher wahllos ein paar Dinge vor. Gleich zu Anfang sieht man das Modell eines traditionellen Wohnhauses. Das unterscheidet sich tatsächlich von dem, was man sonst kennt: Es ist aus Lehmflechtwerk gemacht, mit einem schräg bis zum Boden abfallendem Reetdach und hat einen einzigen, langgestreckten Raum, zu dem eine steil abfallende Einfahrt führt, wie zu der Garage von modernen Einfamilienhäusern.

 

Auffallend im Zentrum eines Raumes eine riesige, sehr gut gearbeitete Reiter-Statue des Hl. Georg, in Bronze, in voller Aktion, genau in dem Augenblick des Angriffs des Drachen. Das Pferd hat einen ganz fein geringelten Schwanz, der im Kampf gegen Drachen eher wie unnützer Luxus aussieht. Man sieht die Adern unter der Haut und die durch die Bewegung gespannten Muskeln. Der Schwanz des Drachen hat sich um die Vorherhand des Pferdes gewickelt. Der Heilige trägt modische spitze Schuhe, die ihm fast zum Verhängnis werden: Der Drache scheint ihn ausgerechnet bei den unnötig langen Schuhen zu packen zu bekommen.

 

In einem anderen Raum ein schönes Möbelstück, ein Schreibtisch, der nicht wie ein Schreibtisch aussieht, sondern wie eine Wandverzierung. Man kann eine Klappe hinunterziehen, und dann erscheinen dahinter Schubladen und Fächer.

 

Bestens vertreten sind alle möglichen Exponate aus Metall: Trinkgefäße, Monstranzen, Kelche, Kränze, Büsten. Sehr schön ein Gefäß in Form eines Löwen und eins in Form eines Pferdes. Das eine ist ein Räuchergefäß, das andere ein Wasserspender.

 

Ungarn war in der Vergangenheit der größte Metallproduzent Europas. Es begann bescheiden, mit der Verarbeitung von Eisenerz in viel zu kleinen Mengen bei viel zu niedrigeren Temperaturen in den Dörfern. Aber die Grundlage war gelegt. Wirtschaftlicher Aufschwung kam durch verschiedene staatliche Maßnahmen: die Ansiedlung von Ausländern, Flamen, Deutschen, Italienern, Franzosen, Wallonen aus den überbevölkerten Staaten des Westens, die Ausbildung einer Mittelschicht und die Zulassung von mehr unternehmerischer Freiheit, aber auch Eroberungszüge, die hier „Gebietserweiterungen“ heißen. Vom Transdonaugebiet ist die Rede und von Transsylvanien, d.h. Siebenbürgen. Die Gebietserweiterungen sind aber ein zweischneidiges Schwert, denn die späteren Gebietsverluste leiteten auch den Niedergang Ungarn ein. Man kann Ungarn als einen der Verlierer der Geschichte sehen. Aber das wird hier, im Nationalmuseum, natürlich nicht so gesagt Dafür spricht aber, dass es mehr Menschen gibt, die Ungarisch sprechen als Ungarn: 15 Millionen : 10 Millionen. Dazu scheint irgendwie auch zu passen, dass Ungarn eine der höchsten Todesraten in Folge von Alkohol, Tabak und Selbstmord hat. Die Lebenserwartung liegt 5 Jahre unter dem europäischen Durchschnitt.

 

Andererseits hat Ungarn seine Unabhängigkeit verteidigt, eingeklemmt zwischen zwei mächtigen Reichen: dem byzantinischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich. Dazu kamen später die Attacken der Mongolen und dann der Ottomanen. Warum die Mongolen, nachdem sie ein Jahr die Gegend verwüsteten, plötzlich Kehrt machten und in ihre Heimat zurückkehrten, erfahre ich auch hier nicht.

