Augenwischerei

Demokratien leiden massiv unter Selbstbetrug. Man feiert sich selbst und die autonome Entscheidung des Bürgers. Das geht ungefähr so: Der mündige Bürger erkundigt sich vor der Wahl über die Probleme des Landes, wägt Lösungsalternativen ab und wählt diejenigen ins Amt, die die als richtig erkannte Lösung verwirklichen. Die Mehrheit erreichen diejenigen, die in einer rationalen Debatte argumentativ überzeugen. Die Wirklichkeit ist anders. Die meisten von uns verstehen von den komplexen Gesetzeswerken, die zur Debatte stehen, viel zu wenig: Wer kann schon die gesetzliche Rente aufgrund von „Entgeltpunkten“, „Zusatzfaktoren“ oder „Rentenartfaktoren“ erklären? Die Rente ist für uns ein Buch mit sieben Siegeln, und doch ist das Gesetz von größter Bedeutung für alle Rentenzahler und Rentenempfänger. Also gelten andere Kriterien bei der Auswahl der richtigen Partei oder der richtigen Kandidaten. Der typische Wähler entscheidet eher danach, welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt. Die Wahl drückt in erster Linie soziale Identität aus. Das bestätigt eine Studie in den USA, die sich den Wählern Bernie Sanders und Hillary Clintons annahm. Es stellte sich heraus, dass in konkreten Fragen die Anhänger Sanders‘ deutlich weniger „linke“ Positionen vertraten als die Clintons. Sie fühlten sich als Teil einer mitreißenden Szene, die eine linksliberale Wende in den USA herbeisehnt. Doch die konkrete Umsetzung dieser Ziele entsprach dem nicht. In der Umfrage zeigte sich, dass sie einen erheblich begrenzteren Politikwechsel wollten als Sanders selbst und als Clinton – und ihre Anhänger! Dem System kann es egal sein. Es funktioniert vielleicht so gut wegen der Augenwischerei. (Zielcke, Andreas: „Der Trump in uns“, in: Süddeutsche Zeitung 249/2016:15)

This entry was posted in Gesellschaft and tagged , , , , , , . Bookmark the permalink.