13. April (Samstag)
Das lange Warten am Kölner Flughafen verkürze ich mir in der Buchhandlung. Die ist auf den zweiten Blick gar nicht so schlecht ausgestattet, aber die Bücher liegen nur in Stapeln auf niedrigen Tischen und sind nur durch Zufall zu finden. Ich stoße hier auf alle drei Bände, die ich gestern in großer Hektik in der Innenstadt für die Kollegen aus der Germanistik an der Athener Universität gekauft habe: Tschick, In Zeiten des abnehmenden Lichts und Verteidigung der Missionarsstellung. Die hätte ich alle in Ruhe hier kaufen können und hätte sie außerdem als Taschenbuch bekommen. Andererseits macht sich die gebundene Ausgabe natürlich als Mitbringsel gut.
Den Rest der Zeit verbringe ich mit der Lektüre von Frank Meyers Erzählungen, genau gesagt mit der letzten des Buchs. Die spielt in Irland, dem Gegenteil von Griechenland. In der Erzählung, die in den Siebzigerjahren spielt, geht es um eine Schmuggelware, mit denen ein paar junge Männer aus Deutschland echten Reibach machen. Die Identität der Schmuggelware bleibt lange ein Geheimnis. Sie wird in leichten Beuteln, die sich weich anfühlen, im Kofferraum des Autos versteckt. Es sind Kondome.
In der Abflughalle unterhalten sich drei griechische Mädchen auf Deutsch. Zwei können perfekt Deutsch, die andere gut, aber nicht perfekt. Die beiden anderen helfen ihr in flüssigem, unglaublich schnellem Griechisch, wenn sie mal irgendwo stecken bleibt. Und verbessern streng ihre Aussprache. Sie hat Schwierigkeiten mit dem Vokal in morgen, das sich wie mörgen anhört. Das kommt wohl eher aus dem Deutschen selbst als aus dem Griechischen.
Der Flug verspätet sich aus einem verrückten Grund: Es ist ein Koffer zu viel an Bord. Und da muss natürlich das gesamte Gepäck durchsucht werden. Am Ende stellt sich alles als falscher Alarm heraus. Der Computer hatte eine falsche Zahl übermittelt.
Im Flugzeug sind wir halbe-halbe, Griechen und Deutsche, wobei die Griechen wohl alle Exilanten sind. Ich bekomme Gesprächsfetzen mit, und wie durch Magie kommen immer mehr vergessen geglaubte Wörter zurück.
Es ist Nacht, als wir in Athen landen. Und stockdunkel. Langsam kommen wieder Erinnerungen an meine letzte Reise nach Athen auf. Es ist fast ganz genau zehn Jahre her, im Frühjahr 2003. Die Metro war schon fertig, der Flughafen auch, das Stadion noch nicht. Die Archäologische Boulevard um die Akropolis herum eine echte Sensation, für den vierspurige Straßen weichen mussten, war ebenfalls fertig, das Akropolis-Museum noch nicht. Der Zubringer zum Flughafen war nur in dem Teil fertig, der stadtauswärts liegt, und bei den vielen Baustellen in der anderen Richtung fragte man sich ernsthaft, ob das alles noch rechtzeitig fertig werden konnte. Die meisten Zweifel hatte ich aber bei der Ruderstrecke in der Nähe von Marathon. Da sah man noch so gut wie gar nichts. Am Ende war alles pünktlich fertig. Wenn auch auf den letzen Drücker.
Der neue Flughafen liegt natürlich auch entsprechend weit von der Innenstadt entfernt, ca. 35 Kilometer. Er ist auch an die Metro angebunden, aber um diese Zeit scheint keine Metro mehr zu fahren. Also muss der Bus ran. Auch nicht schlecht, da sieht man was. Das Viertel, in das ich muss, heißt Exarchia. Ich betone es auf der falschen Silbe. Das lassen die Griechen nicht durchgehen.
Draußen ist es frühlingshaft mild. Der missmutige Kerl am Kiosk – Griechen in offizieller Funktion sind das immer – verkauft mir für 5 € wortlos eine Fahrkarte und antwortet auch auf meine Frage nach dem Abfahrtsort wortlos.
Die Fahrt dauert fast eine Stunde. Es geht zügig voran, es ist kaum Verkehr. Die Straße ist gut ausgebaut, aber sehr uneben. Es ruckelt und zuckelt nur so. Vielleicht liegt das an dem Asphalt, der der griechischen Sommersonne nicht gewachsen ist. Jedenfalls sieht man auf der anderen Fahrbahn lauter Wellen im Asphalt.
Auf dem Rückweg nehme ich eine Woche später die Metro. Die kostet 8 €, und es dauert wegen des Umsteigens noch länger!
Unterwegs erklärt mir ein freundlicher Mann, ich solle bis zur Endstation fahren und dann ein Taxi nehmen. Exarchia sei a bit rough. Angst bräuchte ich aber keine zu haben. Nur auf mein Portemonnaie solle ich aufpassen.
Der Bus fährt bis zum Syntagma-Platz. Dort habe ich kaum ein Auge für das Parlament und die anderen repräsentativen Gebäude, da ich auf meine Klamotten aufpassen und ein Taxi finden muss. Das geht aber ganz einfach.
Der freundliche Taxifahrer unterhält sich halb englisch, halb griechisch mit mir. Und fragt nach meinen Plänen und danach, was mir bisher in Griechenland am besten gefallen hat. Schwer zu sagen, und das sage ich ihm auch. Erst beim Rekapitulieren im Flugzeug habe ich gemerkt, dass es schon die siebte Reise nach Griechenland: Erst eine Rundreise in Attika, dann Kreta, dann Ikaria, dann ein Dorf irgendwo in Makedonien, dann Athen, dann Rhodos. Zum ersten Mal wiederholt sich jetzt ein Reiseziel.
Der Taxifahrer tut mir gleich einen doppelten Gefallen und liefert mir einen schönen Aufmacher für einen der Vorträge: Erst bestätigt er mit sichtlichem Stolz, dass Griechisch schwer sei und dann liefert er noch eine umwerfende Erklärung hinzu: Die griechischen Wörter hätten mehrere Bedeutungen. Eine Steilvorlage!
In Exarchia ist noch richtig was los. Unheimlich viel Volks unterwegs, alle Kneipen und Bars geöffnet, buntes Leben auf dem Platz, ein paar Meter vom Hotel entfernt. Das Taxi muss mitten auf der Straße halten. Der ganze Verkehr wird aufgehalten, aber bis auf vereinzeltes Hupen gibt es keine Proteste.
In der Rezeption erwartet man mich schon. Die erste Frage ist, wie viel ich für das Taxi bezahlt hätte. 5 Euro. Absolut vertretbar. Finde ich auch.
Der Mann an der Rezeption ist freundlich und erklärt mir anhand eines Stadtplans gleich die Gegend und sagt mir, welchen Weg ich morgen in die Innenstadt nehmen soll. Man könne alles zu Fuß machen von hier aus.
Das Zimmer ist einfach, aber hat alles, was man braucht. So ist es mir am liebsten. Es gibt sogar eine Art Schreibpult, wenn auch keinen richtigen Schreibtisch, aber gut genug für den Laptop.
14. April (Sonntag)
Vom Hotelzimmer aus sieht man auf den Lykabettus, den Hügel, der die Athener Innenstadt zu einer Seite abschließt, so wie die Akropolis zur anderen. Eigentlich sieht man aber nur seinen kahlen Kopf. Der Rest ist hinter hohen Häusern verborgen, mit den typischen langen, fast die ganz Front einnehmenden Balkonen.
Gleich nach dem bescheidenen Frühstück mache ich einen Spaziergang, aus dem Haus gelockt durch die Sonne, aber auch durch meine Zahlenmanie. In der Innenstadt gibt es nämlich die Odos Tripodos, die ‚Dreifußstraße‘. Da will ich hin.
Beim zweiten Versuch erwische ich zwar die richtige Straße ins Zentrum, aber die falsche Richtung. Als ich wieder zurückkomme, mache ich einen Zwischenstopp auf dem Exarchia-Platz, gleich vor dem Hotel, und trinke einen Frappé. Der Frappé, cremig, schmeckt hervorragend, aber ich habe nicht genug umgerührt und er wird zum Ende immer stärker. Schon bei der Bestellung muss man sagen, wie man ihn haben will, auch wie viel Zucker man haben will. Dafür gibt es ein eigenes Vokabular, aber ich sage einfach Ja, als ich gefragt werde, ob ich ihn süß wolle. Ein großes Glas Wasser wird, wie immer hier, gleich dazu serviert.
Langsam füllen sich das Café und der Platz. Alle Griechen tragen Jacken, mit T-Shirt und kurzer Hose oute ich mich als Tourist.
Der erste Versuch, in die Innenstadt zu kommen, hatte mich in genau die entgegengesetzte Richtung geführt, eine schmale Gasse hoch, wo mir alles irgendwie bekannt vorkam. Ich bin zum Streffi hinausgestiegen, einem Hügel unweit des Lykabettus, und diese Gegend kenne ich noch von damals. Es ist erstaunlich grün hier. Am auffälligsten sind die beschnittenen, knorrigen Bäume, bei denen die Blätter direkt aus den Stämmen sprießen. Hier ist die Natur weiter als in Deutschland, dieses Jahr sowieso. Später sehe ich im Zentrum Bäume, die schon ganz grün sind.
Noch auffälliger als die Bäume sind aber die Graffiti. Kein Haus ist frei davon. Von Schmierereien über Mottos bis zu Kunst, alles vertreten. Sogar ein Graffiti auf Deutsch entdecke ich: Leben, Freiheit, Anarchie. Am Abend finde ich in dieser Gegend ein spanisches Graffiti: Tu indiferencia es complicidad.
Hier ist noch alles still. Nur einen Transvestiten sehe ich, der sich vor einem der Häuser schminkt.
Nach dem Frappé geht es dann in die andere Richtung weiter. Mit den verschmierten Gittern und Kästen, den stattlichen Häusern, den Sonnenterrassen, den Balkonen, dem Rost, den zerschlissenen Bürgersteigen, den Pflanzen in Terrakotta-Töpfen und der Sonne wirkt alles wie eine Mischung aus Madrid, Bologna und Delhi. Dieser Eindruck bestärkt sich in den nächsten Tagen: der Krach, die vielen Bars und Cafés, die Fressstände, die Motorräder auf den Bürgersteigen, alles bestätigt den Eindruck.
