Budapest (2010)

4. April (Ostersonntag)

Neuerung am DĂŒsseldorfer Flughafen: Man kann nur noch elektronisch einchecken. Ohne Bordkarte kann man sein GepĂ€ck nicht aufgeben. Das hat aber seine TĂŒcken: Der Apparat erkennt meine Buchungsnummer nicht und lĂ€sst den Zielort Budapest nicht zu. Ich muss erst Hilfe anfordern. Der Zielort muss ZĂŒrich sein, da dort zuerst hingeflogen wird.

 

Ostersonntag reisen nicht so viele Menschen, und danach geht alles zĂŒgig und ohne Komplikationen. Allerdings kommen wir in ZĂŒrich trotz pĂŒnktlichen Abflugs mit fast halbstĂŒndiger VerspĂ€tung an. Warum, ist nicht ganz klar. Es ist zwar von Turbulenzen die Rede, aber ob das die VerspĂ€tung erklĂ€rt, wissen wir nicht. Beim Aussteigen drĂŒckt mir ein ungarisches MĂ€dchen ein Blatt Papier in die Hand. Es ist eine Zeichnung mit ihrem Konterfei und Namen und ein paar Sternen und „Tank you“ darunter. Ich habe ihr vorher den Fensterplatz abgetreten und das Schokoladen-Ei, das im Flugzeug verteilt wird, das ich ohnehin nicht wollte. In dem Blatt liegt noch der Bleistift. Ich will ihn ihr zurĂŒckgeben, aber der gehört auch zum Geschenk. Sie hat vermutlich vorher beobachtet, wie ich meinen ReisefĂŒhrer mit einem Bleistiftstummel bearbeitete. BestĂ€rkt in meinem Glauben an das Gute im Menschen trete ich die Weiterreise an.

 

Im nĂ€chsten Flugzeug sitze ich neben einer Kanadierin aus Quebec, die in Lausanne als Krankenschwester arbeitet, ungarische Wurzeln hat und ihre kanadische Freundin in Budapest besucht. Sie bringt mir das ungarische Wort fĂŒr danke bei, köszönöm, und sagt mir, wie der Forint zum Euro steht: fĂŒr einen Euro bekommt man 250 Forint.

 

Ihr, d.h. das kanadische Französisch, erklĂ€rt sie mir, unterscheide sich deutlich vom Schweizer Französisch und wieder auf andere Art vom französischen Französisch. Vor allem von Franzosen werde sie fĂŒr unhöflich gehalten. Außerdem sei ihr Französisch etwas antiquiert. Jedenfalls sehe man das in Europa so.

 

An einem englischen Werbespruch von Swiss Air gefĂ€llt mir irgendetwas nicht, aber ich weiß nicht genau, was: You only pay one price, and everything is already included. Es ist vermutlich der ĂŒberflĂŒssige und unidiomatische Gebrauch von already.

 

Am Flughafen werde ich von einem Taxifahrer abgeholt, ein Service, den man von zu Hause aus buchen kann. Auf eventuelle VerspÀtungen reagieren sie von selbst. Angesichts der weiten Entfernung zur Innenstadt lohnt sich die Investition.

 

Ich grĂŒĂŸe auf Englisch, er antwortet auf Deutsch. Und legt gleich los, um bis zur Ankunft nicht mehr aufzuhören. Von meinem Hotel hat er noch nie gehört, und das ist dann wohl ein vernichtendes Urteil. Und es lĂ€ge sowieso am falschen Bahnhof, am Ostbahnhof, zumal, wenn ich zum Paszmaneum wolle. Die ZĂŒge dorthin fĂŒhren vom Westbahnhof ab.

 

Sein Urteil ĂŒber den Euro fĂ€llt ebenso vernichtend aus. In Ungarn bekĂ€men sie ihn wohl demnĂ€chst. Ein Fehler. Die Tschechen, wie immer die KlĂŒgeren, hĂ€tten ihn nicht, die Slowaken, wie immer die DĂŒmmeren, hĂ€tten ihn.

 

Deutsch hat er von seiner strengen Großmutter gelernt, in den Ferien am Balaton. Dort habe es fĂŒr die armen Kinder jeden Tag eine Stunde Deutschunterricht gegeben. Wer schwĂ€nzte oder nicht aufpasste, bekam kein Mittagessen. Typisch Deutsch. Ich mache einen vorsichtigen Einwand, aber den lĂ€sst er nicht gelten. SpĂ€ter stellt sich heraus, dass er dachte, ich sei Schweizer, weil ich mit einer Schweizer Maschine gekommen bin. Woher denn die Großmutter Deutsch gekonnt habe? Dumme Frage! Das sind die Donauschwaben. Hochdeutsch und SchwĂ€bisch. Am Balaton hĂ€tten sich immer die Ostdeutschen und die Westdeutschen in den Ferien getroffen. Und die hĂ€tten immer geschrien. Die Deutschen mĂŒssten immer schreien.

 

Er kann mich nicht bis vor das Hotel fahren, da der ganze Bahnhofsplatz umgebaut wird. Das Hotel Baros, nach einem Politiker benannt, wie ich spĂ€ter erfahre, der sich um den Ausbau der Eisenbahn gekĂŒmmert hat, liegt im 5. Stock eines Hauses, das einst einer gut situierten Familie gehört haben muss, mit schöner Fassade in Blau

und Weiß und einem offenen Innenhof mit Brunnen. Um den Innenhof herum, hinter einem Gang mit schönem Gitter, gruppieren sich die Wohnungen. Auch hier ist alles in Blau und Weiß, wobei Hellblau mit Dunkelblau abwechselt.

 

Als ich im Zimmer bin, merke ich, dass der SchlĂŒssel zum Koffer im Koffer gelandet ist. Bedingt durch das schöne Wetter ist die Jacke mit dem SchlĂŒssel im letzten Moment im Koffer gelandet. Als ich das spĂ€ter im Kollegenkreis erzĂ€hle, findet man es völlig ĂŒberholt, den Koffer abzuschließen. Ob denn jemand an meiner WĂ€sche interessiert sein könne. FrĂŒher hieß es immer, als ich den Koffer nicht abgeschlossen habe: Bist Du verrĂŒckt? Da kann sich doch jeder nach Herzenslust bedienen. Du hast doch gar keine Kontrolle ĂŒber deinen Koffer.

 

Jetzt stehe ich jedenfalls vor dem abgeschlossenen Koffer und versuche mich hilflos an dem Schloss. Ohne Werkzeug keine Chance. An der Rezeption gibt es Hilfe. Man fĂŒhrt mich zum Werkzeug-schrank und gibt mir freie Auswahl. Mit Hilfe einer Zange und viel Gewalt gibt das Schloss dann nach. GlĂŒcklicherweise habe ich SchokoladentĂ€felchen dabei, um mich an der Rezeption zu bedanken.

 

Dann mache ich einen kleinen Spaziergang um den ziemlich verlassenen und angesichts der BauzÀune ziemlich trostlosen Platz herum und durch das BahnhofsgebÀude. Dort werde ich von zwei MÀnnern angesprochen, die mich zum Schachspielen einladen. Sie haben ein ausklappbares Schachbrett auf einem Mauervorsprung platziert. Ich kann weder Schach noch Ungarisch, und meine Absage kommt ihnen vermutlich unhöflich vor.

 

An einem Stand gibt es Gyros, fĂŒr den auf einer großen Tafel handschriftlich geworben wird: Pipi Gyros. Ich probiere trotzdem. Das Brot ist weicher als bei uns, das Fleisch viel kleiner geschnitten, und alles ist viel schĂ€rfer.

 

Die Fassade des Bahnhofs, im Stil der Neo-Renaissance, hat einen glÀsernen Halbkreis im Zentrum der Fassade. In den Nischen stehen an den Seiten James Watt und George Stephenson.

 

Wie die anderen großen Bahnhöfe Budapests ist der Ostbahnhof ein Kopfbahnhof. Er gehörte zur Zeit seiner Erbauung zu den modernsten Europas, mit einer riesigen Bahnhofshalle, einer beeindruckenden Glas- und Eisenkonstruktion.

 

Ich besorge mir noch eine U-Bahn-Fahrkarte fĂŒr den nĂ€chsten Tag. Sie kostet 320 Forint, nicht mehr, wie zu sozialistischen Zeiten, 1 Forint. Aber die Fahrkarten sehen noch aus wie damals, ganz schmal, aus dĂŒnnem Papier, mit neun Feldern, in die die Maschine, wenn man die Karte einfĂŒhrt, ein Loch frisst. Die neun Felder sind aber nur ein Relikt aus alten Zeiten, man kann mit der Karte nur eine Fahrt machen, fĂŒr umgerechnet 1,20 €. An den Fahrkartenschalter kommt man ĂŒber eine steile, lange, schnelle Rolltreppe, die einen weit unter die Erde fĂŒhrt, genauso wie in Moskau. Kein Zufall: Die U-Bahn wurde von den Russen gebaut.

 

Auf dem RĂŒckweg zum Hotel fĂ€llt mir eine Sparkasse auf. Sie heißt Erste und hat das Symbol mit dem roten S der deutschen Sparkasse. Ist das ein deutsches Exportgut?

 

5. April (Ostermontag)

Der Ostermontag ist auch in Ungarn Feiertag. Es gibt einen besonderen Brauch: Frauen werden von MĂ€nnern begossen, mit ParfĂŒm in der Regel, damit sie im nĂ€chsten Jahr nicht verwelken. Als Gegenleistung gibt es KĂŒsschen, Ostereier oder Schnaps. Um das zu erleben, muss man allerdings aufs Land fahren. In Budapest sehe ich jedenfalls nichts davon.

 

Der Feiertag bietet Gelegenheit zur Stadt-besichtigung, allerdings bei grauem Himmel und Nieselregen. Am Treffpunkt fĂŒr den Stadtrundgang („An der weißen Kirche“) ist niemand, und das BĂŒro, das die StadtrundgĂ€nge organisiert, ist noch geschlossen. Also gehe ich in ein hochmodernes, teures CafĂ©, um die Zeit zu ĂŒberbrĂŒcken. Die ganze Gegend hier ist anders, heller und gepflegter, als die Gegend um den Ostbahnhof.

 

Dann stellt sich heraus, dass ich ein altes Faltblatt hatte und der Rundgang eine Stunde spĂ€ter beginnt. Am Treffpunkt warten zwei Frauen, die auch mitgehen wollen, zwei Kanadierinnen, die sich nicht kennen. Beide kennen Deutschland von Reisen her und sprechen sehr positiv davon. Dann kommen zwei Studentinnen aus Singapur, die ein Studienjahr in Holland verbringen, eine Belgierin, Amerikaner, ein englisches Paar. Die FĂŒhrerin ist eine ganz junge Lehrerin, die gerade ihr Studium abgeschlossen hat, Englisch und Japanisch, und noch bis zum nĂ€chsten Tag Ferien hat.

 

Wir steigen gleich in die U-Bahn. Die sieht ganz anders aus als die, mit der ich gekommen bin. Nach ein paar Stufen ist man am Bahnsteig, ohne Rolltreppe. Die Decke ist niedrig, der Bahnsteig schmal, als Materialien sind Kacheln und Gusseisen vertreten. Sieht schön aus, geradezu gemĂŒtlich. Diese U-Bahn, erfahren wir, ist die zweitĂ€lteste in Europa und die Ă€lteste auf dem Kontinent.

