Ganz besondere Verlierer

Donald Trump wird als 45. Präsident der USA gelten. Tatsächlich ist er aber erst der 44. Der Mann, der für diese Unebenheit verantwortlich ist, heißt Grover Cleveland. Er ist der einzige amerikanische Präsident mit zwei separaten Amtszeiten (als 22. und 24. Präsident) und wird deshalb doppelt gezählt. Trotz seiner Ausnahmestellung gehört Cleveland zu den Lost Presidents, den vergessenen Präsidenten der US-Geschichte. Zu denen zählt auch James Buchanan. Obwohl der sich auch durch eine Besonderheit von den anderen unterscheidet: Bei den beliebten presidential rankings liegt er meist auf dem letzten Platz. Er zeigte sich weitgehend hilflos in der Zeit vor dem Bürgerkrieg, als der Norden und der Süden immer weiter auseinanderdrifteten. Seine Verteidiger finden sich vorwiegend in seinem Heimatort Lancaster, Pennsylvania. Dort weißt man gerne darauf hin, dass es in seiner Amtszeit wenigstens nicht zum Krieg gekommen sei. Wohl aber unter seinem Nachfolger, dem glorifizieten Lincoln. Während dessen Amtszeit starben 600,000 Menschen im Bürgerkrieg. Buchanan selbst fühlte sich allerdings selbst nicht wohl in seiner Haut als Präsident. Er sagte bei der Übergabe zu Lincoln: “Wenn Sie so glücklich sind, das Präsidentenamt anzutreten, wie ich es bin, dass ich es verlassen kann, dann sind Sie ein wirklich glücklicher Mann.” Der größte Verlierer im politischen Sinne ist aber wohl Millard Fillmore,  der nach einem schweren Schicksalsschlag – sein Sohn war der einzige Tote bei einem Eisenbahnunglück – zum Alkoholiker wurde. Auch er hält einen “Rekord”: Er wurde als einziger Präsident von seiner eigenen Partei nicht zur Wiederwahl aufgestellt. Henry Harrison ist ein weiterer der vergessenen Präsidenten, der einen Rekord hält: Er hielt die längste Antrittsrede. Sie dauerte gut zwei Stunden und umfasste 8445 Wörter. Washington hatte nur 135 Wörter gebraucht. (Gerste Ronald D.: “Die kennt keiner mehr”, in: Die Zeit 53/20116: 19)

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Kurkonzert

Kur in Kurland bezieht sich auf die Kuren. Das war ein baltischer Volksstamm im heutigen Lettland und Litauen.

Das hat nichts zu tun mit der Kur im Kurier. Der kommt von lateinisch currere, ‚laufen‘. Und steckt auch in Kurs, kursiv, Exkurs, Konkurs, Diskurs, Exkurs, Konkurrenz und Curriculum, aber auch in Corso und in Korsar.

Das alles hat wiederum nichts zu tun mit Kur in Kurfürst. Der kommt von küren, und heißt so, weil er wählen durfte. Wen? Den Kaiser. Und das steckt auch in Kurpfalz, Walküre (die unter den Toten des Schlachtfeldes wählt) und Kürturnen (weil man da wählen kann).

Das wiederum hat nichts zu tun mit der Kur in Kurtaxe. Das ist wieder Latein, kommt aber von cura, ‚Sorge‘. Die steckt auch in kurieren, Kurator, Kurort, aber auch in Kurpfuscher. Und in Prokurist und in Kustos und in Maniküre und in Sinekure und in akkurat und in …

(Storfer, Adolf Josef: Wörter und ihre Schicksale. Zürich: Atlantis Verlag, 1981: 252-254)