Unterwegs sehe ich eine Apotheke. Die heißt hier natürlich nicht Apotheke, auch wenn das ein griechisches Wort ist (das hier aber ‚Warenlager‘, ‚Depot‘ bedeutet). Eigentümlicherweise steht an einer Seite der Apotheke Farmakio, an der anderenFarmakion. Ob es da einen Unterschied gibt?
Die Straße führt zum Omonia-Platz, einem Platz, der einfach nicht schön werden will. Obwohl er ein paar schöne Häuserfassaden hat und man versucht hat, ihn mit einem Kunstwerk und Bäumen aufzuhübschen. Andererseits sieht er, zumindest an einem Sonntagmorgen, auch nicht so düster und gefährlich aus, wie er angeblich ist.
Dann geht es an der Nationalbank und einigen Ausgrabungen vorbei über eine breite Straße Richtung Akropolis und die engen Gassen der Plaka. Ich komme von hinten an die Akropolis. Ein ungewöhnlicher Blick. Man sieht nur den Felsen, die Befestigungsmauer und die hintere Seite des Erechthion.
Am Fuße des Hügels liegt das römische Forum, das hier Römische Agora heißt. Was wohl auf dasselbe hinausläuft. Schon vor der Zeitenwende hatten die Römer Athen erobert. Eine ganze Reihe von Ruinen stehen auf dem Feld, vor allem aber steht hier der Turm der Winde, ein achteckiger Turm, der die acht Winde darstellt, und zwar in einem breiten Fries in der oberen Hälfte des Turms. Gar nicht so leicht, einen Wind darzustellen. Die Winde sind durch Götter symbolisiert, aber man bekommt durchaus ein Gefühl von Bewegung, von Luft, von Dynamik – soweit man das von außen erkennen kann.
Der Turm diente als Wetterwarte und als Uhr. Außen waren Sonnenuhren angebracht, auf dem Dach eine Wetterfahne, innen eine Wasseruhr, die das Messen von Wetter und Tageszeit unabhängig machte.
Weiter geht es durch die verwinkelten Gassen der Plaka. An einer Häuserwand, ganz in der Nähe der Akropolis, sehe ich eine Flamme mit der Inschrift: University of Indianapolis. Was das wohl ist?
Ganz in der Nähe der Akropolis sehe ich zwei schöne, zweistöckige Wohnhäuser, eins in Gelb, das andere in Blaugrau, das erste mit Gittern, die eine Harfe abbilden. Ob das Wohnhäuser sind?
Auf jeden Fall Wohnhäuser sind die kleinen Häuser in der Anafiotika, einem kleinen Teil des Altstadtviertels. Hier gibt es keine Verkäufer, keine Cafés, keine Souvenirs. Hier scheinen ganz einfache Menschen zu wohnen. Ich erinnere mich, wie ich damals einmal durch das Viertel gegangen bin, über Felsbrocken und unbefestigte Wege. Das, was ich heute von der Anafiotika sehe, ist anders. Hier ist die Straße befestigt. Aber man kommt sich wie in einem anderen Teil Griechenlands vor, wie auf einer Insel oder in einem Dorf. Die Bewohner der Anafiotika kamen ursprünglich tatsächlich von einer Insel, von Anafi. Sie nutzten eine Regelung, die besagte, dass man hier auch ohne Baugenehmigung ein Haus bauen konnte, wenn es am ersten Tag schon ein Dach hatte. Das erklärt, warum die Häuser so klein sind.
Auf dem Weg zur Dreifußstraße komme ich an dem in einem Wohnhaus untergebrachten Puppentheater vorbei, mit zwei hölzernen Puppenfiguren an der Fassade. Auch daran kann ich mich jetzt wieder erinnern.
Ich muss mich durchfragen und durchsuchen, bis ich die Odos Tripodos finde, die Dreifußstraße. Und als ich sie dann gefunden habe, dauert es noch eine Weile, bis ich an das Monument komme, dem die Straße ihren Namen verdankt. Es ist das Denkmal des Lysikrates, ein tempelartiger Rundbau, der heute auf einem Kinderspielplatz steht! Die Kinder versuchen, an dem Monument hochzuklettern. Auf dem Dach des Turms sieht man ein dreieckiges Gebilde aus Marmor. Darauf stand ursprünglich der Dreifuß, von dem die Gegend ihren Namen hat. Dieser Dreifuß war der Preis für den Choregen, den Produzenten des Theaterstücks, das bei dem Athener Theaterwettbewerb in der Antike den Sieg errang.
Damit habe ich gesehen, was ich sehen wollte und kann mich wieder auf den Rückweg machen, um an den Vorträgen zu arbeiten.
Unterwegs sehe ich in einer Seitengasse einen kleinen Menschenauflauf. Ein Auto, das sich an einem stehenden Reinigungswagen vorbeizwängen wollte, hat sich mit diesem verhakt, und es geht weder vor noch zurück. Dahinter hat sich schon eine ganze Schlange von Autos gebildet. Ein kurioses Bild: der elegante, niedrige Sportwagen in unfreiwilliger Partnerschaft mit dem klotzigen Riesen.
In einer anderen Seitenstraße stehen mehrere Taxis hintereinander vor der Ampel, alle ganz in Gelb. In einer anderen Seitenstraße sieht man gleich einen ganzen Motorradpark.
Einige Geschäfte sind geöffnet, darunter ein Schuhgeschäft und ein Geschäft für Bettwäsche. Es gibt einige wenige Ketten, aber die meisten Geschäfte sind in privater Hand.
Überall weht die griechische Flagge: über der Akropolis, an einem Hotel, vor der Nationalbank.
In einem Souvenirgeschäft hängt ein T-Shirt mit der Aufschrift: Three reasons to be a teacher: June, July, August. Auf einem anderen T-Shirt lese ich, wie jemand auf die FrageWould you like some tea? ein einfaches No zur Antwort erhält. Darunter steht: Anarchy in the UK.
Eine Bar für junge Leute heißt Bubbleicious. Ein Geschäft gleich gegenüber dem Hotel heißt Buy or Die.
An einer Ecke spielt ein älterer Herr mit zwei kleinen Schlegeln ein Instrument, das wie eine Zither aussieht. Schöne Musik. Nachdem ich ihm meinen Obolus gegeben habe, erlaubt er mir, ein Photo von ihm zu machen.
Unterwegs esse ich eine Kolouria und eine Tiropita, einen Sesamkringel und eine Käsepastete, Dinge, die man hier alle paar Meter an einem Stand kaufen kann. Der Sesamkringel schmeckt nicht, er scheint nicht frisch zu sein, aber die Tiropita ist hervorragend, warm, mit halb zerlaufenem Schafskäse. Für 90 Cent.
Als ich wieder am Hotel ankomme, sehe ich gleich daneben ein Neonschild mit der Aufschrift: Official Store. St. Pauli. Mit Totenkopf und gekreuzten Knochen.
Erst am Abend gehe ich wieder raus. Jetzt ist es erheblich kälter geworden. Wieder gehe ich die steile Gasse rauf, die mich am Morgen in die falsche Richtung gebracht hat. Diesmal ist es richtig. Es geht ins Avli, ein einfaches Lokal, das in einer menschenleeren, dunklen Straße in einem einstöckigen Haus untergebracht ist, das wie ein Wohnhaus aussieht. Nur ein Schild über dem Eingang weist auf das Lokal hin.
Hier sind nur Griechen, und nur junge Leute. Das Lokal ist einfach, mit ganz kleinen Tischen und kleinen, quadratischen Korbstühlchen, die nicht gerade bequem sind. Überall hängen und liegen Dinge herum, meist Kitsch.
Die Speisekarte ist teils handgeschrieben, teils aber sogar auf Englisch, und die Kellnerin spricht gut Englisch. Ich esse gebratene Auberginen und ein leckeres Beefsteak mit Minze und einer Soße aus Schimmelkäse. Dazu gibt es leckeren Rotwein.
15. April (Montag)
Gestern musste ich sogar Sonnencreme auftragen. Und das, obwohl die Temperaturen nicht über 20 ° lagen. Aber die Sonne ist irgendwie stark.
Heute sieht es nicht nach Sonnencreme aus. Aber ich muss ohnehin erst an den Computer. Dann finde ich gleich in der Nähe des Hotels ein Copy-Shop, wo ich Kopien für die Vorträge machen kann.
So gerüstet, mache ich am Mittag einen kurzen Spaziergang Richtung Zentrum. Als erstes lande ich am Syntagma-Platz, dem zentralen Platz Athens mit dem erhöht stehenden Parlamentsgebäude. Es war ursprünglich, nach den Befreiungskriegen, der Königspalast. Der Syntagma-Platz ist nur unwesentlich schöner als der Omonia-Platz, mit zwei oder drei alten Gebäuden, in denen hauptsächlich vornehme Hotels untergebracht sind, und mit vielen gesichtslosen Bürohäusern. Als besonderen Service bietet die Stadt Athen hier, im Bereich des gesamten Platzes, kostenlosen Internet-Zugang an. Es fallen ein paar Tropfen, und ausgerechnet hier ist es schwer, Platz zu finden, um sich unterzustellen. Es ist außerdem ziemlich windig, und wenn die Windstöße kommen, fühlt es sich fast kalt an.
Mein nächstes Ziel ist die Mitropolis, die orthodoxe Bischofskirche Athens. Sie ist auf allen Seiten eingerüstet, und auch drinnen stehen überall zugehängte Baugerüste. Draußen wird man noch darauf hingewiesen, es handele sich um ein Gotteshaus und man solle still sein, aber drinnen wird laut per Handy gesprochen und mit dem Schlagbohrer gearbeitet.
Interessanter als die Kirche, zumindest in ihrem jetzigen Zustand, ist das, was ich im Reiseführer über orthodoxe Kirchen lese. Viele Dinge sind genormt, z.B. wo die Kanzel (klein) und wo der Bischofsthron (groß) zu stehen haben. Die Kirche ist eben staatstragend und kein Plauderverein. Auch festgelegt ist, auf welcher Ikone Christus und Johannes der Täufer erscheinen (rechts von der Mitte) und auf welcher Maria und der Lokalheilige (links von der Mitte). Orgeln und Beichtstühle gibt es nicht, vor allem aber keine Skulpturen. Und das bei der griechischen Bildhauertradition aus der Antike! Skulpturen sind dreidimensional und würden dem orthodoxen Prinzip widersprechen, Wesen und Geist des Heiligen darzustellen, nicht aber seine Körperlichkeit!
