Erkenne dich selbst – besser nicht

Im antiken Rom gab es kein Ideal der Jungfräulichkeit. Im Gegenteil: Das Beharren auf der Unberührtheit galt als Zeichen von Einseitigkeit, Beziehungslosigkeit, mangelnder Bereitschaft zur Weiterentwicklung. So kommt es auch in den Mythen zum Ausdruck, bei Narziss zum Beispiel. Der flieht bei Ovid vor Echo und sieht nur sich selbst. Und geht daran zugrunde, als er sich in sein eigenes Spiegelbild verliebt. Eine Paradoxie: Er scheitert daran, dass er sich selbst erkennt! Genauso hat es Tiresias, der blinde Seher, vorausgesagt:  Er werde ein langes Leben haben, solange er sich nicht selbst erkennt. (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 5/2003: 75-76)

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Unsere Jungs

“Unsere Jungs”, sagte meine Schwester, als wir klein waren. Die Form Jungs war die einzige Form, die wir kannten. Erst später kam dann die Form Jungen dazu, die irgendwie formaler klang, nach Schriftsprache.  Wir ahnten natürlich nicht, dass Jungs niederdeutsch war, und dass diese Pluralbildung dann auch Eingang fand ins Hochdeutsche und besonders bei Neubildungen und Entlehnungen zu finden ist: Autos, Tanks, Tabus, Omas. Im Hochdeutschen ist diese Pluralbildung relativ neu, im Niederdeutschen gab es sie schon immer: Buddels, Büdels. Bäckers, Jungs, Wracks. (Casemir, Kirsten & Fischer, Christian: Deutsch. Die Geschichte unserer Sprache.Darmstadt: WBG, 2013: 65-66).

 

 

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Kriegt er sie oder kriegt er sie nicht?

Apollo ist scharf auf Daphne. Er läuft hinter ihr her. Sie läuft davon. Er lässt nicht nach. Verfolgt sie überall hin. Eigentlich gibt es nur zwei Möglichkeiten: Er kriegt sie. Oder er kriegt sie nicht. Wenn er sie kriegt, schlägt der frivole Ton der Verfolgungsjagd in Zynismus um. Wenn er sie nicht kriegt, bleibt sie auf ihrem jugendlichen Entwicklungsstadium stehen. Ovid findet eine dritte Möglichkeit: Apollo kriegt sie ein, aber in dem Moment, wo er sie erreicht und berührt, verwandelt sie sich in einen Lorbeerbaum. Das bedeutet ihr Name, Daphne, auf Griechisch. Damit wird die Beziehung der beiden auf eine höhere Ebene gehoben. Und Daphne ist nicht mehr eine einzelne Person, sie ist überall lebendig. Jeder Lorbeerbaum ist Daphne. Und ihr wird eine Aufgabe in der Gemeinschaft zugewiesen: Sie schmückt die Sieger bei den Wettspielen, die Dichter bei den Wettbewerben. Aber wer läuft da hinter wem her? Ist Daphne die keusche Jungfrau, die sich durch ihre sittliche Kraft der Welt entzieht und dafür ewigen Lorbeer gewinnt? So sahen es die Kirchenväter. Oder ist Daphne die göttliche Weisheit, die Prudentia, der der Christ nachjagt, um durch sie sein Seelenheil zu gewinnen? So sah es das Mittelalter. Oder ist Apollo der Dichter, der dem Lorbeer hinterherläuft, der weltliche Dichter, dessen Werk durch sie ins Göttliche erhöht wird? So sah es die Renaissance. (Giebel, Marion: Ovid. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 52003: 56-57)

 

 

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Demütiger Beginn

Das erste Buch in deutscher Sprache ist kein Epos, kein Psalm, keine Abhandlung, auch kein Kaufvertrag oder ein Lobgesang auf Gott oder einen Herrscher, sondern – ein Wörterbuch. Das Wörterbuch steht ganz im Dienste des Lateins und ist nach den lateinischen Stichworten geordnet. Das Wörterbuch heißt Abrogans, nach dem ersten Eintrag des Buches. Dem Wort abrogans, mit Zierinitiale, folgt die deutsche Übersetzung: dheomodi ‚demütig‘. Das Buch ist heute in der Stiftsbibliothek des Klosters St. Gallen. (Casemir, Kirsten & Fischer, Christian: Deutsch. Die Geschichte unserer Sprache.Darmstadt: WBG, 2013: 21-23).