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Chatterboxes

According to a widely-held belief, women talk more than men. But how can we find out whether this is true or not? Experiments have generated different results. That is not surprising. There are plenty of pitfalls which experimenters can fall into. The results may depend on the design of the experiment. For example, were the data collected in a laboratory situation or gathered from a corpus of spontaneous conversation? If it was a laboratory setting, could the tasks have influenced the results? Were the subjects discussing a topic that men traditionally know more about than women? Were subjects giving monologues or, conversing in pairs or talking is small groups? Were they talking with others of the same sex or in a mixed-sex group? In one experiment, for example, men spoke more if they were in the minority: the fewer men in the group, the larger their amount of speaking time. Conversely, this was not the case with women. Other experiments showed that men speak more in the classroom. Men initiated more interaction, no matter if the teacher was male or female (though the difference was larger if the teacher was male). Men also responded more often but only if the teacher was male! Another factor to be taken into consideration is the testees’ social class. Would the results have been different if they had been working class people and not (as is often the case in experiments) middle-class people? Is the sex of the researcher a neutral factor or could it also influence results? And, most importantly, if you are interested in quantity, what do you count: number of words, number of turns, or length of speaking time? In some experiments women actually had more turns but less speaking time. Who, then, speaks more, men or women? However contradictory the results may be, in general it seems clear that, if there is a difference, the difference is rather small, and certainly nothing like what is sometimes reported in the popular press. The numbers quoted there seem to be plucked out of thin air. One stable finding is that differences between the two groups are dwarfed in comparison with differences within either group. If the differences between men and women with regards to talkativeness are quite small after all, why then are women believed to be so much more talkative than men? Probably because people just don’t notice talkative men and silent women or, if they do, classify them as exceptions. A perfect way of leading oneself up the garden path. (Kaplan, Abby: Women Talk More Than Men … And Other Myths About Language Explained. Cambridge: Cambridge University Press, 2016: 155-189)

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Der Kuss

Ein unscheinbarer Offizier, der schüchternste, farbloseste, bescheidendste der ganzen Brigade, zieht mit seinen Kameraden ins Manöver. Auf dem Weg machen sie halt auf einem Gutshof, wo der Hausherr zu einer Abendunterhaltung mit Ball einlädt. Der Offizier steht abseits und genießt die Musik und den Kognak. Der Sohn des Hausherrn lädt ihn zu einer Partie Billard ein. Auf dem Weg zurück verläuft er sich gedankenverloren in dem Haus und kommt durch ein dunkles Zimmer. Plötzlich hört er eine Frauenstimme: “Endlich!”. Und fühlt, dass die unbekannte Frau ihn umarmt und ihm einen leidenschaftlichen Kuss gibt, im gleichen Moment aber zurückweicht. Es gibt keinen Zweifel: Es handelt sich um eine Verwechslung. Der Offizier kehrt beschwingt zu den Tanzenden zurück und zieht am nächsten Tag, von einem unbekannten Glücksgefühl getragen, mit den Kameraden ins Manöver. Erwartungsvoll sieht er dem Moment entgegen, wo sie auf dem Rückweg wieder an dem Gutshof vorbeikommen. Als es endlich soweit ist, stellt sich heraus, dass es keinen Ball gibt. Der Ball ist abgesagt worden. Der Offizier zieht sich zurück und legt sich ins Bett. Es beginnt eine Zeit der Selbstreflektion, eine Zeit des Nachdenkens über das eigene Leben und das eigene Glücksbedürfnis. Er sieht ein, welche vergeblichen Hoffnungen er an sein eigenes Leben geknüpft hat, in einer Szene, die voller Resignation, voller Melancholie, voller Weisheit ist. Als der Offizier dann erfährt, dass der Ball nun doch stattfinden soll, verzichtet er und bleibt einfach liegen. (Besprechung von Tschechows Kurzgeschichte “Der Kuss”, in “Forum”, SWR2: 01/02/2017)

 

