Lammfromm

An die Wand gekettet, nackt, schlecht ernährt, Opfer von Schlägen und Vergewaltigungen – das wäre ihr Schicksal gewesen, wenn sie nach Bedlam gekommen wäre, das berüchtigte Londoner Irrenhaus, Bethlehem Hospital, später Gegenstand der gesellschaftskritischen Zeichnungen von Hogarth in The Rake’s Progress. Es war ihrem Bruder, Charles Lamb zu verdanken, dass ihr das erspart blieb. Sie kam in ein anderes Irrenhaus, nach Islington, wo sie besser behandelt wurde. Ihr Bruder kam für die Kosten auf. Und schon 1997, ein Jahr nach der Tat, wurde sie dort entlassen und konnte unter Aufsicht wieder in gewohnter Umgebung leben. Und dass, obwohl sie einen Mord begangen hatte! Sie hatte ihre Mutter getötet. Die hatte sie gescholten, weil sie ihre Magd zurechtgewiesen und aus dem Raum geschubst hatte. Mary hatte ein Messer in der Hand und stach auf ihre Mutter ein, eine Tat, in der sich jahrelange Frustration Bahn brach. Mary Lamb hatte in jeder Hinsicht Glück. Schon wenige Tage später befand ein Richter, dass es sich bei der Tat um geistige Umnachtung handele. Und dass sie später ein mehr oder weniger normales Leben führen konnte, grenzt an ein Wunder. Erstaunlich, wie rücksichtsvoll ihre Familie mit ihr umging – die Tat wurde in ihrer Gegenwart nie wieder erwähnt – und erstaunlich, wie gelassen Mary selbst mit ihrer Schuld umging. Sie befand, sie sie eine gute und treusorgende Tochter gewesen, “for the most part.” Den Namen ihrer Mutter erwähnt sie in ihrer Korrespondenz nur ein einziges Mal. Sie überlebte ihre Mutter um 40 Jahre. (Polowetzky, Michael: Prominent Sisters. Mary Lamb, Dorothy Wordsworth, and Sarah Disraeli. Westport, Connecticut und London: Praeger, 1996: 9-10)

This entry was posted in Gesellschaft, Leben and tagged , , , , . Bookmark the permalink.