Apollo ist scharf auf Daphne. Er läuft hinter ihr her. Sie läuft davon. Er lässt nicht nach. Verfolgt sie überall hin. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er kriegt sie. Oder er kriegt sie nicht. Wenn er sie kriegt, schlägt der frivole Ton der Verfolgungsjagd in Zynismus um. Wenn er sie nicht kriegt, bleibt sie auf ihrem jugendlichen Entwicklungsstadium stehen. Ovid findet eine dritte Möglichkeit: Apollo kriegt sie ein, aber in dem Moment, wo er sie erreicht und berührt, verwandelt sie sich in einen Lorbeerbaum. Das bedeutet ihr Name, Daphne, auf Griechisch. Damit wird die Beziehung der beiden auf eine höhere Ebene gehoben. Und Daphne ist nicht mehr eine einzelne Person, sie ist überall lebendig. Jeder Lorbeerbaum ist Daphne. Und ihr wird eine Aufgabe in der Gemeinschaft zugewiesen: Sie schmückt die Sieger bei den Wettspielen, die Dichter bei den Wettbewerben. Aber wer läuft da hinter wem her? Ist Daphne die keusche Jungfrau, die sich durch ihre sittliche Kraft der Welt entzieht und dafür ewigen Lorbeer gewinnt? So sahen es die Kirchenväter. Oder ist Daphne die göttliche Weisheit, die Prudentia, der der Christ nachjagt, um durch sie sein Seelenheil zu gewinnen? So sah es das Mittelalter. Oder ist Apollo der Dichter, der dem Lorbeer hinterherläuft, der weltliche Dichter, dessen Werk durch sie ins Göttliche erhöht wird? So sah es die Renaissance. (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52003: 56-57)