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Una negrigura

„Terni, vieni qui!“. So schallt es durch das Haus, wenn Terni seine Zeit mit nutzlosen Plaudereien mit der Familie verbringt, statt sich die Gesteinssammlung im Arbeitszimmer des Vaters anzusehen. “Non faccia il sempio!“. „Non faccia il paglioacchio!“. Das aufbrausende Temperament des nie von irgendwelchen Zweifeln geplagten Vaters trifft den Freund und Kollegen genauso wie alle anderen. Natalia, das Dienstmädchen, wenn sie mal wieder seine Bücher durcheinander gebracht hat, ist „una demente“, und das sagt er auch, wenn sie in Hörweite ist. Natalia hat sich längst daran gewöhnt und bleibt der Familie fünfzehn Jahre erhalten. Mit gleicher Missachtung jeder political correctness, die es damals ohnehin noch nicht gab, nennt er alles, was ihm gegen den Strich geht, „una negrigura“. Im Zug ein Gespräch mit Mitreisenden zu beginnen: „una negrigura“; sich die kalten Füße am Ofen wärmen: „una negrigura“; Servietten mitnehmen, um sich beim Picknick die Hände zu reinigen: „una negrigura“.  Zum Leidwesen der Kinder, die auf die unendlichen Wanderungen mitgeschleppt werden, sind leichte Sportschuhe ebenfalls „una negrigura“, und die Kinder, mit ihren groben, bleischweren, nägelbeschlagenen Wanderschuhen, beäugen neidisch die „neri“, die anderen Kinder, die es sich mit ihren leichten Schuhen an Rastplätzen gemütlich machen und über Gebäck und Sahne herfallen: “una negrigura”, versteht sich. (Ginzburg, Natalia: Lessico famigliare. Torino: Einaudi, 2014: 3-14)

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Neumodisches Zeug

Die Abschaffung des Fez als Kopfbedeckung der Männer wurde in der Türkei als großer Bruch mit der Tradition erfahren, ebenso wie die anderen radikalen Erneuerungen, die Atatürk einführte. Der Fez war aber erst im 19. Jahrhundert von einem westlichen orientierten Sultan eingeführt worden. Mit dieser Neuerung sollte ein altertümliches Kleidungsstück abgeschafft werden: der Turban.

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Landeskunde

Enaiat, afghanischer Flüchtling, hat es nach einer jahrelangen Odyssee endlich nach Italien geschafft. Er geht eine Straße entlang und trifft dort auf zwei Radfahrer. Sie unterhalten sich, so gut es geht, obwohl alle nur ein paar Brocken Englisch können. Einer der Radfahrer ist Franzose, und Enaiat sagt: Zidane! Der andere ist Brasilianer, und Enaiat sagt: Ronaldinho! Sie erfahren, dass er aus Afghanistan kommt und sagen ohne Zögern: Taliban! (Geda, Fabio: Nel mare ci sono i coccodrilli. Stuttgart: Reclam, 2015: 182-183)

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Statt Religion

Essen, was schmeckt, sich Zeit nehmen, genießen. Wunderbar! Aber jetzt, wo wir es können, tun wir es nicht mehr. Überall lauern Gefahren, überall herrschen Verbote. Alkohol und Zucker sind des Teufels, neuerdings stehen auch Gluten und Laktose auf dem Index. Warum eigentlich? Die sind völlig unschädlich, wenn man gesund ist. Also bildet man sich ein, nicht gesund zu sein. In einem einzigen Jahr, 2012, stieg der Umsatz an laktosefreien Lebensmitteln um 20%, aber die Zahl der Laktose-Intoleranten blieb stabil. 80% der Käufer laktosefreier Produkte haben gar keine Unverträglichkeit. Woher kommt das? Man braucht Regeln, man teilt die Welt in Gut und Böse ein und man verspricht sich Erlösung, wenn man sich an die Regeln hält. Und zahllose Ratgeber, Blogs, angesagte Restaurants befördern dieses Bedürfnis. Die Esser kontrollieren obsessiv jedes Etikett und erkundigen sich über Herstellungsverfahren. Das wird unterstützt von offiziellen Stellen, die Ratschläge zur gesunden Ernährung geben. Es geht beim Essen nicht mehr um Genuss, sondern um Verzicht. Ständig kreisen die Gedanken um das Essen, ständig hat man ein schlechtes Gewissen, wenn man sich nicht an die Regeln hält. Dafür hat früher die Religion gesorgt. Sie setzte die Normen. Jetzt dringt in dieses spirituelle Vakuum die Gesundheitsreligion. Paradoxerweise ist unsere Entscheidungsfreiheit beim Essen aber gerade ein Ergebnis der Befreiung von religiösen Vorschriften. (Burger, Kathrin: „Der Wahn vom gesunden Essen“, in: Süddeutsche Zeitung 112/2016: 16)

