Neue Zeit

Gleich am Anfang von Čechovs Kirschgarten fragt Lopachin, der Kaufmann: “Wie spät ist es?” Man überliest das leicht. Jedenfalls ging es mir so. Ich wurde auch nicht hellhörig, nachdem Lopachin diese Frage später noch mehrmals stellt. Erst durch das Nachwort wurde ich darauf aufmerksam. Für Lopachin, den Aufsteiger, den Kaufmann, den Pragmatiker, den Vertreter der neuen Zeit, ist die Uhrzeit wichtig, wichtiger als für die Gutsbesitzerin und ihre Familie, die Vertreter der alten Zeit, dem Landadel, der sich Muße und Langeweile widmen kann, ohne auf die Uhrzeit achten zu müssen. Diese Frage nach der Uhrzeit ist eins von den vielen versteckten Symbolen des Stücks: der Schlüssel, der an Warjas Gürtel hängt (die Macherin, die den Laden am Laufen hält), der Kaffee, den die Gutsbesitzerin ständig trinkt (westliche Gewohnheit, Ruhelosigkeit), die leere Bühne, die der alte Diener Firs betritt (Vereinsamung, Ausgeschlossensein), das imaginäre Billardspiel Gaews (Spielcharakter, Herumgestoßenwerden im Leben), die Zauberstücke Čarlottas (Versuch, der Banalität des Lebens zu entkommen). Und natürlich der Kirschgarten selbst, der für Schönheit und Vergangenheit steht. (Schriek, Wolfgang: “Nachwort”, in: Чехов Антон: Вишнёвый сад. Čechov, Anton: Der Kirschgarten. Stuttgart: Reclam, 2011: 118-127)

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