 

Wir fahren zum Heldenplatz, einem riesigen Platz, an dem die ungarische Geschichte zelebriert wird. Auf einem in der Mitte geteilten Halbkreis stehen Statuen bedeutender Figuren der ungarischen Geschichte – fast nur Herrscher – und dazwischen auf einer hohen SĂ€ule ein Engel, der in die Geschichte eingegriffen hat – zugunsten Ungarns, versteht sich. Auf den Halbkreisen stehen StammesfĂŒrsten und Könige. Es geht um nationale Einigung, Landnahme, Eroberungen, mit den Slawen und TĂŒrken als Lieblingsfeinde. Bedeutsam ist, dass Ungarn frĂŒher viel grĂ¶ĂŸer war – das erklĂ€rt unter anderem die ungarischsprachige Minderheit in Jugoslawien – und ihre Heimat nicht in Europa liegt – das erklĂ€rt die fremde Sprache. Zur Zeit der grĂ¶ĂŸten Ausdehnung soll Ungarn, heute ein Binnenland, bis zur Adria, zum Schwarzen Meer und zur Ostsee gegangen sein.

Angesichts all der Zahlen und Namen wird einem schwindlig. Immer wieder fÀllt der Name der Arpaden, einer bedeutenden Dynastie.

 

Die letzten drei Originalstatuen sind entfernt worden. Sie stellten die ungeliebten Habsburgerkönige dar. Deren Statuen wurden ersetzt durch welche von denen, die sich gegen sie auflehnten.

 

Am Schluss wird noch auf die beiden Kunst-museen hingewiesen, die den Platz flankieren, und dann machen wir uns auf zu unserem nĂ€chsten Ziel, dem idyllischen StadtwĂ€ldchen, der grĂ¶ĂŸte denkbare Kontrast zu dem Heldenplatz. Hier geht es ĂŒber eine kleine BrĂŒcke zu einem GebĂ€ude-ensemble in historisierendem Stil, das als Burg bezeichnet wird. Was das genau ist, verstehe ich nicht. Wir sollen schĂ€tzen, die alt die Burg ist und ich schaffe es nicht, die Klappe zu halten und sage: “Nicht so alt, vielleicht 100 Jahre.” Stimmt. Alle anderen wollen es kaum glauben. Das sieht doch so alt aus. So, wie man sich Mittelalter vorstellt.

 

Alles ist sÀuberlich geplant, und jedes der GebÀude bildet einen anderen Stil nach, eine andere Zeit.

 

Vor der Burg steht eine große Statue eines Mannes mit Feder in der Hand, vor der man sich gerne fotografieren lĂ€sst. Er heißt Anonymus. Es ist die Statue eines Chronisten, der die ersten historischen Berichte ĂŒber Ungarn verfasst hat, vor etwa 1000 Jahren.

Gleich hinter der Burg liegt eins der berĂŒhmten BĂ€der Budapests. Davon hat man mir schon zuhause erzĂ€hlt. Es ist ein prachtvoller Bau mit einer Freitreppe, ĂŒber die man in das Atrium gelangt. Von hier aus kann man in die BadesĂ€le sehen, mit heißem und kaltem Wasser, innen und außen. Es wimmelt nur so von Menschen, von denen die wenigsten allerdings schwimmen. Darum geht es wohl nicht. Eher um Erholung. Und prompt bietet sich uns auch eines der emblematischen Motive Budapests dar: im Wasser um ein Schachbrett herumstehende MĂ€nner. Zusehen und kommentieren scheint genauso wichtig zu sein wie spielen.

 

Hinter dem Bad liegen Zoo und Botanischer Garten. Der Turm des Elefantenhauses wurde 1915 abgerissen. Aus politischen GrĂŒnden. Nur: Hat Politik etwas mit Elefanten zu tun? Offensichtlich ja. Der Turm sah dem Minarett einer Moschee Ă€hnlich, und dagegen protestierte die TĂŒrkische Botschaft schon anfangs des 19. Jahrhunderts. SpĂ€ter fand der Protest Gehör, wĂ€hrend der k. u. k. Monarchie. Denn die war mit der TĂŒrkei verbĂŒndet.

 

Von hier aus geht es zur Oper. Sie liegt auf der Andrassy, der Prachtstraße Budapests. Graf Andrassy, ein liberaler Adeliger des 19. Jahrhunderts, wurde wegen seiner staatsfeindlichen Umtriebe zum Tode verurteilt, war aber geflohen, als er hingerichtet werden sollte. In Ermangelung des Delinquenten wurde daraufhin ein ÖlgemĂ€lde, das ihn darstellte, zur Exekution gebracht. Nach politischen VerĂ€nderungen machte Andrassy noch Karriere und wurde am Ende MinisterprĂ€sident und dann Außenministers eines Landes, das ihn einst aufknĂŒpfen wollte. Dagegen wirken die heutigen politischen Karrieren ehemaliger Alternativer geradezu harmlos.

 

Die Oper wurde nach dem Vorbild Wien gebaut und ist bekannt fĂŒr seine Akustik. Wir werden nach ungarischen Komponisten gefragt, aber außer Bartok fĂ€llt kaum einem etwas ein. Es gibt aber noch einen viel bekannteren: Liszt. Der sprach zwar kein Wort Ungarisch, verstand sich aber selbst als Ungar. Eine der beiden Statuen zur Seite des Eingangs stellt ihn dar. Auf der Statue steht: Liszt Ferenç. Das lĂ€sst das Herz des Sprachbesessenen gleich dreimal schlagen. Sein deutscher Vorname ist durch das ungarische Äquivalent ersetzt worden, die Reihenfolge von Vor- und Nachname ist der unseren entgegengesetzt und es erscheint <sz> statt <s>. Warum das so ist, verstehe ich jetzt: Im Ungarischen steht der Buchstabe <s> fĂŒr den Laut, der bei uns mit <sch> wiedergegeben wird; der Laut, fĂŒr den bei uns das <s> steht, muss daher extra markiert werden, und das geschieht durch das zusĂ€tzliche <z>. In den nĂ€chsten Tagen begegne ich Diszkont, Busz und Szendvics.

 

Dass die Ungarn den Vornamen nachstellen, ist mir bei der zweisprachigen Homepage meines Gastgebers aufgefallen, des Vorsitzenden der Anglistik des Paszmaneums. Wenn man von Ungarisch auf Englisch umschaltet, verwandelt sich Andras Czer in Czer Andras. Es scheint nahezuliegen, diese Konvention mit dem außereuropĂ€ischen Ursprung der Ungarn in Verbindung zu bringen.

 

Seitlich der Oper befindet sich ein Restaurant, mit dem es eine spezielle Bewandtnis hat: Alle Angestellten, vom GeschĂ€ftsfĂŒhrer ĂŒber den Koch bis zum TellerwĂ€scher, mĂŒssen, um eine Anstellung zu bekommen, nachweisen, dass sie ein Musikinstrument spielen können!

 

Von der Oper geht es zur Basilika – die keine ist, aber im Volksmund so heißt, eine mĂ€chtige Kuppelkirche, das höchste GebĂ€ude Budapests. Ihre Erbauung ist eine Geschichte der RĂŒckschlĂ€ge, mit falschen Berechnungen, Überflutungen, EinstĂŒrze. Ihr Hauptportal geht auf einen großen Platz hinaus, auf den, in gerader Achse auf das unverstellte Portal ausgerichtet, eine breite Straße fĂŒhrt.

 

Dann geht es zur Donau runter. Vor einem Hotel weht eine kanadische Flagge. Das hat etwas mit einer Umweltschutzbewegung zu tun, aber was es genau ist, bekomme ich nicht mit.

 

Seitlich davon das sehenswerte GebĂ€ude der Akademie der Wissenschaften, fĂŒr mich das schönste GebĂ€ude Budapests, ein dreigeschossiger Bau mit einer stark gegliederten und gleichzeitg harmonischen Fassade mit doppelten SĂ€ulenreihen und breiten Fenstern mit Rundbögen, alles im Stil der Neo-Renaissance. An der Fassade allegorische Figuren und die Statuen von Galilei, Lomonossow, Descartes, Leibniz, Newton und einem gewissen Revai, einem ungarischen Sprachforscher.

 

An der Seite ein Relief, das eine turbulente Szene in einer Sitzung darstellt: Der Graf, auf dessen Initiative die Akademie zurĂŒckgeht, stellt in einer dramatischen Szene sein gesamtes Jahres-einkommen dafĂŒr zur VerfĂŒgung. Daran kann man sich ein Beispiel nehmen.

 

Als wir vor der Akademie stehen, werden wir gefragt, welche ungarischen Erfinder wir kennen. Fehlanzeige. Dann nennt unsere FĂŒhrerin eine ganze Reihe, die einem tatsĂ€chlich bekannt vorkommen, unter anderem den Erfinder des ZauberwĂŒrfels. Auch Streichhölzer wurden in Ungarn erfunden. Und dann fĂ€llt es mir, angesichts des Namens, wie Schuppen von den Augen: Byro, der Erfinder des Kugelschreibers.

 

Von der Akademie geht es auf die KettenbrĂŒcke, die berĂŒhmteste BrĂŒcke Budapests, zwischen der ElisabethbrĂŒcke und der MargaretenbrĂŒcke gelegen. Alle verbinden Pest, wo wir uns befinden, mit Buda auf der anderen Seite. Der Unterschied ist augenfĂ€llig: Pest ist flach, Buda hĂŒgelig. Aus der NĂ€he sieht man spĂ€ter auch, dass Buda verwinkelt ist und krumme Gassen hat und Pest regelmĂ€ĂŸig angelegt ist und breite Straßen hat, dass Buda eher gediegen und ruhig und Pest laut und  dynamisch ist.

 

Die KettenbrĂŒcke wird von zwei Löwen ohne ZĂ€hne bewacht. Der Legende zufolge machte ein Kind den Architekten darauf aufmerksam, der sich daraufhin, verzweifelt ĂŒber seinen Fehler, das Leben nahm. Stimmt aber nicht.

 

Am Ende der KettenbrĂŒcke befindet sich in gerader Linie ein Tunnel, der genauso lang ist wie die BrĂŒcke. Kindern erklĂ€rt man, bei Regen werde die BrĂŒcke in den Tunnel geschoben.

 

Am anderen Ende befinden sich der Nullpunkt fĂŒr alle Entfernungsmessungen in Ungarn und eine Drahtseilbahn, die auf den BurghĂŒgel hinauffĂŒhrt. Wir nehmen aber den gewundenen Fußweg den Berg hinauf.

 

Unterwegs machen wir Halt und blicken auf das neugotische ParlamentsgebĂ€ude am anderen Ufer, das berĂŒhmteste GebĂ€ude Budapests. Es ist genau symmetrisch, mit der Kuppel in der Mitte. Die beiden FlĂŒgel reprĂ€sentieren die beiden Kammern des Parlaments. Es weist eine große Zahl an Superlativen aus. Es ist 268 Meter lang, hat 691 RĂ€ume, 242 Statuen, 13 AufzĂŒge und 20 km Treppen. Der PrĂ€sident residiert oben auf der anderen Seite, auf dem BurghĂŒgel.

 

Oben auf dem Berg steht die Matthiaskirche, weiß, mit glasierten Kacheln auf dem Dach und einem spitzen Turm, der sich jetzt unter einem GerĂŒst versteckt.

 

Auf dem Platz davor die Reiterstatue von König Stephan, dem StaatsgrĂŒnder, wĂŒrdevoll, majestĂ€tisch, mit Königskrone, Heiligenschein und Kreuzesstab. Das Pferd hat alles Mögliche Schmuckwerk umgehĂ€ngt.