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Weirdos

When I was a small child, I used to play with the girl next door. She didn’t understand anything I tried to tell her, but it didn’t matter. We played together all the time, using simple gestures to communicate. I thought something was wrong with her, but I adapted easily to the limitation. One day when I was about four, I went inside her house. As I stood there, her mother came downstairs. Nothing happened between her and the girl that I could see. Then I saw her mother point at the doll house in the hallway. The girl ran and moved the doll house back into her room, as if she had just been told to do so. I was astounded. I knew it was different, something different. I knew they had communicated, in a form I couldn’t see. But how? I asked my mother about what I had seen. “They are called ‘hearing’”, she explained. “They don’t sign. They are hearing. They are different. We are Deaf. We sign.” I asked if the family next door are the only ones, the only hearing people. My mother shook her head. “No”, she signed, “it is us who are alone”. I was very surprised. I naturally assumed everyone was like me. (Childhood experience recounted by Sam Supella, in: Perlmutter, David M.: “No nearer the soul”, in: Natural Language and Linguistic Theory 4/1986: 515-523)

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Gar nicht mal so neu

Ein Sprachwissenschaftler behauptet, die deutsche Umgangssprache habe sich in den letzten Jahrzehnten rasant verändert. Das bezweifle niemand mehr. Wirklich nicht? Warum soll sich die Umgangssprache in den letzten Jahrzehnten mehr verändert haben als zuvor? Und was ist der Beleg dafür? Seine Belege bezieht der Professor aus der persönlichen Beobachtung von Fernsehserien und Talkshows. Keine sehr verlässliche Quelle, keine sehr verlässliche Methode. Und die Ergebnisse, die er präsentiert, bestätigen die Zweifel: Es wird konstatiert, die grammatischen Fälle gerieten durcheinander oder gingen gleich ganz verloren. Es wird konstatiert, der Artikel falle zunehmend weg. Es wird konstatiert, das Verb machen werde als Allzweckwaffe eingesetzt und verdränge jede differenziertere Ausdrucksweise. Aber woher wollen wir wissen, dass das eine neue Erscheinung ist? Ganz ähnliche Entwicklungen konstatierten schon unsere Lehrer in der damaligen Volksschule. Woher will der Professor wissen, dass das, was er konstatiert, keinen radikalen Sprachwandel darstellt, sondern einen Wandel im öffentlichen Gebrauch von Sprache, der Tatsache, dass mehr und mehr „normale“ Menschen die Medien für einen Auftritt nutzen können und dass in Fernsehserien die Sprache der breiten Mehrheit einfach mehr Platz findet? Der Verlust des Genitivs wird schon immer beklagt, aber er ist immer noch da. Und woher weiß der Professor, dass seine eigene Wahrnehmung nicht selektiv ist? Dass die deutsche Sprache sich wandelt, ist nichts Neues. Dass sich dabei ein gradueller Übergang von einem stärker synthetischen Satzbau zu einem stärker analytischen Satzbau vollzieht (was sich etwa durch den Ersatz von Fällen durch präpositionale Fügungen ausdrückt), ist auch oft beobachtet worden. Aber das ist ein langsamer, schleichender Vorgang, ein Vorgang, der nicht alle Sprecher in allen Sprechsituationen in gleicher Weise erreicht. Sprache, bei allen Veränderungen, ist im Wesentlichen ein stabiles System. Sonst wäre Kommunikation gar nicht möglich. Und der Professor spricht an keiner Stelle davon, er habe die Beiträge in den Fernsehserien und den Talkshows nicht verstanden. Dass das gesprochene Deutsch noch nie so weit von der Schulgrammtik entfernt sei wie heute ist jedenfalls blühender Unsinn. Und das sich erst jetzt eine “Diglossie” herausbilde, dass erst jetzt “anders gesprochen als geschrieben werde” ebenfalls. Seit eh und je glauben Sprecher, ihre Sprache verändere sich gerade zu ihrer Zeit besonders rasant. Schon deshalb steht eine solche Annahme auf schwachen Füßen, auch wenn sie von einem Sprachwissenschaftler kommt. (Hinrichs, Uwe: „Die deutsche Sprache wirft ihren Ballast ab“, in: Die Zeit 16/2016: 50)

