Saint Étienne

Ich stehe vor der Kirche in Saint Étienne Vallée Française und frage mich, wie wohl die Kirche von Saint Étienne Vallée Française heißt. Ja, wie heißt wohl die Kirche von Saint Étienne?

Der schönste Teil der Kirche ist der obere, steinsichtige Teil des Turms. Der muss romanisch sein, quadratisch, breit, gerade abschließend. Auch alles andere, auch innen, sieht romanisch aus, mit ganz leicht zugespitzten Rundbogenfenstern und einem Tonnengewölbe im Mittelschiff. Nur die langgezogenen, flachen Bögen, die das Mittelschiff von den Seitenschiffen abtrennen, deuten auf den barocken Ausbau hin, den es laut Inschrift gegeben hat. Offensichtlich hat der was mit dem Widerruf des Edikts von Nantes zu tun. Was genau verstehe ich nicht. Vermutlich wurden die Kapellen der Reformierten aufgelöst oder zerstört und die Gläubigen zwangskonvertiert. Also wurde eine größere Kirche erforderlich. Die Seitenschiffe wurden hinzugefügt, das Mittelschiff beträchtlich verlängert. In der Erklärung heißt es auch, die Kirche sei nie von den Protestanten angegriffen worden, ein Zeichen dafür, dass sie auch von ihnen, die hier die Mehrheit waren, geachtet wurde.

An der Straße befindet sich ein Schild, das den Stevenson-Trail zeigt. Er beginnt in Le Puy-en-Velay und endet in Alès. Saint Jean du Gard ist die zweitletzte Station. Stevenson hat diese gottverlassene Gegend durchwandert, mit einem Esel als Lastenträger, und hat darüber einen Reisebericht geschrieben. Die Tourismusindustrie der Cevennen nützt das weidlich aus.

In einer der Gassen um die Kirche herum gibt es einen Hinweis auf das Postamt, ganz versteckt im hinteren Winkel eines Grundstücks gelegen, das einen Kinderhort beherbergt. Es ist geöffnet. Die Atmosphäre ist die einer deutschen Amtsstube aus den sechziger Jahren. Die einzige Beamtin sitzt hinter einem Schalter. Es gibt hier nichts zu kaufen außer Briefmarken, und um die geht es mir. Die Beamtin ist sehr freundlich und spricht so, dass ich sie ohne Probleme verstehen kann. Die Briefmarken sind, wie fast überall, teurer als bei uns.

Es gibt einen kleinen Supermarkt, aber der hat französische Öffnungszeiten: Lundi au Samedi de 7h à 12h30 et de 16h à 19h30, Dimanche de 7h à 13h. Ich muss warten. In dem einzigen Café des Ortes mit dem schillernden Namen Un dimanche à la campagne bestelle ich einen Kaffee. Ich frage, ob es café au lait gebe, und bekomme, obwohl das bejaht wird, dann einen café longue, zu dem es etwas kalte Milch gibt. Nicht genau das, was ich erhofft hatte, aber wenigstens kann man sich hier aufwärmen. Und der Kaffee ist unschlagbar günstig: 1,50 €.

Wir haben gestern noch über die Nähe vom Französischen zum Italienischen gesprochen, und mir fällt jetzt das Wort für billig ein. Im Spanischen gibt es eine einfache Entsprechung, barato. Dagegen im Italienischen und im Französischen a buen mercato und bon marché.

Ich bin der einzige Gast. Die Toilette ist draußen auf dem Hof. Kein Klodeckel, aber immerhin Wasser. Der Weg führt vorbei an einer Art Küche, wo Ingredienzen für Speisen herumliegen, die hier wohl am Abend serviert werden, vermutlich Burger.

Als ich wieder ins Café komme, sind vier weitere Gäste eingetroffen. Die stehen an der Theke und überlegen, was sie bestellen sollen. Dann entscheiden sie sich: dreimal weiß, einmal rot.

