Indovinello

Es ist ein schönes Gefühl, von Studenten etwas zu lernen, aber so eine Hilfestellung wie Vincenzo De Bartholomaeis bekommt man nicht alle Tage. Er arbeitete an einem alten Kodex, der zwei viel später verfasste handschriftliche Anmerkungen enthielt. Das Dokument war 1924 entdeckt worden. Ihn interessierten die Anmerkungen, nicht der Kodex. Eine der Anmerkungen war klar und uninteressant, aber an der anderen biss er sich die Zähne aus: Se pareba boves alba pratalia araba & albo versorio teneba & negro semen seminaba. Auf die Lösung kam er dank der unerwarteten Hilfe einer Studentin im ersten Studienjahr. Ihr fiel auf, dass der Text große Ähnlichkeit mit einem volkstümlichen Rätsel hatte, das sie aus ihrer Heimat als Ritmo di Verona kannte. Es handelte sich also um ein Rätsel, nicht um eine Strophe aus einem Volkslied, wie De Bartholomaeis angenommen hatte. Seitdem kennt man den Text als Indovinello veronese. Der wörtliche Sinn ließ sich nun ungefähr erschließen: Er hatte die Ochsen vor sich und pflügte die weißen Felder, und einen weißen Pflug hielt er und säte schwarzen Samen. Auch die Lösung hatte die Studentin parat: Der Schriftsteller. (Seither sind andere Kandidaten für die Lösung genannt worden, aber dies ist die wahrscheinlichste). Der Schriftsteller bearbeitet mit der weißen Gänsefeder (dem Pflug) das weiße Blatt (das Feld) vor sich und beschreibt es mit schwarzer Tinte (dem Samen).  Damit waren längst nicht alle Fragen beantwortet, aber man war dem Verständnis des Textes sehr viel näher gekommen. Außer der Klärung einiger Textstellen geht es jetzt aber auch um die übergeordnete Frage, um welche Sprache es sich denn handelt: Latein oder Italienisch? Ist das eine späte Form von Latein oder eine frühe Form von Italienisch? Wer kann das entscheiden? Und wie kann man das entscheiden? In diesem Dokument ist nicht erwiesen, wie in einem späteren, dass es sich bei beiden Anmerkungen, von denen jeweils eine in klassischem Latein ist, um ein und denselben Autor handelt. In dem späteren Dokument wird das, also die Intention des Sprechers, als Hinweis darauf gewertet, dass es sich um unterschiedliche Sprachen handelt. Falls das hier auch so ist, hätte das Italienische eine älteres erhaltenes Dokument als es das Französische mit den Straßburger Eiden hat. (Marazzini, Claudio: Breve storia della lingua italiana. Bologna: Il Mulino, 2004: 51-53)

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