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Wunder wirken

Die Wissenschaft, argumentier Eckart von Hirschhausen, habe die Magie aus der Medizin vertrieben, aber nicht aus dem Menschen. Als Beispiele führt er an: Wenn ein Arzt vor einer Narkose dem Patienten sagt, er könne danach Kopfschmerzen haben, dann treten Kopfschmerzen tatsächlich häufiger auf. Der Nocebo-Effekt. Sein Gegenstück, der Placebo-Effekt, ist seit langem bekannt. Aber verrückterweise wirkt der auch, wenn man gar nicht vorgibt, das wäre ein wirksames Heilmittel. Ein Harvard-Professor gab seinen Patienten mit Reizdarm ein Mittel und sagte ihnen: “Ich gebe Ihnen ein Mittel, das keinen Wirkstoff enthält.” Und das schlug bei 42% der Patienten an. Ist das Humbug? Oder ist das heilsamer Zauber? Kann die Medizin davon Gebrauch machen? Dass die Wissenschaft aber die Magie nicht aus dem Menschen vertrieben hat, das sieht man in unserer aufgeklärten Welt überall. (Herrmann, Sebastian: “Medizin ist völlig überschätzt”, in: Süddeutsche Zeitung 243/2016: 10)

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Quasselstrippen

„Frauen reden mehr als Männer.“ Die meisten Studenten glauben, dass das stimmt. Jedenfalls ist das das Ergebnis, wenn ich die Sache in meiner Vorlesung anspreche. Und das glauben nicht nur die Männer unter den Studenten, sondern auch die Frauen unter ihnen. Ich selbst habe immer Zweifel daran gehabt. Die Vorlesung selbst ist ein Gegenbeispiel. In der Vorlesung, also im öffentlichen Raum, sind die Männer, gemessen an ihrem Anteil, aktiver als die Frauen. Studien zu dem Thema kommen zu widersprüchlichen Resultaten. Kein Wunder: Es kommt auf die Art der Überprüfung, die Auswahl der Testpersonen, den Kontext des Experiments an: Sind Männer und Frauen unter sich oder sind sie in einer gemischten Gruppe? Allein das kann einen gewaltigen Unterschied machen. Und: Sind solche Simulationen überhaupt repräsentativ? Eine Studie hat jetzt Probanden mit einem Aufnahmegerät versehen und den gesamten Tagesbedarf getestet. Wenn das Ergebnis stimmt, kann man das Klischee der quasselnden Frau getrost vergessen: Frauen kamen nur auf eine minimal höhere Zahl an Wörtern. Das hat mich weniger überrascht als die absoluten Zahlen: 15.669 für Männer, 16.215 für Frauen!

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Scharfe Hunde

In einem Vortrag am Center for Metropolitan Studies in Berlin, „Der deutsch-deutsche Schäferhund“, enthüllte die Doktorandin Christiane Schulte, dass viele der Wachhunde in der DDR von den KZ-Wachhunden der Nazis abstammten. Nach der Wende waren einige dieser Hunde dann an den EU-Außengrenzen eingesetzt worden. Nach der Wende gab es im Westen auch eine große private Nachfrage nach diesen Hunden. Sie galten als besonders scharf. Im Osten dagegen waren sie nicht so begehrt. Schulte sieht die Osthunde als manipulierte Opfer der von Gewalt geprägten deutschen Geschichte. An der Mauer seien auch 34 Schäferhunde ums Leben gekommen. Das erste Maueropfer war sogar ein Schäferhund. Schulte forderte deshalb, in das geplante Einheitsdenkmal auch eine stählerne Hundeleine zu integrieren. Der Vortrag wurde mit Applaus aufgenommen und später in leicht veränderter Fassung in einer renommierten Zeitschrift veröffentlicht. Wenig später meldeten sich in einer Online-Zeitschrift Autoren und enthüllten, dass alles frei erfunden war. Sie waren eine Gruppe kritischer Wissenschaftler und wollten beweisen, dass jeder Quatsch eine Chance hat, veröffentlicht zu werden, solange er den gängigen Erwartungen entspricht. Sie hätten erzählt, was die Leute hören wollten. Die Wahrheit über die Schäferhunde in der DDR erzählt eher ein Artikel im Spiegel, der argumentiert, die Grenzhunde seien eher so etwas wie Attrappen gewesen, die der Abschreckung dienten, selbst aber ungewöhnlich zärtlichkeitsbedürftig waren. Dass das, was man in Fernsehen oder im Radio hört, nicht stimmen muss, ist bekannt. Aber das gilt auch für die Wissenschaft. (Martenstein, Harald: „Über Nazi-Schäferhunde und andere Lügengeschichten“, in: Zeitmagazin 11/2016: 8)