An der Wand hängen zwei Räder eines alten Pferdewagens, deren Speichen als Aufbewahrungsort für Zigaretten dienen. Davor stehen ein Glas mit Korken von Weinflaschen und ein Becher mit Zuckertütchen. Weiter hinten steht der ausrangierte Teil einer Zapfanlage, darauf eine Würstchenzange und ein Putzmittel. Über der Theke ein Neonschild mit Bierreklame, und daneben ein Schwarz-Weiß-Photo, auf dem der Wirt vor der Theke posiert. Im hinteren Teil des Raums eine zusammengeklappte Stehleiter und eine Tiefkühltruhe mit den Emblem des französischen Äquivalents von Langnese. An der gegenüberliegenden Wand ein Fernseher, in dem Kloppo auf Englisch den Sieg seiner Mannschaft über Manchester City erklärt. Darunter eine alte, bräunliche Landkarte der Gegend, in der noch in altertümlicher Schreibweise von den Sevenes die Rede ist. Auf dem Tisch eine verstaubte Messingschachtel unbekannten Inhalts und eine Pappschachtel mit Spielkarten. In der Ecke ein vertrockneter Baumstamm als Schmuckelement, und am Ausgang ein runder Apparat, an dem man sich für einen Euro Nüsse oder Mandeln ziehen kann.

Der Boden ist belegt mit einem abgenutzten, roten Teppichboden, auf dem ein Ensemble unterschiedlicher Sessel und Stühle stehen. Noch bunter ist die Mischung aus Lampen an Wänden und Decken. Eine davon gibt in diesem Moment den Geist auf. Neben ihr lugt ein Elektrokabel aus der Decke. Ich verlasse das Café und bedauere, dass ich nicht zeichnen kann.

Neben dem Café steht auf einem Parkplatz eine bunt bemalte Ente mit dem Motto All you need is love zwischen Blumen auf dem Heck. Es gibt sie also noch. Auf der anderen Seite des Cafés stehen zwei vorsintflutlich aussehende Zapfsäulen. Ob sie noch in Betrieb sind?

Jetzt hat das Geschäft auf. Es gibt frisches Obst und Gemüse und ansonsten alles, was man so braucht, wenn auch in bescheidener Auswahl. An der Theke liegt bei Brot und Backwaren eine Art Stange. Ich erfahre, dass es ein sacristain aux amandes ist, ein Gebäck, eine regionale Spezialität. Als ich gerade überlege, wie man wohl Bon auf Französisch sagt, kommt mir die Verkäuferin zuvor, die meinen verwirrten Blick richtig deutet und fragt: „Ticket?“ Im Französischen gibt es ein englisches Lehnwort, wo wir ein französisches haben (das aber aus unerfindlichen Gründen in letzter Zeit dem Zettel weichen muss).

In einem immer geschlossenen Geschäft stehen im Schaufenster lokale Spezialitäten, vor allem Konfitüre. Aus Feigen, Zwiebeln und, natürlich, Kastanien.

Auf dem Weg in den Ort hinunter bin ich an verschiedenen vereinzelt gelegenen Gehöften vorbeigekommen. An einem weist ein Schild darauf hin, dass die Hunde friedfertig sind. Man wird aber gebeten, sie auf den Hof zurückzuscheuchen, damit sie einem nicht nachlaufen: Promeneurs: Chiens gentils, mais repoussez-les pour qu’ils ne vous suivent pas. Merci. Scheinen kontaktfreudige Hunde zu sein. Jedenfalls mache ich diese Erfahrung auf dem Rückweg. Zwei mächtige Hunde hängen sich an mich und begleiten mich bis ans Ziel. Er erfordert einige Telefonate und die Einschaltung des Rathauses, um einen von ihnen wieder zu seinem Herrchen zu bringen. Der ist dankbar, betont aber, dass es sich nicht um zwei Deutsche Schäferhunde handelt, sondern um einen Deutschen Schäferhund und einen Schweizer Schäferhund.