Auf dem Platz der Kirche gegenüber steht die Statue eines Bischofs, der hier während der deutschen Okkupation im Amt war. Er wird zitiert mit einer Aufforderung an die Besatzer: Die griechischen Kleriker seien bitte nicht zu erschießen, sondern zu hängen. Das gebiete die Tradition.
Dann komme ich zu der kleinen byzantinischen Kirche mitten im der Haupteinkaufsstraße, dem Ermou. Sie steht auf etwas niedrigerem Niveau auf einem unregelmäßigen Platz an der Kreuzung zweier Straßen, mit Soho auf der einen und H&M auf der anderen Seite. Der Grundriss ist unregelmäßig, durch verschiedene Anbauten, aber ursprünglich war es wohl eine quadratische Kirche, und man weiß nicht so recht, wo hinten und vorne ist. Eingänge gibt es verschiedene, aber sie sind alle verschlossen.
Dabei komme ich zum Rathaus und dem Denkmal für die letzte Drachme. Es ist eine überdimensionale Drachme, die in einen rechteckigen Stein eingelassen ist. Die Drachme war die älteste Währung Europas, und schon deshalb ist die Nostalgie hier besonders groß.
Ganz in der Nähe befinden sich die Markthallen, mit einer Halle für Fischverkäufer, wie ich sie noch nie gesehen habe, auch in Spanien nicht. Alles sehr ordentlich präsentiert, die Fischköpfe sehen alle in dieselbe Richtung, und die Fische liegen in regelmäßigen Reihen. Alles wird frisch gehalten, indem immer wieder frisches Wasser über die Auslagen gesprüht wird. Von den vielen Sorten kann ich Lachs, Aal, Sardellen, Tintenfisch, Langosten und Tunfisch erkennen, aber es gibt natürlich viel mehr. An Farben überwiegen Blaugrau und Rosa. Mit den kräftigen Stimmen der ausschließlich männlichen Verkäufer werden die Fische feilgeboten. In der benachbarten Halle gibt es das gleiche noch einmal für Fleisch. Und außen um die zentrale Markthalle herum gruppieren sich kleine Hallen und Stände für Kräuter und Gewürze.
Am Abend lande ich in einem Lokal, das ich dieser Tage auf dem Weg zum Abendessen entdeckt habe, Efimera. Man geht eine Kellertreppe runter und traut sich kaum, die Tür zu öffnen. Es ist zwar erleuchtet, aber man hört und sieht nichts. Erst stehe ich etwas verlassen im Vorraum, dann schaue ich mich etwas um und schließlich erscheint eine grässlich aufgedonnerte uralte Frau mit rot gefärbten Haaren. Auf meine Frage, ob es etwas zu essen gebe, sagt sie zögerlich ja und schleppt Wasser und Brot ran. Ob es nicht noch etwas zu früh ist, frage ich. Sie sagt ja und gibt mir eine gute Entschuldigung, das Weite zu suchen.
Eine glückliche Wendung, denn in einer Seitenstraße ganz in der Nähe des Exarchia-Platzes finde ich eine sehr gute Alternative, das Rosalia. Ich habe das unbestimmte Gefühl, hier schon einmal gewesen zu sein, und zwar in einem jetzt durch eine Glaswand geschlossenen Raum hinter der Theke. Das Lokal ist auch so sehr geräumig. Der rundliche Wirt kommt mit einem riesigen Tablett mit einer Auswahl an kalten Vorspeisen an, alle in schönen Keramikschalen serviert. Davon kann man sich eine aussuchen oder aber sogar mehrere als vollständige Mahlzeit. Ich nehme die schwarzäugigen Bohnen, gelbbraune Bohnen mit einem schwarzen Pünktchen drauf, in einer Art Essigsoße mit vielen Kräutern. Dazu gibt es leckeres, frisches Brot und guten Rotwein.
Bei der Bestellung der Hauptspeise gibt es ein schönes Missverständnis. Ich bestelle Pork filets with four peppers, in der Erwartung, bei den peppers handele es sich um Paprika. Es ist aber Pfeffer gemeint. Auf Deutsch wäre das nicht passiert, und wohl auf Griechisch auch nicht, wenn ich das gut genug könnte. Entsprechend scharf ist das Gericht.
An zwei Nebentischen wird geraucht, und auch der Kellner zündet sich zwischendurch immer wieder mal eine Zigarette an.
In kurzen Abständen kommen Motorradkuriere, die mit kleinen gefüllten Plastiktüten. Sie bringen vermutlich Bestellungen in Privathäuser, aber verwirren mich damit, dass sie hin und wieder auch mit vollen Tüten hier ankommen.
16. April (Dienstag)
Gleich am Morgen mache ich mich auf den Weg zur Universität. Zur Bushaltestelle kommt man zu Fuß. Fahrkarten bekommt man an einem Kiosk.
Die Fahrt in dem vollen und immer voller werdenden Gelenkbus dauert fast eine Stunde, so dass ich kein bisschen zu früh an der Uni bin. Bald erscheint schon der Koordinator des Erasmus-Programms, mein „Mann in Athen“, ein rundlicher, rotköpfiger Westfale, der seine Herkunft nicht verleugnen kann. Seine junge Frau, selbst Kollegin in der Germanistik, wartet im Auto, einem Geländewagen, und bringt uns die kurze Strecke auf den Campus.
Der ist groß und unmodern und etwas vergammelt, mit riesigen Hallen und hohen Decken. Die Zahlen sprechen für sich: Allein in der Philosophischen Fakultät sind 30,000 Studenten eingeschrieben, in der Germanistik sind es 3,000 und insgesamt 100,000.
Wir gehen ein paar Treppen hoch und er zeigt mir sein Büro und die Bibliothek der Germanistik sowie die Räume, in denen die Vorträge sind. Er hat auch einen Aushang vorbereitet, in denen die Vorträge angekündigt werden.
Zuerst aber kommen die beiden Erasmus-Studenten, die im nächsten Jahr in Trier studieren. Sie haben Fragen zu allem, wozu man Fragen haben kann. Immer wieder fragen sie nach der Unterbringung und den Wohnheimen, aber ich gebe wohl keine befriedigende Antwort, bis sie mit der Wahrheit rausrücken: Sie sind ein Paar und möchten gerne einen Platz in demselben Wohnheim bekommen. Das kann ich ihnen natürlich nicht gewährleisten, verspreche aber, bei unserem Auslandsamt nachzufragen. Zu zweit geht man das Abenteuer Ausland natürlich leichter an, und es spricht einiges dafür, dass sie das zusammen machen. Noch mehr würde aber dafür sprechen, dass sie in zwei verschiedene Städte gehen, aber das sage ich ihnen nicht, zumal es dafür ohnehin zu spät ist.
Dann kommt der erste Vortrag, vor einer vorwiegend weiblichen Publikum, und dann der zweite, vor einem ausschließlich weiblichen Publikum. Das Niveau, vor allem bei der zweiten Gruppe, den Postgraduierten, ist hoch, und man kann ohne Verständigungsschwierigkeiten über abstrakte Inhalte sprechen. Die erste Gruppe ist ziemlich groß, die andere eher klein. Es geht um populäre Missverständnisse und dann um Sprachvergleich. Bei beiden Vorträgen habe ich den Eindruck, dass sie gut, aber nicht sehr gut über die Bühne gegangen sind. Wenigstens aber müssten die meisten irgendetwas mitgenommen haben, was bei den auswärtigen Vorträgen bei uns, die meistens Forschungsberichte und viel zu spezialisiert sind, oft nicht der Fall ist.
Bei dem Vortrag lerne ich auch selbst etwas dazu: Im Griechischen nennt man den Nachnamen zuerst, dann den Vornamen. So sagt es jedenfalls eine Studentin, ohne dass ihr jemand widerspricht, auf meine im Nachhinein etwas dämliche Frage, ob sie eine Kultur kennen, in der das so ist. Bei dem anderen Vortrag gibt es unterschiedliche Meinungen dazu, um welche Uhrzeit man im Griechischen von Kalimera zu Kalispera, von Guten Tagzu Guten Abend, wechselt. Mit der Auskunft bin ich aber sehr zufrieden. Nicht nur ist das nicht klar, es wäre auch noch auszuprobieren, ob die Leute wirklich so sprechen, wie sie glauben.
Anschließend ergibt sich ein Problem: Ich finde nicht mehr aus dem Gebäude heraus. Die Beschilderung ist nicht allzu gut. Ich erfahre außerdem, dass es zwei Bushaltestellen gibt. Ich habe aber noch keine Fahrkarte, versuche also mein Glück an dem Kiosk in der Uni, aber da gibt es die nicht. Auf einigen Umwegen finde ich dann doch noch die alte Haltestelle. Hier kostet die Fahrkarte 1,40 (wie in der Metro), im Zentrum habe ich am Morgen 1,20 bezahlt.
17. April (Mittwoch)
Heute ist der Vortrag in der Anglistik an der Reihe. Die Kollegin hat sich sehr bemüht, alles vorzubereiten und hat vor allem dafür gesorgt, dass überhaupt Studenten da sind. Heute ist nämlich Streik. Es geht um den Protest der Studenten gegen die Änderung der Inhalte – Spezialisierung soll unterbunden oder eingeschränkt werden – und gegen die Zusammenlegung von Fachbereichen. Der Erasmus-Koordinator hat mich sogar davor gewarnt, die Universität überhaupt zu betreten, erst recht als Deutscher in der Anglistik. Ich müsse mit dem Schlimmsten rechnen. Dazu kommt jetzt auch noch, dass die Studenten herbeizitiert wurden, obwohl sie heute wegen des Streiks unterrichtsfrei hätten. Das dürfte meine Beliebtheit auch nicht vergrößern. Trotzdem bleibe ich gelassen und lege mir ein paar Worte zurecht für den Fall, dass es zu Auseinandersetzungen kommt.
Als ich ankomme, ist es erstaunlich ruhig. Es gibt auch keine Streikposten, wie angekündigt, die einem den Zugang in das Gebäude versperren. Alles ist vollgehängt mit Plakaten, an ein oder zwei Ecken sitzen vereinzelt Studenten herum, aber das ist alles. Komisch ist allenfalls die unpassende Leere in diesen riesigen Hallen. Auch in der Bibliothek der Germanistik ist niemand außer dem Aufpasser. Ich kann mich also in Ruhe hinsetzen und mir die Vorträge noch einmal ansehen. Auf die Austauschstudenten warte ich vergeblich. Später tauchen sie dann bei dem Vortrag auf.
