Touristen und Studenten

Touristen wollen zweierlei: ihre Vorstellungen krass widerlegt (“Wer hätte das gedacht?”) oder eindeutig bestätigt (“Hab ich mir doch gedacht!”) sehen. Alles dazwischen verwirrt nur.  So sieht es der Autor eines Buches, der über seine Erfahrungen als “Stadtbilderklärer” auf einem Ausflugsboot in Berlin berichtet (Tilman Birr, On se left you see se Siegessäule. München: Goldmann, 2012). Das erinnert mich irgendwie an meine Studenten.

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Schnelle Schweden

“Wir gingen alle miteinander zu Fuß den anderthalb Meilen langen Weg nach Stockholm in weniger als drei Stunden.” So steht es in einem Buch, das ich gerade lese, Ernst Brunners Biographie des schwedischen Sängers Carl Michael Bellmann. Da fragt man sich, warum das schnell sein soll, anderthalb Meilen in drei Stunden. Die Erklärung ist, wie eigentlich immer, sprachlich. Eine schwedische Meile ist zehn Kilometer. Also schaffen sie fünfzehn Kilometer in drei Stunden. Das ist wirklich schnell, vor allem, wenn man den Rest des Satzes dazu nimmt: “… und dabei schafften wir es noch, den Probst Honther in Spanga zu besuchen.” (Brunner, Ernst, Ich lebte von Liebe und Wein. Berlin: List, 2006: 122)

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Witwer? – Witwer!

In einer russischen Kurzgeschichte lese ich folgenden Dialog: “‘Ist er Witwer?’, flüsterte ich mechanisch. ‘Witwer’, antwortet Pelageja Iwanowna leise.” So spricht vielleicht ein Russe, aber kein Deutscher. Das ist eine Übersetzung, die sich zu eng am Original hält (Es sei denn, man wolle eine Interlinearübersetzung machen, die die Charakteristika der Ausgangssprache erhellt). Die Antwort auf eine solche Frage ist im Deutschen ganz einfach “Ja.” Sprachen, die kein Wort für ja haben – Latein gehört wohl dazu – müssen andere Modalitäten finden wie etwa die Wiederholung eines Wortes aus der Frage, und das ist im Russischen, vermutlich aus historischen Gründen, durchaus Standard, und so ist es auch im Original: Im Deutschen aber nicht. Man würde das wenigstens als fremd, wenn nicht als exaltiert empfinden. (Michail Bulgakow, ” Полотенце с петухом – Das Handtuch mit dem Hahn”, in: Последнее свидание. Рассказы – Letztes Wiedersehen. Russische Erzählungen. München, DTV, 3/2011: 64-5)

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Bluttransfusion

Im Fernsehen wird gezeigt, wie die Massai in Tansania ihren Tieren, vor allem den Ochsen, aus kürzester Entfernung einen Pfeil in den Hals schießen. Warum machen die das? Es geht nicht darum, die Tiere zu schlachten. Auch nicht darum, ihnen überhaupt Schaden zuzufügen. Den Tieren kann die Prozedur nichts anhaben, und sie wird jeden Monat wiederholt. Es geht um das aus der Wunde fließende Blut. Das wird aufgefangen und den Kindern und den Kriegern als Getränk verabreicht – zur Stärkung. Die Kinder trinken das Blut mit sichtlicher Freude und zeigen lachend ihre roten Zähne.

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Diplom mit Note Fünf

In einer russischen Kurzgeschichte lese ich von einem jungen Arzt, der eine Stelle in einem Krankenhaus antritt. Während der Fahrt dorthin und noch mehr nach der Ankunft macht er sich Gedanken, ob er dieser Aufgabe gewachsen sei. Er sieht nur seine Unkenntnis und die schwierigen Fälle, die auf ihn zukommen könnten. Dabei hat er doch, tröstet er sich, ein Diplom, und fünfzehn Fünfen in der Abschlussprüfung. Das hört sich für einen Deutschen nicht so toll an, aber es sind, auf deutsche Verhältnisse übertragen, fünfzehn Einsen.(Michail Bulgakow, ” Полотенце с петухом – Das Handtuch mit dem Hahn”, in: Последнее свидание. Рассказы – Letztes Wiedersehen. Russische Erzählungen. München, DTV, 3/2011: 56-7)

 