 

 

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Farbmarkierung

“Schalke, heißt es, seien die ‘Knappen’, der Arbeiterclub, das ist das Herz seiner Identität. Und es stimmt ja auch, denn er ist ein Club aus der Arbeiterwelt und in der Arbeiterwelt. Aber ist das beim MSV, bei Rot-Weiß Essen, bei Rot-Weiß Oberhausen, Dortmund, Wattenscheid oder Bochum anders?” Diese Passage enthält einen Rechtschreibfehler. Um den zu identifizieren, genügt eine solide Kenntnis der deutschen Rechtschreibung nicht. Er hat etwas mit Traditionen zu tun, mit Konventionen, die sich den allgemeinen Regeln entziehen. Der Fehler liegt bei Rot-Weiß Essen. Es muss Rot-Weiss Essen heißen. Dagegen heißt der Verein aus der Nachbarstadt Rot-Weiß Oberhausen! (Das Zitat ist aus Lischka, Konrad & Patalong, Frank: Das Schönste am Wein ist das Pilsken danach. Köln: Lübbe, 2011: 179)

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Olle Kamellen

Ich weiß nicht, warum ich bei olle Kamellen immer an Bonbons gedacht habe. Irgendeine Verbindung mit Karamell vermutlich. Die ollen Kamellen haben damit aber nichts zu tun. Die Kamelle ist eine umgangssprachliche Form von Kamille. Alte Kamillen verlieren ihre Wirkkraft und sind zu nichts mehr zu gebrauchen.

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Kolporteure

Marskramer heißt ein Gemälde von Jerome Bosch. Es stellt, wie der Titel besagt, einen Hausierer dar. Auf Französisch heißt das Gemälde Le colporteur. Kolporteure waren Leute, die durch die Lande zogen, um ihre Waren anzubieten. Sie hießen so, weil sie die Ware um den ‘Hals trugen’. Entweder als Bauchladen oder auf dem Rücken (wie die Kiepenkerle im Münsterland). Kolporteure boten auch Schriften sensationellen oder unterhaltsamen Inhalts an. Daraus entwickelte sich die moderne Bedeutung! Im Englischen bürgerte sich die Bezeichnung peddler ein, und das wiederum ist von franz. pied abgeleitet!

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Magie der Sprache

Die erste Leserin von Ulla Hahns  Das Verbotene Wort, die Frau, die das Manuskript abtippte, wollte wissen, was aus einem der Charaktere des autobiographischem Romans geworden war. Ulla Hahn konnte keine Auskunft geben. Die Figur war frei erfunden. Magie der Sprache.

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Da ist der Wurm drin

Merkwürdige Parallele: Hebbels Maria Magdalena und Kazantzakis Alexis Sorbas sprechen beide vom Wasser und von der Wirkung, die es hat, wenn man es unter der Lupe betrachtet. Die Lust am Trinken vergeht einem. Man entdeckt überall kleine Würmer. Hat Kazantzakis vielleicht Hebbel gelesen? Oder sind beide zufällig auf den gleichen Gedanken gekommen? Oder ist es gar kein origineller Gedanke und beide geben etwas wieder, was sie irgendwo gehört haben? Die Stoßrichtung ist klar: Die Lupe ist schädlich, sie hindert am Leben. Allzu genau hinschauen ist verderblich. Wirf die Lupe weg, breche sie entzwei, sagt Sorbas ganz ausdrücklich. Das richtet sich an seinen Freund und Chef, an den Erzähler, den Bücherwurm. Beide Männer, die die Würmer nicht sehen wollen, Meister Anton und Sorbas, sind erdverbundene Charaktere, keine Denker. Dass sie so denken, ist eine Sache. Was denken ihre Autoren? Teilen sie das? Sind sie hin- und hergerissen? Kann man die Lupe überhaupt wegwerfen, wenn man einmal angefangen hat, sie zu gebrauchen?

