Istanbul (2006)

20. März (Montag)

Als ich im Hotel in Istanbul (19.30 Ortszeit) ankomme, bin ich fast zwölf Stunden unterwegs, obwohl der Flug gerade mal drei Student dauert.

 

Die Reisezeit für Lektüre genutzt: eine amerikanische Sammlung englischer mondegreens und ein Theaterstück von Thomas Bernhard, Heldenplatz, eine wilde Polemik gegen Gott und die Welt, gegen Wiener und Grazer und Oberösterreicher und Österreicher überhaupt, gegen Katholiken und Kommunisten, gegen Nationalsozialisten und Salonsozialisten, gegen Theaterleute und Politiker, gegen Deutsche, Engländer und Schweizer und gegen die deutsche Literatur, gegen das Bürgertum und deren Presse. Sehr provozierend und gut zu lesen, aber von keinem besonderen literarischen Wert. Dabei fing es gut an und schien eine psychologische Studie des jüdischen Professors zu werden, der sich das Leben genommen hat, aber diese bleibt im Ansatz stecken.

 

Im Flughafen neben einer Deutschen gesessen, die teils in Deutschland, teils in Istanbul wohnt und über den immer schlechter werdenden Service einschließlich des Essens bei der Lufthansa klagt. Die Stewardess liefert immerhin eine Erklärung: Personalabbau. Wo früher vier Stewardessen tätig waren, sind es jetzt nur noch zwei. Das erklärt natürlich nicht das erbärmlich schlechte Essen.

 

Am Flughafen zuerst Geld aus dem Automaten holen wollen, dann aber lieber umgetauscht, um zu wissen, was das Geld wert ist. Für 100 € gibt es 160 Lira. Das lässt sich ganz gut rechnen.

 

Draußen dämmert es schon, obwohl es gerade einmal halb sieben ist, und kurz darauf ist es stockdunkel. Am Flughafen gibt es Busse, die in die Innenstadt fahren, aber nicht nach Sultanahmet. Ich soll trotzdem mitfahren und von Aksaray aus ein Taxi nehmen. Im Bus sitzen erstaunlicherweise nur Türken. Es geht langsam durch den dichten Verkehr. Als ich dann aussteige, bin der einzige, alle anderen fahren weiter. Ich stehe jetzt ziemlich verlassen allein mit Gepäck auf der Busspur mitten auf einer vielbefahrenen, dunklen Straße und weiß nicht, wie es weiter gehen soll, aber ein junger Mann mit Handy hilft mir unaufgefordert. Er macht einen Anruf, um zu erfahren, wo genau das Hotel liegt, winkt ein Taxi herbei, hält mir die Tür auf und nennt mir sogar den ungefähren Fahrpreis. Darin täuscht er sich allerdings gewaltig.

 

Jetzt geht es los, so als wolle der Fahrer die verlorene Zeit aus dem Bus wieder rausholen, mit Drängeln, Hupen, Fluchen, nah Auffahren, ständigem Spurenwechsel. Über die schlecht beleuchteten Straßen huschen Menschen, die man manchmal erst im letzten Moment sieht. Ein Gefühl von Havanna. In der Ferne sieht man angestrahlte Moscheen mit ihren Minaretten und Kuppeln, Istanbul von seiner schönsten Seite. Jetzt merke ich, dass die vielstimmigen, lebhaften Dialoge, die man die ganze Zeit im Taxi hört, gar nicht aus dem Radio kommen. Der Fahrer hat vorne einen Bildschirm. Die Dialoge kommen aus dem Fernseher! Als jetzt auch noch das Handy klingelt und er mit links telephoniert, beginne ich mir zu wünschen, wir würden ankommen. Die genaue Lage des Hotels ist unbekannt, aber glücklicher weise stehen an allen Ecken Gruppen von Männer, die nur darauf zu warten scheinen, gefragt zu werden, und irgendwie kommen wir dann wirklich n, auch wenn die zum Fragen heruntergekurbelte Fensterscheibe sich nicht mehr hochkurbeln lässt.

 

Im Hotel, in einer Fußgängerzone in der Altstadt gelegen, werde ich mit einem freundlichen „Guten Abend!“ begrüßt, noch bevor ich den Mund aufgemacht habe. Liegt es am deutschen Gesichtsausdruck? Vielleicht doch nicht. Der Mann an der Rezeption macht mich darauf aufmerksam, dass ich einen Voucher einer deutschen Reisegesellschaft in der Hand halte. Beim warten wird ein Erfrischungsgetränk und ein Stück Turkish Delight serviert, und ein Page steht bereit, um das Gepäck aufs Zimmer zu tragen. Der Page scheint mich aber loswerden zu wollen, aus gutem Grund: Die Aufzüge sind so klein, dass wir nicht zusammen in einen reinpassen.