Zur vereinbarten Zeit gehe ich in das Büro der Kollegin aus der Anglistik, einer elegant in Grau gekleideten Dame mit grauem Haar. Sie begrüßt mich sehr freundlich. Statt eines Buches habe ich ihr Pralinen mitgebracht, was sich als Volltreffer erweist, denn sie ist auf einer strengen Diät, da sie, nachdem sie das Rauchen aufgegeben hat – aus finanziellen Gründen, nach der Lohnkürzung – angeblich zugenommen hat.
Sie hat einen eigenen Raum reserviert, und da sind auch schon ein paar Studenten, und ein Laptop steht bereit. Allerdings ist er noch nicht an den Projektor angeschlossen, und mir wird angst und bange, meine Präsentation nicht benutzen zu können. Das wäre in diesem Fall wirklich schlecht wegen der vielen Photos und der Diagramme, die ich benutze. Mein Gefühl wird nicht besser, als der Techniker kommt und mit einer Fernbedienung versucht, den Projektor zu starten. Gibt es keinen Schalter, mit dem man den Projektor anschalten kann? Nein. Er verschwindet und kommt mit einer zweiten Fernbedienung zurück. Funktioniert auch nicht. Ich überlege mir in der Zwischenzeit schon mal, wie ich improvisieren kann. Dabei füllt sich der Saal mehr und mehr. Es sind jetzt wohl an die 50 Studenten da. Dann tut sich etwas auf dem Bildschirm, aber es ist ein Strohfeuer. Der Projektor ist eingeschaltet, aber es kommt keine Verbindung zu dem Laptop zustande.
Die Kollegin schlägt jetzt vor, in den angestammten Raum zurückzukehren. Den hatte man eigentlich nur vermieden, um den Streiks aus dem Wege zu gehen. Es könnte sogar sein, dass die Stühle aus dem Raum entfernt wurden. Das wird geprüft. Alles ist in Ordnung, und wir ziehen um. Dass die Studenten das ohne Murren mitmachen, wundert mich schon nicht mehr. In dem eigentlichen Raum wiederholt sich dann das technische Drama, aber am Ende gelingt es dem Techniker, unter allgemeinem Applaus, die Sache auf den Weg zu bringen. Alles geht gut über die Bühne, und die Studenten sind konzentriert und aktiv bei der Sache. Großes Aufatmen. Die Kollegin, selbst nicht sehr technikaffin, sagt mir anschließend, in diesem Falle sei mein Beharren auf der Präsentation berechtigt gewesen. Der Vortrag wäre sonst nur halb so gut gewesen. Sie lädt mich ein, mit ihr zum Mittagessen nach Kifisia, ihr Viertel zu fahren. Das nehme ich gerne an, aber jetzt muss ich mich erst um die beiden Austauschstudenten kümmern. Sie haben unendlich viele Frage, die ich nur teils beantworten kann. Und sind besorgt. Was verständlich ist. Da kann ich sie aber etwas beruhigen. Später stellt sich heraus, dass sie auch teils falsch informiert waren, was die Bedingungen der Anerkennung angeht. Wir verbleiben so, dass sie mich für alle weiteren Fragen kontaktieren können. Am Ende sind ihre Gesichter doch etwas entspannter. Am schönsten ist ihre Frage, ob sie denn am Flughafen von einem Empfangskomitee begrüßt würden. Den Zahn muss ich ihnen leider ziehen.
Ich bin wegen der langen Wartezeit schon etwas beunruhigt, aber die Kollegin nimmt das gelassen hin. Wir fahren nach Kifisia und setzen uns draußen zum Essen hin, obwohl es nicht gerade warm ist. Sie besteht darauf, dass ich etwas „Richtiges“ esse, obwohl sie nur einen kleinen Salat nimmt, von dem sie mir auch noch etwas abgibt. Ich bekomme auch mein erstes griechisches Bier, Alpha. Es ist sehr gut. Bei der Bestellung verhandelt sie eine ganze Zeit mit der Kellnerin. Das liegt daran, dass man hier, zur Betonung der Tradition, nicht das moderne, sondern ein altes Wort für Bier benutzt: zythos (ζύθος) statt bira(μπίρα).
Es ist eine reine Freude, ihr zuzuhören. Sie ist gebildet, unabhängig, intelligent und hat einen scharfen, analytischen Verstand. Sie gibt mir aber nicht das Gefühl, minderwertig zu sein.
Sie hat in Cambridge studiert und in London ihren Ph.D. gemacht, und das, obwohl sie mit der Anglistik ursprünglich nichts am Hut hatte. Ihr erster Abschluss ist in klassischer Philologie. Sie bezeichnet sich selbst als Nerd. Schon als Kind hätte sie nicht nur alle Hausaufgaben immer gemacht, sondern so viel für die Schule gearbeitet, dass ihr Vater, wenn die Eltern abends ausgingen, die Sicherung herausdrehte, damit sie nicht mehr arbeiten könnte. Was sie wiederum mit einer Taschenlampe torpedierte.
Sie konnte auch gut Deutsch, hat aber, wie sie behauptet, das meiste vergessen, was sie wiederum sehr bedauert. Sie versteht aber jedes Wort, wenn ich Deutsch mit ihr spreche.
Sie unterrichtet nie vor drei Uhr nachmittags, denn sie ist eine Nachteule und geht meist erst um vier Uhr ins Bett. Die Universität ermöglicht das. Dumm ist es nur, wenn sie etwas auf dem Amt oder der Bank erledigen muss oder einen Arzttermin hat. Dann bleibt sie gleich auf. Zur Uni fährt sie nur zweimal pro Woche.
Ihr Lieblingsautor – obwohl das wohl kaum das richtige Wort ist – ist Proust. Sie liest gerade A la recherche du temps perdu zum fünften Mal. Proust habe einfach alles über die menschliche Seele gewusst. Alles. Das beste Beispiel sei Eifersucht, sowohl in Beziehung auf einen Partner wie auf andere.
Nachrichten sieht oder hört sie grundsätzlich nicht. Das deprimiere sie nur. Als sie dann auf einmal am Bankautomaten sah, dass sie 800 € weniger auf dem Konto hatte als in anderen Monaten, glaubte sie an einen Irrtum. Sie hatte von den Gehaltskürzungen nichts gehört. Die Klage über eine Gehaltskürzung von 800 € ist nur zu verständlich, aber von wie viel die gekürzt wurden, verrät sie natürlich nicht.
In Griechenland werde alles bald zusammenbrechen. Das sei aber weiter keine Überraschung. Die griechische Mittelklasse habe nie in Griechenland investiert. Es gebe keine Industrie und habe nie, wie in England oder Deutschland, eine industrielle Revolution gegeben. Die Griechen hätten einfach immer geglaubt, alles im Ausland kaufen zu können. Im Grunde sei Griechenland aber ein Balkanland und nicht anders als Bulgarien oder Rumänien. Nur der Zufall der Entscheidungen in Potsdam habe es der westlichen Welt zugeschlagen. Sonst hätte man schon seit 50 Jahren wie in den anderen Balkanländern leben müssen. Mit dieser Meinung, sagt sie, sei sie allerdings in ihrem Freundeskreis allein. Spricht für sie, dass sie sich ihre Unabhängigkeit bewahrt.
Wir machen nachher noch einen kurzen Spaziergang durch Kifisia, vorbei an den teuren Modeboutiquen und vornehmen Lokalen. Viele sind schon geschlossen, in den anderen ist überhaupt keine Kundschaft. Das Ganze ist wie eine Bestätigung ihrer düsteren Prophezeiung.
Angetan von diesem stimulierenden Gespräch setze ich mich in den Bus zurück ins Zentrum. Es dauert fast eine Stunde. Zu beiden Seiten sieht man hypermoderne Glaspaläste ausländischer Firmen wie Toyota. Die scheinen von Krise nichts wissen zu wollen.
An einem Haus sehe ich das Wort Reuma. Keine Klinik, sondern ein Stromversorger:reuma (ρεύμα) heißt ganz einfach ‚Strom‘. Das ist immer wieder eine Entdeckung, wenn die griechischen Wörter im Griechischen etwas anderes bedeuten wie bei Apotheke. Auch schön, wenn alte Wörter für ganz alltägliche, banale Gegenstände benutzt werden:periptero (περίπτερο) war in der Antike eine Säulenhalle und ist heute ein Kiosk.
18. April (Donnerstag)
Mit der Metro geht es gleich am Morgen zum Akropolis-Museum, wärmstens empfohlen von dem Kollegen aus der Germanistik und erst nach meiner letzten Reise nach Athen eröffnet.
In der Metro sind die Umgangsformen auch etwas rau. Dazu gehört, dass man in den Wagen stürzt, bevor alle ausgestiegen sind. Andererseits werden sehr alten Menschen und Eltern mit kleinen Kindern sofort Plätze angeboten.
Bettler gibt es in den Zügen gar keine, und nur einmal kommt ein musizierendes Bruderpaar aus dem Balkan durch den Zug. Auf einmal laufen sie wie von der Tarantel gestochen los und aus dem Wagen. In dem Moment kommt der Zugfahrer. Freundlich lächelnd, aber er ist eigens ausgestiegen, um die Jungen aus dem Zug zu weisen. Und die wissen, woran sie sind.
An der Metrostation Akropolis gibt es Kopien eines Teils der Metopen des Parthenon, Reliefs, die Reiter bei der Prozession oder bei der Vorbereitung der Prozession zeigen. Pferde, die gesattelt werden, Pferde, die sich aufbäumen, Pferde, die an etwas auf dem Boden herumschnuppern, wehende Gewänder.
Das Museum liegt am Hang der Akropolis, aber zur anderen Seite, und die Struktur des Museums bildet diesen Hang nach: Auf einer Rampe geht es in den ersten Stock, und gleich zu beiden Seiten der Rampe sind Dinge ausgestellt, die auf den Hängen der Akropolis gefunden wurden. Sehr gut gemacht. Da finden sich vor allem Votivgaben aus einem dem Asklepios geweihten Tempel. Wie später in den christlichen Kirchen legten die Geheilten Abbildungen der Körperteile am Heiligtum nieder, deren Heilung sie dem Gott zuschrieben. Man verbrachte hier auch ganze Nächte in der Hoffnung, im Traum geheilt zu werden. Die Vorstellung war die, dass man hoffte, der Gott werde einem im Schlaf erscheinen und man werde dadurch geheilt. Der Kult des Asklepios wurde von Telemachos im fünften vorchristlichen Jahrhundert von Epidaurus nach Athen gebracht.