 

Davor steht die Fischereibastei, herrlichster Kitsch, mit Zinnen und spitzen TĂŒrmchen und Fenstern mit eingestellten SĂ€ulchen, eine Aussichts-plattform, die aussieht wie ein Teil einer Ritterburg aus dem MĂ€rchenbuch, Fototreff und Fotomotiv gleichzeitig. Mit Fischern hat das wenig zu tun. Der Name kommt wohl daher, dass sich das Viertel der Fischer in der NĂ€he befand.

 

Hier endet die Tour. Ich gehe zu Fuß ĂŒber einen gewundenen Weg zur Donau hinunter und suche etwas zu essen. Fast lande ich in einem China-Restaurant, bin aber gedankenschnell genug, rĂŒckwĂ€rts wieder rauszugehen. Eine gute Entscheidung, denn ich finde zufĂ€llig ein rustikales Lokal in der NĂ€he der Basilika, das alle Erwartungen erfĂŒllt: gutes Essen, gute AtmosphĂ€re, gute Bedienung. Erst spĂ€ter lese ich in einem ReisefĂŒhrer, dass man das Lokal empfiehlt, aber dass es kaum einmal einen freien Platz gibt. Ich habe GlĂŒck.

 

Der Raum ist klein, mit BacksteinwÀnden, einer niedrigen Decke mit einem pflanzenumrankten Holzgestell und karierten Tischdecken. Es herrscht Rauchverbot, aber am Nebentisch rauchen zwei Spanierinnen, und keiner stört sich daran.

 

Die SpezialitĂ€t des Hauses scheint GeflĂŒgel zu sein, denn das gibt es in allen möglichen Variationen: HĂ€hnchen mit Spinat und SchafskĂ€se, HĂ€hnchen mit Speck und Roquefort, HĂ€hnchen mit Bacon und Pfirsich, Truthahn in Pflaumensoße. Ich entscheide mich fĂŒr HĂ€hnchen mit Honig und Senf. Hervorragend! Dazu gibt es leckeres ungarisches Bier, Soproni. Es heißt, dass in Budapest mehr Bier als Wein und in der Provinz mehr Wein als Bier getrunken wird.

 

Zum Nachtisch gibt es Kaffee. Den gab es in Ungarn schon, als er in Deutschland noch unbekannt war. Das ist ein Erbe der TĂŒrken. Ich finde in einem ReisefĂŒhrer den Bericht eines Augsburgers, der im 16. Jahrhundert auf einer Reise in BerĂŒhrung mit dem Kaffee kam, damals noch ein unbekanntes GetrĂ€nk, und ihn, mangels eines Wortes, wortreich umschreibt: Farbe, Geschmack, Temperatur, Wirkungen, TrinkgefĂ€ĂŸe. All das war neu.

 

6. April (Dienstag)

Budapest ist nicht wiederzuerkennen: Alltags-hektik statt Sonntagsruhe. Um den Bahnhof herum, auf den Bahnsteigen und in den ZĂŒgen wimmelt es nur so von Menschen. Und man hat es eilig. AuffĂ€llig die fast einheitlich dunkle Kleidung: grau, blau, schwarz.

 

Auf dem schmalen Weg zwischen den BauzĂ€unen hindurch zum Bahnhof bilden Bettler Spalier, einige von ihnen schlimm verkrĂŒppelt. Da zögert man nicht, etwas zu geben. Aber wenn ich, wie das in den nĂ€chsten Tagen immer wieder passiert, mehrmals am Tag an ihnen vorbeikomme, werde ich geiziger. Ich gehe vorbei und richte schuldbewusst den Blick woanders hin.

 

Auch um diese Zeit schon gibt es an den Bahnhöfen ĂŒberall kleine VerkaufsstĂ€nde, von denen her es verlockend nach frischen Backwaren riecht, schon aus einiger Entfernung. Gut fĂŒr mich, denn ich musste das Hotel noch vor dem FrĂŒhstĂŒck verlassen. Mein erstes Seminar ist um 8 Uhr.

 

GlĂŒcklicherweise brauche ich nicht alleine den Weg zu der außerhalb Budapests liegenden Uni zu finden. Eine Kollegin will mich mitnehmen. Ich soll zum Moszkva tĂ©r kommen. Und da auf sie warten. Treffpunkt McDonalds.

 

Es regnet ein bisschen und es ist bedeckt. Der Platz ist so groß, dass ich erst McDonalds gar nicht finde und aufgeregt ĂŒberlege, ob ich vielleicht falsch bin. Dann sehe ich aber das bekannte Emblem am anderen Ende des Platzes. Ich postiere mich dort und frage mich, wo die Kollegin wohl halten will. Bis zur vereinbarten Zeit warte ich an Punkt und Stelle, beginne dann auf und ab zu wandern. Dann kommt eine SMS mit der Information, es werde 5 Minuten spĂ€ter. Dann eine weitere, es werde noch 5 Minuten spĂ€ter. Und dann ein Anruf mit der AnkĂŒndigung, jetzt dauere es nicht mehr lange.

 

Ich bin lĂ€ngst ĂŒber die Phase der NervositĂ€t hinaus, als sie endlich vorfĂ€hrt, in einem kleinen, voll bepackten Auto. Sie ist eine junge, etwas rundliche, ausgesprochen freundliche und sprachbegabte Frau. Auch Deutsch kann sie, obwohl sie es als angerostet bezeichnet, ganz gut. Besonders aber hat es ihr Russisch angetan. Das kommt in Ungarn wohl nicht so oft vor.

 

Ich erfahre, was es mit dem PĂĄszmaneum auf sich hat. Es handelt sich um eine alte, wĂ€hrend der Zeit der Gegenreform von PĂ©ter PĂĄszman gegrĂŒndete UniversitĂ€t, die sich durch alle Epochen und viele VerĂ€nderungen, auch der k. u. k.-Zeit und der sowjetischen Zeit, gehalten und in Ungarn einen sehr guten Ruf hat. Den alten Namen hat sie erst seit dem Fall der Mauer wieder. Die meisten FakultĂ€ten sind in Budapest, die Theologische FakultĂ€t ist in Esztergom, und die Philologische in Pilisvörösvar. Dahin geht unsere Fahrt. Wir kommen an Wiesen und Feldern vorbei und durch Orte mit deutschen Namen – dies ist das Land der Donauschwaben. Begeistert erzĂ€hlt sie mir, wie hier immer noch in DonauschwĂ€bischem Dialekt gesprochen wird. Als wir an der UniversitĂ€t ankommen, sind wir noch gut in der Zeit.

 

Gleich der erste Eindruck der UniversitĂ€t ist ausgesprochen einnehmend. Sie ist schön und sie liegt schön, in einem waldĂ€hnlichen Gebiet, jenseits von Gut und Böse. Die Architektur hat etwas MĂ€rchenhaftes. UnregelmĂ€ĂŸige, an Formen aus der Natur, wie zum Beispiel einen Pilz, erinnernde, GebĂ€ude, jedes anders als das andere, alle in Weiß, mit schwarz-grauen, teils schief aufgesetzten DĂ€chern. Es erinnert an GaudĂ­. Offensichtlich wurde ein namhafter ungarischer Architekt dafĂŒr gewonnen, dessen Name mir aber nichts sagt. Die UniversitĂ€t liegt charakteristischerweise auf dem GelĂ€nde einer sowjetischen Kaserne, und die alten KasernengebĂ€ude dienten nach der Wende als provisorische UnterrichtsrĂ€ume.

 

Ich werde in einen der RĂ€ume der Anglistik gefĂŒhrt und einem englischen Kollegen vorgestellt, der mich gleich fragt, was mich denn aus der Zivilisation in die Wildnis gefĂŒhrt habe. Er spricht fließend Ungarisch und scheint schon geraume Zeit in der Wildnis zugebracht zu haben.

 

Dann kommt auch meine Gastgeberin, noch eine sehr freundliche Kollegin, in deren Seminar ich heute unterrichten soll, ĂŒber britisches und amerikanisches Englisch. Sie warnt mich, nicht allzu große Erwartungen zu haben. Die Studenten kĂ€men gerade erst aus den Ferien zurĂŒck. Ich befĂŒrchte eher, dass das, was ich vorbereitet habe, zu elementar ist. Es stellt sich aber heraus, dass es gerade richtig ist. Die Studenten brauchen eine gewisse Anlaufzeit, tauen aber bald auf. Sie kennen viele der Konzepte schon, aber wenig von dem konkreten Material und haben ein paar Aha-Erlebnisse. Ich habe mit Hilfe unserer ungarischen Studentin ein paar ungarische Formen vorbereitet, die sie in die beiden VarietĂ€ten ĂŒbersetzen sollen. Sie schĂ€tzen meine MĂŒhe sehr und ĂŒbersehen höflich ein paar Rechtschreibfehler, die ich gemacht habe.

 

Anschließend kann ich im Lehrerzimmer ein paar Notizen am PC machen. Gar nicht so einfach. Einige deutsche Buchstaben fehlen. Es gibt zwar ö, aber nicht Ă€, und ö kann mal leicht mit Ƒ verwechseln. Außerdem ist die Anordnung der Tasten etwas anders: die 0 ist links von der 1, das @ versteckt sich unter dem V. Und wenn man speichern oder öffnen will, sieht man sich mit den ungarischen Wörtern konfrontiert, und man muss aus dem GedĂ€chtnis die richtige Stelle anklicken.

Dann werde ich bald einem Dutzend anderer Kollegen vorgestellt, die alle irgendwie schon von mir wissen. Wer wer ist, weiß ich am Ende nicht mehr.

 

Dann werde ich ĂŒber den Campus gefĂŒhrt. Im Zentrum des HauptgebĂ€udes steht eine mĂ€chtige Bronzeskulptur des GrĂŒnders, PĂ©ter PĂĄszman, mit Kardinalshut. Es heißt, Ungarn sei, als er geboren wurde, ein protestantisches Land gewesen, und ein katholisches, als er starb. Wichtiger als der konfessionelle Aspekt scheint aber der kulturelle und politische zu sein, denn es ging um die Durchsetzung einer christlich geprĂ€gten UniversitĂ€t zur Zeit der TĂŒrkenherrschaft. Das wurde geduldet. Der Islam ist, trotz aller Kriege gegen die „UnglĂ€ubigen“, dem Christentum gegenĂŒber oft sehr aufgeschlossen gewesen.

 

7. April (Mittwoch)

Im Laufe der Tage entdecke ich mit Erstaunen, wie viele ungarische Vornamen man kennt: Istvån, Lazlo, Janos, Ferenç, Sandor, Gabor, Bela, Gyula, Imre.

 

Meine Gastgeberin hat mir angeboten, mich heute zur UniversitĂ€t mitzunehmen. Sie hat dort eine Halbtagsstelle und eine weitere Halbtagsstelle in einem Forschungszentrum oben an der Burg. Mein Vortrag ist erst am frĂŒhen Nachmittag, und ich habe noch Zeit, mir vorher etwas anzusehen. Eigentlich will ich ins Parlament, aber daraus wird nichts. Als ich endlich den richtigen Eingang gefunden und es geschafft habe, nach mehrmaligem Schlange stehen vor der KartenverkĂ€uferin zu stehen, erfahre ich, dass die frĂŒhe FĂŒhrung bereits ausgebucht ist.