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Geschlecht: unsichtbar

In der schwedischen Vorschule Egalia – der Name ist Programm – werden die Personalpronomen han, ‘sie’ und hon, ‘er’ durch das neu kreierte, neutrale hen ersetzt, lese ich in der Zeitung (Maas, Marie-Charlotte: “Sei, was du willst”, in: Die Zeit 34/2012: 62). Damit, so wird behauptet, würden geschlechtsspezifische Vorstellungen abgebaut. O sancta simplicitas! Wenn’s so einfach wäre. Nach dieser Rechnung bräuchte man nur ein paar Stellschrauben der Sprache verstellen, und schon hätten alle eine “reine Gesinnung”. Sprache und das Verhältnis von Sprache und Denken sind aber komplizierter. Jeder Euphemismus ist Beleg dafür. Andere Sprachen haben die Unterscheidung zwischen hon und han erst gar nicht. Dazu gehören Japanisch und Türkisch. Also gibt es dort auch keine Geschlechterklischees?

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Naughtie mistake?

James Naughtie, einer der Moderator von Today im Radio 4 der BBC, ist bekannt für seine langen Fragen und seinen markanten schottischen Akzent. Er ist auch bekannt für einen Verprecher in einer Sendung im Dezember 2010, als er ankündigen wollte, dass er später mit Jeremy Hunt sprechen werde, dem britischen Kulturminister, ihn dabei aber versehentlich Jeremy Cunt nannte. Das Wort cunt ist ein ziemlich derbes Wort für das weibliche Sexualorgan und ein ebenfalls ziemlich derbes Wort für einen Idioten. Es kam zu wütenden Protesten einiger Zuhörer, aber andere fanden es einfach witzig, vor allem die Art und Weise, wie Naughtie versuchte, sein eigenes Lachen hinter einem Hustenanfall zu verbergen. Naughtie entschuldigte sich später bei den Hörern. Parallel dazu wurde ein Leserbrief vorgelesen, der den Fehler nicht als Freudschen Fehler interpretierte, sondern einfach eine phonologische Erklärung lieferte. Der Name des Premierministers, Cameron, fängt mit dem Laut an, mit dem auch cunt anfängt. Die vielen Reaktionen veranlassten die BBC, kurz nach Today eine Diskussion über den Versprecher anzusetzen. Deren Moderator war Andrew Marr. Viel Aufwand wegen eines kleinen Versprechers, aber es lohnte sich: Andrew Marr wiederholte während der Diskussion aus Versehen genau den Versprecher, den Naughtie gemacht hatte!

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Geregelter Anarchismus

Beim Internationalen Anarchistentreffen in der Schweiz, höre ich im Radio, ist es verboten, Hunde mitzubringen.

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Fleischeslust

Deutsche Männer essen doppelt so viel Fleisch wie deutsche Frauen und trinken viermal so viel Alkohol wie deutsche Frauen. Das ist das Ergebnis einer wissenschaftlichen Untersuchung. Diese Männer! Aber Vorsicht: Die Ergebnisse der Untersuchung beruhen auf Selbstauskunft. Man wird gefragt, wie viel man isst und trinkt, und das gilt. Da kommt natürlich das Selbstbild ins Spiel. Wie verlässlich ist das? Kann durchaus sein, dass die Männer übertreiben und die Frauen untertreiben, und in Wirklichkeit beide näher aneinander liegen, als die Umfrage nahelegt. Und wie genau sind die Werte, wenn man gefragt wird, wie viel Fleisch man pro Jahr ist? Wie kann man das einschätzen? Ich hätte jedenfalls keine Ahnung, wie das bei mir aussieht. (All dieses wunderbare Wissen verdanke ich einer Radionsendung auf SWR2.)

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Kulturreise

In einem Internetreiseforum lese ich folgenden Eintrag: “Wer in Krakau studiert, MUSS jeden Abend weggehen, denn das kulturelle Angebot in dieser Stadt ist RIESIG. Hier findet man hunderte von Kellerkneipen, Cafés, Studentenclubs und Diskotheken. “

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Adieu Federbüchse

In einem Artikel über Deutsch und dessen Zukunft, der mir von einer Studentin zur Verfügung gestellt wurde (und der ganz nebenbei auch die absurde Befürchtung widerlegt, in 50 Jahren gäbe es kein Deutsch mehr) geht es u.a. um Auskehrgericht, Federbüchse, Genüssling, Magdtum, und Weißsucht. Es sind Wörter, die aus der letzten Ausgabe des Duden verschwunden sind.

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Orange oder Apfelsine?