 

Beim Auspacken hört man den immer wieder exotisch klingenden Gebetsaufruf des Muezzin. Nach dem Auspacken bleibe ich der Einfachheit halber zum Abendessen im Hotel. Das jedenfalls war die Intention. Auf einer großen Tafel steht das Menu, und der Kellner sagt mir, man könne mit Lira oder Euro zahlen. Dann führt er mich aber an einen verdächtig niedrigen Tisch und muss erst das Licht anmachen, da sonst kein Gast da ist. In der Annahme, mir einen Gefallen zu tun, schaltet er den Fernseher auf einen deutschen Privatsender. Unabhängig davon, läuft im Hintergrund die türkische Musik im Radio weiter. Bald kommt ein Bier, aber als immer noch nichts vom Essen zu sehen ist, als das zweie Bier kommt, frage ich doch mal vorsichtig nach. Essen? Nein, davon sei nicht die Rede gewesen. Das Restaurant sei unten. Ich verzichte auf einen weiteren Versuch und besorge mir ein richtig nahrhaftes Essen an einem Kiosk: Bier, Cracker und Erdnüsse. Es ist warm genug, um ohne Jacke über die Straße zu gehen.

 

Zum Abendessen gibt es im Fernsehen „Wer wird Millionär?“ auf Türkisch. Die Fragen sind so lang, dass sie nur mit großer Not in die zwei Zeilen passen. In der Pause gibt es Werbung für Bosch, Bauhaus und Doktor Oetker.

 

21. März (Dienstag)

Am Morgen von der Sonne geweckt. So früh es abends dunkel wird, so früh wird es morgens hell.

 

Im Bad eine unbekanntes, rätselhaftes Piktogramm mit einem Wasserhahn und einem durchgestrichenen Eimer. Darunter ein vielsprachiger Zusatz: Den Stöpsel für die Badewanne gibt an der Rezeption.

 

Im Fernsehen die türkischen Teletubbies gesehen, die gerade die Zahl 4 lernten. Genau mein Niveau. Von der Methodik können sich die Lehrbücher eine Scheibe abschneiden. Die ständige Wiederholung in jeder denkbaren Variation, gesprochen und gesungen, einzeln und gemeinsam, isoliert und im Zusammenhang, Vorsprechen und Nachsprechen und die immer wieder neu aus dem Gras wachsende 4 als visuelle Stütze sind das, was der Lerne braucht. Selbst das ist noch schwer genug, denn wenn die Teletubbies  eins – zwei sagen, bir – iki, verstehe ich birki, als wenn es ein Wort wäre, und erst bei der x-ten Wiederholung wird mir klar, was es heißt. Aber immerhin: Es wird mir klar. Allerdings prägt sich mit den Wörtern leider auch die unsägliche Melodie ein.

 

Opulentes Frühstücksbüfett mit mehreren „Gängen“ und großer Auswahl, vor allem bei Oliven und Gebäck, zwei Dingen, die offensichtlich keineswegs als unvereinbar gelten. Etwas, das wie Kaviar aussieht, erweist sich als Honig. Der schwimmt in einer Schale mit einem schwarzen Gebilde, den Waben – dem vermeintlichen Kaviar. Neben dem Büfett schwimmen auch ein paar Goldfische in einem Bassin. Ob sie auch Teil des Frühstücks sind, wird nicht verraten.

 

Auch hier, mitten im Touristenviertel, beim Frühstück hauptsächlich Türken. Am Nebentisch vier grobschlächtige Männer mit kantigen Gesichtern, weiten Hosen und selbstgestrickten Pullovern, die aussehen, als kämen sie aus der zentralasiatischen Steppe. Was die wohl hier machen?

 

Denn der abenteuerliche Versuch, etwas am PC in der Eingangshalle zu schreiben. Nicht einmal das Word Programm finde ich, eine Diskette verschwindet in einem Fach, für das sie nicht vorgesehen ist, <ß> und <ä> gibt es nicht, und Punkt, Komma, <ü>, <ö> und <z> befinden sich an anderen Stellen. Außerdem öffnet sich ständig die Eingangstür gleiche neben dem PC und bringt Durchzug. Am Ende muss der Manager gerufen werden. Er schraubt den PC auf, rettet die Diskette, rettet die schon verloren geglaubte Datei, überträgt sie auf einen anderen PC, der aber auch kein Diskettenlaufwerk hat und dessen CD-Rom-Laufwerk blockiert ist. Schließlich schickt er mir die Datei als Anlage per E-Mail nach Hause (wo sie aber nie ankommt) und macht netterweise einen Ausdruck. Als ich den lese, merke ich ,dass ich kein einziges <i> geschrieben habe, sondern immer das an dessen Stelle befindliche türkische <ı>. Wırkt ırgendwıe zıemlıch bızarr – fınde ıch.

 

Dann ins Archäologische Museum, auch im Bereich des Topkapı-Palasts gelegen und in Fußentfernung vom Hotel. Es ist auf drei Gebäude verteilt, von denen heute zwei geöffnet sind, auch so mehr als genug.

 

Im ersten Gebäude gleich hinter dem Eingang antike Inschriften aus aller Herren Länder in Marmor, Alabaster und Kalkstein.

 

Dann Löwen aus der Prozessionsstraße in Babylon (VI BC), die das Ischtartor mit dem Tempel verband und 300 Meter lang war. Zu beiden Seiten Löwen im Halbrelief auf glasierten blauen Ziegelsteinen, etwa lebensgroß, in Vorwärtsbewegung, mit aufgerissenem Maul und aufgerissenen Augen und langem, gekrümmten Steif, ganz raffiniert gemacht.

 

An allen Ecken riesige Reliefs, Säulen, Statuen, überwältigend in Größe, zahl und Alter.

