Tabuzone

Henning Scherf, ehemaliger Bremer Bürgermeister, hat ein Buch geschrieben. Über den Tod. Sein Titel: Das letzte Tabu. Aldo Haesler Wirtschaftswissenschaftler und Philosoph, hat ein Buch geschrieben. Über das Geld. Sein Titel: Das letzte Tabu. Wolfram Wetter, Historiker, hat ein Buch geschrieben. Über die NS-Militärjustiz. Sein Titel: Das letzte Tabu. Andreas Schäfer hat ein Buch geschrieben. Über die übermächtige Frau. Sein Titel? Nein, nicht Das letzte Tabu. Das Buch heißt Ein letztes Tabu. (Dachsel, Felix: “Die Jagd nach dem letzten Tabu”, in: Die Zeit 29/2017: 53)

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Lauter Kleinzeug

Ein Bündel ist ein kleiner Bund, ein Knöchel ist ein kleiner Knochen, Märchen eine Verkleinerungsform von Mär. Die Wörter Ballett, Bankett, Flotille, Lanzette, Operette, Stilett sind Verkleinerungsformen von Ball, Bank, Flotte, Lanze, Oper, Stil. Auch wenn wir uns das im täglichen Gebrauch nicht klar machen, ist das einleuchtend. Aber dass Sockel eine kleine Socke ist, das leuchtet nicht so ohne Weiteres ein. Die Socke bezeichnete ursprünglich, im Lateinischen, keinen Socke, sondern einen Schuh, und zwar einen Schuh ohne festere Sohle und ohne Absatz, im Gegensatz zum Kothurn. Auf dieses soccus geht das deutsche Socke zurück. Neben dem soccus gab es auch im Lateinischen schon die Verkleinerungsform socculus. Davon wurden Fachwörter in der Baukunst abgeleitet, mit der Bedeutung ‘Säulenfuß’, ‘Untersatz’ usw. Wir haben also mit dem Wort auch die lateinische Verkleinerungsform übernommen, -ulus. Und die liegt auch vielen anderen Wörtern zugrunde: PilleSkrupel, Kalkül (eigentlich ein ‘Steinchen’), Perle (eigentlich eine ‘kleine Birne’), Buckel (verwandt mit ital. bocca), Kuppel (verwandt mit engl. cup), Sichel, Formel, Zettel, Zwiebel, Zirkel, Fackel, Kachel, Furunkel (verwandt mit fur, ‘Dieb’, weil das Blutgeschwür als parasitärer Gast dem Menschen einen Teil seiner Nahrung wegnahm), Karbunkel, Floskel, Onkel (von avus, ‘Großvater’, ‘älterer Verwandter’), Tabernakel (verwandt mit Taverne), Artikel (abgeleitet von ars und verwandt mit Artillerie), und Muschel und Muskel (beide etymologisch ‘kleine Mäuse’). Auch die Rolle gehört dazu. Die ist abgeleitet von rotula, ‘kleines Rädchen’, Diminutiv von rota. Wie kam es hier zu der übertragenden Bedeutung? Die kommt aus der Bühnentradition. Der Anteil des einzelnen Schauspielers, seine Rolle,  wurde auf handliche Streifen geschrieben, und die wurden, wie früher das Pergament, aufgerollt. Bei der Probe wurde dann nur die gerade relevante Stelle aufgedeckt, der Rest blieb aufgerollt. Der Schauspieler hielt seine Rolle in der Hand. (Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale. Zürich: Atlantis Verlag, 1981: 522-528)

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Hauszoo

Auf Italienisch heißen sie gatti di polvere, auf Französisch moutons, auf Englisch dust bunnies, auf Finnisch villakoira, auf Schwedisch dammråtta und auf Deutsch Wollmäuse. Sie sind also Katzen oder Schafe oder Häschen oder Hunde oder Ratten oder Mäuse.