 

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Augenwischerei

Demokratien leiden massiv unter Selbstbetrug. Man feiert sich selbst und die autonome Entscheidung des Bürgers. Das geht ungefähr so: Der mündige Bürger erkundigt sich vor der Wahl über die Probleme des Landes, wägt Lösungsalternativen ab und wählt diejenigen ins Amt, die die als richtig erkannte Lösung verwirklichen. Die Mehrheit erreichen diejenigen, die in einer rationalen Debatte argumentativ überzeugen. Die Wirklichkeit ist anders. Die meisten von uns verstehen von den komplexen Gesetzeswerken, die zur Debatte stehen, viel zu wenig: Wer kann schon die gesetzliche Rente aufgrund von „Entgeltpunkten“, „Zusatzfaktoren“ oder „Rentenartfaktoren“ erklären? Die Rente ist für uns ein Buch mit sieben Siegeln, und doch ist das Gesetz von größter Bedeutung für alle Rentenzahler und Rentenempfänger. Also gelten andere Kriterien bei der Auswahl der richtigen Partei oder der richtigen Kandidaten. Der typische Wähler entscheidet eher danach, welcher Gruppe er sich zugehörig fühlt. Die Wahl drückt in erster Linie soziale Identität aus. Das bestätigt eine Studie in den USA, die sich den Wählern Bernie Sanders und Hillary Clintons annahm. Es stellte sich heraus, dass in konkreten Fragen die Anhänger Sanders‘ deutlich weniger „linke“ Positionen vertraten als die Clintons. Sie fühlten sich als Teil einer mitreißenden Szene, die eine linksliberale Wende in den USA herbeisehnt. Doch die konkrete Umsetzung dieser Ziele entsprach dem nicht. In der Umfrage zeigte sich, dass sie einen erheblich begrenzteren Politikwechsel wollten als Sanders selbst und als Clinton – und ihre Anhänger! Dem System kann es egal sein. Es funktioniert vielleicht so gut wegen der Augenwischerei. (Zielcke, Andreas: „Der Trump in uns“, in: Süddeutsche Zeitung 249/2016:15)

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Massensterben

Eintagsfliegen mit einer Flügelspannbreite von 48 Zentimetern und bis zu 2 Meter große Tausendfüßer und Skorpione – nicht für jeden von uns eine verlockende Vorstellung. Aber so hat es hier auf der Erde mal ausgesehen. Das glauben jedenfalls zwei amerikanische Wissenschaftler, Peter Ward und Joe Kirschvink. Sie gehen davon aus, dass Evolution keine allmähliche, kontinuierliche Sache ist, sondern dass es Brüche gegeben hat, Katastrophen, bei denen die Erde knapp daran vorbeigekommen ist, ein toter Planet zu werden. Da gab es völlige Vereisung, wo sich Leben nur noch am Meeresboden befand, und da gab es Zeiten, wo sich der Sauerstoffgehalt so erhöhte, dass sich riesige Insekten entwickelten wie die überdimensionale Eintagsfliege. Fünf solcher Katastrophen hat es mindestens gegeben, Ward und Kirschvink vermuten, es waren zehn. Und jedes Mal ist es zu einem Massensterben gekommen. Die Gewinner waren die Überlebenden, denn die hatten Platz und konnten sich ausbreiten. Bis sich wieder neue Arten entwickelten. So zum Beispiel, als der Sauerstoffgehalt der Erde dann wieder zurückging, auf 21%. Da entwickelten sich Tiere mit Lungen, wie Vögel und Reptilien. Und der Mensch. Und der wiederum profitierte von seinem aufrechten Gang. Der brauchte nicht, wie die Reptilien, bei jedem Schritt die Lungen zusammendrücken und konnte sich dadurch schneller fortbewegen. („Buchkritik: Peter Ward/Joe Kirschvink: Eine neue Geschichte des Lebens“, in: Deutschlandradio Kultur. 02/11/2016)

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