 

Um das Parlament herum herrscht eine englische AtmosphĂ€re, mit den historisierenden Bauten, dem gepflegten Rasen und den GebĂ€uden mit SĂ€ulen im zweiten Stock. Vor dem Parlament weht eine ungarische Flagge mit einem Loch in der Mitte. Was fehlt, ist das MittelstĂŒck mit den kommunistischen Emblemen. Es wurde bei dem Aufstand von 1956 entfernt. Das Loch, um das sich alles dreht, kann man heute aber nicht sehen. Es ist ein sonniger und windstiller Tag, und die Flagge hĂ€ngt reglos am Mast herunter.

 

Ich gehe ĂŒber die KettenbrĂŒcke gleich zur Burg hinauf. Besser gesagt, ich fahre, denn ich nehme diesmal die Drahtseilbahn, eine Schweizer Konstruktion. Ein Prospekt spricht von den Vorteilen der Drahtseilbahn, die energiesparend und sicher sei.

 

Oben angekommen, will ich zuerst in die Matthiaskirche, werde aber am Eingang gleich wieder zurĂŒckgeschickt. Hier wird Eintritt gezahlt. Die Karte gibt es in einem Kiosk gegenĂŒber.

 

Wenn man die Kirche betritt, muss man sich erst an die Dunkelheit gewöhnen und ist dann gleich erschlagen angesichts all der Pracht. Ob das schön ist oder nicht, ist schwer zu sagen, aber hier hat das 19. Jahrhundert ganze Arbeit geleistet und alles Barocke beseitigt oder ĂŒbermalt, mit bunter Ornamentmalerei an WĂ€nden und Pfeilern, und die transparenten Fenster durch Buntglasfenster ersetzt, um so den „Originalzustand“ wieder herzustellen.

 

Original erhalten ist, in einer Seitenkapelle, das Grabmal von Bela III. und Gemahlin aus der Dynastie der Arpaden (XII),  aus weißem Marmor, ganz das Ideal des Ritterkönigs darstellend. Er wurde in Byzanz erzogen, wurde aber nicht Kaiser und begnĂŒgte sich als Ersatz mit dem Königsjob in Ungarn. Er fĂŒhrte regelmĂ€ĂŸige Aufzeichnung ein, holte Mönche des gerade gegrĂŒndeten Zisterzienserordens ins Land und legte die Festung auf dem BurghĂŒgel an. Die verschiedenen Viertel auf dem BurghĂŒgel wurden verschiedenen Nationen zugeteilt. Das erklĂ€rt, warum mir vieles so bekannt vorkommt. Hier haben Deutsche ihre Spuren hinterlassen.

 

Bei dem schönen Wetter kann man den BurghĂŒgel mit seinen verwinkelten Straßen und pittoresken HĂ€usern richtig genießen.

 

Einige HĂ€user auf dem BurghĂŒgel haben Sitznischen. Ihre Funktion ist unbekannt. Vielleicht wartete man hier auf Einlass, vielleicht saß hier der HĂŒter des Hauses.

 

Bei der Suche danach lande ich in einem CafĂ©, von dem ich, erst als ich sitze, feststelle, dass es das bekannt Ruszwurm ist, das mir schon zu Hause empfohlen wurde. Es ist ein besseres Wohnzimmer, ein langgestreckter, schmaler Raum mit einem langen Sofa und kleinen runden Tischen, einem Kachelofen und Schwarz-Weiß-Photographien von Budapest an den WĂ€nden. Hier gibt es den berĂŒhmten, hauseigenen Cremekuchen, der nicht auf Vorrat gebacken wird, sondern je nach Nachfrage und daher immer frisch ist. Schmeckt wunderbar!

 

Dass Budapest aus Buda und Pest besteht, wissen viele. Aber dass es auch noch Obuda gibt, als dritten Teil, ist weniger bekannt. Woher kommt die Ähnlichkeit von Buda und Obuda? Bei der LektĂŒre zum Kaffee im Ruszwurm finde ich eine ErklĂ€rung: Das heutige Buda entwickelte sich zu einem “richtigen” Ort, bekam Markt- und dann Stadtrechte und wurde dann zur Hauptstadt Ungarns. Als Stadt wurde es aber von Deutschen regiert. Die nannten es Ofen, in Anlehnung an Pest, die Ungarn aber ĂŒbernahmen den Namen den alten Siedlungsnamen Buda und nannten das alte Buda jetzt Obuda – ‘Alt-Buda’!

 

Ich lande in einem Labyrinth, den unterirdischen GÀngen unter der Burg. Es ist gerade erst eröffnet worden, und als ich spÀter den Ungarn davon erzÀhle, hat noch niemand etwas davon gehört.

 

In prĂ€historischer Zeit haben die GĂ€nge schon als Zufluchtsort gedient, im Mittelalter als Weinkeller, GefĂ€ngnis, Folterkammer, Schatzkammer, und im 2. Weltkrieg als MilitĂ€rhospital und Schutzbunker. Hier konnten 10.000 Menschen Platz finden. UrsprĂŒnglich gab es keine Verbindungen zwischen den einzelnen Teilen. Die wurden aber von Menschenhand geschaffen, und die haben die Höhlen erst zu einem richtigen Labyrinth gemacht.

 

Da die RĂ€ume leer sind, hat man, um die Tour aufzuwerten, alle möglichen Figuren, Skulpturen und Installationen eingebaut und den einzelnen Teilen hochtrabende philosophische Namen gegeben wie Weltachse und Labyrinth der Liebe. Das ist nicht sonderlich interessant, mit Ausnahme eines Brunnens, aus dem Rotwein fließt. Man hört den Wein schon aus der Ferne plĂ€tschern und nĂ€hert sich ihm durch die fast dunklen GĂ€nge. Das hat AtmosphĂ€re.

 

Eigentlich hÀlt mich aber nichts mehr hier, und ich entscheide mich, wieder ans Tageslicht zu gehen.

Es gibt nur ein Problem: Ich befinde mich in einem Labyrinth. Und das bekomme ich jetzt zu spĂŒren. Erst gehe ich noch mit sicheren Schritten dem Ausgang entgegen und kann verschiedene Stationen, an denen ich vorher vorbeigekommen bin, wiedererkennen. Außerdem bin ich doch die ganze Zeit geradeaus gegangen. Glaubte ich. Aber da, wo der Ausgang war, ist er nicht mehr. Man lĂ€uft ins Leere. Ich muss zurĂŒck. Dabei achte ich darauf, immer geradeaus zurĂŒckzugehen, dahin, wo ich hergekommen bin, aber plötzlich komme ich an Stationen vorbei, die ich nicht wiedererkenne. Dann wieder an welchen, die ich kenne, aber sie tauchen plötzlich und ungefragt an allen möglichen Stellen auf. Plötzlich ĂŒberkommt mich ein richtiger Schauer. Aber ich beruhige mich sofort, indem ich mir sage, dass dies kein richtiges Labyrinth ist. Verenden werde ich hier schon nicht. Mit neuer Zuversicht mache ich einen neuen Anlauf. Und sofort erweitert sich der Weg und es wird etwas heller. Das muss richtig sein. Ist es aber nicht. Von jetzt an komme ich immer wieder an den beiden gleichen Stellen aus, von denen eine eine Kreuzung ist, an der mehrere Wege zusammenlaufen und an dessen Wand ausgerechnet das Relief eines Labyrinths angebracht ist.

 

Richtig unwohl wird es mir bei dem Gedanken, dass ich einen Termin mit einer ungarischen Kollegin habe und dass ich am Nachmittag einen Vortrag an der UniversitĂ€t halten muss. In dem Moment kommt die Rettung: eine andere Besucherin. Die ist gerade erst hereingekommen und weist mir den Weg zum Ausgang. Aber da ist der Ausgang nicht. Sie muss auch schon die Orientierung verloren haben. Jetzt kommt Panik auf. Schweiß bricht aus und ich laufe nur noch immer schneller. Und planlos. Das mit dem planvollen Suchen hat ja auch nichts gebracht. Irgendwann muss man ja, wenn auch nur zufĂ€llig, zum Ausgang kommen. Schon aufgrund der Wahrscheinlichkeit. Schließlich bin ich an allen markanten Punkten schon dutzende Male vorbeigekommen, da sollte doch auch der Ausgang irgendwann dabei sein. Dann komme ich tatsĂ€chlich zu einer Stelle, die ich gleich nach dem Eintreten gesehen habe. Ich versuche, von ihr aus in alle Richtungen zu gehen, ohne mich so weit von ihr zu entfernen, dass ich sie aus dem Auge verliere. Aber so reicht es nicht bis zum Ausgang. Dann kommt plötzlich Rettung: eine Gruppe von jungen Deutschen weist mir den Weg. Endlich bin ich wieder im Freien.

 

Ich komme noch gerade rechtzeitig zum Treffen mit der Kollegin. Sie aber nicht. Sie kommt spĂ€ter, sommerlich gekleidet, und fĂŒhrt mich erst noch in aller Ruhe durch das Collegium Budapest, eine Forschungseinrichtung, an der sie halbtags arbeitet. Es ist in einem historischen Eckhaus gleich am alten Rathaus auf dem Platz vor der Matthias-Kirche untergebracht, in privilegierter Lage. Es herrscht eine ruhige, gediegene AtmosphĂ€re, ganz anders als an der Uni. Hier lĂ€sst sich ungestört forschen.

 

Ich werde langsam nervös wegen des bevorstehenden Vortrags, aber die Kollegin ist völlig gelassen, sagt, wir seien voll in der Zeit und erledigt noch ein paar Dinge. TatsĂ€chlich kommen wir pĂŒnktlich, aber auch nur gerade rechtzeitig im Paszmaneum an. Der Vortragssaal ist abgeschlossen, und erst mal findet sich kein SchlĂŒssel. Die ersten Zuhörer kommen, und die Kollegin ist erst einmal von der BildflĂ€che verschwunden.

 

Dann kommt irgendwer mit dem SchlĂŒssel, aber der versprochene Laptop muss noch organisiert werden. Der Vortragssaal ist inzwischen voll, und ich stehe vorne etwas verloren herum. Dann kommt der Laptop, aber die Verbindung zum Projektor funktioniert nicht. Wir sind inzwischen eine Viertelstunde hinter der Anfangszeit. Die Leute bleiben aber ganz gelassen. Die Kollegin und der Vorsitzende der Anglistik versuchen sich an dem Laptop, aber erfolglos. Dann wird ein Student nach vorne geholt, und der hat die Sache in zwei Minuten geregelt.

 

Endlich kann es losgehen. Ich bin inzwischen schweißgebadet, aber die Sache geht gut, mit einem sehr dankbaren, aufmerksamen Publikum.

 

ZurĂŒck geht es mit dem Zug. Das Paszmaneum hat eine eigene Haltestelle. Und eine kleine Wartehalle, wo tatsĂ€chlich noch ein richtiger, lebendiger Mensch Fahrkarten verkauft. Ich bin ganz alleine in der Wartehalle und kann in Ruhe mit der Frau hinter dem Schalter ĂŒber den Kauf der Fahrkarte verhandeln.

 

Die Fahrt endet am Westbahnhof, der fĂŒr seine Architektur bekannt ist. Das Problem ist, dass ich vom Zug in die Metro wechseln muss, und mich dabei im unterirdischen Labyrinth verlaufe. Das hatten wir doch heute schon einmal. Und dann finde ich noch nicht einmal heraus, genauso wie heute Morgen. Fragen nutzt zuerst auch nichts, aber dann zeigt mir jemand den Weg.