 

Hinter einer Glasscheibe der Vertrag von Kadesch, eine der berühmtesten Schriften überhaupt, der älteste Friedensvertrag der Welt (1269 BC), geschlossen zwischen Ägyptern und Hethitern, geschrieben in Keilschrift auf Terrakotta-Tafeln und verfasst auf Akkadisch, der internationalen Geschäftssprache der Zeit. Von dem Vertrag gibt es drei Versionen, wobei die ägyptische von Ramses II „editiert“ wurde, damit der Anteil der Ägypter am Zustandekommen des Friedens deutlicher wurde (der eigentlich nur die Folge einer gerade noch verhinderten Niederlage in einem Feldzug war).

 

Die Schrift kam durch den Handel in das bis dahin schriftlose Anatolien, und zwar durch die Assyrer, die die Keilschrift kannten. Anatolien hatte Gold und Silber, aber kein Zinn, das zum Herstellen von Bronze benötigt wurden. Darin erkannten die Assyrer ihre Geschäftschancen und errichteten Handelskolonien in Anatolien.

 

Daneben viele andere Tafeln mit Inschriften, die die Entwicklung der Keilschrift zeigen, aber nur für Besucher mit guten Augen geeignet sind.

 

An einer Wand das riesige Basaltrelief eines hethitischen Königs, der in Anwesenheit eines Gottes betet, die Hände nach oben und senkrecht vor das Gesicht haltend.  Der König, Warpalas, in Lebensgröße dargestellt, steht ehrfürchtig vor dem noch viel größeren Gott, Tarhunza, einer Art Rübezahl, mit breiten Waden und Unterarmen. Der Gott trägt am Gürtel eine volles Bündel runder Weintrauben. Beide haben eckige, sauber getrimmte und kunstvoll gedrechselte Bärte und aufgeblähte Nasenflügel, vermutlich feste Bestandteile des Schönheitsideals der Zeit (8 BC).

 

Im gegenüberliegenden Gebäude gleich am Eingang die Statue des Halbgottes Bes, einem Wesen von unbeschreiblicher Kraft, der mit angespanntem Bizeps mit den Händen einen gefangenen Löwen mit dem Kopf nach unten hält. Zwischen den Beinen prangt ein riesiges Loch. Das fehlende Teil der Statue soll ursprünglich gezeigt haben, dass sie Manneskraft des Halbgottes ebenso beeindruckend war wie sein Bizeps.

 

In zwei eigenen, abgedunkelten Räumen das berühmteste Stück des Museums, der sog. Alexandersarg, eigentlich viel mehr als das, nämlich die Ausstattung einer ganzen Nekropole.

 

1887 wurden von einem Bauern entdeckt. In Sidon, Archäologen finden zwei unterirdische Grabkammern mit 18 Sarkophagen, einige nach Istanbul, jeder mehrer Tonnen anthropomorphe  Sarkophage in ägyptischem Stil und griechischen Stil, andere in Kastenform mit Kriegs- und Alltagsszenen an den Seiten, sehr gut erhalten. Auch Details gut erkennbar, z.B. zwei Zentauren, deren hochspringende Pferde sich ineinander verkeilt haben und die jetzt mit Speeren aufeinander losgehen. Beide Zentauren haben ganz moderne Köpfe, könnten in jeder Talkshow auftreten ohne aufzufallen, der eine mit welligem, der andere mit lockigem Haar und Bart.

 

Andere Sarkophage fast ohne bildliche Darstellungen, ganz einfach aussehend, ohne es zu sein. Bei einem zieht sich ein geometrisches und florales Muster um alle vier Seiten des Sarkophags, selbst die Ädern der Blätter sind genauestes ausgestaltet, und das Dach des Sarkophags hat Ziegelsteine, die von Zierbändern zusammengehalten werden und oben und unten in kleinen Fialen auslaufen.

 

Der Alexandersarkophag selbst gehörte nicht, wie früher angenommen, Alexander selbst, sondern einem von ihm eingesetzten Stadtkönig von Sidon. Er war ursprünglich farbig gefasst, was noch gut zu erkennen ist, und die Krieger hielten tatsächlich silberne Speere, Äxte und Schilder in der Hand, die aber alle die Beute von Grabräubern wurden.

 

Die Schlachtenszenen sind sehr realistisch, und wahrscheinlich sollten die Szenen eine bestimmte historische Schlacht darstellen, vermutlich die von Issus, aber tatsächlich handelt es sich um reine Propaganda. Die Perser werden überwiegend als Gefallene, Getötete, Unterlegene und erschrocken Dreinblickende dargestellt, die nur reagieren können, obwohl sie in der Mehrheit sind, die Griechen agierend und unerschrocken. Es liegt aber auch ein getöteter Grieche am Boden. Man musste ja auch darstellen, dass man es mit einem ernsthaften Gegner zu tun hatte.

 

Die Perser sind an ihrer Kleidung, vor allem an ihrer Kopfbedeckung zu erkennen, die wie die Hauben der Frauen im XIX, durch ein Band unter dem Kinn festgehalten werden.

 

Als ich mich in eine Ecke setze um Notizen zu machen, wird es plötzlich laut und eine ganze Horde von Kindern betritt mit einer ganzen Reihe von Lehrern die Museum. Es geht ausgesprochen lebhaft, aber auch sehr diszipliniert zu.