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Das fremde Übel

“Es ist got gefellig gewesen, in unsern tagen Kranckheiten zu senden, die unsern vorfaren unbekant seint gewesen.” So schrieb es Ulrich von Hutten, selbst von einer dieser Krankheiten befallen, einer  Seuche, die er blatteren nannte und die später von einem berühmten Veroneser Arzt ihren heutigen Namen bekam: Syphilis.  Für Ulrich von Hutten kam sie “von den Franzosen”, und in dieser Benennung war er sich mit vielen seiner Zeitgenossen einig. Es war aber auch vom mal de Naples die Rede, und diese Bezeichnung verweist ganz direkt auf den Ort, von dem aus die Krankheit in Europa vermutlich ihren Lauf nahm: Neapel. Dort war Karl VIII. 1485 eingedrungen, mit einem Heer von Söldnern aus vielen Ländern, das achtzig Tage in der eroberten Stadt verbrachte, in einem einzigen Alkoholrausch. Und einer Sexorgie ohnegleichen. Unter Beteiligung einheimischer Frauen und der mitgebrachten feinen Kurtisanen und einfachen Lagerdirnen. Der klägliche Rückzug Karls VIII. aus Italien war der triumphale Einzug der Syphilis in die europäische Zivilisation.  Gekommen war die Krankheit aus Amerika, aus den mittelamerikanischen Inseln, mitgebracht von spanischen Soldaten. Und die waren bei dem Kampf um Neapel auf beiden Seiten beteiligt. Das begünstigte die Verbreitung der Krankheit. Die Begriffe aus der Gelehrtensprache für die Krankheit spiegeln diese Herkunft teilweise wider: morbus gallicus, malum francium, misera hispanica, morbus indicus. Bei den meisten Völkern war wohl von der französischen Krankheit die Rede, aber auf jeden Fall wurde das Übel immer den anderen angedichtet: In England sprach man von French pox, in Frankreich vom mal de Sicile, in Portugal vom mal castellano in Estland vom russischen Übel, in Polen von deutschen Pocken, bei den Arabern vom christlichen Übel, bei den Persern von der türksichen Krankheit, und bei den Türken, bei denen alle Völker des Abendlandes Franken waren, vom Geschwür der Franken. (Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale. Zürich: Atlantis Verlag, 1981: 420-430)

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Polnischer Abgang

Sich von einer Party grußlos zu verabschieden heißt auf Englisch take French leave, auf Französisch aber filer à l’anglaise. Es sind immer die anderen, die sich ungehörig benehmen. In Deutschland hat man zwei Schuldige dafür ausgemacht: In Westdeutschland sagt man sich französisch verabschieden, in Ostdeutschland einen polnischen Abgang machen. Das ist natürlich ganz unmotiviert; weder in Frankreich noch in Polen ist es sozial akzeptabel, sich grußlos zu verabschieden. Der Kreis schließt sich in Polen, wo man sich englisch verabschiedet. Das Griechische hat andere nationale Redewendungen: Είναι αρβανιτικό κεφάλι – Κάνει το κίνεζο –  Γίνεται Τούρκος – Er (oder sie) hat einen albanischen Kopf (d.h. ist ein Dickkopf) – spielt den Chinesen (d.h. tut so, als verstehe er nicht) – wird zum Türken (d.h. bekommt einen Wutanfall).

 

 

 

 

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Wir Heuchler

Häufiger radeln, zu Fuß gehen, Bahn und Bus benutzen. Das Abholzen von Wäldern und Schadstoffe im Boden vermeiden. Klimawandel stoppen. Nachhaltige Mode tragen. Bioprodukte kaufen. Unsere Wirtschafts- und Lebensweise grundlegend verändern.  So die allgemeine Überzeugung. Zu der auch gehört, dass letztlich jeder einzelne für die Veränderung verantwortlich ist. Mit der Wirklichkeit hat das wenig zu tun. Die Anteil der SUVs auf den Straßen steigt, die meisten Menschen radeln nicht mehr als einmal pro Monat, der Marktanteil von Bioprodukten liegt bei 5%, durchschnittlich 60 Kleidungsstücke kauft jeder Einzelne pro Jahr. Davon werden einige nie getragen. Wir Heuchler. (Behrens, Christoph: “Wir Heuchler”, in Süddeutsche Zeitung 88/2017: 33)

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Freie Auswahl

In der Innenstadt sehe ich einen Bettler. Der hat gleich fünf Spendenbüchsen vor sich aufgestellt. Jede hat einen Zettel, auf dem säuberlich der Zweck der Spende notiert ist: Bier – Essen – Hund – Kiffen – Puff.