 

Ich mache keinen weiteren Versuch, die Metro zu finden, sondern suche ein Taxi, um mich zu einem Restaurant fahren zu lassen. Dabei bleibt nur ein flĂŒchtiger Blick auf die feingliedrige Fassade des Bahnhofs mit seinem glĂ€sernen Mittelteil. Komischerweise liegt der Westbahnhof gar nicht im Westen, sondern im Osten der Stadt. Er heißt so, weil hier die ZĂŒge Richtung Westen abgehen. Hier fuhr der erste ungarische Zug ĂŒberhaupt ab, und hier gab es einmal einen spektakulĂ€ren Unfall, als ein Zug nicht zum Halten kam, die Glasfront durchstieß und erst auf der Straße zu halten kam.

 

Die Taxifahrer können erst mit dem Namen nichts anfangen, aber der ReisefĂŒhrer hilft. Es geht ins Kispipa, dem ‚Pfeifchen‘, im jĂŒdischen Viertel. Das Lokal ist noch ganz leer. Ich bin der einzige Gast, und trotz der frĂŒhen Zeit brennen in dem schummrigen Raum schon Kerzen. Da kommt man sich merkwĂŒrdig vor, und es hilft auch nicht, dass die Kellnerin gelangweilt ist oder verĂ€rgert darĂŒber, jetzt schon arbeiten zu mĂŒssen. Aber das Essen ist gut. Und das Bier auch. Die Kellnerin spricht vegetable so aus, als wenn der zweite Bestandteil table wĂ€re: vege-table.

 

Über die unendlich sich hinziehende RĂĄkĂłczi utca schleppe ich mich mit Blasen an den FĂŒĂŸen zum Hotel zurĂŒck.

Am Abend lese ich in einer deutschen Sprachgeschichte ganz zufÀllig, dass das Wort Tollpatsch aus dem Ungarischen kommt.

 

8. April (Donnerstag)

Diesmal muss ich auf eigene Faust zur UniversitĂ€t. Dabei lerne ich auch die dritte U-Bahn-Linie kennen, die blaue, die mich zum Westbahnhof bringt. Sie unterscheidet sich nicht besonders von der zweiten Linie, ist also auch ‚russisch’.

 

Da ich den Fahrplan der ZĂŒge nicht kenne, bin ich schon sehr frĂŒh unterwegs. Schon um diese Zeit ist an den Bahnhöfen und in der U-Bahn einiges los.

 

Bei den Namen der U-Bahnstationen sind nur die Eigennamen großgeschrieben, der Rest klein, anders als im Englischen: Keleti palyaudvar (Bahnhof), Kossuth ter (Platz), Bajza utca (Straße).

 

Ich bin frĂŒh am Westbahnhof und hole noch schnell das ausgefallene FrĂŒhstĂŒck nach. Das VerkaufsgesprĂ€ch geht so: „Coffee?“ – „Zuckor?“ – „Yes.“ – Einen Finger heben als Zeichen fĂŒr eins, mit fragendem Blick. – „Yes.“ Und schon habe ich einen wunderbaren Espresso vor mir, den richtigen ungarischen Kaffee. Der schmeckt viel besser als die hybriden Kaffees, die ich bisher getrunken habe. Als ich herausgehe, sagt die VerkĂ€uferin: „Hello.“ Ich zögere einen Moment, dann antworte ich: „Hello.“

 

Bei der Sperre zu den Gleisen geht es auch ganz ohne gemeinsame Sprache. Ich weiß weder Zeit noch Gleis: „Pazmaneum?“ – „Pazmaneum … Paszmaneum!“ Dabei zeigt der Mann mit dem Finger auf den Zeiger meiner Uhr und bewegt ihn virtuell weiter, bis er auf der Abfahrtszeit steht: 7.20. Und deutet auf den Bahnsteig.

 

Ich werde in die richtige Richtung gewiesen, weiß aber nicht, ob der Zug mit der Endstation Esztergom der richtige ist. Dann erledigt sich aber jede Nachfrage. Der Zug ist vollgestopft mit Studenten.

 

Nach gut einer halben Stunde sind wir da. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Campus mache ich noch schnell im Gehen ein paar Fotos von den schönen GebÀuden, die sich bei strahlendem Sonnenschein von der besten Seite zeigen.

 

Die Natur ist hier weiter als in Deutschland, vielleicht zwei Wochen. Die meisten BĂ€ume sind grĂŒn oder blĂŒhen, einige wenige haben Knospen. Der Winter, heißt es, sei auch hier sehr streng gewesen.

 

Dann geht es gleich ins Auto, um zu einer benachbarten Schule zu fahren. Wir sind eingeladen zu einem Unterrichtsbesuch beim Englischunterricht einer ehemaligen Studentin des Pazmaneums. Es ist eine Berufsschule fĂŒr Agrarwirtschaft, Forstwirtschaft und Informatik. Das zweigeschossige SchulgebĂ€ude liegt sehr schön inmitten von BĂ€umen, sieht ganz und gar wie eine Schule aus, und ist auch wie eine Schule etwas vergammelt.

 

Die Lehrerin macht fast alles richtig. Sie hat eine freundliche und gleichzeitig strenge Art, die bei den SchĂŒlern offensichtlich gut ankommt. Sie arbeitet mit Gestik, Mimik, Körpersprache, sieht zu, dass alle beteiligt werden und wechselt zwischen KlassengesprĂ€ch und Einzelarbeit, zwischen Schreiben und Sprechen, und hat auch einen HƑrtext dabei. Sie hat die Sache voll und ganz im Griff. Die SchĂŒler sind mit Interesse bei der Sache. Und das soll was heißen. Die Berufsschule ist eine Art negative Auswahl. Hier sind die, die es nicht ins Gymnasium schaffen. Die Lehrerin schĂ€tzt, dass nur ein Viertel der SchĂŒler in einigermaßen normalen VerhĂ€ltnissen lebt. Alle anderen sind aus Familien, in denen die Eltern sich nicht um die Kinder kĂŒmmern, in denen Gewalt an der Tagesordnung ist, in denen Alkohol und Drogen eine Rolle spielen, und die wenigsten leben bei beiden Eltern.

 

FĂŒr den Fremdsprachenunterricht – Welch ein Luxus! – werden die Klassen halbiert, um mehr Sprechmöglichkeiten zu bieten. Trotzdem, und trotz des guten Unterrichts hier, liegt Ungarn, so sagt man mir, zusammen mit England auf dem letzten Platz in der EU, wenn es um Sprachkenntnisse geht.

 

Hier sind es gerade einmal 12 Schuler, davon 11 Jungen. Das einzige MĂ€dchen sitzt etwas verschĂŒchtert abseits. Sie ist, wie ich spĂ€ter erfahre, als Kind regelmĂ€ĂŸig verprĂŒgelt worden und hat erhebliche LernschwĂ€chen. Dennoch macht sie ihre Sache, wenn auch langsam und etwas stotternd, ordentlich, wenn sie von der Lehrerin aufgefordert wird. Von selbst beteiligt sie sich nicht. Die Lehrerin macht es gut, indem sie ihre Sonderrolle einfach akzeptiert, aber sie doch in das UnterrichtsgesprĂ€ch einbezieht.

 

Gegenstand der Stunde sind Beschreibungen. Zuerst werden mit selbst mitgebrachten Zeitungsausschnitten Adjektive der Ă€ußeren Charakteristika wiederholt, dann werden neue zur Beschreibung von GefĂŒhlszustĂ€nden eingefĂŒhrt. Das geht ein bisschen zu glatt, und spĂ€ter erfahre ich, dass das Material doch zum großen Teil nicht ganz neu ist, sondern recycelt wird.

 

Die Lehrerin sagt im anschließenden GesprĂ€ch, sie glaube an Lernen in konzentrischen, sich ausweitenden Kreisen, und beruft sich dabei auf die indische Philosophie. Das ist schweres GeschĂŒtz, aber das Prinzip ist ĂŒberzeugend.

 

Das Problem ist die Sprache selbst. Das Englisch der Lehrerin ist, wenn auch mit viel Selbstbewusstsein gebraucht, alles andere als perfekt. Gut, dass sie den Hörtext hat. Das gibt den SchĂŒlern die Gelegenheit, gutes Englisch zu hören.

 

Dazu kommt das bekannte PhĂ€nomen, dass sich Sprecher mit einer gemeinsamen Muttersprache in einer Fremdsprache verstĂ€ndigen können, die sonst keiner versteht. An mir geht jedenfalls knapp die HĂ€lfte vorbei. Sie arbeitet auch nicht systematisch genug mit der Aussprache des neuen Materials, und die SchĂŒler sprechen systematisch bored, relaxed und scared mit einer zusĂ€tzlichen Silbe aus.

 

Der Unterrichtsbesuch hat die Funktion, zukĂŒnftige Möglichkeiten der Kooperation mit der UniversitĂ€t auszuloten. Meine Kollegin ĂŒberlegt, ihre Studenten zur Unterrichtsbeobachtung hierher zu schicken. Das sollte sie auf jeden Fall machen.

 

Dann fahren wir zurĂŒck, und ich kann eine Sitzung in einem Fachdidaktikseminar miterleben. Eine reine Freude. Das ist hochmoderner Unterricht, praxisbezogen, aktiv, reflektiert. Drei Studenten fĂŒhren, einer nach dem anderen, eine kleine Unterrichtseinheit, vielleicht zehn Minuten, vor, mit den anderen Studenten als SchĂŒler. Die haben jeweils eine Rollenkarte gezogen, nach der sie sich verhalten sollen: der Streber, der Besserwisser, der Störenfried, der SchĂŒchterne. Die Lehrer, die genauso wenig wie die anderen SchĂŒler wissen, was die jeweils anderen haben, mĂŒssen darauf irgendwie reagieren. Nach jeder PrĂ€sentation gibt es ein kurzes, prĂ€gnantes Feedback der Dozentin, an der ich mich beteilige, und am Ende kann ich ein allgemeines Feedback geben. Die Studenten nehmen Lob und Kritik willig an.

 

Dann habe ich einen Termin mit der Leiterin der Germanistik. Die SekretĂ€rin der Germanistik fĂŒhrt mich zu ihr. Die SekretĂ€rin selbst spricht fließend Deutsch. Als ich wissen will, warum, sagt sie mir, sie komme aus Soundso. Den Ort kenne ich nicht. Es stellt sich heraus, dass es der oder ein Ort der Donauschwaben ist. Sie spricht aber Hochdeutsch mit mir.

 

Die GeschĂ€ftsfĂŒhrerin ist eine kleine, schmale, fast schĂŒchtern wirkende Frau, die sich mit der Literatur der Jahrhundertwende, vor allem der aus Österreich, beschĂ€ftigt, vor allem Musil. Freiwillig. Sie sagt, sie hĂ€tten große Schwierigkeiten, da die Zahl der Germanistikstudenten drastisch gesunken sei, vor allem jetzt, wo mit der EinfĂŒhrung der neuen StudiengĂ€nge das Einfachstudium eingefĂŒhrt worden sei. Und Magisterstudenten haben sie noch nicht, da der Studiengang noch nicht akkreditiert worden ist.

 

Nach meinem Seminar gehe ich mit dem GeschĂ€ftsfĂŒhrer der Anglistik in die Mensa. Er hat gute passive Deutschkenntnisse, kaum aber einmal die Gelegenheit, sie zu aktivieren. Er hat Verwandte in Potsdam und kennt MĂŒnster, wo sein damals einjĂ€hriger Sohn erfolgreich operiert wurde. Er litt an einem Geburtsfehler. In der UniversitĂ€ts-klinik, erzĂ€hlt er, arbeiteten auch zwei ungarische Ärzte, von denen einer an der Operation beteiligt war.