Die zwölf Olympischen Götter und die weiteren Gottheiten, Helden, Dämonen waren ein System zur Erklärung der Welt. Der populärste Gott war Dionysos, die wichtigste Göttin in Athen war Athene, die schließlich der Stadt ihren Namen gab.
Oben im ersten Geschoss sieht man sehr schön, häufig frei stehende Figuren und außerdem Reliefs aus der Zeit vor der Zerstörung der Akropolis durch die Perser. Die Athener nahmen all die zerstörten Skulpturen und Inschriften und Gebäudeteile und begruben sie, um sie der Göttin zu erhalten. Dadurch wurden sie jedenfalls der Menschheit erhalten. Es gibt hier erstaunliche Dinge wie ein Giebelfeld, das schon an das spätere des Parthenon erinnert. In der rechten Ecke ist ein dreiköpfiger Dämon mit verschmitzten Gesichtern, die die drei Elemente, Wasser, Feuer und Luft in der Hand hält.
Einigen der Figuren hat man eine Kopie mit dem ursprünglichen Farbauftrag zur Seite gestellt. Das grenzt für uns fast an Kitsch.
Viele der Skulpturen wirken sehr modern, vor allem die von Tieren, wie einem Jagdhund mit angespannten Muskeln.
Eine riesige Statue zeigt Athene im Kampf gegen die Giganten, in diesem Fall gegen Engelados, den Giganten, der der Menschheit Erdbeben schickte. Die Götter waren also auf Seiten der Menschen. Die Giganten wurden besiegt und verbannt, aber lösen in anderen Teilen der Erde weiterhin Erdbeben aus!
In einem Zwischengeschoss sind die Karyatiden des Erechtheion ausgestellt, Frauenfiguren, die an die Stelle der Säulen treten. Was das genau zu bedeuten hat, weiß man nicht, aber der Name
Dann kommt der Höhepunkt, im Obergeschoss, in das man über durchsichtige Böden gelangt, durch die man auf die Ausgrabungen nach darunter sieht. Überhaupt trägt das ganze Gebäude der Tatsache Rechnung, dass man beim Bau wiederum Funde gemacht hat. Deshalb steht das ganze Gebäude auf Pfeilern. Darunter befindet sich ein archäologisches Grabungsfeld.
Oben hat man durch die viele Verglasung einen Blick auf die Umgebung und, vor allem, auf die Akropolis. Hier hat man mit einer modernen Struktur den Parthenon-Tempel in Originalmaßen nachgebildet und die Skulpturen daran gehängt, so dass man sich genau vorstellen kann, was wo war. Toll gemacht. Die leeren Stellen sind die, wo Material im Laufe der Zeit verloren gegangen ist, in weißen Kopien sind die Materialien vertreten, die in Paris oder, größtenteils, in London sind.
In der christlichen Zeit wurde einige Teile als heidnisch unerwünscht entfernt, einige Teile wurden durch einen Brand zerstört, aber im Grunde war das Parthenon noch bis ins 17. Jahrhundert, unter den Türken, als es zu einer Moschee wurde, noch gut erhalten. In einer Belagerung durch die Venezianer traf dann eine Kanonenkugel genau das Lager, in dem der türkische Kommandant das Schießpulver gelagert hatte. Das war der größte Schaden, den das Parthenon jemals erlitt. Aber auch nach der Befreiung, der griechischen Unabhängigkeit, begegnete man der ganzen Antike weitgehend mit Gleichgültigkeit und ließ Zeit und Wetter an dem Tempeln nagen. Die Wiederentdeckung der Antike war größtenteils das Wirken von Ausländern.
Die Skulpturen des Parthenon fallen in drei Teile: die Giebelfelder im Osten und Westen, die Metopen auf allen vier Seiten, und der Fries um die Cella, ebenfalls auf allen vier Seiten. Die Cella war der Innenraum des Tempels, zweigeteilt. In dem größeren stand die berühmte Athene-Statue. Die ist verloren gegangen.
Die Metopen sind die ersten Skulpturen des Parthenon. Es werden der Kampf gegen die Zentauren und der Kampf gegen die Giganten dargestellt. Jede Metope ist ein Bild für sich, von den benachbarten durch Triglyphen, dreifache senkrechte „Rillen“. Meistens enthalten die Metopen zwei Figuren. Auf einer sieht man den Kampf eines Atheners gegen den körperlich überlegenen Zentaur. Der Zentaur scheint auf der Siegerstraße zu sein, aber der Athener hat ihm mit seinem Speer eine Wunde in der Flanke beigebracht, und die könnte tödlich sein. Die Menschen können die Gewalten und die barbarischen Kräfte besiegen.
In den Giebelfeldern ist im Osten die Geburt der Athene, im Westen der Wettstreit zwischen Athene und Poseidon dargestellt. Poseidon schleudert seinen Tridenten und bringt Salzwasser zum Sprudeln, Athene bietet den Athenern den Ölbaum und gewinnt den Wettstreit. Athen wird nach Athene benannt. Und kann sich in der Zukunft der Feindschaft Poseidons sicher sein!
Geboren wird Athene aus dem Kopf des Zeus. Eine jungfräuliche Geburt! An der Seite des Zeus steht Hephaistos, der seinen Kopf mit einem Hammer spaltet, so dass Athene „schlüpfen“ kann. Zeus hatte mächtig Kopfschmerzen gehabt, denn er hatte die von ihm mit Zwillingen schwangere Metis verspeist, da nach einer Prophezeiung eins der beiden Kinder ihn entthronen sollte.
Die Figuren zu den beiden Seiten der beiden Giebelfelder liegen oder hocken, so dass sie in das Giebelfeld reinpassen. Ähnlich ist es bei den Metopen. Wenn ein Pferd den Kopf senkt, richtet es den nicht nach vorn, sondern zur Seite, damit die ganze Darstellung in die Ausmaße der Metope passt!
Im Fries der Cella wird schließlich die Prozession zur Ehren der Göttin Athene dargestellt. Sie war der Höhepunkt der Feierlichkeiten, die alle vier Jahre stattfanden. Bei der Prozession sind insgesamt ca. 360 Menschen und mehr als 200 Tiere dargestellt, meistens Pferde, aber auch Ochsen und Widder.
Die neue Akropolis wurde nach dem Sieg von Marathon über die Perser errichtet, unter Perikles. Athen ging es aufgrund eines verbesserten Handels und der verschärften Ausbeutung der Silberminen besser. Man feierte sich selber. Allerdings war der Kern des Niedergangs darin schon angelegt: Die Athener hatten die Vorherrschaft über die anderen Griechen errungen und damit deren Widerstand und deren Streitsucht heraufbeschworen. So kam es zu den Peloponnesischen Kriegen, an deren Ende Sparta als der Sieger, eigentlich aber alle als Verlierer dastanden. Perikles selbst starb noch während der Peloponnesischen Kriege, an der Pest! Die Schwäche der Griechen wurde dann von Philipp von Mazedonien und vor allem von Alexander ausgenutzt, die sich alle griechischen Staaten einverleibten.
Der Parthenon wurde später zu einer christlichen Kirche, der Göttlichen Weisheit geweiht. Die Weisheit war eines der Attribute Athenes! Später wurde sie dann als lateinische Kirche der Jungfrau Maria geweiht. Die Jungfräulichkeit war eins der Attribute Athenes! Die Feierlichkeiten zu Ehren Athenes fanden Mitte August statt, genau dem Datum des Fests Mariä Empfängnis! Die Prozession auf dem Fries der Cella verläuft in zwei Richtungen. Der Treffpunkt ist der Osten, da, wo in den christlichen Kirchen der Altar steht!
So belehrt verlasse ich das Museum und begebe mich noch auf den Archäologischen Pfad um die Akropolis herum. Gleich an dessen Anfang, gegenüber dem Akropolis-Museum, liegt das Dionysos-Theater, am Abhang der Akropolis. Der Ort war schon zu vorgeschichtlicher Zeit bewohnt, und zwar wegen der Quellen. Später wurde es dann zum Heiligtum für Dionysos und zu einer Art Kulturstätte.
Dionysos war der populärster der griechischen Götter. Kein Wunder, er war der Gott des Weins und der Ekstase. Aus den Feiern zu seinen Ehren entstand das Theater. Das Dionysos-Theater ist zwar nicht perfekt erhalten, aber auf den zweiten Blick gibt es mehr, als man auf den ersten glaubt.
Mehrere Sitzreihen sind erhalten. Ursprünglich nutze man den natürlichen Hang für die Zuschauersitze, dann gab es Holzsitze, und die wurden dann bei einer Erneuerung durch Lykurg durch Steinsitze ersetzt. Dabei gab es herausgehobene Sitze mit Rücklehne für die Prominenz. Auch davon sind noch verschiedene erhalten.
Unter Lykurg wurden auch Statuen der drei berühmtesten Athener Tragödiendichter in dem Theater aufgestellt: Aischylos, Euripides, Sophokles. Sie sind nicht erhalten. Später kam eine Statue des berühmtesten Komödiendichters hinzu, Menander. Menander schrieb über 100 Komödien, war aber nur selten bei den Theaterwettbewerben erfolgreich. Menander war aber in Rom besonders populär, und deshalb hat weiß man durch römische Kopien, wie seine Statue ausgesehen hat. Am Eingang zum Theater steht eine solche Kopie. Menander sieht sehr ernst aus. Komik ist eben ein sehr ernsthaftes Geschäft. Im Gegensatz zu den Tragödiendichtern ist er bartlos, die Mode widerspiegelnd, die sich in der Zeit unter dem Beispiel Alexanders des Großen durchsetzte!
Das Dionysos-Theater hat seinen besonderen Charme darin, dass es einfach so in der Landschaft herumsteht. Es ist nicht abgeschlossen, und man bezahlt auch keinen Eintritt. Überall liegen noch ein paar Steinbrocken herum, und überall sieht man Grasbüschel, Kletterpflanzen, Kriechpflanzen und sogar Butterblumen und Mohnblumen.
Ganz anders das Odeon, etwas weiter hinauf. Es ist mal wieder geschlossen. Es scheint ständig renoviert zu werden, obwohl hier im Sommer Konzerte stattfinden sollen. Es ist ein riesiges Halbrund mit steil aufsteigenden Sitzreihen, aus Marmor, vermute ich. Das was so etwas wie der griechische Konzertsaal.
