Das schwarze Wunder

Was hat der Roggen mit der Verstädterung zu tun oder mit der Papiermühle oder mit Reiterheeren? Eine ganze Menge. Die Verbindungen werden aufgezeigt in einem Zeitungsartikel, auf den ich jetzt halb freiwillig gestoßen bin. Roggen war (genauso wie Hafer) bereits im Altertum bekannt, galt aber als Unkraut. Im mediterranen Kulturraum gab es die klassische Trias von Ölbaum, Weizen und Wein. Als sich der europäische Kulturraum mit dem Frankenreich weiter nach Norden und Osten erweiterte, brauchte man Alternativen. Für den Ölbaum gab es klimatische Barrieren. Der Anbau von  Weizen und Wein wurde – schon wegen der religiösen Bedeutung für das Christentum – bis zu den äußersten Grenzen getrieben, aber man brauchte Alternativen für das feucht-kühle Klima im Nordwesten des Reichs. Dazu gehörten Roggen und Hafer. Der Roggen trieb die Brotproduktion an. Das führte zu einem erhöhten Mahlbedarf einerseits und zu Bevölkerungswachstum andererseits und damit zu Verstädterung und Kolonisation.  Durch systematische Rodung und Neubesiedlung wurde die Kulturlandschaft immer weiter ausgedehnt.  Der Mahlbedarf, zusammen mit den günstigen klimatischen Bedingungen, führte zur Weiterentwicklung der Wassermühle, die bereits in der Antike bekannt war, aber im Mittelmeerraum wegen der langen Trockenzeiten oft nicht zur Verfügung standen. So kam die Wassermühle erst im Frühmittellalter und erst in Mitteleuropa zu Bedeutung. Von der Getreidemühle ausgehend erfolgte dann eine gewerbliche Diversifizierung in unterschiedliche Produktionsbereiche und zur Entwicklung der Sägemühle, der Papiermühle, der Hammermühle, der Walkmühle. Neben dem Roggen wurde in der Dreifelderwirtschaft Hafer angebaut. Der lieferte Nahrung für die Pferde. Der vermehrte Haferanbau führte zur verstärkten Pferdehaltung und letztlich zu den Panzerreiterheeren der Karolingerzeit.  Und die Pferde ermöglichten das Pflügen des Bodens mit dem schweren Pflug  und lieferten gleichzeitig Dünger für die Felder während der Brache.  Und so entwickelte sich ein Europa des „schwarzen Brotes“ als Gegenentwurf zum Europa des „weißen Brotes“, eine bipolare Struktur, die noch bis heute nachwirkt.  (Mitterauer, Michael: „Das dunkle Brot machte die Menschen satt“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 26/02/2012)

 

Posted in Geschichte, Gesellschaft, Religion | Tagged , , , , , | Leave a comment

Schlechte Sprache sozusagen

“Das ist natürlich auch ein Ventil, wo sich Unzufriedenheit sozusagen … oder wo sie sichtbar wird, wo sie sich eben nicht sozusagen manifestiert, aber es ist trotzdem sozusagen, Protestwahl, Nichtwahl hat oft ähnliche Hintergründe.” Der letzte Satz aus einer Gesprächsrunde im Radio (gesprochen von einem Parteienforscher), wie die ganze Sendung ein einziges Festival von sozusagen (wie hier dreimal in zwölf Sekunden) und unglücklichen Formulierungen, krausen Ausdrücken, verworrener Syntax. Kaum mal ein einfacher, schnörkelloser Satz. Und das von Menschen, die sich beruflich mit Sprache beschäftigen: einem Journalisten, einem Radioredakteur und einem Universitätsprofessor.

Posted in Sprache, Sprachgebrauch | Tagged , | Leave a comment

Gipfel der Verzweiflung

Zitate wie “Ich schreibe nur in Augenblicken, in denen ich absolut verzweifelt bin” oder “Die Tatsache, dass ich lebe, beweist, dass die Welt keinen Sinn hat”, Buchtitel wie Auf den Gipfeln der Verzweiflung oder Die verfehlte Schöpfung,  Sterben, Tod und Freitod als lebenslange Obsessionen (erst die Möglichkeit des Selbstmords macht das Leben erträglich), ein radikaler Skeptiker mit Einsicht in die bodenlosen Abgründe des menschlichen Lebens, illusionslos, sarkastisch, massiv ungerecht in seinen Wertungen, die Sicht der Schöpfung als Werk eines bösen Demiurgen, die Wertung von Erfahrungen als Synonym für fortlaufende Enttäuschungen, Fundamentalkritik von Elternschaft, konsequente Ablehnung aller öffentlicher Ehrungen und Preise, da stellt man sich einen hasserfüllten Misanthrop vor. Statt dessen ein umgänglicher, liebenswürdiger, hilfsbereiter Mensch, der gerne und viel lacht: E.M. Cioran. Er schreibt zunächst auf Rumänisch, dann lange gar nichts mehr und dann, nach einem sehr harten, intensiven und jahrelangem Studium des Französischen, auf Französisch. Darin bringt er es zur Meisterschaft. Er firmiert immer als E.M Cioran. Die Initialen werden nie ausgeschrieben. E steht für Emile, aber was M bedeutet, bleibt unklar. Er selbst hat sich nie eindeutig dazu geäußert. Einige sagen, es stehe für Michel, andere, er habe es sich einfach zugelegt, weil E.M. Cioran einfach besser klinge als E. Cioran. (“‘Prometheus und Adler’. Der rumänische Schriftsteller und Philosoph E.M. Cioran”, in: SWR2 Wissen: 18/10/2012)