Besonders schön auf dem Weg sind die Mauern am Wegesrand, in früheren Zeiten von unendlich fleißigen Händen errichtet, um die Gegend bewirtschaften zu können. Zwischen den flach übereinanderliegenden, moosbewachsenen Schieferplatten findet sich immer wieder ein farbig schimmernder Granitbrocken, eigentlich der Statik geschuldet, aber auch was fürs Auge. An verschiedenen Stellen tröpfelt Wasser zwischen den Schieferplatten hervor. An anderen Stellen trifft man immer wieder auf kleinere Wasserfälle. Solche Mauern heißen, wie ich jetzt erfahre, im lokalen Dialekt bancels, und es gibt in der Nähe auch einen Ort, der Les Bancels heißt.

An einem Abhang steht ein offener, herrenloser Jeep, der so aussieht, als würde er im nächsten Moment den Hang hinunterrollen. Wer ihn warum hierhergestellt hat, bleibt offen.

Auf dem Rückweg hält ein Auto im Regen neben mir. Der Fahrer fragt freundlich, ob er mich mitnehmen könne. Ich schaffe es so gerade, ihm zu bedeuten, dass ich absichtlich zu Fuß gehe und kriege dann gerade noch, bevor er die Scheibe hochkurbelt, ein „Vous êtes très gentil“ hin.

Von unten, vom Dorf aus, hat man einen schönen Blick auf die Berge mit dunklen und hellen Wolken, zwischen denen der eine oder andere Sonnenstrahl hervorkommt. Ein fast mystisches Bild. Es entschädigt ein bisschen für die Kälte und den Regen. Beides hatten wir Mitte April hier, in den Cevennen, nicht mehr auf der Rechnung gehabt.

Posted in Leben, Religion, Sprachgebrauch | Tagged , , , | Leave a comment

Datumsgrenze

Der 23. April ist der Welttag des Buches, ein von der UNESCO ausgerufener Tag. Es ist der Feiertag des Schutzpatrons Kataloniens, Sant Jordi. An diesem Tag schenkt man einander traditionell eine Rose (Mann an Frau) oder ein Buch (Frau an Mann). Der 23. April ist das Datum des Todes von Shakespeare und Cervantes. Sie starben im selben Jahr! Aber sie starben zwar am selben Datum, aber nicht am selben Tag. Wie das? In England galt damals noch der julianische Kalender. Shakespeare starb also zehn Tage später als Cervantes!

Posted in Gesellschaft, Sprachgebrauch, Zahlen | Tagged , , , , , | Leave a comment

Redefreiheit

„Von diesem Balkon rief der Sozialdemokrat Phillip Scheidemann am 9. November 1918 die Deutsche Republik aus.“ So steht es auf einer Gedenktafel am Berliner Reichstag. Und in Geschichtsbüchern und Chroniken. Und so wird es an deutschen Schulen gelehrt. Das Problem ist: Es stimmt gar nicht. Es handelt sich um eine Blüte deutscher Erinnerungskultur. Populär, aber wissenschaftlich unhaltbar. Es gibt Photos, Tonaufnahmen und Berichte, aber keine davon ist stichhaltig, und die meisten entstanden erst später. Scheidemann selbst trug zur Entstehung des Mythos bei. In seinen Memoiren, zehn Jahre nach dem umstrittenen Ereignis entstanden, stilisiert er sich selbst zum Ausrufer der Republik. Da spielte er selbst schon keine Rolle mehr in der deutschen Politik. Und seine beiden wichtigsten Kontrahenten, Ebert und Liebknecht (der hatte wirklich eine Republik ausgerufen, die Räterepublik) konnten nicht mehr widersprechen. Sie waren bereits tot. Scheidemann selbst hatte die Rede 1921 in einem Erinnerungsbuch mit keinem Wort erwähnt. In einer Rede  von Carl Seevering, Sozialdemokrat, zum Jahrestag der Revolution 1928 ist von Scheidemann mit keinem Wort die Rede. Erst nach dem Krieg fasste die Legende Fuß. Was den Wortlaut angeht, ist in frühen Quellen davon die Rede, Scheidemann habe vom Sturz der Dynastie und der bevorstehenden Bildung einer neuen Regierung gesprochen. Von der Republik ist nicht die Rede. Was die Photos angeht, stellte sich Scheidemann nachträglich für eine Inszenierung in das Fenster der Reichskanzlei (nicht des Reichstags), zehn Jahre nach der Revolution. Und dann existiert noch ein Photo, auf dem der angebliche Scheidemann akrobatisch und schwindelfrei in Rednerpose acht Meter über dem Boden frei auf einer schmalen Balkonbrüstung steht. Es ist aber nicht zu erkennen, ob es sich dabei um Scheidemann handelt. Experten halten das Photo für eine Montage. (Machtan, Lothar: „Und nun geht nach Hause“, in: Die Zeit 15/2018: 21)

