Feierabendintegration

Petros Markaris, der griechische Krimiautor, spricht in einem feinen, einfühlsamen nachdenklichen Artikel über Flüchtlinge und Einheimische, beginnend mit den Griechen, die nach der “kleinasiatischen Katastrophe” und dem folgenden Völkeraustausch von der Schwarzmeerküste und aus Kleinasien nach Griechenland gekommen sind. Sie seien dort nicht willkommen gewesen. Viele Schiffe mussten von einem Hafen zum nächsten fahren, weil die Bewohner die Häfen besetzten und den Ausstieg der Einwanderer verhinderten. Verständlich, sagt Markaris. Das Land lag in Scherben, die einheimischen Griechen mussten selbst ums Überleben kämpfen. Ihre Haltung sei kein Ausdruck von Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit gewesen. Sie konnten ihr karges Brot nicht mit den Neuankömmlingen teilen. Es habe nicht einmal für sie und ihre Kinder gereicht. Er selbst hatte in seiner Jugend das friedliche Zusammanleben verschiedener Völker in Istanbul erlebt, aber hier hatte es keine Neuankömmlinge gegeben. Alle waren “schon immer” da. Aber auch das sei keine multikulturelle Gesellschaft gewesen, genauso wenig wie die heutigen Gesellschaften. Das multiethnische Zusammenleben begrenzte sich auf das Geschäfts- und Straßenleben. Das Familien- und Privatleben blieb davon unberührt, wie in vielen „multikulturellen“ Gemeinschaften, die eigentlich multikommunale Gemeinschaften seien, mit mehreren Gemeinden, die ihre Sprache, Kultur, Religion und Tradition behalten wollten und eine Mischkultur ablehnten. Die “Tagesintegration” sei eine Sache, eine andere die “Feierabendintegration”. Hier begännen die Schwierigkeiten, und zwar sowohl auf Seiten der Gäste als auch auf Seiten der Gastgeber. Er selbst habe gute Beziehungen zu seinen Mitschülern in Istanbul gehabt, aber er sei während der ganzen Jahre nicht einmal in eine türkische Familie eingeladen worden. Genauso wenig habe er selbst jemals einen türkischen Klassenkameraden zu sich eingeladen. Der private Bereich blieb getrennt. Immer wieder höre er heute die Klage, die Gäste wollten sich nicht integrieren. Sie würden in Enklaven leben und sich abschotten. Das stimme zwar, aber dafür gebe es gute Gründe. Die Einwohner kämen in ein fremdes, ihnen unbekanntes Land. Es sei einleuchtend, dass sie ihre Landsleute suchten, um Angst und Verunsicherung zu überwinden. Aber auch die Einheimischen wollten im Grunde die Ausgrenzung der Gäste. Wenn sie schon in der gleichen Stadt leben müssten, dann doch bitte so weit weg wie möglich. Markaris weiß, wovon er spricht. Er hat selbst einer Auswandererbiographie. Seine Familie reiste nach der Ausweisung der Istanbuler Griechen aus – ausgerechnet nach Griechenland. (Markaris, Petros: „Leben in einem fremden Land“, in: Süddeutsche Zeitung 237/2016: 15)

 

 

 

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