 

Die Sonne lockt mich wieder nach draußen., Ein Touristenpolizist, der für diese Aufgabe sehr stark bewaffnet ist, antwortet auf meine Frage nach einer Straßenbahn nach Eminönü, dahin könne man auch gut zu Fuß gehen, ein guter Tipp nach dem Museum. Ich komme an einem Schild vorbei, auf dem das Wort Müdürlügü steht, so als wolle es die türkische Vorliebe für das ü dokumentieren. Es geht über eine belebte Straße mit vielen Geschäften, immer der Straßenbahn entlang. An einem der kleinen Läden kaufe ich eine kleine Flasche Wasser, und als der Verkäufer den Preis nennt, Vier, glaube ich sofort, über den Tisch gezogen zu werden, bekomme dann aber einen Haufen Wechselgeld für meine Fünfliraschein. 4 bedeutet in der traditionellen Diktion, die sich auf die alte Währung bezieht, 400, und das sind heute 40 Kuruş, also nur ein Zehntel dessen, was ich glaubte, zahlen zu müssen, nicht einmal eine halbe Lira, knapp 30 Cent.

 

An einer Ampel steht ein Hinweis für Fußgänger, in dem das Wort Yaya’ya vorkommt. Man muss eine Sprache einfach lieben, die Wörter wie Yaya’ya hat. Später erfahr ich, dass es ‚für die Fußgänger’ heißt.

 

Kurz darauf komme ich schon nach Eminönü, wo die Fähen und Schiffe durch den Bosporus abfahren. Die Taubenplage auf dem Platz vor der gegenüberliegenden Moschee wird noch forciert, indem alte Frauen für wenig Geld Taubenfutter verkaufen.

 

Wie von selbst befinde ich mich auf einmal vor dem Mısır Carcısı, dem Gewürzbasar, dem Ägyptischen Basar. Die Gewürze, in unendlichen Variationen und Farben, Basilikum, Rosmarin. Oregano, Minze, Safran, Curry, Chili, Pfeffer und viele andre, in kunstvoll errichteten Pyramiden aufgeschichtet, sind eine reine Augenweide.

 

Zwischen die Gewürzstände haben sich längst viele andere Stände geschoben. An einem Stand wird ein Walnussgebäck als „Türkische Viagra“ angeboten.

 

Eigentlich unterschiedet sich der Gewürzbasar nicht wesentlich  vom Großen Basar, ist aber voller und chaotischer, und auch hier hat sich der Basar über die eigentliche Halle hinaus in die umliegenden Gassen ausgedehnt. Männer mit Schubkarren, Männer mit riesigen runden Tabletts auf dem Kopf und, am rätselhaftesten, Männer mit einer mobilen, von einem leise summenden Motor betriebenen Photokopiereinheit zwängen sich durch die Menge.

 

Außerhalb des Basars, auf dem geschützten, baumbestandenen  Vorplatz einer weiteren Moschee, lasse ich mich gerne zu einem Kaffe überreden, und nehme auch die Dienste des Schuhputzers an, aber erst, nachdem ich einen festen Preis ausgehandelt habe. Ich will ihm schon die Schule entgegen strecken, als er mir plötzlich Pantoffeln hinstellt und sich mit den Schuhen an den Rand des Platzes verzieht. Als ich den Kaffee bestellt habe, ist der Schuhputzer samt meiner Schuhe verschwunden, und ich sehe mich schon in Pantoffeln zum Hotel zurücklaufen, als er plötzlich wieder auftaucht und mir ein paar Nüsse auf den Tisch legt.

 

Noch mehr Geschäfte gibt es auf dem steilen Weg zur Süleyman-Moschee, meistens Textilgeschäfte, ziemlich ärmlich aussehend. Hier floriert in erster Linie der Handel mit Kopftüchern, und die werden meistens von Männern verkauft – und gekauft.

Eins kann man den Kopftuchverfechtern aber nicht absprechen: Die Frauen sehen damit wirklich unansehnlicher aus.

 

Dann plötzlich, fast ganz oben, zwei teure Geschäfte mit modischer Kleidung und zwei mit Reizwäsche, ganz in der Nähe der Moschee.

 

Auf dem Platz vor der Moschee gibt es Toilettenhäuschen, und wieder verwirren mich die Preise und ich zahle 500 statt der verlangten 50. Auch das sind gerade mal 30 Cent.

 

Dann muss ich aber feststellen, dass ich  den ganzen Weg umsonst gemacht habe, denn die Moschee, vor der ich stehe, ist nicht die Süleyman-Moschee.

 

Auf dem Weg nach unten sehe ich das Wort Kebab auf dem Wagen eines Kastanienverkäufers: Kastane Kebab.

 

Unten auf dem Platz angekommen, gönne ich mir einen Maiskolben, muss mich dann aber auf dem Rückweg fragen, was man mit einem angeknabberten Maiskolben macht. Papierkörbe gibt es nicht, und man wirft kleineren Unrat zwar ohne Bedenken in die Schlaglöcher des Bürgersteigs, aber keine Maiskolben. Als ich endlich eine Lösung gefunden habe, kaufe ich mir an einem Stand eine Mandarine, und jetzt habe ich dasselbe Problem mit den Mandarinenschalen. Die landen am Ende im Papierkorb des Hotelzimmers. Beim Mandarinenverkäufer bekomme ich auch einen frisch gepressten Orangensaft. Hervorragend.

