Unsichtbare Geschichte

Das populärste amerikanische Gemälde, Washington Crossing the Delaware, entstand in Deutschland. Es stellt den Augenblick dar, da die kleine Rebellenarmee des freien Amerika, die schon am Ende schien, zum Gegenangriff übergeht. Sie sammelt sich auf ihrem Rückzug von New York nach Philadelphia, setzt über den teils vereisten Delaware und erobert Trenton, wo die Verfolger einquartiert waren. Die Überrumpelung gelingt, Washingtons Siegeszug beginnt, und fünf Jahre später ist der Triumph über Englands Truppen perfekt. Das Bild wurde von Emanuel Leutze gemalt. Leutze war in Deutschland geboren, schon als Kind mit seinen Eltern in die USA ausgewandert, war in Philadelphia, der Stadt der Unabhängigkeitserklärung, durch die der Delaware fließt, aufgewachsen, war mit einem Stipendium an die Kunstakademie nach Düsseldorf gekommen und schließlich in die USA zurückgekehrt. Was Leutze im Sinn hatte, war nicht nur der historische amerikanische Befreiungskampf, sondern auch der aktuelle deutsche Freiheitskampf, der Kampf der freien Bürger gegen die Fürsten. Nach der gescheiterten Revolution von 1848 wollte er in der Stunde der Hoffnungslosigkeit Mut machen, die Chance auf den Umschwung beschwören. Die Amerikaner interessierte das natürlich herzlich wenig. Sie liebten das Gemälde, weil es die amerikanische Geschichte und ihren unumstrittenen Helden feierte. Das Gemälde wurde enthusiastisch aufgenommen. Dabei war es ein Glücksfall, dass es überhaupt existierte. Das Original war 1850 in Leutzes Atelier in Brand geraten und nur in letzter Minute von Freunden mit Mühe und Not, schon angesengt, gerettet worden. Leutze hat es klugerweise versichert. Er kassierte die Versicherungssumme und restaurierte das Bild. Am Ende verbrannte es dann doch bei einem Bombenangriff 1942. Aber Leutze hatte eine weitere Version für Amerika angefertigt. Die hängt heute im Metropolitan Museum of Art in New York. Eine Kopie hängt in den Amtsräumen des Präsidenten im Weißen Haus. (Gerste, Ronald D.: “Washington überquert den Rhein”, in: Die Zeit 52/2013: 19)

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