Posted in Eigennamen, Gesellschaft, Sprache, Sprachwahl | Tagged , , , , , , | Leave a comment

Barbaren gegen Schnösel

Das Morgenländische Schisma, die Trennung der lateinischen Kirche des Westens von der griechischen Kirche des Ostens, hatte eher kirchenpolitische als ideologische Gründe. es ging darum, wo das Zentrum der Christenheit war – in Rom oder in Konstantinopel – und wer das Sagen hatte. Aber die Spaltung war auch ein Resultat der Entfremdung, und da spielt die Sprache eine Rolle: Im Westen war es immer unüblicher geworden, Griechisch  zu sprechen. Schon Augustinus und Gregor der Große sprachen, im Gegensatz zu Hieronymus und Ambrosius, kein Griechisch! Die Messe wurde ab dem 4. Jahrhundert auf Latein gelesen, bis dahin auf Griechisch. Umgekehrt konnten die meisten Patriarchen in Konstantinopel kein Latein. Das galt als barbarische Sprache. Zur gegenseitigen Verständigung war man immer mehr auf Übersetzer und Sekretäre angewiesen. Am Anfang der Entfremdung stand also die Sprache. Auch bestimmte Haltungen gingen damit einher: Die Griechen sahen die Römer als ungebildet und barbarisch an, die Römer die Griechen als hochnäsig und spitzfindig.

 

Posted in Geschichte, Religion, Sprache, Sprachwahl | Tagged , , , , | Leave a comment

Erneuerbare Energie

Glücksspieler lassen sich durch Misserfolg nicht entmutigen. Rückschläge können der Hoffnung nichts anhaben. Im Gegenteil: Sie dienen als Hoffnungsverstärker. Auf diesen paradoxen Befund werde ich durch einen Radiobeitrag gestoßen (Retzer, Arnold: “Mut zur Negativität”, in: SWR 2 Wisssen: 01/02/2015). Mit jedem Verlust glaubt der Spieler, die Wahrscheinlichkeit nehme zu, dass es jetzt endlich klappen müsse. Bis er pleite ist. Hoffnung erscheint demnach als eine merkwürdige, erneuerbare Energie, die sich durch ihren Verbrauch selbst erneuert. sein Einsatz jetzt endlich dran sei, zu gewinnen. Der Befund passt zu dem, was mir in letzter Zeit immer wieder auffällt. Wie wenig wir bereit sind, unser Verhalten zu verändern und unsere Einstellungen. Weder Argumente noch Erfahrungen kommen die lieb gewonnenen Ansichten an. Bei den Studenten ist das nicht zu übersehen, und auch nicht im Alltagsleben: Ernährung, Sport, Lernen, Sprache, wo man hinsieht Legenden, die sich hartnäckig halten. Nicht einmal die Untergangspropheten lassen sich beirren, wenn die Welt an dem von ihnen prognostizierten Tag doch nicht untergegangen ist.

 

 

 

 

 

 

Posted in Leben | Tagged , , , | Leave a comment

Sesam und Cannabis

Von den Phöniziern kam nicht nur das Alphabet – alle noch heute verwendeten europäischen Schriften gehen letztlich auf deren Alphabet zurück – sondern auch Wörter: Sesam, Cannabis, Alabaster, Smaragd, Talent, Charakter. Kreta ist eine der ersten Regionen, die für das Griechische modifizierte Alphabet übernommen haben (um 800 v. Chr.). Auch in der Kunst hinterließ diese “Orientalisierende Epoche” ihre Spuren und, auf subtilere Weise, in der Religion. Die Entstehungsgeschichte der griechischen Götter war stark von orientalischen Theogonien beeinflusst. (vgl. Chaniotis, Angelos: Das antike Kreta. München: Beck, ²2014: 49)

Posted in Etymologie, Religion, Schreibung, Sprache | Tagged , , , , , | Leave a comment