 

Den Heimweg habe ich angetreten, weil auch die zweite Moschee, die, die der Maiskolbenverkäufer mir gezeigt hat, nicht die Süleyman-Moschee ist.

 

22. März (Mittwoch)

Schon vor dem Frühstück raus, um ein paar Photos zu machen, von der Hohen Pforte und von einem Teppichgeschäft, das sich an einer Seite als „Gallery“, an der anderen als „Galery“ annonciert.

Dann weitere Versuche, türkischer Kollegin eine SMS zu schicken. Zwei Versuche schon umsonst: 0090 und 090. Jetzt 90?

 

An der Rezeption werde ich auf die Frage, wo ich einen Kamm kaufen kann, erstaunlicherweise auf den Ägyptischen Basar verwiesen. Das Wort für ‚Kamm’, tarak, habe ich vorsichtshalber vorher nachgeschlagen.

 

Nach Frühstück zu Hagia Eirene: ımmer noch geschlossen, und immer noch kein Schıld, dass sie geschlossen ist.

 

Beim Warten auf Straßenbahn nach Eminönü einen iranischen Englischlehrer kennen gelernt, dessen Muttersprache Türkisch ist. Im Norden Irans gibt es eine türkischsprachige Minderheit! Er hält gar nichts von den Englischkenntnissen der Türken. Sie seien träge und unbegabt, und die Methoden seien von vorgestern: „Wenn wir so viele Touristen hätten, würden wir besser sprechen“.

 

In Eminönü diesmal in einem weiten Bogen Anlauf zur Moschee genommen, die von unten gut sichtbar ıst, dann aber dem Blick entschwindet, eine Art Sitzriese. Aber diesmal klappt es. Ein steiler Weg führt an einer hohen Mauer entlang aus dem geschäftigen Vıertel unterhalb der Moschee in den von erhabener Ruhe geprägten Bezirk der Moschee. Hier gibt es weder Schlepper noch Händler. Vielleicht ıst es nur zu früh. Die Moschee gilt als die schönste Istanbuls. Wie sie in nur sieben Jahren gebaut werden konnte, ist mir ein Rätsel. Auch wenn damit nur der Rohbau gemeint sein sollte.

 

Ein Moscheewärter, der sieht, dass ich Notizen mach, kommt auf mich zu. Ich erwarte einen Rüffel, aber satt dessen bietet er mir an, mich zu setzen und weist auf einen kleinen erhöhten Sockel. Beim Herumsehen fällt mir auf, dass die Zahl der Fenster an den beiden Stirnseiten 13 beträgt. Ob das eine Bedeutung hat? In christlichen Kirchen würde man vermutlich die 12 vorziehen.

Auffallend auch, dass die einzelnen Bauelemente auch in einer christlichen Kirche vertreten seın könnten, ja auch der gesamte Bau könnte vielleicht eine christliche Barockkirche sein, auch wenn die vermutlich keinen quadratischen Grundriss hätte. Erst die Verzierungen und die nicht tragenden Teile geben dem Raum die typisch orientalische Atmosphäre. Dazu gehören auch die niedrig hängenden Lampen. Das soll daran liegen, dass die früher mit Kerzen bestückt waren und deren Qualm die Malereien in der Kuppel beschädıgt hätten, hätten sie höher gehangen.

 

Prägend für den Eindruck sind auch die farbig abgesetzten Bögen, dıe den Hauptraum vom Rest trenne, mal in Grau und Weiß, mal in Rot und Weiß. Der gesamte Innenraum wird über Geraden und Runden und Ecken von eınem Rundgang auf Geschosshöhe durchzogen, der ein fein geschmiedetes Geländer hat und auf hölzernen Konsolen zu ruhen scheint. Zwischen den Konsolen befindet sich, nur von unten zu sehen, jeweils eine kunstvoll gearbeitete Verzierung. Davon gibt es Dutzende, und die alleine entsprechen der Dekoratıon, dıe sonst vielleicht ein gesamtes Kirchengebäude vorweıst, und hier sind sie nur ein verschwindend kleiner Teıl der Dekoratıon, die man glatt übersehen könnte.

 

Wieder draußen sieht man im Innenhof die vier Minarette mit den insgesamt zehn Balkonen, Zahlen, die symbolisch interpretiert werden: sie stehen für Süleyman, den insgesamt zehnten und den vierten in Istanbul residierenden Sultan, den Erbauer und Namensgeber der Moschee.

 

Im Umkreis der Moschee, zu der auch ein Hospiz, ein Krankenhaus und eine Schule gehören, auch die Grablege Süleymans und seiner Mätresse Roxana, die legendären Einfluss auf die Politik des Sultans hatte. Beide sind getrennt in achteckigen Kapellen begraben. Beim Sultan wird erstaunlicherweise gebetet, und ich trete bald meinen Rückzug an.

 

Auf dem Rückweg von der Moschee eine ganz in Schwarz, verhüllt wie eine Nonne gekleidete Frau gesehen, die die elegante Tragetasche einer Modefirma trägt – auch in Schwarz.