 

Auch hier wird mir immer noch nicht klar, wo die Ungarn eigentlich her kommen: Ist der Ural die Heimat oder war das schon die erste Station der Wanderung nach Westen? Heute ist Ungarn, je nach Sichtweise, die Ostgrenze des Westens oder die Westgrenze des Ostens. Die Ungarn selbst sehen sich allerdings als Mitteleuropäer, nicht als Osteuropäer.

 

Die zahlreichen Namen von Schlachten, Gebieten und Dynastien, den Arpaden und den Anjou und den Luxemburgern und den Hunyadi, sind eher verwirrend, aber ein Name sticht hervor, der von Matthias Corvinus. Er kam aus einer nichtadeligen Familie, den Hunyadi, auf den Königsthron und wurde zu einem großen Förderer von Wissenschaft und Kultur, ein Renaissance-Fürst par excellence, vielleicht, um seine bescheidene Abstammung zu kaschieren. Aus seiner Zeit sind vor allem sehr schöne Steinmetzarbeiten vertreten, unter anderem ein Fries mit der Darstellung von Bienenkörben und Weinfässern.

 

Dann geht es weiter, mit der Metro. Der Eingang zur Metrostation und die Bushaltestelle am Nationalmuseum sind hochmoderne Konstruktionen aus geschwungenem Glas. Von hier aus mache ich mich auf den Weg ins Jüdische Viertel.

 

Die einzige Station, an der die Metrolinien zusammentreffen, und zwar alle drei, ist der Deak Ferenç ter. Da landet man einfach immer. Die Endstation einer Linie ist Ujpest, ein bekannter Name unter all den unbekannten. Ujpest Budapest war früher ein erfolgreicher Fußballverein, in allen europäischen Wettbewerben vertreten.  Ein anderer bekannter Begriff in diesem Zusammenhang war das Nep-Stadion (‚Volksstadion‘). Das heißt inzwischen Ferenç Puskas-Stadion, oder, genauer gesagt, Puskas-Ferenç-Stadion.

 

In einem Café vor der Synagoge mache ich eine Kaffeepause, auf der Terrasse in der Sonne sitzend, mit der mächtigen Front der Synagoge, einem Backsteinbau, gleich gegenüber. Am Nebentisch labert ein schrecklich blasierter Kanadier („I know I am good“) eine schweigend zuhörende deutsche Studentin voll. Es geht um seine angeblichen Zukunftspläne („Don’t know which direction to take“) und die Möglichkeiten, zwischen denen er schwankt: eine Dissertation, in die er die Oil Companies „zerstören“ will, ein Angebot von Freunden in Madrid, bei denen er wohnen und arbeiten kann, und die Veröffentlichung eines Buches über die Gedankenprozesse einer arbeitslosen Person. Das ist er wohl selbst. Ich bin drauf und dran aufzustehen und der jungen Frau zu sagen, dass sie sich nicht blenden lassen soll.

 

An der Synagoge herrschen strenge Sicherheits-maßnahmen, mit Überprüfung der Identität, Eingangskontrolle und Scanning.

 

Beim Betreten der Synagoge fallen gleich zwei Dinge auf: Sie ist groß und sieht wie eine Kirche aus. Bei der Führung erfahren wir, dass sie tatsächlich die drittgrößte der Welt und die größte in Europa ist. Sie hat 3.000 Sitzplätze und fasst insgesamt 5.000 Gläubige. Zur Zeit ihrer Erbauung hatte allein diese Gemeinde 23.000 Mitglieder. Noch heute leben in Budapest 80.000 Juden, und Ungarn hat den drittgrößten jüdischen Bevölkerungsanteil in Europa. Das ist 1% der Bevölkerung.

 

Dass die Synagoge wie eine Kirche aussieht, ist kein Zufall. Sie wurde Christen gebaut, von deutschen und österreichischen Architekten. Der langgezogene, dreischiffige Bau hat sogar auf beiden Seiten des Mittelschiffs eine Kanzel, an den Seiten Emporen, im Westen eine Fensterrose und im Osten eine große Orgel. Die Orgel wird von einer christlichen Organistin gespielt. Eigentlich ist in der Synagoge nur das Widderhorn erlaubt.