Hyazinthe und Labyrinth

Drei Schlüsselwörter: Hyazinthe, Minze, Labyrinth. Es sind die ältesten erkennbaren europäischen Wörter. Alle drei stammen aus Kreta, aus dem minoischen Kreta.  Sie sind sprachliche Ablagerungen, in denen sich der Tatbestand bewahrheitet, dass Kreta die Wiege Europas ist. Sie sind die sprachliche Parallele zu dem Mythos, in dem Zeus Europa auf Kleinasien entführt und sie nach Kreta bringt. (vgl. Chaniotis, Angelos: Das antike Kreta. München: Beck, ²2014: 7)

Posted in Geschichte, Sprache, Sprachgeschichte | Tagged , , , | Leave a comment

Qualifikationsnachweis

Leone Leonie wurde wegen Münzfälscherei angeklagt und verurteilt. Später wurde er Leiter der kaiserlichen Münze. (“Zwischen Genialität und Grausamkeit. Der Künstler als Verbrecher”, in: Forum, SWR2: 09/01/2015)

Posted in Gesellschaft | Tagged , , , | Leave a comment

Gewaltige Erfahrungen

Entweder vor oder nach der Tat. So wird die Tötung Holofernes durch Judith in der Malerei meistens dargestellt. Holofernes hatte versucht, sie zu vergewaltigen. Die unmittelbarste Darstellung der Tat, den Moment der Tat erfassend, in all seiner Grausamkeit, stammt ausgerechnet von einer Malerin, von Artemisia Gentileschi, einer der wenigen bekannten Malerinnen. Gentileschi wurde als junge Frau selbst vergewaltigt. Sie brachte die Vergewaltigung zur Anzeige, der Täter bekam seine Strafe. Und dann heiratete Gentileschi ihn! Man hat immer wieder versucht, eine Verbindung zwischen der persönlichen Erfahrung der Gewalt und deren Darstellung in ihren Bildern zu sehen. Aber es gibt natürlich keine 1:1-Entsprechung. Die psychologische Disposition ist im Werk nicht unmittelbar zu erkennen. Viele Künstler, die Exzesse darstellten, hatten eine ruhige, bürgerliche, friedvolle Existenz. Dennoch könnten die Erwartungen an den Künstler und die Selbsterwartungen des Künstlers, dem eine besondere Erfahrungstiefe zugetraut wird, eine Disposition zur Transgression von Normen fördern. (“Zwischen Genialität und Grausamkeit. Der Künstler als Verbrecher”, in: Forum, SWR 2: 09/01/2015)

Posted in Gesellschaft, Kunst | Tagged , , , , , | Leave a comment

Künstlerglück

Bernini hatte eine Affäre mit Constanza Bonarelli, der Ehefrau eines seiner Mitarbeiter. Die wiederum hatte eine Affäre mit seinem Bruder. Bernini entdeckte das. Rasend vor Wut lief er hinter dem Bruder her und ergriff eine auf einer Baustelle herumliegende Eisenstange. Damit brach er ihm zwei Rippen. Er ging nach Hause und befahl einem Diener, dem er zwei Flaschen und ein Messer gab, Constanzes Gesicht zu entstellen. Das tat der. Bernini nahm einen Degen und verfolgte seinen Bruder. Der flüchtete sich in eine Kirche, nach Santa Maria Maggiore. Dort konnte er sich sicher fühlen. Doch Bernini ließ sich davon nicht zurückhalten und lief mit gezücktem Degen dem Bruder hinterher und schlug bei der Gelegenheit gleich noch ein paar Priester nieder, die sich ihm in den Weg stellten. Diese Vergehen hätten eine schwere Strafe, vielleicht sogar die Todesstrafe zur Folge haben müssen. Und Berninis Mutter bat den Neffen des Papst in einem bewegenden Brief, ihren Sohn, der völlig außer Rand und Band war und nicht mehr zwischen Gut und Böse unterscheiden könne, zu bestrafen. Bernini wurde zu einer empfindlichen Geldstrafe verurteilt, aber die wurde ihm vom Papst erlassen, mit einer feierlichen Urkunde, in der es hieß, Bernini sei „ein Mensch von sublimer Begabung, durch göttliches Wirken geboren, um zum Ruhme Roms Licht in dieses Jahrhundert zu tragen.“ (Karsten, Arne: Bernini: Der Schöpfer des Barocken Rom. München: Beck, 2007: 93-97).