 

Dann mache ich den Versuch, einen Kamm zu kaufen. Geschäfte gibt es hier genug, aber sie scheinen alle nur Eimer, Zuber und Wäscheklammern zu verkaufen. Schließlich nehme ich allen meinen Mut zusammen und frage einen wie alle anderen müßig vor dem Geschäft stehenden Mann: Kamm? Erst versteht er meine Frage gar nicht, dann, als ich sie wiederhole, zückt er einen Kamm, lässt ihn aber sofort wieder verschwinden, denn er fürchtet wohl, dass ich ihn bitten könnte, ihn auszuleihen. Dann versuche ich es mit Kamm wo?, aber das löst einen Wortschwall aus und das Gespräch verläuft im Sande. Ich ziehe ab, und als ich schon ein Stück die Straße hinunter gegangen bin, ruft er mich plötzlich zurück. Er hat Rücksprache mit seinem Gegenüber genommen. Jetzt führt er mich in sein Geschäft und zeigt mir eine Schachtel voller Kämme.

 

Auf dem Rückweg zum Hotel findet ein Schuhputzer es gut, dass ich mir die Schuhe habe putzen lassen. Trotz der Konkurrenz sind sie auch Verbündete, wie die verschiedenen Anbieter eines Autos oder eines Putzmittels oder eines Parfums in der Industrie. Er will wissen, wie viel ich bezahlt habe: „Two“ – „Good. Normal“.

 

Wie in Spanien, wird der Verkehr hier von laut pfeifenden und wild gestikulierenden Verkehrspolizisten geregelt, deren Arbeit zum Verkehrfluss nichts beiträgt, wohl aber zum Lärmpegel.

 

Nach Pause im Hotel am Abend noch einmal rausgegangen, nachdem ich im Reiseführer gelesen habe, dass das Hotel ganz in der Nähe der Hohen Pforte ist. Nach einigem Suchen stellt sich heraus, dass es ein Tor ist, an dem ich schon mehrmals vorbeigekommen bin, ein schön dekoriertes, gar nicht sonderlich hohes Tor, das den Eingang zur ehemaligen Residenz des Wesirs markierte. Das Tor hat ein elegant geschwungenes Vordach und darunter arabische Inschriften in Gold auf bordeauxrotem Grund. Zu beiden Seiten wird es flankiert von Brunnen, die ebenfalls von einem geschwungenen Vordach geschützt sind. Das Tor liegt gleich gegenüber der Mauer zum Gülhane Palast, und an dieser Stelle, wo die Mauer eine scharfe Kurve macht, ist auf der Ecke ein achteckiger schöner Pavillon in die Mauer eingelassen. Von dort aus konnte der Sultan beobachten, wer so bei seinem Wesir verkehrte.

 

Dann lande ich noch ungewollt im Gülhane Park, der wegen seiner schummrigen Beleuchtung und seiner Bäume und Lauben der ideale Rückzugsort für junge Liebespaare ist. Dann öffnet sich plötzlich der Blick auf den Bosporus, und dann komme ich an verschiedenen Sehenswürdigkeiten vorbei, über die ich zufällig vorher im Reiseführer gelesen habe, einer Statue des sitzenden Atatürk, einem Teegarten und einer historischen Säule, die etwas mit der Gründung von Byzanz zu tun haben soll. Dann komme ich am anderen Ende des Palasts wieder hinaus und will lieber über befahrene Straßen den Rückweg antreten, aber hier versperrt eine Eisenbahntrasse den Weg in die Altstadt. Also mache ich mich wieder auf den Weg in den Park und plötzlich taucht aus der Dunkelheit ein Soldat mit Maschinengewehr vor mir auf, der sich drohend vor mir aufbaut und gleich einen ebenso schwer bewaffneten Kameraden zu Hilfe ruft. Ich trete sofort den Rückzug an und finde diesmal den richtigen Eingang zum Park. Jetzt wirken bei der schwachen Beleuchtung die bizarren Formen der Bäume ziemlich gespenstisch, und ich bin froh, als ich wieder am anderen Ende herauskomme. Wieder in der Altstadt, gibt es zur Beruhigung einen leckeren Döner auf die Hand für den sensationellen Preis von 2 Lira.

 

23. März (Donnerstag)

Beim Frühstück in der Cafeteria der Uni hole ich mir zum Tee ein Gebäck, das aussieht, als enthielte es Schokolade. Die Schokolade entpuppt sich als Spinat.

 

Nach der Vorlesung und einem Gespräch mit der Chefin der Anglistik Ausflug zum Bosporus mit Tom und Ayşem. Wieder geht es, wie letztes Jahr, nach Ortaköy. Ayşem verzichtet diesmal auf die touristische Route und lenkt den Wagen ziemlich sicher durch den dichten Verkehr. Unterwegs erfahre ich, dass Marlowe, wie Peter, aus Canterbury stammte. Er gehörte einer Ar konspirativen Vereinigung um Walter Raleigh an, die die herrschende Ideologie der Zeit in Frage stellte, vor allem religiöse Vorstellungen.

 

Das der Uni am nächsten gelegene Viertel heißt Yenibosna, ‚Neu-Bosnien’, dann kommen wir durch ein Viertel mit besonders unansehnlichen Hochhäusern, das Sirenevler heißt, ‚schöne Häuser’.