Posted in Geschichte, Irrtümer | Tagged , , , , | Leave a comment

Bettgeschichten

Der letzte Überlebende der Nürnberger Kriegsverbrecherprozesse ist Benjamin Ferencz. Er wurde in Transsilvanien geboren, als Kind einer jüdischen Familie. Als Rumäne. Seine Schwester wurde drei Jahre früher geboren, in demselben Bett. Als Ungarin. Ferencz amüsiert sich bis heute, dass Menschen so viel Wert auf Nationalitäten legen. (Willeke, Stefan: “Wer lügt, wird erschossen”, in: Die Zeit 14/2018: 12)

Posted in Geschichte, Gesellschaft | Tagged , , , , | Leave a comment

Neustadt Altstadt

In der Altstadt von Speyer zeigt ein Schild die Schrannengasse hinunter Richtung Altstadt. Von der Altstadt Richtung Altstadt? Ja. Das, was man in Speyer Altstadt nennt, die Gegend weiter unten am Rhein, ist in Wahrheit 900 Jahre jünger als die eigentliche Altstadt um den Dom herum. Die neue Altstadt ist ein ursprünglich außerhalb der Stadtmauern gelegenes Viertel, das den Hahnenpfuhl einschloss, also eine Gegend, die eigentlich feucht war. Dies war das Viertel der Händler und Handwerker. Die Straßennamen deuten noch darauf hin: Färbergasse, Webergasse, Fischmarkt, Holzmarkt. Und die Schranne war der Bezirk der Metzger und bezeichnete eine Art mittelalterlicher Würstchenbude.

Die eigentliche Altstadt, das Viertel um den Dom herum, geht auf die erste Römersiedlung zurück. Die Römer waren klug genug, ihren Ort am Hohen Ufer, an dem erhöht gelegenen Nebenarm des Rheins anzulegen, dort, wo keine Überschwemmung drohte. Anfangs umfasste die Stadt nicht mehr als 250 Menschen, Soldaten, die die Römer aus dem hier ansässigen Stamm der Nemeter rekrutierten. Die Stadt wuchs dann mit großer Geschwindigkeit und hatte im Mittelalter immerhin 8000 Einwohner. Die römische Stadt hieß nicht Speyer. Sie hieß, wie so viele andere, Novis Magus, also so was wie ‚Neustadt‘, eine Bezeichnung, auf die auch Neumagen und Nijmegen zurückgehen. In der Spätantike bekam sie dann einen neuen Namen, aber es war immer noch nicht Speyer. Es war Civitas Nemetum, nach dem keltischen Stamm. Erst zu Beginn des Hochmittelalters kam der Name Speyer auf. Sein Ursprung ist ungewiss. Aber er verbreitete sich dann schnell und wurde in andere Sprachen übernommen. Die bewahren die ursprüngliche Form eher als das Deutsche, ohne Diphthong: Spire, Espira. Die Stadt wurde nicht zuletzt deshalb bekannt, weil sie, neben Worms und Mainz, eins der drei wichtigsten Zentren der frühen jüdischen Besiedlung in Deutschland war. Und der Name der Stadt hat dann auch seine Spuren hinterlassen, wo man ihn nicht vermuten würde: in dem Nachnamen Shapiro.