 

Am Nachmittag werde ich von zwei Kolleginnen auf Kosten der Anglistik in ein CafĂ© eingeladen, das Emil Cukraszda, auf der Straße Richtung Budapest gelegen. Hier gibt es Cremetorten und Pralinen vom Allerfeinsten, in Glasvitrinen mit GoldstĂ€ben vor dunkler Holzpaneele prĂ€sentiert. Man kann sich gar nicht entscheiden angesichts all der herrlichen Sachen. Ich nehme auf Anraten meiner Gastgeberinnen Flödni, ein jĂŒdischer Kuchen mit Wein und NĂŒssen. Erste Klasse.

 

Das GesprÀch kommt auf die bevorstehenden Parlamentswahlen. Die junge Kollegin ist sehr besorgt aufgrund des Zuwachses der rechtskonservativen Partei, aber die andere Kollegin sieht das eher gelassen: Wird schon nicht so schlimm kommen. Das sehe ich auch so.

 

Das Paszmaneum hat auch einen Austausch mit einer finnischen UniversitĂ€t, und die junge Kollegin spricht auch Finnisch. Die Verwandtschaft von Ungarisch und Finnisch, erfahre ich, sei alles andere als offensichtlich. Der gemeinsame Ursprung liege in grauer Vorzeit. Am Vokabular könne man ĂŒberhaupt keine Gemeinsamkeiten mehr erkennen, mit der Ausnahme von ein paar Alltagswörtern wie Grundzahlen oder Körperteile. Sprachtypologisch gehörten sie aber zusammen. Die Struktur sei dieselbe, wenngleich die Anordnung der Elemente sich unterscheide. In beiden Sprachen gibt es Vokalharmonie, ein Merkmal, das man vom TĂŒrkischen kennt, von dem beide aber noch weiter entfernt sind als voneinander.

 

Wir sprechen noch ĂŒber die Fortsetzung der Kooperation, und dann werde ich zur Straßenbahn gebracht, die mich ins Zentrum bringt. Der Weg ins Zentrum fĂŒhrt an einer AusgrabungsstĂ€tte vorbei – das ist Obuda.

 

Ich komme noch gerade rechtzeitig zur FĂŒhrung in die Staatsoper. Die FĂŒhrung wird in sechs Sprachen angeboten, jede Gruppe mit einer eigenen FĂŒhrerin. Unsere FĂŒhrerin ist eine ganz wunderbare junge Frau mit entzĂŒckendem LĂ€cheln, das sie stĂ€ndig begleitet. Sie spricht Deutsch mit einem markanten, aber charmanten Akzent und wirbelt dabei alle Formen und FĂ€lle wild durcheinander. Die deutschsprachige Gruppe ist, wie sie uns sagt, ungewöhnlich groß heute, und sie ist ein bisschen nervös, entledigt sich ihrer Aufgabe aber gut.

 

Die Oper wurde 1875 begonnen und in neun Jahren fertig gestellt. Sie ist im Neo-Renaissance-Stil gebaut und hat in verschiedenen RĂ€umen Ausmalungen mit Motiven aus der klassischen Mythologie, in al-secco-Technik, angeblich, weil das schneller ging. In dem Raum, in dem wir uns befinden, dem BĂŒffet der Aristokratie im 2. Stock, sind es nahe liegender weise Darstellungen von Dionysos, der in unterschiedlichen Altersstufen dargestellt ist. Im 3. Stock gibt es auch ein BĂŒffet fĂŒr die BĂŒrgerlichen, die strikt von den Adeligen getrennt waren und ĂŒber eine getrennte Treppe in das Haus gelangten.

 

Parallel zu dem lĂ€nglichen Raum gibt es einen weiteren, sehr schmalen Raum. Das war der Raucherbereich. Alle Materialien kamen aus Ungarn, wie auch alle am Bau beteiligten Architekten, KĂŒnstler, Handwerker und Planer, aber hier gibt es eine Ausnahme: das Holz mit den geschnitzten Ornamenten wurde aus Italien importiert. Es fasst die Tapeten ein, die Ornamente aus feinen GoldfĂ€den aufweisen. Jedenfalls sehen sie so aus. Die originalen GoldfĂ€den wurden allerdings durch den dichten Rauch schon sehr bald beschĂ€digt und mussten ersetzt werden. DafĂŒr ersann man eine Mischung aus gelben und anderen FĂ€den, die in der Kombination dieselbe Wirkung erzielten. Der Saal wurde angeblich auch von jungen Liebespaaren genutzt, die sich in dem dichten Rauch heimlich treffen konnten.

Von hier aus gelangt man durch eine GlastĂŒr auf die Terrasse mit Blick auf die Andrassy-Straße, die Prachtstraße Budapests und das gegenĂŒber-liegende Drechsler-GebĂ€ude, das heute leer steht und frĂŒher Sitz der Ballettschule war.

 

Der Bau der Oper kostete 1,5 Millionen Goldgulden, eine riesige Summe. FĂŒr 7 Goldgulden konnte man damals ein Pferd kaufen. Der wichtigste Geldgeber war Franz-Josef, Kaiser von Österreich und König von Ungarn, der allerdings zur Bedingung machte, dass die Oper kleiner als die von Wien zu sein hatte. Das ist sie auch. Er soll allerdings auch zur Bedingung gemacht haben, dass sie nicht schöner als die von Wien sein sollte und beim Besuch der Eröffnungszeremonie entrĂŒstet gewesen sein, als er feststellte, dass das nicht der Fall war.

 

Wir gehen an der Haupttreppe vorbei, einer eleganten Treppe mit einem die ganze Wand einnehmenden Spiegel an der Stirnseite oben. Dieser Spiegel soll angeblich den Effekt gehabt haben, dass man sich schlanker sah als man wirklich war, was Kaiserin Sissi sehr gefallen haben soll. Wir können es leider nicht ausprobieren, da wir die Treppe nicht hinauf kommen. Die andere Funktion des Spiegels war die, dass so die hohen Herrschaften, denen das Protokoll es nicht erlaubte, sich umzudrehen, den ganzen Raum sehen konnten.

 

Die Pfeiler der Treppe sind aus dreifachem Marmor, auch der aus Italien. An der Decke vor dem Spiegel die Königskrone mit einem Kreuz, das etwas aus der Linie ist, wie auch bei dem Original. Es gibt zahlreiche ErklĂ€rungen fĂŒr diese UnregelmĂ€ĂŸigkeit. Jemand, der es genau wissen wollte, maß die Abweichung nach und fand heraus, dass sie genau der Abweichung der Erdachse entspricht.

 

Wir kommen in den Salon der vier Jahreszeiten, mit den entsprechenden Darstellungen an den vier Seiten und einem wertvollen Teppich, in einem Dorf in Ungarn gewirkt, der in seinem Wert und seinem Herstellungsverfahren einem Perserteppich entspricht. Er weist pro Quadratmeter 100.000 Knoten auf.

 

In einem der vielen SĂ€le, an dessen Ende und in symmetrischer Anordnung, die BĂŒsten von Bartok und einem gewissen Kodaly, einem Volksliedsammler und dem Erfinder der Do-Re-Mi-Tonleiter und entsprechender Gesten, die Kindern das Musiklernen erleichtern sollten.

 

Der eigentliche Höhepunkt ist fĂŒr die Touristen aber der Besuch der mit rotem Samt ausgelegten Loge von Kaiserin Sissi. Fotos sind obligatorisch.

 

Interessanter ist das Parkett, wo wir auf den harten, aber nicht unbequemen HolzstĂŒhlen Platz nehmen und ĂŒber den Bau informiert werden. Die Oper fasst 1.261 Zuschauer und damit weniger als Wien (2.500), hat aber nur SitzplĂ€tze. Die BĂŒhne ist 48 Meter tief und hat einen eisernen Vorhang, als Brandschutz. Diese eisernen VorhĂ€nge hatte Churchill zum Vorbild, als er seine Metapher prĂ€gte.

 

Unter den Sitzen befinden sich merkwĂŒrdige runde Gitter. Die sind Teil der Klimaanlage. Die Luft zirkuliert durch die Gitter nach oben und tritt durch weitere Gitter oben am Kronleuchter wieder aus. Im Winter wird durch Dampf fĂŒr WĂ€rme gesorgt, im Sommer durch Eis fĂŒr KĂ€lte. Der Kronleuchter hat 250 GlĂŒhbirnen, und ihn herunterzulassen, ist Arbeit fĂŒr eine ganze Kompanie. Das muss aber jedes Mal geschehen, wenn eine GlĂŒhbirne platzt. Als die Oper gebaut wurde, hatte man Gaslampen, und das hatte zur Folge, dass das Licht immer leise flackerte.

 

Einer Anekdote zufolge begegneten sich hier in der Oper Brahms und Liszt bei einer Gesellschaft. Brahms wusste nicht, ob er seine Orden anlegen sollte oder nicht. Er steckte sie in die Tasche, um auf den Ernstfall vorbereitet zu sein, sah aus der Ferne Liszt, der seine Orden trug, verließ den Raum, legte die Orden an und ging zurĂŒck. Plötzlich steht er vor Liszt und sieht, dass der seine Orden abgelegt hat. Auf die Frage, wie das komme, sagt Liszt: „Ich wusste nicht, ob ich die Orden anlegen sollte. Aber als ich Sie ohne die Orden gesehen habe, bin ich schnell hinausgegangen und habe sie abgelegt.“

 

Nach der Besichtigung gehe ich die Andrassy entlang und trinke in einem teuren StraßencafĂ© einen Kaffee, den ich voll und ganz genieße, bei völligem Nichtstun, die Ereignisse des Tages an mir vorbeiziehen lassend.

 

Am Abend geht es in die “Feldflasche”, ins Kulacs, einem traditionellen Lokal, das seine Bekanntheit seiner Verbindung mit einem gewissen RezsƑ Seress verdankt, einem ungarischen SĂ€nger, der hier jahrzehntelang aufgetreten ist und Erfolge gefeiert hat. Er wurde zu einem internationalen Star, und das, obwohl er kein guter Pianist war und keine Noten lesen konnte. Visconti, Rubinstein, Toscanini, Steinbeck, Chruschtschow und Otto Klemperer kamen, um ihn zu hören. Einen Welterfolg hatte er mit SzomorĂș VasĂĄrnap, dem Lied vom traurigen Sonntag. FĂŒr Freud verkörperte es die Sonntagsneurose schlechthin. Es löste angeblich eine Welle von Selbstmorden aus, und es wurde sogar gefordert, das Lied zu verbieten. Seress selbst starb 1968. Er beging Selbstmord.

 

Das Lokal hat die AtmosphÀre klassischer ungarischer Restaurants. In drei langen Reihen stehen bereits eingedeckte Tische mit steifen, dicken Stoffservietten. Die WÀnde hÀngen voll mit aller möglichen Dekoration wie auf Samtkissen gebettete Silberlöffel oder Partituren. Was das soll, ist nicht klar. Ob es was mit Seress zu tun hat? Angeblich gibt es irgendwo im Lokal eine Gedenktafel an ihn, aber ich kann sie nicht finden, und auf meine Fragen antwortet man ausweichend.