 

Kurz vor Ortaköy stehen wir vor einer roten Ampel, die die noch verbleibenden Sekunden der Wartezeit zählt. Man macht die erstaunliche Entdeckung, dass man gar nicht lange wartet.

 

In Ortaköy bekommen wir bei passablem Wetter in einem der Lokale gleich am Bosporus sitzend ein durchwachsenes Essen nach der Art der internationalen Durchschnittsküche.

 

Dann geht es mit einer Fähre zu dem auf einer winzigen Insel vor der asiatischen Küste gelegenen Leanderturm. Der hat gleich zwei Legenden aufzuweisen, eine östliche und eine westliche. Die östliche sieht die Insel als den Ort, an dem ein König seine Tochter in Sicherheit brachte, nachdem geweissagt worden war, sie werde an einem Schlangenbiss sterben. Am Ende gelang es aber einem Verschwörer, eine Schlange auf die Insel zu bringen. Der westlichen zufolge ist die Insel der Ort der Leandersage, die aber, den klassischen Autoren zufolge, nicht im Bosporus, sondern in den Dardanellen spielte. Der Name des Turms, Kız Kulesi, ‚Mädchenturm’, spielt auf die östliche Legende an. Außerhalb der Legende war die Insel eine Art Zollstation, schon in der Antike, und ein Leuchtturm im Mittelalter.

 

Unten gibt es ein vornehmes Restaurant, oben ein kleines Café, und auf den Zwischenstationen einen Souvenirladen, eine Touristeninformation und Bänke zum Ausruhen. Oben hat man einen guten Überblick über das verwirrende Gefüge der verschiedenen Meeresteile und die Stadtbezirke. Die Neustadt sieht von hier aus völlig zubetoniert aus, die Altstadt hochherrschaftlich, der asiatische Teil so, als wären die Häuser, trotz dichter Bebauung, besser in die Landschaft integriert. Ob  das auch nur im geringsten der Wirklichkeit entspricht, ist eine andere Frage.

 

Beim Kaffer erfahre ich das Ayşem, die Einheimische, noch hier war. Außerdem erfahre ich, dass Englischdozenten, die Professoren werden wollen, Kenntnisse in einer weiteren Fremdsprache nachweisen müssen, die zentral überprüft werden.

Auf dem Rückweg geht es bei bewegt werdender See am Dolmabahçe-Palast vorbei und dann and der Galatasaray- Universität, in der viele Fächer auf Französisch unterrichtet werden, so wie es die Bosporus Universität mit Englisch macht.

 

Bei der Rückfahrt im Auto erfahre ich, dass 34 auf den Nummernschildern der Autos für Istanbul steht, 35 für Izmir. Sie sind alphabetisch durchnummeriert.

 

Am Abend mache ich noch einen Spaziergang zum Eingangstor der Istanbul-Universität, von dem heute mehrmals die Rede war. Es liegt hinter dem Großen Basar und sieht tatsächlich so aus, als wäre es der Eingang zu einem Palast. Es hat drei Durchgänge, der hohe mittlere mit einem Hufeisenbogen, die beiden äußeren mit einem Rundbogen, und ist an den Seiten von viereckigen Türmen mit Zinnen flankiert. Oben in der Mitte hat es arabische Inschriften und darüber in einem Medaillon die Buchstaben T.C. Am nächsten Tag erfahre ich, dass das für Türkische Republik steht.

 

Am Imbissstand spendiere ich einer unaufdringlich bettelnden Frau und ihrer blinden Tochter einen Döner. Am Ende stellt sich heraus, dass sie Bulgarin ist – das Osmanische Reich hatte weite Grenzen.

 

24. März (Freitag)

Am Morgen regnet es stark, dann ist es den ganzen Tag über stürmisch, wolkig und kalt – Novemberwetter.

 

An der Uni spricht Derya, die Kollegin aus der Linguistik, von ihrer Vorleibe für die Istanbul-Universität, ihrer Universität. Die habe eine eher linkslastige Tradition und sei weniger abgehoben als die Bosporus-Universität. Sie sei zwar die älteste, aber keineswegs die am besten ausgestattete Universität der Türkei, und das mache sie sympathisch. In den 60er Jahren seien hier bei den Studentenrevolten nicht nur Steine, sondern auch Bomben geflogen, und es habe Exekutionen gegeben. Das alles sei noch Teil des kollektiven Gedächtnisses der heutigen Studenten. Nichts davon war mir auch nur im Ansatz bekannt.

 

Beim Mittagessen wetteifern die Kellner in der Cafeteria der Uni mit ihren spanischen Kollegen und räumen ab, bevor man fertig ist. Unter scharfem Protest kann ich meinen Nachtisch noch retten, aber das Besteck ist weg.

 

Nach der Arbeit mit Esine und ihrem Mann nach Sultanahmet zum Köftecisi. Auf dem Weg dahin lerne ich die Bedeutung weiterer Ortsnamen kennen: Bakırköy ist das Kupferdorf, Ataköy das Vaterdorf, (vgl. Atatürk), Ortaköy das Mitteldorf und Kadiköy das Richterdorf (wie bei uns der Kadi). Bahcelievler sind Gartenhäuser. Durch die Analyse in ihre Bestandteile verlieren die langen Namen ihren Schrecken und sind besser zu behalten.