 

Um zu sehen, dass es keine Kirche ist, muss man schon genau hinsehen: Unter den Schalldeckeln der Kanzeln ist der Davidsstern angebracht, und über dem Bogen, der in den Chor führt, ist ein Psalm in hebräischer Schrift angebracht. Der Thora-Schrein, in dem sich 25 Thora-Rollen befinden, sieht wie ein Altar aus.

 

Frauen saßen von den Männern getrennt, in den Seitenschiffen und auf den Emporen. Oder ist das auch heute noch so?

 

Die Emporen, aus dunklem Holz, sind an den Rändern in feinem Gold gefasst. Das passt in den insgesamt sehr würdevollen Rahmen dieser Synagoge.

 

Die etwas unorthodoxe Form der Synagoge hängt, wie wir erfahren, mit deren ‘ideologischer’ Ausrichtung zusammen. In der Gemeinde überwiegen Neologen, eine konservativ-liberale Strömung innerhalb des Judentums.

 

In dieser Synagoge feierte Herzl seine Bar Mitzwa. Sein Geburtshaus war gleich nebenan. Es wurde bei der Platzerweiterung zur 1000-Jahr-Feier der Stadt abgerissen.

 

Im Hof der Synagoge steht eine moderne Skulptur, die wie eine silberne Trauerweide aussieht. Bei näherem Hinsehen bemerkt man, dass auf den Blättern der Trauerweide Namen eingraviert sind, die Namen von Holocaust-Opfern. Und aus der Beschreibung geht hervor, dass es eigentlich kein Baum ist, sondern ein bedeutungsvoll auf dem Kopf stehender Hanukkah-Leuchter.

 

Hanukkah-Leuchter gibt es auch im Jüdischen Museum, das zwar nicht groß ist, aber eine Menge Exponate hat, und vor allem von allem viele verschiedene Exemplare, so dass man gut vergleichen kann. Die Hanukkah-Leuchter sehen ganz weltlich aus, mit Löwen, Palmen, Kronen. Hanukkah ist das Fest des Lichts. Nach dem Sieg über die griechisch-syrische Besatzung wurde die Menora zur Feier der Wiedereinweihung des Tempels angezündet. Ein Tropfen Öl reichte für acht Tage. Daher hat der Hanukkah-Leuchter acht Arme. An jedem Tag wird einer mehr angezündet. Da denkt man unwillkürlich an unseren Adventskranz.

 

Die Gesetzestafeln sind das beliebteste Motiv. Es gibt nichts, wo sie nicht erscheinen, auf Buchrücken, auf bunten Keramikfliesen, in Kelche eingraviert, gestickt auf Kissenbezügen. Sie sind von besonderer Bedeutung am Sukkot-Fest, sieben Wochen nach Pessach, dem alten Erntedankfest.

 

Auch an Sabbath-Leuchtern gibt es eine riesige Auswahl. Es gibt sie immer in Paaren, zwei identische. Sie werden von der Frau des Hauses angezündet. Die zwei Sabbat-Laibe werden unter einem Zeremonialtuch aufbewahrt.

 

In einer Vitrine sieht man Behälter für Ertrog. Das ist die legendäre Frucht des Paradieses. Nichts mit Apfel. Sie hat besondere Bedeutung an Sukkot, dem Fest, das an die vierzigjährige Wanderung durch die Wüste erinnert. Bei der Gelegenheit frage ich mich mal wieder, warum das so lange gedauert hat und versuche auszurechnen, ob man in vierzig Jahren um die ganze Erde wandern könnte. Locker. Gerade mal 20 km pro Woche wären das.