 

Der Kellner gibt sich gelangweilt und eher unfreundlich, nachdem er vergeblich versucht hat, mir die Empfehlung des KĂŒchenchefs aufzuschwatzen. Das Essen ist nicht gut und zu teuer, außer dem Palatschinken. Ungarn verirren sich nicht in dieses Lokal. Ich höre Deutsch und Englisch und zwei Frauen am Nebentisch, deren Sprache ich nicht identifizieren kann. Ungarisch ist es aber nicht. Sie sprechen Englisch mit dem Kellner.

9. April (Freitag)

An verschiedenen GeschĂ€ften habe ich ein Schild mit der Aufschrift Nyitva gesehen. Das heißt ‚geöffnet‘. Das hĂ€tte man auch geraten, wĂ€re man vor die Alternative gestellt worden, ob es ‚geschlossen‘ oder ‚geöffnet‘ heißt. Zufall? ‚Geschlossen‘ heißt zarva, und das hört sich auch eher nach ‚geschlossen‘ als nach ‚geöffnet‘ an. Ebenso geht es mir bei nagy, ‚groß‘ und kicsi, ‚klein‘, bei hideg, ‚kalt‘ und heleg, ‚warm‘, bei tilos, ‚verboten‘ und szabad, ‚erlaubt‘. Weniger sicher wĂ€re ich mir bei olcsĂł, ‚billig‘ und draga, ‚teuer‘ und bei bal, ‚links‘ und jobb, ‚rechts‘. WĂ€re einen Versuch wert, ein Experiment. Andererseits bin ich bei den Wochentagen und bei den Zahlen völlig aufgeschmissen. Höchstens egy, ‚eins‘ und pentek, ‚Freitag‘ hĂ€tte man erraten können.

 

Erst heute fÀllt mir auf, dass die Metro sogar in den Haltegriffen der Passagiere Werbung hat. Der Kapitalismus ist in Ungarn angekommen.

 

Auf dem Weg zur Basilika fĂ€llt mir etwas MerkwĂŒrdiges ins Auge, riesige Objekte, die auf einer abschĂŒssigen Einfahrt in eine UnterfĂŒhrung stehen. Erst auf den zweiten Blick sehe ich, dass es Skulpturen sind, moderne Skulpturen, die einfach AlltagsgegenstĂ€nde darstellen und sie verfremden, indem sie sie vergrĂ¶ĂŸern: ein BĂŒgeleisen, SeidenstrĂŒmpfe, ein Fön.

 

Dann komme ich zur Basilika. Das Areal wurde erst im 18. Jahrhundert bebaut, und man ließ von vornherein einen großen Platz fĂŒr die Kathedrale frei, einschließlich Vorplatz. Moderne Stadtplanung, und das Gegenteil von der “gewachsenen” Bebauung des BurghĂŒgels.

 

Die Baugeschichte der Basilika ist alles andere als glatt. Jeder Architekt Ă€nderte die PlĂ€ne seines VorgĂ€ngers oder sogar seine eigenen ab oder musste aufgrund der Gegebenheiten umplanen. So wurde aus dem klassizistischen Bau ein Bau im Stil der Neorenaissance, und so bekam der Bau, durch den weichen Boden bedingt – die Donau ist ganz in der NĂ€he – ein dreistöckiges Kellergeschoss, dass fast so tief ist wie die Kirche hoch. Und die Kuppel stĂŒrzte ein, kaum, dass sie fertig war, erstens weil man sie grĂ¶ĂŸer machte, als es die ursprĂŒnglichen PlĂ€ne vorsahen, zweitens aufgrund schlechter Materialien und drittens aufgrund von Fehlern bei der AusfĂŒhrung der Bogenzwickel. Interessant die Änderung des Patroziniums: Der ursprĂŒngliche “österreichische” Heilige, ein gewisser Lipot, wurde durch Stephan abgelöst, den ungarischen Nationalheiligen.

 

Obwohl die Kuppel beeindruckend ist, ist die AtmosphÀre des Innenraums eher kalt. Ein bisschen zu viel Marmor, ein bisschen zu viel Gold.

 

Drinnen zieht es aber ohnehin alle in die Kapelle des Heiligen Leopold. Dort wird eine Hand aufbewahrt, die unversehrte rechte Hand des Hl. Stephan. Sie wurde in SiebenbĂŒrgen und Dalmatien aufbewahrt und landete schließlich in Buda und dann in die Basilika. Sie liegt in einem glĂ€sernen ReliquienkĂ€stchen in Form einer gotischen Kirche. Wenn man 200 Forint in ein KĂ€stchen wirft, wird es fĂŒr zwei Minuten erleuchtet, so dass man Fotos machen kann.

 

Umsonst dagegen ist die Information zu Stephans Leben: Er wurde in Esztergom geboren und wurde schon mit 22 FĂŒrst und am 25. Dezember 1000 zum ersten König von Ungarn gekrönt. Das allein rechtfertigt schon seine Sonderstellung. Er hat aber Ungarn noch einen besonderen Dienst erwiesen, indem er Konrad II. besiegte, der Ungarn erobern wollte.

 

Auf dem Vorplatz der Basilika gibt es in verschiedenen Cafés, darunter dem California, Muffins, Bagels und Panini. Typisch ungarisch.

 

Mein nĂ€chstes Ziel ist die Postsparkasse. Das hört sich nicht so verheißungsvoll an, lohnt sich aber. Es ist nicht das aktuelle, sondern das ehemalige GebĂ€ude der Postsparkasse und eines der schönsten HĂ€user Budapests.

 

Bei der Suche nach dem Nationalmuseum komme ich an einem Platz mit ein paar schönen, alten HĂ€usern vorbei, mit einer weißen Kirche mitten in der HĂ€userzeile. Leider ist alles durch Bauarbeiten etwas verdeckt. In fast allen HĂ€usern sind CafĂ©s, eine Mischung aus mondĂ€n und alternativ. Ich trinke einen Kaffee und erfahre, dass das Nationalmuseum ganz in der NĂ€he ist. Es liegt nur etwas abseits des Platzes.

 

Auch hier steht eine der modernen Skulpturen, wie ich sie am Morgen am Deak Ferenç ter gesehen habe. Hier ist es ein Stuhl, ein einfacher, gradliniger Stuhl, aber so hoch, dass man an den Sitz nicht einmal mit der Hand herankommt. Man sieht ihn so, wie Kinder die StĂŒhle der Erwachsenen sehen.

 

Die AtmosphĂ€re im Nationalmuseum, einem tempelartigen, klassizistischen Bau, ist eher dĂŒster und nicht sehr einladend, aber es gibt einiges zu sehen.

 

Da das Museum eine Million Exponate hat, nehme ich mir eher wahllos ein paar Dinge vor. Gleich zu Anfang sieht man das Modell eines traditionellen Wohnhauses. Das unterscheidet sich tatsĂ€chlich von dem, was man sonst kennt: Es ist aus Lehmflechtwerk gemacht, mit einem schrĂ€g bis zum Boden abfallendem Reetdach und hat einen einzigen, langgestreckten Raum, zu dem eine steil abfallende Einfahrt fĂŒhrt, wie zu der Garage von modernen EinfamilienhĂ€usern.

 

Auffallend im Zentrum eines Raumes eine riesige, sehr gut gearbeitete Reiter-Statue des Hl. Georg, in Bronze, in voller Aktion, genau in dem Augenblick des Angriffs des Drachen. Das Pferd hat einen ganz fein geringelten Schwanz, der im Kampf gegen Drachen eher wie unnĂŒtzer Luxus aussieht. Man sieht die Adern unter der Haut und die durch die Bewegung gespannten Muskeln. Der Schwanz des Drachen hat sich um die Vorherhand des Pferdes gewickelt. Der Heilige trĂ€gt modische spitze Schuhe, die ihm fast zum VerhĂ€ngnis werden: Der Drache scheint ihn ausgerechnet bei den unnötig langen Schuhen zu packen zu bekommen.

 

In einem anderen Raum ein schönes MöbelstĂŒck, ein Schreibtisch, der nicht wie ein Schreibtisch aussieht, sondern wie eine Wandverzierung. Man kann eine Klappe hinunterziehen, und dann erscheinen dahinter Schubladen und FĂ€cher.

 

Bestens vertreten sind alle möglichen Exponate aus Metall: TrinkgefĂ€ĂŸe, Monstranzen, Kelche, KrĂ€nze, BĂŒsten. Sehr schön ein GefĂ€ĂŸ in Form eines Löwen und eins in Form eines Pferdes. Das eine ist ein RĂ€uchergefĂ€ĂŸ, das andere ein Wasserspender.

 

Ungarn war in der Vergangenheit der grĂ¶ĂŸte Metallproduzent Europas. Es begann bescheiden, mit der Verarbeitung von Eisenerz in viel zu kleinen Mengen bei viel zu niedrigeren Temperaturen in den Dörfern. Aber die Grundlage war gelegt. Wirtschaftlicher Aufschwung kam durch verschiedene staatliche Maßnahmen: die Ansiedlung von AuslĂ€ndern, Flamen, Deutschen, Italienern, Franzosen, Wallonen aus den ĂŒberbevölkerten Staaten des Westens, die Ausbildung einer Mittelschicht und die Zulassung von mehr unternehmerischer Freiheit, aber auch EroberungszĂŒge, die hier „Gebietserweiterungen“ heißen. Vom Transdonaugebiet ist die Rede und von Transsylvanien, d.h. SiebenbĂŒrgen. Die Gebietserweiterungen sind aber ein zweischneidiges Schwert, denn die spĂ€teren Gebietsverluste leiteten auch den Niedergang Ungarn ein. Man kann Ungarn als einen der Verlierer der Geschichte sehen. Aber das wird hier, im Nationalmuseum, natĂŒrlich nicht so gesagt DafĂŒr spricht aber, dass es mehr Menschen gibt, die Ungarisch sprechen als Ungarn: 15 Millionen : 10 Millionen. Dazu scheint irgendwie auch zu passen, dass Ungarn eine der höchsten Todesraten in Folge von Alkohol, Tabak und Selbstmord hat. Die Lebenserwartung liegt 5 Jahre unter dem europĂ€ischen Durchschnitt.

 

Andererseits hat Ungarn seine UnabhĂ€ngigkeit verteidigt, eingeklemmt zwischen zwei mĂ€chtigen Reichen: dem byzantinischen Reich und dem Heiligen Römischen Reich. Dazu kamen spĂ€ter die Attacken der Mongolen und dann der Ottomanen. Warum die Mongolen, nachdem sie ein Jahr die Gegend verwĂŒsteten, plötzlich Kehrt machten und in ihre Heimat zurĂŒckkehrten, erfahre ich auch hier nicht.

 

Auch hier wird mir immer noch nicht klar, wo die Ungarn eigentlich her kommen: Ist der Ural die Heimat oder war das schon die erste Station der Wanderung nach Westen? Heute ist Ungarn, je nach Sichtweise, die Ostgrenze des Westens oder die Westgrenze des Ostens. Die Ungarn selbst sehen sich allerdings als MitteleuropÀer, nicht als OsteuropÀer.

 

Die zahlreichen Namen von Schlachten, Gebieten und Dynastien, den Arpaden und den Anjou und den Luxemburgern und den Hunyadi, sind eher verwirrend, aber ein Name sticht hervor, der von Matthias Corvinus. Er kam aus einer nichtadeligen Familie, den Hunyadi, auf den Königsthron und wurde zu einem großen Förderer von Wissenschaft und Kultur, ein Renaissance-FĂŒrst par excellence, vielleicht, um seine bescheidene Abstammung zu kaschieren. Aus seiner Zeit sind vor allem sehr schöne Steinmetzarbeiten vertreten, unter anderem ein Fries mit der Darstellung von Bienenkörben und WeinfĂ€ssern.