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Diamonds are a tsar’s best friend

Humboldt, der Minenexperte, hatte schon vor seiner Reise nach Sibirien in einem Gutachten das Vorkommen von Diamanten vorausgesagt und das auch der Zarin bei seinem Besuch in Petersburg angekündigt. Während der Reise wurde dann im Ural tatsächlich der erste sibirische Diamant gefunden. (Meyer-Abich, Adolf: Alexander von Humboldt. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 131998: 121-123).

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Ohne Punkt und Komma

Dass Homer keine Satzzeichen kannte, kann man sich noch vorstellen – erst Aristophanes redigierte die Texte und setzte graphische Unterbrechungszeichen – aber dass Cervantes seinen Don Quijote noch ohne Punkt und Komma schrieb, ist kaum zu glauben. Selbst Goethe legte keinen großen Wert auf Interpunktion. Er überließ sie weitgehend den Schreibern oder den Setzern in den Druckereien. Die richteten sich nach Adelung. Der hatte ein Regelwerk verfasst, und das wurde zum Maßstab. Die straffe Interpunktion, der wir folgen, ist auf jeden Fall eine junge Erfindung. Die wird oft als bequem empfunden. Es gibt aber auch gute Gründe, sich nicht an die Regeln zu halten. Ein Schreiber kann Interpunktion für feine Schattierungen einsetzen. Auch Duden sprach sich entschieden dafür aus. (Borchardt,  Katharina: „Ohne Punkt und Komma? Der Punkt als Text-Ordnungssystem“, in SWR 2 Matinee: 08/03/2015)

 

 

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Ein Stück weit

Zitat aus einer Radiosendung (SWR 2: Forum, 19/02/2015). Ein Migrationsforscher spricht: „An jeder dieser Schwelle beobachten wir, dass Migrantenkinder immer ein Stück weit runterfallen. Das liegt an den Eltern, aber überwiegend an unserem selektiven Bildungssystem. Ich glaube auch, dass es dort ein Stück weit Diskriminierung gibt, diese Selektivität ist im System ein Stück weit angelegt, da muss man das ganze Bildungssystem ein Stück weit überdenken … Dann ist es halt ein Stück weit bedauerlich, “ Da hat er recht, der Herr Professor. Ein Stück weit.

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Leseprobe

Liest man Schriften mit Serifen schneller als Schriften ohne Serifen? Bin bisher immer nur auf Hinweise gestoßen, die sagen: Man weiß es nicht. Zu unterschiedliche Untersuchungsergebnisse. Jetzt irgendwo etwas gesehen, das vielleicht zeigt, warum die Untersuchungsergebnisse unterschiedlich sind: Danach liest man Schriften mit Serifen schneller (um etwa ein Fünftel), vorausgesetzt, die Serifen sind nicht allzu fett und vorausgesetzt, die Serifen sind nicht allzu fein. Und noch was: Das Ergebnis gilt für Druckerzeugnisse, nicht aber für Bildschirme. Die meisten der handelsüblichen Bildschirme haben keine ausreichende Auflösung. Mit einem Wort: Die Frage ist zu einfach gestellt.

 

 

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Grob gesprochen

“Das war ein brutal wichtiges Spiel”; “Wir haben brutal gegen den Ball gearbeitet”; “Der Abstiegskampf ist brutal”;  “Fehler viel brutaler bestraft als in der 3.Liga.” Die deutschen Fußballspieler haben ein neues Modewort entdeckt. Früher wurde man höchstens mal brutal gefoult.

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Preise verdorben

Heutzutage müsse man sich von neunjährigen Kindern verspotten lassen, weil man nicht lesen könne. So klagt Klaras Mutter in Hebbels Maria Magdalena. Früher sei alles anders gewesen. Da hätten die Herren sich um einen geschickten Schreiber gerissen. Wenn ein Sohn einen Neujahrswunsch für den Vater aufsetzte, dann kassierte der Schreiber für das Aufsetzen des Neujahrswunsches genauso wie für das Vorlesen des Neujahrswunsches hinter verschlossenen Türen, damit man nicht aufgedeckt werde und die Unwissenheit ans Licht kam. Es gab also doppelte Bezahlung, und das machte das Bier teuer!

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