 

In einer Vitrine liegen aufgeschnittene “Nüsse” aus Holz, in die Namen eingraviert sind. Das hat folgende Bewandtnis: Wenn jemand verstarb, wurde das Los gezogen, und der, dessen Name auf der gezogenen Nuss stand, war für die Beerdigungsfeierlichkeiten zuständig.

 

Am Neujahrstag legt man ein weißes Gewand an und bläst in der Synagoge das Schofar. Der Neujahrstag ist beim ersten Vollmond im ersten Herbstmonat.

 

Zum Abschluss mache ich noch die obligatorische Rundfahrt auf der Donau. Das lohnt sich sogar. Und der Zeitpunkt ist richtig. In all den Tagen ist es noch nicht so sonnig und warm gewesen wie jetzt.

 

Es geht ganz einfach eine Strecke die Donau hinunter und dann wieder hinauf, am Parlament, an der Akademie der Wissenschaften, an den großen Hotels am Donauufer entlang und unter der Kettenbrücke her.

 

Dabei erfährt man, dass die Donau im Schwarzwald entspringt und ins Schwarze Meer mündet, 400 km durch Ungarn und 28 km durch Budapest fließt.

 

Die Benutzung der Kettenbrücke, heißt es, war anfangs kostenpflichtig – außer für Adelige. Da man aber den Menschen nicht ansah, ob sie adelig waren, entschieden die Zöllner nach folgendem  Motto: Wenn man jemandem ansieht, dass er Geld hat, braucht er nicht zu bezahlen. Wenn man jemandem ansieht, dass er kein Geld hat, muss er zahlen. Kommt einem irgendwie bekannt vor.

 

Der Entwurf für das Parlament war der Sieger eines Architekturwettbewerbs. Anders als sonst, kamen aber auch der 2. und der 3. Sieger zur Ausführung. In dem einem dieser Gebäude befindet sich heute ein Ministerium, in dem anderen das Völkerkundemuseum.

 

Ein bemerkenswerter Kontrast, obwohl das in dem Kommentar an Bord keine Erwähnung findet, ist ein verfallenes Haus mit schmutziger Fassade und kaputten Fensterscheiben, der direkte Nachbarn des Parlamentsgebäudes.

 

Kehrt machen wir an der Margaretenbrücke. Das war die zweite Brücke Budapests, aber es dauerte eine Weile, bis sie gebaut werden konnte. Die Firma, die die Kettenbrücke gebaut hatte, hatte sich in den Vertrag schreiben lassen, dass 80 Jahre lang keine weitere Brücke gebaut werden dürfe.

 

Auf der Höhe der Margaretenbrücke liegt die Margareteninsel, ein Park, ein abgeschlossenes Areal, das von den Römern und im Mittelalter als Jagdgrund genutzt wurde und heute ein Kloster und 10.000 Bäume beheimatet. Autos gibt es dort keine. Hier ‘draußen’ hat man fast das Gefühl, auf dem offenen Meer zu sein.

 

Auf dem Rückweg kommt der Gellertberg in den Blick, am anderen Donauufer, flußabwärts vom Burghügel aus gesehen. Auf halber Höhe und, sozusagen, mitten im Wald, steht das Gellertdenkmal, eine halbkreisförmige Kollonade mit der Statue des Heiligen davor. Gellert war ein Bischof, der sich im Zuge der Christianisierung unter Stephan den Zorn der Heiden zuzog und, der Legende zufolge, in einem innen mit Nägeln ausgeschlagenen Fass den Berg hinunter gerollt wurde.

 

Wieder an Land, spaziere ich an der Donau entlang, genauer gesagt, zwischen Straßenbahnschienen und Radwegen auf der einen und Straßencafés und Blumenbeeten auf der anderen Seite. Das kommt heute bei dem blauen Himmel so richtig zur Geltung und gibt ein paar schöne Fotos, ebenso wie die repräsentativen Patrizierhäuser dahinter.

 

Eine schöne Stadt, nur sehr viel Ungarisches habe ich an ihr nicht entdecken können.

 

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