 

Dann geht es weiter, mit der Metro. Der Eingang zur Metrostation und die Bushaltestelle am Nationalmuseum sind hochmoderne Konstruktionen aus geschwungenem Glas. Von hier aus mache ich mich auf den Weg ins JĂŒdische Viertel.

 

Die einzige Station, an der die Metrolinien zusammentreffen, und zwar alle drei, ist der Deak Ferenç ter. Da landet man einfach immer. Die Endstation einer Linie ist Ujpest, ein bekannter Name unter all den unbekannten. Ujpest Budapest war frĂŒher ein erfolgreicher Fußballverein, in allen europĂ€ischen Wettbewerben vertreten.  Ein anderer bekannter Begriff in diesem Zusammenhang war das Nep-Stadion (‚Volksstadion‘). Das heißt inzwischen Ferenç Puskas-Stadion, oder, genauer gesagt, Puskas-Ferenç-Stadion.

 

In einem CafĂ© vor der Synagoge mache ich eine Kaffeepause, auf der Terrasse in der Sonne sitzend, mit der mĂ€chtigen Front der Synagoge, einem Backsteinbau, gleich gegenĂŒber. Am Nebentisch labert ein schrecklich blasierter Kanadier („I know I am good“) eine schweigend zuhörende deutsche Studentin voll. Es geht um seine angeblichen ZukunftsplĂ€ne („Don’t know which direction to take“) und die Möglichkeiten, zwischen denen er schwankt: eine Dissertation, in die er die Oil Companies „zerstören“ will, ein Angebot von Freunden in Madrid, bei denen er wohnen und arbeiten kann, und die Veröffentlichung eines Buches ĂŒber die Gedankenprozesse einer arbeitslosen Person. Das ist er wohl selbst. Ich bin drauf und dran aufzustehen und der jungen Frau zu sagen, dass sie sich nicht blenden lassen soll.

 

An der Synagoge herrschen strenge Sicherheits-maßnahmen, mit ÜberprĂŒfung der IdentitĂ€t, Eingangskontrolle und Scanning.

 

Beim Betreten der Synagoge fallen gleich zwei Dinge auf: Sie ist groß und sieht wie eine Kirche aus. Bei der FĂŒhrung erfahren wir, dass sie tatsĂ€chlich die drittgrĂ¶ĂŸte der Welt und die grĂ¶ĂŸte in Europa ist. Sie hat 3.000 SitzplĂ€tze und fasst insgesamt 5.000 GlĂ€ubige. Zur Zeit ihrer Erbauung hatte allein diese Gemeinde 23.000 Mitglieder. Noch heute leben in Budapest 80.000 Juden, und Ungarn hat den drittgrĂ¶ĂŸten jĂŒdischen Bevölkerungsanteil in Europa. Das ist 1% der Bevölkerung.

 

Dass die Synagoge wie eine Kirche aussieht, ist kein Zufall. Sie wurde Christen gebaut, von deutschen und österreichischen Architekten. Der langgezogene, dreischiffige Bau hat sogar auf beiden Seiten des Mittelschiffs eine Kanzel, an den Seiten Emporen, im Westen eine Fensterrose und im Osten eine große Orgel. Die Orgel wird von einer christlichen Organistin gespielt. Eigentlich ist in der Synagoge nur das Widderhorn erlaubt.

 

Um zu sehen, dass es keine Kirche ist, muss man schon genau hinsehen: Unter den Schalldeckeln der Kanzeln ist der Davidsstern angebracht, und ĂŒber dem Bogen, der in den Chor fĂŒhrt, ist ein Psalm in hebrĂ€ischer Schrift angebracht. Der Thora-Schrein, in dem sich 25 Thora-Rollen befinden, sieht wie ein Altar aus.

 

Frauen saßen von den MĂ€nnern getrennt, in den Seitenschiffen und auf den Emporen. Oder ist das auch heute noch so?

 

Die Emporen, aus dunklem Holz, sind an den RĂ€ndern in feinem Gold gefasst. Das passt in den insgesamt sehr wĂŒrdevollen Rahmen dieser Synagoge.

 

Die etwas unorthodoxe Form der Synagoge hĂ€ngt, wie wir erfahren, mit deren ‘ideologischer’ Ausrichtung zusammen. In der Gemeinde ĂŒberwiegen Neologen, eine konservativ-liberale Strömung innerhalb des Judentums.

 

In dieser Synagoge feierte Herzl seine Bar Mitzwa. Sein Geburtshaus war gleich nebenan. Es wurde bei der Platzerweiterung zur 1000-Jahr-Feier der Stadt abgerissen.

 

Im Hof der Synagoge steht eine moderne Skulptur, die wie eine silberne Trauerweide aussieht. Bei nÀherem Hinsehen bemerkt man, dass auf den BlÀttern der Trauerweide Namen eingraviert sind, die Namen von Holocaust-Opfern. Und aus der Beschreibung geht hervor, dass es eigentlich kein Baum ist, sondern ein bedeutungsvoll auf dem Kopf stehender Hanukkah-Leuchter.

 

Hanukkah-Leuchter gibt es auch im JĂŒdischen Museum, das zwar nicht groß ist, aber eine Menge Exponate hat, und vor allem von allem viele verschiedene Exemplare, so dass man gut vergleichen kann. Die Hanukkah-Leuchter sehen ganz weltlich aus, mit Löwen, Palmen, Kronen. Hanukkah ist das Fest des Lichts. Nach dem Sieg ĂŒber die griechisch-syrische Besatzung wurde die Menora zur Feier der Wiedereinweihung des Tempels angezĂŒndet. Ein Tropfen Öl reichte fĂŒr acht Tage. Daher hat der Hanukkah-Leuchter acht Arme. An jedem Tag wird einer mehr angezĂŒndet. Da denkt man unwillkĂŒrlich an unseren Adventskranz.

 

Die Gesetzestafeln sind das beliebteste Motiv. Es gibt nichts, wo sie nicht erscheinen, auf BuchrĂŒcken, auf bunten Keramikfliesen, in Kelche eingraviert, gestickt auf KissenbezĂŒgen. Sie sind von besonderer Bedeutung am Sukkot-Fest, sieben Wochen nach Pessach, dem alten Erntedankfest.

 

Auch an Sabbath-Leuchtern gibt es eine riesige Auswahl. Es gibt sie immer in Paaren, zwei identische. Sie werden von der Frau des Hauses angezĂŒndet. Die zwei Sabbat-Laibe werden unter einem Zeremonialtuch aufbewahrt.

 

In einer Vitrine sieht man BehĂ€lter fĂŒr Ertrog. Das ist die legendĂ€re Frucht des Paradieses. Nichts mit Apfel. Sie hat besondere Bedeutung an Sukkot, dem Fest, das an die vierzigjĂ€hrige Wanderung durch die WĂŒste erinnert. Bei der Gelegenheit frage ich mich mal wieder, warum das so lange gedauert hat und versuche auszurechnen, ob man in vierzig Jahren um die ganze Erde wandern könnte. Locker. Gerade mal 20 km pro Woche wĂ€ren das.

 

In einer Vitrine liegen aufgeschnittene “NĂŒsse” aus Holz, in die Namen eingraviert sind. Das hat folgende Bewandtnis: Wenn jemand verstarb, wurde das Los gezogen, und der, dessen Name auf der gezogenen Nuss stand, war fĂŒr die Beerdigungsfeierlichkeiten zustĂ€ndig.

 

Am Neujahrstag legt man ein weißes Gewand an und blĂ€st in der Synagoge das Schofar. Der Neujahrstag ist beim ersten Vollmond im ersten Herbstmonat.

 

Zum Abschluss mache ich noch die obligatorische Rundfahrt auf der Donau. Das lohnt sich sogar. Und der Zeitpunkt ist richtig. In all den Tagen ist es noch nicht so sonnig und warm gewesen wie jetzt.

 

Es geht ganz einfach eine Strecke die Donau hinunter und dann wieder hinauf, am Parlament, an der Akademie der Wissenschaften, an den großen Hotels am Donauufer entlang und unter der KettenbrĂŒcke her.

 

Dabei erfĂ€hrt man, dass die Donau im Schwarzwald entspringt und ins Schwarze Meer mĂŒndet, 400 km durch Ungarn und 28 km durch Budapest fließt.

 

Die Benutzung der KettenbrĂŒcke, heißt es, war anfangs kostenpflichtig – außer fĂŒr Adelige. Da man aber den Menschen nicht ansah, ob sie adelig waren, entschieden die Zöllner nach folgendem  Motto: Wenn man jemandem ansieht, dass er Geld hat, braucht er nicht zu bezahlen. Wenn man jemandem ansieht, dass er kein Geld hat, muss er zahlen. Kommt einem irgendwie bekannt vor.

 

Der Entwurf fĂŒr das Parlament war der Sieger eines Architekturwettbewerbs. Anders als sonst, kamen aber auch der 2. und der 3. Sieger zur AusfĂŒhrung. In dem einem dieser GebĂ€ude befindet sich heute ein Ministerium, in dem anderen das Völkerkundemuseum.

 

Ein bemerkenswerter Kontrast, obwohl das in dem Kommentar an Bord keine ErwÀhnung findet, ist ein verfallenes Haus mit schmutziger Fassade und kaputten Fensterscheiben, der direkte Nachbarn des ParlamentsgebÀudes.

 

Kehrt machen wir an der MargaretenbrĂŒcke. Das war die zweite BrĂŒcke Budapests, aber es dauerte eine Weile, bis sie gebaut werden konnte. Die Firma, die die KettenbrĂŒcke gebaut hatte, hatte sich in den Vertrag schreiben lassen, dass 80 Jahre lang keine weitere BrĂŒcke gebaut werden dĂŒrfe.

 

Auf der Höhe der MargaretenbrĂŒcke liegt die Margareteninsel, ein Park, ein abgeschlossenes Areal, das von den Römern und im Mittelalter als Jagdgrund genutzt wurde und heute ein Kloster und 10.000 BĂ€ume beheimatet. Autos gibt es dort keine. Hier ‘draußen’ hat man fast das GefĂŒhl, auf dem offenen Meer zu sein.

 

Auf dem RĂŒckweg kommt der Gellertberg in den Blick, am anderen Donauufer, flußabwĂ€rts vom BurghĂŒgel aus gesehen. Auf halber Höhe und, sozusagen, mitten im Wald, steht das Gellertdenkmal, eine halbkreisförmige Kollonade mit der Statue des Heiligen davor. Gellert war ein Bischof, der sich im Zuge der Christianisierung unter Stephan den Zorn der Heiden zuzog und, der Legende zufolge, in einem innen mit NĂ€geln ausgeschlagenen Fass den Berg hinunter gerollt wurde.

 

Wieder an Land, spaziere ich an der Donau entlang, genauer gesagt, zwischen Straßenbahnschienen und Radwegen auf der einen und StraßencafĂ©s und Blumenbeeten auf der anderen Seite. Das kommt heute bei dem blauen Himmel so richtig zur Geltung und gibt ein paar schöne Fotos, ebenso wie die reprĂ€sentativen PatrizierhĂ€user dahinter.

 

Eine schöne Stadt, nur sehr viel Ungarisches habe ich an ihr nicht entdecken können.

 

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