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Junggesellenleben auf Römisch

Das Lateinische hatte kein Wort für ‚Homosexualität‘. Und das, obwohl es Wörter für sexuelle Praktiken gab, die wir der Homosexualität zurechnen würden: irrumo (in den Mund eines Mannes stecken) oder pedico (in den After eines Mannes stecken). Solche Praktiken waren eine Demonstration der Überlegenheit, der Stärke, hatten sozialpolitischen Wert. Die passiven Partner waren dabei Sklaven oder Jugendliche, also Untergeordnete, oder man drohte persönlichen Feinden an, sie für diese Rolle zu verwenden. Wenn man heiratete, bedeutete das das Ende solcher Praktiken. Der Bräutigam trug die Braut über die Schwelle, und von da an ging es um die Zeugung einer Nachkommenschaft. Das Junggesellenleben war vorbei. Man trennte sich von den Sklaven, ließ sie sich die Haare schneiden und entließ sie in die Freiheit. Sex war eine Frage der Rollen, nicht der Vorlieben. Gardini, Nicola: Viva il latino. Storie e bellezze di una lingua inutile. Milano: Garzanti, 2016: 80-83.

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Außerirdisch

Auf einer Internetseite findet sich in einem Eintrag eine Klage über einen Strafzettel aus Pula. Von dort sei ein Schreiben mit einer Forderung von 350 € für falsches Parken gekommen. Das seien, so heißt es, “exorbitale” Gebühren.

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Scheiß Wörter

Die Seminarsitzung, die sich mit expletives im Englischen beschäftigt, gehört zu den beliebtesten.Warum sind obszöne Ausdrücke so attraktiv, warum wecken sie so viel Interesse, vor allem bei jungen Leuten? Nur, weil sie von der Norm abweichen? Das reicht nicht als Erklärung. Auch andere Wörter weichen von der Norm ab, sind aber nicht annähernd so attraktiv. Jetzt bin ich auf eine Erklärung gestoßen, die ich überzeugend finde: Die obszöne Sprache („Schimpfwörter“ trifft die Sache nicht so richtig) spricht das erwachende sexuelle Bewusstsein der jungen Leute an und ihr Verlangen nach Regelverstößen, nach Freiheit, sie deckt das Versteckte auf, sie lässt Hierarchien zusammenbrechen, sie ist komisch, karnevalesk, subversiv. Und wenn sie in alten Texten entdeckt wird, überspannt sie zudem die Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart, ist immer aktuell. (Gradini, Nicola: Viva il latino. Storie e bellezze di una lingua inutile. Milano: Garzanti, 2016: 79)

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Roter Faden

Kein grüner oder blauer Teppich, sondern ein roter Teppich ist es, der vor hohen Staatsbesuchern oder Filmstars ausgerollt wird. Rot war schon in der Antike etwas Besonderes. Selbst die römischen Senatoren mussten sich mit einem roten Saum an ihrer Toga begnügen, ein purpurnes Gewand war allenfalls dem Kaiser vorbehalten. Noch heute sind Purpur und Rot in der katholischen Kirche Bischöfen und Kardinälen vorbehalten. Der herkömmliche hohe Wert von Rot hat einen ganz einfachen Grund: Es war teuer. Der Farbstoff wurde aus dem Drüsensekret einer Schnecke gewonnen. Man benötigte Tausende von Schnecken für die Gewinnung von einem einzigen Gramm Farbstoff. Auf dessen Gewinnung und Vermarktung  verstanden sich ganz besonders die Phönizier. Ihr Wohlstand beruhte ganz wesentlich auf dem Purpurfarbstoff. Nach der Eroberung Mittelamerikas wurde die Herstellung etwas günstiger. Jetzt nahm man statt der Schnecke den Saft der Schildlaus. Die hatte als Schmarotzer an der Wurzel von Kakteen ihren Weg nach Europa gefunden. (Urmes, Dietmar: Wandernde Wörter und Sprachsouvenirs. Wiesbaden: Marixverlag, 2014: 355)