Wieder zurück auf dem Boulevard präsentieren sich in Lautabstand voneinander Straßenmusiker und spielen so passende Lieder wie Kalinka. Einer schlechter als der andere. Und das in Hörweite des klassischen Odeon!
Dann verlaufe ich mich und komme auf eine Höhe, von der man einen ungewöhnlichen Blick auf die Akropolis hat.
Auf dem Weg dorthin komme ich an einer kleinen byzantinischen Kirche aus dem 12. Jahrhundert vorbei, Agios Demetrius. Sie hießt auch Kanonenkirche. Das erklärt sich daher, dass sie von den Türken vom Parthenon aus beschossen, aber verfehlt wurde. Am nächsten Tag traf dann ein Blitz das Parthenon und tötete den türkischen Oberkommandanten Yusuf und seine ganze Familie. Geschieht ihm recht, so scheint es der Name der Kirche zu sagen.
Als ich wieder unten ankomme, frage ich an einem Kiosk nach einem Eis. Einem ganz gewöhnlichen Eis in einem Pappbecher. Man verlangt 4,20 €! Ich lehne dankend ab.
Dann mache ich mich auf die Suche nach einem im Reiseführer empfohlenen Restaurant. Ich muss dran vorbei gelaufen sein, denn beim zweiten Versuch, wieder bergauf, finde ich es. Es ist geschlossen, und sieht auch nicht so aus, als würde es bald öffnen. Schilder zu Öffnungszeiten gibt es nicht.
Ich gehe wieder zurück und entdecke eine gute Alternative in dem Viertel am Ende des Archäologischen Boulevards, in Psirri. Das Viertel ist ein Wohnviertel mit semitischem Einschlag. Es gibt zwei Synagogen und ein Islamisches Zentrum und auch ein Holocaust-Denkmal, das ich aber nur nach langer Suche finde und auch nur deshalb als solches identifiziere, weil ich darüber gelesen habe. Es handelt sich um einen Steinblock in der Mitte und verschiedene weitere, in etwas Abstand davon platzierte kleinere Steine. Es soll einen zerbrochenen Davidstern darstellen.
Das Viertel ist aber vor allem ein ganz normales Wohn- und Handwerkerviertel. Vor allem kleine Schreinereien, Möbelreparaturgeschäfte gibt es an jeder Ecke. Stühle stehen in einer Reihe auf der Straße oder hängen an Wänden.
In dem Lokal, das ich hier finde, bin ich der einzige Gast. Wahrscheinlich ist es noch etwas früh. Entsprechend unfreundlich ist der Kellner. Dann taut er aber langsam auf. Umso freundlicher ist eine Frau, die sich vielmals für ihren bellenden Hund entschuldigt, alles auf Griechisch. Sie scheint die Eigentümerin zu sein. Und erzählt mir, dass sie Düsseldorf und München kennt. Später kommt ihr Mann auf einem Roller und bringt frisches Brot.
Später sehe ich wieder, wie dieser Tage im Zentrum, ein Motorrad mit zwei Rädern vorne. Ich bin aber nicht schnell genug, ein Photo zu machen.
Das Lokal, Oineas, macht ganz auf Nostalgie, mit amerikanischer Musik aus den Fünfzigern und mit alten, mit alten Kaffeeschachteln gefüllten Küchenschränken.
Besonderen Wert legt man hier auf Wein. Und in der Speisekarte wird der Name des Lokals erklärt. Oineas war der König von Aitolien. Sein Sklave Staphylos war für die Herde zuständig. Eines Tages bemerkte er, dass sich ein Tier immer wieder von der Herde entfernte und sich an einer Pflanze zu schaffen machte. Dem Tier ging es im Laufe der Zeit immer besser. Der Sklave brachte seinem Herrn dann die Frucht, die an dieser Pflanze hing. Der presste sie aus und nahm den Saft zu sich und fühlte sich danach ausgesprochen wohl. Er nannte die Pflanze nach seinem Sklaven und den Saft nach sich selbst: staphily(σταφύλι) heißt ‚Weintraube‘ und oinos (οίνος) heißt ‚Wein‘.
Der Kellner nimmt meine Bestellung entgegen, was die Vorspeise und den Wein angeht: frittierte Auberginenröllchen und Rotwein. Bei der Hauptspeise aber protestiert er: Ich solle das Schweinefleisch in Zitronensoße nehme. Das sei origineller und leckerer. Wenn es mir nicht schmeckt, will er es mir bezahlen. Ich lasse mich drauf ein, und er gewinnt die Wette. Das Fleisch ist zart und schmeckt bestens, allerdings nicht nach Zitrone, sondern nach Kräutern. Es ist mit einer ganzen Mischung von Kräutern versehen, bei deren Benennung sein Englisch versagt.
Die Preise in der Speisekarte sind handschriftlich korrigiert, und zwar nach unten! Auch fordert die Krise ihren Tribut.
Danach gehe ich noch etwas über die sehr lebendigen Straßen dieses Viertels. Und dann mache ich mich auf den Weg zu dem Panathenäischen Stadion. Da gibt es keine Metrostation in der Nähe, also gehe ich zu Fuß. Mühsam frage ich mich durch und mache dabei eine schöne sprachliche Erfahrung. Eigentlich sogar zwei. Zuerst erlebe ich den GAU des Fremdsprachenlerners: Ich frage auf Griechisch: Wo geht es zum Panathenäischen Stadion? Und bekomme zur Antwort: Ich spreche kein Englisch. Bei dem nächsten jungen Mann bin ich erfolgreicher. Er weiß den Weg und erklärt ihn auch gut, halb auf Griechisch, halb auf Englisch. Als er bei Englisch angelangt ist, sagt er mir ich müsse erst rechts und dann links gehen und dann … Weiß er nicht, was geradeaus heißt. Das ist das Schicksal des durchschnittlichen Sprachenlerners: links und rechts weiß man, aber geradeaus ist schwer!
Früher konnte man das Stadion so betreten, heute gibt es Eintrittskarten und Audioguides. Es lohnt sich aber auf jeden Fall. Schließlich war dies das Ziel des Marathonlaufs 1896 und 2004. Start: Marathon.
Schon die merkwürdige Form der langgestreckten Laufbahn – die fast wie ein U aussieht – zieht die Aufmerksamkeit auf sich. Die Laufbahn ist gut 200 Meter lang und eignet sich nicht mehr für moderne Leichtathletikwettbewerbe. Die Sprinter würden vermutlich sogar aus der Kurve fliegen.
Man unterschätzt die Größe des Stadions. Es fasst über 50,000 Zuschauer. Heute finden hier Konzerte und Zeremonien statt.
Der Sieger von 1896, Spiros Louis, nahm nur deshalb am Marathon teil, weil seine Freunde ihn dazu aufforderten. Er habe doch eine gute Konstitution. Er gewann mit mehr als sieben Minuten Vorsprung. Er nahm sonst nie, weder vorher noch nachher, an einem sportlichen Wettkampf teil. Für den Sieg gab es die Silbermedaille. Gold gab es damals noch nicht. Der Zweite bekam Bronze, der Dritte nichts.
Das Stadion hat antike Ursprünge, war aber verfallen und wurde für die ersten Spiele der Neuzeit renoviert. Alle Sitzreihen wurden aus pentelischem Marmor gefertigt. Das dauerte, und da man nicht rechtzeitig fertig wurde, machte man die fehlenden Sitzreihen aus Holz und strich sie weiß. Ursprünglich, unter Lykurg, nutzte man das natürliche Gefälle der Hänge für die Zuschauerplätze. Eigene Sitze gab es nicht. Das erinnert an das Dionysos-Theater. Später, in der römischen Zeit, unter Herodes Atticus (in Marathon geboren!) wurde das Stadion ausgebaut und mit Marmorsitzen ausgestattet.
In der Antike war das Stadion mit zahlreichen Statuen ausgestattet. Eine davon steht noch in Kopie neben der Laufbahn, nämlich die Statue des doppelköpfigen Janus, auf der einen Seite bärtig, auf der anderen bartlos, den alten und den jungen Wettkämpfer verkörpernd.
Hier heißt es, die Idee, die Spiele wiederzubeleben, sei in Griechenland mit Begeisterung aufgenommen worden. Stimmt nicht. Es gab eine massive Pressekampagne gegen die Spiele, vor allem wegen der damit verbundenen Ausgaben. Die nächsten beiden Spiele in Paris und St. Louis waren dann kein großer Erfolg, aber dann, 1906, gaben die Zwischenspiele in Athen der Sache einen großen Auftrieb. So sagt man wenigstens hier.
Nach dem Stadion habe ich noch einen Punkt auf meinem Notizzettel: Great. Nach dem gestrigen Vortrag, bei dem es um Shop Signs ging, hat mich eine Studentin auf ein besonderes Shop Sign im Zentrum von Athen aufmerksam gemacht, „am Ende der Panepistimiou“. Wo eine Straßen anfängt und wo sie aufhört, ist allerdings nicht so eindeutig, und die Panespistimiou ist eine lange Straße (die außerdem offiziell gar nicht so heißt). Ich gehe sie einmal ganz entlang – vergeblich. Aber als ich gerade den Rückweg auf der anderen Seite antrete, sehe ich das Lokal auf der anderen Seite. Ich bin dran vorbeigelaufen. Das Lokal heißt gr|eat. Das heißt also einerseits great und eat aber auchGreek und eat.
In Exarchia, und das fällt mir erst jetzt auf, gibt es wütende Plakate gegen den Euro, bei denen oxi, das griechische nein, mit Hilfe eines Totenschädels und gekreuzter Knochen gebildet ist.
19. April (Freitag)
Am Morgen registriere ich mit leicht schlechtem Gewissen, dass ich den Griechen Unrecht getan habe: Auf der Quittung des Akropolis-Museums steht 2 Euro, und ich habe 5 Euro Eintritt bezahlt. Haben die sich die 3 Euro eingesteckt? So genau kontrolliert man das ja nicht. Und die haben mich ohnehin so merkwürdig angesehen, als ich antwortete, ich käme aus Deutschland. Jetzt habe ich aber gemerkt, dass ich die falsche Quittung hatte! Es war die vom Laden des Museums, und auf der Eintrittskarte steht 5 Euro!
