Ich bin die Silke

Obwohl es schon viele Jahre her ist, kann ich mich noch gut an die Situation erinnern: Kurz vor Erreichen der nächsten Station standen im Zug, zum Aussteigen bereit, ein junger Mann mit einem kleinen Mädchen, vermutlich seiner Tochter, und eine junge Frau, vermutlich eine Studentin. Das Mädchen zeigte auf die Studentin und fragte ihren Vater: „Wer ist das?“. Der Vater antwortete, das wisse er nicht, aber die Studentin gab bereitwillig Auskunft: „Ich bin die Silke.“ So etwas hatte ich noch nie gehört, jedenfalls nicht im normalen Leben. Man sagte entweder „Mein Name ist Silke“ oder „Ich heiße Silke“. Als ganz verquere Alternative wäre eventuell noch „Ich bin Silke“ denkbar gewesen, aber „Ich bin die Silke“, das bedeutete für mich nur eins: Kasperletheater: „Ich bin das Kasperle, das ist die Großmutter und das ist der böse Wolf.“ Im letzten Moment, als ich merkte, dass die Studentin das ganz ernst meinte, konnte ich mich bremsen. Eigentlich war mir nach Lachen zumute, oder danach, mit verstellter Stimme hinzuzufügen: „Und ich bin die Großmutter.“ Inzwischen sagt jede Silke „Ich bin die Silke“. Man hat sich daran gewöhnt und nimmt die neue Form mit großer Gelassenheit als einen ganz normalen Fall von Sprachwandel hin, aber vor meinem geistigen Auge erscheint ab und zu immer noch das Bild von Kasperle und wie er dem bösen Wolf Saures gibt.

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