Das Maschinengewehr des Mittelalters

In der legendären Schlacht von Azincourt (1415) standen sich zwei ungleiche Heere gegenüber: ein französisches Ritterheer von 20.000 Mann Stärke, die meisten in schweren Ritterrüstungen, und ein englisches Heer von 10.000 Mann Stärke, die meisten von ihnen schlecht gerüstete yeomen, freie Bauern. Der englische König war auf dem Schlachtfeld präsent, der französische nicht. Das spielte durchaus eine Rolle. Die Engländer stehen geschlossen hinter ihrem König, die französischen Hochadeligen, die das Heer befehligen, sind untereinander bitter verfeindet. Die englischen yeomen waren als Soldaten schlecht geschützt, denn sie trugen keine Rüstungen. Sie hatten zwar irgendwo Rüstungsteile aufgesammelt, aber es waren keine vollständigen Rüstungen. Das, was wie ein Nachteil aussah, wurde zu einem Vorteil: Die Engländer waren viel beweglicher als die Franzosen in ihren massiven Rüstungen, die 28-35 Kilo wogen! Die Wunderwaffe der Engländer war jedoch der Bogen, der longbow. Bogenschützen galten den französischen Adeligen nicht als ernstzunehmende Gegner. Man verachtete den Bogen als Waffe. Mit dem Bogen zu kämpfen galt als unehrenhaft. Als ehrenhaft galt nur der Kampf Mann gegen Mann. Aber die Bogenschützen hatten eine enorme Wirkung: In den ersten Momenten der Schlacht verschoss jeder Bogenschütze etwa zehn Pfeile pro Minute, und bei schätzungsweise 6.000 Bogenschützen, die sich unter den Engländern befanden, bedeutet das 60.000 Pfeile in der ersten Minute, eine enorme Zahl. Unter den “englischen” Bogenschützen befanden sich auch viele Waliser. Als die Engländer Wales unterwerfen wollten, wurden sie immer wieder von walisischen Bogenschützen angegriffen und besiegt. Nach der Unterwerfung des Fürstentums Wales machten sie sich dann das hochgefährliche Können ihrer ehemaligen Feinde zu Nutzen. Der longbow war das Maschinengewehr des Mittelalters: zielgenau, tödlich, mit großer Reichweite und hoher Feuergeschwindigkeit. Die zentrale Bedeutung des Langbogens zeigt sich darin, dass die englische Krone in knapp 20 Jahren im 14. Jahrhundert 1.200.000 Pfeile erwarb. Für den Bau des Bogens wurde vorwiegend Eibe verwendet, wegen ihrer Elastizität und Bruchfestigkeit. Das hatte zur Folge, dass das Eibenholz auf der Insel knapp wurde und vom Kontinent importiert werden musste. Dazu bediente man sich eines ökonomischen Tricks: Wer Wein nach England importieren wollte, musste, einem königlichen Dekret zufolge, jedem Weinfass zehn Eibenstangen beifügen! Die Schlacht von Azincourt wurde zu einem englischen Mythos, und mit ihr der Langbogen. Ob er wirklich die Wunderwaffe des Mittelalters war, zu der er stilisiert wurde, ist umstritten: ein gut gewähltes Schlachtfeld, ein charismatischer Heerführer, die Fehler des Gegners, eine wirkungsvolle Schlachtordnung können ebenso eine Rolle gespielt haben, und die Franzosen, schon in Crécy (1346) und Poitiers (1356) Opfer des Langbogens, waren vermutlich besser gegen ihn gerüstet als damals. Spätestens mit Azincourt begann die Geschichte seines Niedergangs, aber dass er in der Vergangenheit von Bedeutung war, kann nicht bestritten werden. (Eckerle, Nadja: “Maschinengewehr des Mittelalters – Der Bogen als Waffe”, in: SWR 2 Wissen: 17/001/2014)

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