Beim Frühstück bin ich fast immer allein. Ob es an der frühen Stunde liegt? Es ist überall eingedeckt, aber das muss nichts zu besagen haben. Viele Leute sieht man nicht kommen und gehen. Aus dem Zimmer nebenan hört man immer bis in die frühen Morgenstunden Stimmen, aber auf dem Flur und auf den Treppen begegne ich kaum mal jemandem. Man gewährt mir auch anstandslos und ohne Auflagen, morgen wegen des späten Abflugs das Zimmer länger behalten zu dürfen.
Beim Frühstück sehe ich meist nur die Küchenfrauen, zwei Frauen mittleren Alters. Aus der Küche kommen hin und wieder ihre Stimmen bis in den Frühstücksraum, deutlich genug, damit man merkt, dass sie nicht Griechisch sprechen. Am Ende habe ich dann Gelegenheit, eine von ihnen zu fragen: Sie kommen aus Russland. Da bekommt das Wortgriechischer Gastarbeiter eine neue Bedeutung.
Heute geht es zum Nationalmuseum, nach dem Motto: Warum in die Ferne schweifen? Es ist keine 10 Minuten Fußweg vom Hotel entfernt. Das Nationalmuseum war damals geschlossen, wenn ich mich richtig erinnere.
Es beginnt gleich mit einem Paukenschlag: Die berühmte goldene Gesichtsmaske des Agamemnon ist das erste Ausstellungsstück überhaupt, das man sieht, aus der Mykene, von Schliemann gefunden. Sie ist eine Totenmaske und wurde vermutlich auf dem Gesicht des Toten befestigt. Jedenfalls entnimmt man das aus zwei kleinen Löchern neben den Ohren. Die Maske ist hauchdünn, wie fast alle anderen Exponate hier auch. Bart, Augen und Ohren sind eingraviert. Daneben hängt eine andere, einfachere Totenmaske zum Vergleich. Sie imitiert grob die Gesichtsform, hat aber keine Gravuren.
Auch die anderen Exponate, z.B. eine zweischalige Waage, sind Grabbeigaben auch wenn man es ihnen kaum ansieht. Die Waage steht, wie im Christentum, symbolisch für das Abwiegen von guten und bösen Taten im Diesseits. Man steht mit offenem Mund davor. Vitrinen über Vitrinen voller Gold. Und das alles stammt aus einer Zeit, dem 2. Jahrtausend vor Christus, als es noch gar keine Griechen gab!
Neben dem Goldschmuck gibt es auch Wandmalereien mit sehr gut erhaltenen Farben. Unglaublich. Sie sind auch künstlerisch sehr, sehr entwickelt. Man sieht zum Beispiel eine Jagdszene, in der sich eine Meute von Jagdhunden auf ein Wildschwein stürzt: angespannte Muskeln, gefletschte Zähne, heftige Bewegung. Die Szene wird von zwei Frauen beobachtet, die nebeneinander auf einem Chariot stehen.
Dann gibt es noch fein gearbeitete Alltagsgegenstände wie einen Kamm aus Elfenbein oder einen Silberlöffel mit langem, schmalem Griff. Der Löffel sieht eher wie eine Kelle aus und diente vielleicht zum Schöpfen statt zum Umrühren.
Dann gibt es eine Unzahl von Siegelringen, alle winzig klein mit feinen Abbildungen, meist mit religiösen Motiven wie Prozessionen. Die Siegelringe sind aus Halbedelsteinen wie Amethyst, Agate, Jasper, und waren ein Zeichen von Macht und Prestige. Glücklicherweise hat das Museum neben das Original eine vergrößerte Abbildung der Abbildung aus Papier postiert. Auf den zweiten Blick kann man dabei die Originalabbildungen verstehen.
Dann kommen, aus der gleichen Zeit, aber einer anderen Kultur, die berühmten kykladischen Figuren, auch sie in Mengen vertreten. Der Prototyp ist die frontale Darstellung einer weiblichen Figur, schlank, mit ovalem Kopf, flacher Nase, ganz flacher, kaum merklich herausgearbeiteter Brust und langem, „dickem“ Hals. Sie sind in allen Größen vertreten, und die kleineren und weniger bearbeiteten sehen wie Cellos aus. Wenn man den Vergleich zu den anderen nicht hätte, käme man kaum auf den Gedanken, dass es sich um menschliche Figuren handelt. Besonders auffällig ist eine in einer eigenen Vitrine ausgestellte Figur, die 1, 52 groß ist und auf Zehenspitzen steht. Das Gesäß ist zur Erhaltung des Gleichgewichts leicht nach hinten gedrückt! Man wundert sich nicht, dass diese auf das Grundmuster reduzierte Figuren Künstler wie Picasso, Moore und di Chirico beeindruckt (und beeinflusst) haben.
Dann geht es mit einem Zeitsprung von vielen Hundert Jahren in den Hauptbereich des Museums, ins 7. Jahrhundert vor Christus. Aus der Zeit dazwischen gibt es nichts. Wieder eine der merkwürdigen Parallelen zu anderen Ländern: Etwas ganz Ähnliches habe ich noch vor ein paar Wochen in Delhi gesehen. Auch da gab es nach der ersten Hochkultur, der Induskultur, erst mal eine ganze Zeit gar nichts.
Man kommt jetzt in den Bereich, wo man es mit den ersten „Griechen“ zu tun hat. Hier gibt es archaische Großskulpturen – später sehe ich in der Römerzeit noch Kollosalskulpturen, die noch mal eine Klasse größer sind – mit langen Gewändern, unter denen nur die Zehen herausgucken. Die ersten sind noch ziemlich schematisch.
Aber dann kommen schon die wunderbaren Koren und Kouroi, Frontalstatuen von jungen Frauen und Männern, nackten Männern und bekleideten Frauen. In einem Saal stehen zwei Prachtexemplare gleich nebeneinander. Sie sind im Gegensatz zu den Skulpturen aus den ersten Räumen schon deutlich in Bewegung. Das ist vor allem bei dem Mann zu erkennen, der ein Bein vorgestellt hat.
Eine italienische Reiseführerin, die eine Gruppe ganz junger, erstaunlich aufmerksamer Besucher herumführt, erklärt, das berühmte archaische Lächeln sei ein Trauerlächeln. So sähen es jedenfalls einige Archäologen.
Der Kouros hat eine Hand zur Faust geballt, riesige, stilisierte Ohren, die wie Schmuckstücke und nicht wie Körperorgane aussehen, und geflochtenes Haar, wie man es heute bei manchen Jugendlichen sieht. Die Kniescheiben sind fast quadratisch und ganz deutlich herausgearbeitet. Es heißt, diese Figuren repräsentierten ewige Jugend. Die Statue ist fast drei Meter hoch und stand auf einem Grabmal. Ob es den Toten oder den Gott darstellt?
Noch schöner ist die Kore zu seiner Seite. Die Körperformen bilden sich auf dem langen Gewand ab, und unten sieht man die sehr schön gearbeiteten Zehen und Sandalen. Mit der rechten Hand hält sie den Saum ihres Gewandes, in der linken Hand hält sie einen Gegenstand, vielleicht eine Blume, aber eher wie ein Pinienzapfen in Miniatur aussehend. Auf ihrem Gewand sieht man, aber nur, wenn man ganz genau hinsieht, Verzierungen in Form von Rosen, Friesen und Swastika. Alles hat noch ganz zarte Farbspuren. Man kann sich die bunt bemalten Skulpturen heute kaum noch vorstellen.
Dann geht es in die Klassische Zeit und hier gleich zu einem der Schaustücke des Museums, der Statue des Zeus (oder Poseidon). Sie ist aus Bronze, während das meiste andere hier aus Marmor ist. Zeus steht quer zum Betrachter – eine ganz andere Darstellungsart als bei den archaischen Skulpturen. Seine Muskeln sind gespannt, ein Fuß steht fest auf dem Boden, der andere stützt sich vorne auf und ist nach hinten erhöht. Seine Arme sind zu beiden Seiten weit ausgebreitet. Ursprünglich hielt er in seinen Armen einen Donnerkeil (dann ist es Zeus) oder einen Trident (dann ist es Poseidon). Diese Skulptur würde sofort aller Augen auf sich ziehen, auch wenn sie nicht in der Mitte des Raumes stünde.
Einen speziellen Platz hat auch die beste erhaltene Kopie der Athene-Statue des Parthenons, gut hundert Jahre jünger als das Original und zwölfmal kleiner. Für mich ist die Statue schrecklich überladen. Athene trägt ein langes Gewand und darüber eine Stola, auf der eine Vielzahl von Schlangen skulptiert ist. Auf dem Kopf trägt sie ein wahres Ungetüm von Helm, mit Statuen besetzt, in der rechten Hand hält sie eine geflügelte Statue, in der linken einen Schild mit einer Schlange nach innen und mit dem Medusenhaupt nach außen. Die Originalstatue war nicht, wie es immer heißt, aus Gold. Die Körperteile waren aus Elfenbein, die anderen Teile waren mit Gold überzogen.
Dann geht es schon weiter in die Römische Zeit. Hier gibt es vor allem Grabstelen, die man aber gar nicht als solche erkennen würde, denn sie stellen meist Alltagsszenen dar: eine Mutter umarmt ihren Sohn, der einen Ball in der Hand hält; eine Frau lässt sich von einer Sklavin, die vor ihr kniet, ihre Sandalen anziehen und stützt sich dabei ganz leicht auf dem Kopf der Sklavin ab; eine Mutter nimmt aus der Hand ihrer Sklavin ihr Kind entgegen. All das ist sehr realistisch gemacht. Später wird es dann fast kitschig: Junge mit Hund, Junge mit Ente. Der eine trägt eine lange Kappe und hält den Hund fest in seinen Armen, der andere, unbekleidet, hält seine Hand fest auf der Ente, die auf einem Balken sitzt, so als wolle er sie für den Schnappschuss gefangen halten.
Auch aus der Römerzeit stammt die ziemlich verstörende Bronzeskulptur eines Kinder-Jockeys. Das Pferd, viel zu groß für das kleine Kind, ist in vollem Galopp. Der kleine Körper des Jungen ist nach vorne gebeugt, so als werde er von der Bewegung nach vorne geschleudert. Sein Gesicht ist das eines Alten, mit tiefen Furchen auf der Stirn und einem Blick, der höchste Anspannung, vielleicht sogar Angst ausdrückt. Der Mund ist geöffnet. Ursprünglich hielt er in einer Hand die Zügel, in der anderen die Peitsche. Die Skulptur, aus dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, stammt aus einem Schiffwrack, das am Kap Artemison in Euböa gefunden wurde.