 

Im Shuttlebus, der uns von der Uni zur U-Bahn bringt, stellt Esine mir eine Englischstudentin vor. Sie hat ihr vorgeschlagen, sich für den Auslandsaufenthalt zu bewerben, weil sie besonders begabt und motiviert sei, aber ihr Vater erlaubt es ihr nicht.

Es bedarf keine Worte, um zu merken was Esine davon hält.

 

Bei der Fahr mit der U-Bahn sagt Esine vielsagend, hier habe man doch eine andere Klientel als auf der Fähre, ihrem tagtäglichen Transportmittel. Ihrer schönen Wohnung zuliebe nehmen sie eine anderthalbstündige Anfahrt zum Arbeitsplatz in Kauf. Sie wundern sich, dass ich mich wundere, dass sie nicht mit dem Auto kommen. Das würde noch länger dauern, kein vernünftiger Mensch fahre mit dem Auto. Am Nachmittag wunderte sich die deutsche Kollegin vom Auslandsamt, die sich wegen des dichten Verkehrs verspätete, als ich fragte, ob immer mit dem Auto komme. Natürlich, dumme Frage, jeder komme mit dem Auto.

 

Ich erfahre, dass schon Esines Großmuter, geschweige denn ihre Mutter, auf den Schleier verzichtet hat. Für diese Generation sei es eine Befreiung und ein Zeichen von Modernität gewesen, den Zopf abzuschneiden, und Esine registriert mit Kopfschütteln, dass die jungen Frauen jetzt wieder „freiwillig“ dazu zurückkehren.

 

Esines Mann beklagt, dass er kaum noch zum Publizieren komme. Nach dem dreiwöchigen Urlaub im Frühsommer geht es schon im Hochsommer mit der Summer School weiter, in der die durchgefallenen Studenten ihre Seminare wiederholen. Wenn er einmal zum Publizieren komme, tue er das lieber au Englisch als auf Türkisch, nicht nur der größeren Reichweite wegen, sondern auch deshalb, weil das Wissenschaftstürkisch gegenwärtig einer Säuberung unterzogen werde, der die arabischen und osmanischen Elemente zum Opfer fielen, und mit der neuen Sprache könne er sich nicht anfreunden.

 

Wir beiden langen ordentlich zu, während Esine sich zurückhält. Für ist die Einladung keine Verpflichtung, sondern eine willkommene Gelegenheit, sich über die ständigen Fastengebote seiner Frau hinwegzusetzen: „Whenever I suggest we go out for a meal, I am told that we are on a diet.“

 

25. März (Samstag)

Mustafa Kemal Pascha Atatürk hieß weder Kemal noch Pascha noch Atatürk, sondern einfach Mustafa. Feste Nachnamen nach westlichem Muster gab es noch nicht und wurden erst später von ihm selbst eingeführt. Den Beinamen Kemal bekam er in der Militärakademie, die er gegen den Willen seiner Eltern besuchte, die ais ihm lieber einen Kaufmann gemacht hätten. Den Beinamen Pascha, ‚General’, bekam er im 1. Weltkrieg bei der Abwehr eines britisch-französischen Angriffs auf Gallipoli, und Atatürk später als Gründer der türkischen Republik.

 

Jetzt, am Wochenende, sind beim Frühstück im Hotel nur noch Ausländer vertreten, Italiener, Österreicher, Deutsche, Griechen. Ein Italiener trägt in dem fensterlosen Kellerraum eine Sonnenbrille und bestärkt mein Vorurteil gegen Sonnenbrillenträger. Und der Kellner mein Vorurteil gegen Kellner, die einem die Teller unter der Nase wegzeihen, bevor man fertig ist.

 

In der Straßenbahn ist es heute ziemlich leer, aber es ist nicht einfach, das Gepäck über das Drehkreuz zu bugsieren. In der U-Bahn wird es dagegen schnell voll. Mir gegenüber sitzt ein junger Mann, wie er türksicher nicht sein könnte: starkes Kinn, niedrige Stirn, tief liegende Augen, dichte Augenbrauen und strapazierfähiges Haar, das aussieht, als wenn es 200 Jahre  halten würde. Tatsächlich sehen vermutlich wenige Türken so aus, aber er entspricht meiner Vorstellung.

 

Am Flughafen wird man gleich mit dem ganzen Gepäck durchleuchtet. Nachdem ich mich aller Sachen entledigt und mich bis auf das Nötigste entkleidet habe, komme ich trotzdem nicht durch die Sicherheitskontrolle und muss noch mal durch, mit dem gleichen Ergebnis. Der Mann, der mich dann untersucht und auch nichts findet, sagt am Ende mit Kennermiene: „Shoes“.

 

In der ganzen Woche habe ich kaum einmal eins von den Wörtern und Ausdrücken anbringen können, die ich so mühsam gelernt habe. Wenn sich mal eine Gelegenheit bot, stellten sie sich nicht ein. Nicht einmal das Wort für Danke fiel mir ein, wenn es nötig war, immer nur Entschuldigung. Das ist für mich ungewollt zum prototypischen Wort des Türkischen geworden, und es stellte sich jederzeit ein, wie von selbst, nicht auf Knopfdruck, sondern ohne Knopfdruck. Mein Kopf macht nicht, was ich will. Er macht, was er will.

 

 

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