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Jungfräulich

Um welche Religion handelt es sich? Sie glaubt an das kommende Weltgericht, an die Auferstehung, an die Existenz von Himmel und Hölle und an einen von einer Jungfrau geborenen Erlöser. Das ist natürlich – der Zoroastrismus. Und dessen Erlöser, Saoshyant, erschien Jahrhunderte vor dem christlichen Erlöser. Der Zoroastrismus ist auch Vorreiter für das Judentum gewesen, nämlich in seiner Vorstellung vom Dualismus von Gut und Böse, die sich in der Form eines guten Schöpfergottes und eines bösen Dämonen verkörpern. Der Zoroastrismus war Staatsreligion im sassanidischen Reich. Nach der arabischen Eroberung wanderten viele Zoroastrier nach Indien aus oder konvertierten zum Islam. Die Toten der Zoroastrier werden traditionell in sogenannten Schweigetürmen ausgesetzt und die von den Geiern gereinigten Knochen später in Höhlen gesammelt. (Kerber, Peter: Iran. Islamische Republik und jahrtausendealte Kultur. Berlin: Trescher Verlag, 42015: 100)

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Nasse Füße bekommen

Inzwischen setzen sich auch Ägypter in wackelige Boote, um über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Und es gibt Ägypter, die es auf legalem Wege versuchen. Viele wollen nach Deutschland. Aber sie haben keine guten Chancen. Auch eine deutschsprachige Ärztin mit ihrer Familie hatte keinen Erfolg mit dem Einreiseantrag. Sie konnten aber einmal für ein paar Tage nach Deutschland reisen. Der kleine Junge der Familie berichtet über seine Erfahrungen in Deutschland. Auf Deutsch. Und erzählt, was ihm am besten gefallen habe: der Regen! Einmal habe es zwei Tage hintereinander geregnet! Herrlich! Er sei durch den Regen spazieren gegangen. Deutschland sei ein schönes Land, wunderbar “verrengnet”.

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Der Herr Sänger

Weil die Nachtigall nachts singt, heißt sie Nachtigall. Aber das erklärt nur den ersten Bestandteil des Wortes. Der zweite Teil, der für uns heute undurchsichtig ist, hat vielleicht eine ferne Verwandtschaft mit lat. gallus, ‚Hahn‘. Auf jeden Fall geht es auf die alte germanische Wurzel gal, gel zurück, und das bedeutet ‚tönen‘. Im Althochdeutschen bedeutet galan besonders singen, vor allem Zaubergesänge singen. Die Nachtigall ist also eine ‚Sängerin der Nacht‘. Die lateinische Entsprechung, luscinia, scheint auf luscicinia zurückzugehen, zusammengesetzt aus luscus, ‚dämmernd‘, und canere, ‚singen‘, also fast eine wörtliche Entsprechung des deutschen Wortes. Auf den lateinischen Diminutiv, lusciniola,  gehen die Bezeichnungen in den modernen Sprachen der Romania zurück wie ital. usignolo, in Gallien losseignol Daraus entstand auf dem Wege der Dissimilation von /l/ zu /r/, zur Vermeidung der Doppelung von /l/, das heutige franz. rossignol. Im Spanischen machte die Volksetymologie aus dem Vogel schließlich einen ‚Herrn‘: ruiseñor. (Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale. Zürich: Atlantis Verlag, 1981:284-285)

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Don’t miss to fail

„Don’t fail to miss tomorrow’s game” was the standard sentence with which Dizzy Dean used to sign off his coverage of baseball games on the radio. The former baseball star turned radio announcer made the public wild with enthusiasm. He and his mangled diction were refreshingly different from the polished speech of former radio announcers. Players swang at pitches, throwed the ball and were in a difficult sityation. And of course there was the notorious ain’t. When somebody made objections, he replied: “I ain’t never met anybody that didn’t know what ain’t means.” The audience figures soared, and so did the sales of the brewery which sponsored the programme. But the English Teachers Association of Missouri had filed a complaint on account of his inappropriate English used in public. Dean became a cause celèbre, and newspapers all over the country milked the controversy. The controversy flared and became fiercer and fiercer. At long last, someone made an official enquiry at the Association. It turned out that no complaint had ever been filed. The whole thing had been a clever publicity stunt. Not even Dean’s English was quite genuine. He put on his speech, and once, when by mistake he said slid correctly, he “corrected” himself saying slud. (O’Conner, Patricia T.: The Origin of the Specious. Myths and Misconceptions of the English Language. New York: Random House, 2010: 46-48)

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