Schöner eine Dreierstatue mit Aphrodite, Pan und Eros. Pan, mit Bocksgesicht, Hörnern, Bocksfüßen, Fell an den Oberschenkeln, Schwanz, macht sich an Aphrodite ran. Eros kommt zum Schutz seiner Herrin herbeigeflogen und trennt ihn von ihr. Die selbst weiß sich aber auch zu helfen und hält drohend eine Sandale hoch. Schrecklich belästigt scheint sie sich aber nicht zu fühlen. Ihr Lächeln drückt eher Gelassenheit aus. Man sieht, dass die christliche Ikonographie für die Darstellung des Teufels Anleihen bei der Antike gemacht hat. Einige dieser Merkmale waren aber in der Antike nicht unbedingt negativ.
Dann kommt der Bronzekopf eines Mannes mit gekräuseltem, dichtem Bart. Es ist ein Sportler, und die Beschilderung sagt, Experten hätten aus gewissen Merkmalen gefolgert, dass es sich um einen Boxer handelt. Da möchte man doch gerne wissen, welche Merkmale das waren. Er hat zwar eine abgebrochene Nasenspitze, aber das ist wohl eher der Zahn der Zeit, der sie abgebrochen hat. Und ob man aus dem gefurchten Gesicht die Sportart ablesen kann, möchte man doch bezweifeln.
Das Museum hat auch eine gute Ägyptische Abteilung. Es ist schade, dass man dafür dann keine Zeit hat. Ich sehe mir nur noch ein paar der merkwürdigen Götterstatuen mit Tiergesichtern an: Hund, Katze, Falke, Widder, Pavian, alles vertreten.
Dann wird es Zeit für mein Treffen mit dem Erasmus-Koordinator. Wir haben uns diesmal an der alten Universität verabredet, im Zentrum.
An Ort und Stelle sehe ich mir vorher noch die Athener Trilogie an, die drei klassizistischen Gebäude, die hintereinander an der Panepistimiou stehen: Nationalbibliothek, Universität, Akademie der Wissenschaften. Alle drei sind von dänischen Architekten gebaut worden, zwei Brüdern, und die haben hier Elemente der Bauten auf der Akropolis verarbeitet. Die repräsentativen Bauten stammen aus einer Zeit, in der aus dem Dorf Athen wieder eine Großstadt wurde. Alle Bauten sind prächtiger als das Parlament, das ehemalige Königsschloss, bei dem auf Schlichtheit geachtet wurde.
Am besten gefällt mir die Akademie der Wissenschaften. Die große Freitreppe wird flankiert von zwei Philosophen, aber wer Sokrates und Aristoteles vermutet, hat sich geirrt. Es sind Sokrates und Platon. Oben auf dem Dach die Statuen Athenes und Apolls.
Die Universität ist das Gebäude in der Mitte. Vor dem Gebäude steht die Statue von Gladstone, einen Fuß auf einem Buch. Die britischen Philhellenen sind überall in Athen vertreten, auch in Platznamen, wie ich am Mittwoch feststellen konnte, als ich den Namen des Platzes, an dem mein Bus aus Kifisia ankommen sollte, Plateia Kanningos, nicht behalten konnte. Woraufhin mir die Kollegin aus der Anglistik auf die Sprünge half: Wie der britische Premierminister. –Ach so, Canning! In dem Moment fiel mir die Statue von Gladstone wieder ein, und ich fragte mich: Was machen die alle hier? Bis ich mir klar wurde, dass ich Gladstone damit bitter Unrecht tat. Auf einmal fiel es mir wieder ein: Der hat dicke Wälzer über Homer geschrieben und als erster gemerkt, dass es sich ganz merkwürdig mit den Farben bei Homer verhält: Er spricht selten über Farben, er gebraucht eine sehr kleine Farbpalette, und er gebraucht die Farben „falsch“, d.h. da, wo wir sie nicht benutzen würden: das weinfarbene Meer, ein violettes Pferd usw. Besonders komisch das völlige Fehlen von Blau in der gesamten Odyssee und der gesamten Ilias! Er hat sich also hier seinen Platz redlich verdient.
Auf der Freitreppe der Universität werde ich schon erwartet. Ich werde in die Aula geführt, wo offizielle Feiern stattfinden, darunter die Abschlusszeremonien der graduierten Studenten – auch in Griechenland lange in der Versenkung verschwunden, jetzt wiederbelebt. Hier hat auch Habermas vor vollem Haus gesprochen, auf Einladung meines Kollegen. Dann werde ich sogar dem Rektor und seiner Beauftragten für internationale Fragen, einem kleinen Energiebündel, vorgestellt. Die haben natürlich Besseres zu tun, als irgendeinen Erasmus-Austauschdozenten aus Deutschland zu begrüßen, sind aber sehr freundlich.
Dann gehen wir in die Kantine der Universität, die aber ein vollwertiges Restaurant von eher nobler Art ist. Ich erfahre, dass mein Kollege durch ein DAAD-Lektorat nach Athen gekommen und hier hängen geblieben ist. Er hat inzwischen den größeren Teil seines Lebens in Griechenland verbracht. Durch seine zweisprachig aufwachsenden Kinder und seine Frau, die selbst auch Germanistin ist – und in Deutschland eine Geschichte der griechischen Literatur veröffentlicht hat – hat er allerdings immer Kontakt zu Deutschland gehalten, nicht zuletzt natürlich auch durch seine Arbeit in der Germanistik und seine Arbeit mit den Austauschprogrammen. Er ist wirklich Grieche geworden, ohne aufzuhören, Deutscher zu sein.
Er habe früher, erzählt er, in einer Mietwohnung am Meer gewohnt, was dann aber, als die Kinder kamen, zu unpraktisch, da zu weit von der Universität und der Deutschen Schule entfernt wurde. Jetzt hat er ein Haus im Norden Athens. Von da aus kann er bei günstigen Umständen in einer Viertelstunde an der Schule und an der Universität sein. Sein Sohn geht in den universitären Kindergarten.
Die Tageskarte des Lokals, wo man sehr zuvorkommend bedient wird – es ist allerdings auch so gut wie leer – enthält nur Fisch. Es ist Fastenzeit. Das griechische Osterfest kommt erst noch. Und die Universität versucht die Traditionen aufrechtzuerhalten. Es gibt aber noch eine zweite Karte, und da gibt es dann auch Fleischspeisen.
Er fragt mich etwas besorgt, wie ich denn in meinem Viertel, der Exarchia, zurechtkäme. Er scheint Befürchtungen zu haben, dass man da unter die Räder komme und in Schlägereien, Pöbeleien und Demonstrationen verwickelt zu werden. Davon habe ich bis jetzt nichts mitbekommen.
Er fragt mich nach dem Akropolis-Museum und teilt meine positive Einschätzung. Es sei jahrelang der Renner und der Anziehungspunkt überhaupt für Touristen gewesen. In Athen werde es oft als zu wuchtig kritisiert. Das gelte für den Eingangsbereich und auch die Vorhalle. Die mächtigen Säulen lenkten von den Exponaten ab. Kann ich nicht sagen. Bei mir war es eher das Gegenteil. Ich habe die Architektur nur am Rande wahrgenommen. Gestört haben mich nur die Rolltreppen. Als ich am Abend noch mal an dem Museum vorbeigehe, muss ich im Nachhinein den Kritikern doch etwas Recht geben. Man hätte die Sache auch etwas weniger bombastisch gestalten können.
Den „türkischen“ Kaffee zum Abschluss nimmt er zum Anlass, etwas zum Verhältnis von Griechen und Türken zu sagen. Das habe sich gebessert, und er selbst reise gerne in die Türkei, aber in der politischen Auseinandersetzung seien es die Türken, die Aggressivität in die Sache brächten und die Verhandlungen erschwerten.
Dann verabschiedet er sich zu einem Mittagschlaf. Er ist eine Lerche, ein Frühaufsteher. Es gibt Tage, sagt er, wo er schon um vier Uhr aufsteht. Soll es ja geben. Das ist die Zeit, wo die Kollegin aus der Anglistik ins Bett geht.
Ich mache einen Versuch, die Sprachschule von damals wiederzufinden. Ich habe aber kaum noch Angaben, und auch im Internet werde ich nicht so richtig fündig. Ich glaube aber, den Namen der Straße zu wissen. Die gehe ich einmal auf und ab, aber nichts kommt mir bekannt vor, und ich finde auch kein Hinweisschild. Damals sah es so aus, als wolle die Schule sich ganz nach Ikaria verlegen, wo sie ursprünglich eine Filiale für Sommerkurse hatte.
Ich gehe noch einmal durch die Plaka, ganz langsam, ohne auf der Suche nach irgendetwas zu sein. Überall sieht man die Schilder Zu Verkaufen und vor allem Zu Vermieten. Die Krise ist spürbar. Selbst an dem berühmtem Cine Paris, dem Freilichtkino, steht Zu Vermieten. Ob sich das auf das Kino bezieht oder den Posterladen unten, kann ich nicht herausfinden.
Ich komme noch einmal an der Odos Tripodos vorbei und dem Choregen-Denkmal. Jetzt lese ich, dass er erhalten blieb, weil es in ein christliches Kloster integriert wurde. Da wohnten unter anderem Byron und Chateaubriand.
Dann treibt mich der kühle Wind aber wieder nach Hause. In Deutschland soll schönstes Frühlingswetter sein.
Dafür bewältige ich noch eine sprachliche Aufgabe, die vor einer Woche noch viel zu schwer gewesen wäre. Ich möchte ein paar Süßigkeiten mit nach Hause nehmen und gehe dazu in eine Konditorei in Exarchia, die mir am Tag zuvor aufgefallen ist. Die Verkäuferin spricht kein Englisch. Glücklicherweise habe ich mir für diesen Notfall ein paar Wörter zurechtgelegt. Ich möchte die Sachen in zwei unterschiedlich großen Schachteln haben, und zwar gemischt, und so verpackt, dass sie die Reise überstehen. Es stellt sich dann heraus, dass die Verkäuferin selbst keine Griechin, sondern Albanerin ist, aber schon seit 18 Jahren in Griechenland lebt. Einen Unterschied zwischen ihrem Griechisch und dem der Griechen kann ich allerdings nicht hören. Soweit bin ich noch nicht gekommen.