 

 

Posted in Gesellschaft, Kunst | Tagged , , , , | Leave a comment

Schöne, weite Welt

Eine Zimmerwirtin auf Ischia ist ganz entzückt, als sie erfährt, dass ihr französischer Gast aus Paris stammt. Gast sagt, als sie erfährt, dass ihr Gast aus Paris komme: Ah, schöne Stadt, Paris. Ob sie jemals da gewesen sei? Nein, nie gesehen. Sie sei bisher nur bis nach Florenz gekommen, auf der Hochzeitsreise. (Mura, Gianni: Ischia. Milano: Feltrinelli, 2012: 33)

 

 

 

Posted in Erde, Gesellschaft, Kommunikation | Tagged , | Leave a comment

Alter Knacker

Magrite, der französische Kommissar, rasiert sich nach der ersten gemeinsamen Nacht mit seiner neuen Freundin während eines Urlaubs auf Ischia den Schnäuzer ab. Als sie wissen will, warum, antwortet er: Ich wollte nicht wie ein alter Knacker aussehen. Die erwidert, jetzt sehe er wie ein alter Knacker aus, der jünger aussehen wolle. Der Schnäuzer habe etwas Erotisches gehabt. (Mura, Gianni: Ischia. Milano: Feltrinelli, 2012: 31)

 

 

Posted in Leben, Literatur | Tagged , , , | Leave a comment

Carabiniere und Commissario

Ein französischer Kommissar, Margrite, verbringt seinen Urlaub auf Ischia. Während des Urlaub wird er als Zeuge eines Verbrechens auf dem Kommissariat vernommen. Der Carabiniere fragt ihn nach seinem Namen und bittet ihn dann, ihn zu buchstabieren: “Michel, André, Gustave …” Der italienischen Kommissar glaubt, man wolle ihn auf den Arm nehmen: “Mi sta prendendo per il culo?” Keineswegs. Es gibt hier ein kulturelles Missverständnis: Im Französischen benutzt man im Buchstabieralphabet Personennamen, aber das weiß der Carabiniere nicht, im Italienischen Städtenamen, aber das weiß der Kommissar nicht. (Mura, Gianni: Ischia. Milano: Feltrinelli, 2012: 118)

 

Posted in Eigennamen, Sprache, Sprachgebrauch, Sprachvergleich | Tagged , , , | Leave a comment

Schlechte Bereicherung

In einer Umfrage für eine Seminararbeit wurden den Probanden folgende Aussagen zu Anglizismen im Deutschen vorgelegt.

Ich glaube, dass die Verwendung englischer Wörter

  • schlecht für die deutsche Sprache ist
  • eingeschränkt werden sollte
  • die deutsche Sprache bereichert
  • das Leben einfacher macht
  • ein normales Phänomen ist
  • die deutsche Kultur zerstört

Es konnten mehrere Antworten angekreuzt werden. Zur Verblüffung der Studentin – und zu meiner Verblüffung – wurden „sollte eingeschränkt werden“ und „zerstört die deutsche Kultur“ häufig in Verbindung mit „ist ein normales Phänomen“ genannt.  Auch „ist schlecht für die deutsche Sprache“ und „macht das Leben einfacher“ wurden zusammen genannt, ebenso „sollte eingeschränkt werden“ und „macht das Leben einfacher“. In mindestens einem Falle wurden auch  „ist schlecht für die deutsche Sprache“ und „bereichert die deutsche Sprache“ zusammen genannt. Man kann sich vorstellen, wie machtlos Argumente gegenüber solchen Instinkten sind.

 

Posted in Einstellungen, Gesellschaft, Lehnwörter, Sprache, Sprachgebrauch | Tagged , , | Leave a comment

Doppelsieg

1956 erhielt Romain Gary den Prix Goncourt für seinen Roman Les racines du ciel. Roman Gary war ein Pseudonym. Sein eigentlicher Name war Roman Kacew. Unter diesem Namen war er in Vilnius, im heutigen Litauen, damals zu Russland gehörend, geboren. Als Jugendlicher war er mit seiner Mutter nach Frankreich gekommen. 1977 erhielt der Roman La vie devant soi den Prix Goncourt. Die Identität des Autors war unbekannt. Er schrieb unter einem Pseudonym. Roman Kacew beging 1980 in Paris Selbstmord. Erst dann enthüllte er, dass es sich bei Roman Gary und Emile Ajar um ein und denselben Autor handelte. Damit ist er der einzige Autor, der den Prix Goncourt, der immer nur einmal im Leben vergeben wird, zweimal erhielt! Auf eine sehr subtile, von ihm selbst nie offen gelegte Weise hat Gary den Lautwert seines französischen Pseudonyms zum Kunstnamen seines Doppelgängers in Beziehung gebracht: Ajar kann als Anagramm zum Russischen жара gelesen werden (žará, gesprochen wie frz. jará), und das bedeutet ‘Hitze’, ‘Glut’, und Gary entspricht dem Russischen гори (garí), dem Imperativ von горе́ть, und das heißt ‘brennen’! (Ingold, Felix Philipp: Im Namen des Autors. München: Wilhelm Fink, 2004: 309)

Posted in Eigennamen, Literatur, Sprache | Tagged , , , , , | Leave a comment