Eine ausländische Studentin fragt mich nach dem Unterschied zwischen Orange und Apfelsine im Deutschen. Ich antworte, etwas vorschnell, dass Orange das formalere Wort ist. Ich selbst sage immer Apfelsine, wenn es um das Obst geht. Orange klingt für mich fast etwas versnobbt. Andererseits sage ich immer Orangensaft, nie Apfelsinensaft. Ich frage aber dann, da es gerade zum Seminarthema passt, auch die Studenten. Die sehen das anders. Sie gebräuchten fast ausschließlich Orange. Hätte ich nicht gedacht. Vielleicht ist das ein Indix für Sprachwandel: Die jüngere Generation gebraucht zunehmend Orange, und Apfelsine wird allmählich verdrängt. Dann aber frage ich, neugierig geworden, in einem anderen Seminar. Dort ergibt sich ein anderes Bild. Einige der Studenten sagen vorwiegend Orange, andere Apfelsine, und eine Studentin stellt die kuriose Vermutung an, es könne sich um eine regionale Unterscheidung handeln. Hier, in Grenznähe zu Frankreich, herrscht Orange vor, anderswo nicht. Die ausländische Studentin trägt selbst noch bei, dass es in ihrer Sprache, dem Ukrainischen, auch zwei Wörter für Apfelsine gäbe: арельсин – appelsin (wie unsere Apfelsine ‘Apfel aus China’) und помаранча – pomarancia (eine Verbindung von fr. ‘Apfel’ und ital. ‘Orange ‘). Davon wird im Alltag fast nur appelsin benutzt; pomarancia ist ein formaleres Wort, und auch das Wort, das zur Benennung der Orange Revolution benutzt wird.

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Brett vorm Kopf?

Einer Zeitungsnotiz zufolge benachrichtigen Nachbarn die Polizei, als sie aus einer Wohnung Schreie hörten: “Du mieses Stück!” – “Dich mach ich fertig!” – “Zack!” – “Nimm das!” – “Und das!” – “Jetzt musst Du bluten!” – “Auf den Kopf!” – “Du kommst hier nicht mehr raus!”. Die Polizeistreife traf auf einen Mann, der vor dem Computer saß, online Schach spielte und seine Züge kommentierte.

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Kaputt

In einer Zeitungsnotiz lese ich, dass junge Leute das Wort kaputt durch schrotten ersetzen: “Ich habe mein Handy geschrottet.”  Das ist für mich neu, auch wenn sich die Bedeutung leicht erschließt. Allerdings hört es sich für mich so an, als wäre das Handy nicht von selbst kaputtgegangen, als hätte der Besitzer das Handy fallen gelassen oder nass werden lassen oder auf die Herdplatte gelegt. Das scheint aber nicht gemeint zu sein, jedenfalls nicht unbedingt. Meine Studenten, die das Wort tatsächlich gebrauchen und damit zu den jungen Leuten zählen, weisen allerdings auf etwas anderes hin: Sie gebräuchten das Wort zur Emphase oder zum Ausdruck von Verärgerung, im Gegensatz zu kaputt, das neutral sei. Dafür erfahren sie von mir, dass wir kaputt auch exportiert haben, nämlich ins Englische – vermutlich geläufiger im Amerikanischen Englisch als im Britischen Englisch – wo es seine Bedeutung erhalten, aber ein <t> verloren hat. Bevor wir es exportiert haben, haben wir es allerdings erst mal importiert, und zwar aus dem Französischen, und zwar im Dreißigjährigen Krieg. Abgeleitet wurde es von capot, und das kam aus dem Kartenspiel, wo faire capot ‘keinen Stich machen’ bedeutete. Und wenn man keinen Stich machte,  dann war man eben kaputt.

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Kirche und Fußball

Einer Statistik zufolge gehen in Deutschland an einem durchschnittlichen Wochenende fünfmal so viele Menschen in die Kirche wie in die Stadien der 1., 2. und 3. Bundesliga zusammen. Fünfmal so viele Kirchenbesucher wie Fußballzuschauer! Allerdings ist die Zahl der Kirchgänger seit 1995 um 40% gesunken, die der Fußballzuschauer um 40% gestiegen. Und die Statistik berücksichtigt nicht, wie viele Menschen am Fernseher Übertragungen von Fußballspielen und wie viele Übertragungen von Gottesdiensten sehen. Wäre auch interessant zu wissen, wie viele von den Kirchgängern auch ins Stadion gehen. Und umgekehrt.

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