Das Märchen vom Abendland

Das Abendland. Das Abendland gibt es nicht. Jedenfalls nicht in reiner Form. Das wird am besten sichtbar, wenn man auf die Geschichte des Wissens blickt. Eine nicht untypische Geschichte könnte so verlaufen: Im 9. Jahrhundert wurden im abbassidischen Bagdad Texte der antiken Medizin Von Hippokrates und Galen übersetzt, aus dem Griechischen ins Arabische. Von Bagdad gelangten sie ins muslimische Spanien, aus dem muslimischen Spanien ins christliche Spanien. Dort, an der Übersetzerschule von Toledo, wurden die vom Griechischen ins Arabische übersetzte Texte ins Lateinische übersetzt, oft mit der Hilfe von arabischsprachigen Juden. Sie erstellten (oft nur mündliche) Zwischenversionen in den romanischen Volkssprachen, die dann von den Gelehrten ins Lateinische übertragen wurden. So wurden sie dem Rest Europas zugänglich gemacht, in Paris oder Köln an der Universität gelehrt. Der Wissenschaftstransfer verlief also in einem weiten zeitlichen und räumlichen Bogen. Dabei wechselten die Texte oft dreimal die Sprache und viermal die Schrift. Die vier europäisch-orientalischen Schriften waren dabei beteiligt: griechisch, lateinisch, hebräisch, arabisch. (Seibt, Gustav: “Das Märchen vom Abendland”, in: Süddeutsche Zeitung 284/2017: 13)

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