Posted in Eigennamen, Geschichte | Tagged , , , | Leave a comment

Löwenherz

Richard the Lionheart – Richard Cœur de Lion Richard Löwenherz – Ricardo Corazón de León – Ριχάρδος ο Λεοντόκαρδος Rikard Lejonhjärta – Ричард Львиное Сердце – überall ist er bekannt, und überall mit dem gleichen Beinamen. Viel bekannter als die meisten anderen englischen Könige, und beliebter, jedenfalls beim Volk. Vielleicht auch wegen des suggestiven Beinamens. Aber woher kommt der? Der Legende zufolge tötete er einen Löwen, den Heinrich VI. in seine Zelle in Trifels sperren ließ. Diese Legende findet sich zum ersten Mal in dem mittelenglischen Versroman Richard Cœur de Lion (XV), 300 Jahre später. Er hatte aber in seinem Auftreten, in seinem Charakter etwas Kämpferisches, Beherztes. Feige war er nicht. Auf dem Hoftag in Speyer, wo er als Gefangener auftrat, hielt er eine flammende Rede und forderte die anderen Ritter mutig zum Zweikampf heraus. Am Ende musste Heinrich ihm die Versöhnung anbieten. Ließ ihn allerdings noch nicht frei, nicht, bevor es Lösegeld gab. Nur hieß das Lösegeld jetzt nicht mehr Lösegeld.  Seine Popularität steht im Gegensatz zu seiner Bewertung durch die Historiker. Die sehen ihn viel kritischer: gewalttätig, rebellisch, verschwenderisch, impulsiv, grausam. Und er war fast immer unterwegs, auf dem Kontinent, auf dem Kreuzzug, in Kämpfen und Schlachten. Und kümmerte sich nicht besonders um England (ob er Englisch sprach, ist umstritten). Bei einer Schlacht kam er auch ums Leben, mit 41, bei der Belagerung einer Burg. Acu hier hat sich eine Legende um ihn gebildet. Derzufolge verlief die Sache so: Der Kampf war längst entschieden. Aber Richard wollte sich vergewissern, ob alles glatt lief. Und wurde von dem einzigen Schützen, der noch auf der Burg stand, mit der Armbrust getroffen. Er wurde nur an der Schulter getroffen, aber er wusste, als erfahrener Kämpe, dass das sein Todesurteil war. Und zeigte Größe und Kaltblütigkeit: Er ließ seine Mutter kommen, setzte seinen Bruder John, mit dem er ständig Zwist hatte, zum Nachfolger ein und verzieh dem Armbrustschützen. Seine Mutter reagierte weniger gelassen auf den Tod des Sohnes. Sie ließ dem Todesschützen die Haut abziehen.

 

Posted in Eigennamen, Geschichte, Sprache | Tagged , , , , , , | Leave a comment

Her mit der Kohle!

Debussys letzte Komposition hieß Die von der Glut der Kohle erleuchteten Abende. Sie umfasste nur 24 Takte. Die Komposition stammte aus dem Februar 1917. Debussy was verschuldet. Er konnte seine Schulden nicht mehr bezahlen. Einer seiner Schuldiger, ein gewisser Monsieur Tronquin, akzeptierte diese Komposition anstelle von Geld. Monsieur Tronquin war Debussys Kohlehändler. (Hagedorn, Volker: “Ich bin zerstört wie ein kleines Dorf”, in: Die Zeit 12/2018: 55

Posted in Leben | Tagged , , , | Leave a comment

Schlachtengeheul

Martin von Wolkenstein, am Wiener Hof aufgewachsen, wurde ungewollt einer der Zeugen der letzten Schlacht des Dreißigjährigen Kriegs, der Schlacht von Zusmarshausen. Wolkenstein schilderte die Schlacht in einer Lebensbeschreibung, die er im hohen Alter verfasste. Er hatte sich von dem bayerischen Oberbefehlshaber die Namen und Orte nennen und die Truppenstärken und die Aufmarschpläne erklären lassen, so dass er eine gute Vorstellung davon bekam, wo er wann gewesen war. Aber als er sich daran machte, die Schlacht zu beschreiben, wollten sich die Wörter aber einfach nicht einstellen, die Sätze sich einfach nicht fügen. Also stahl er sie woanders. In Grimmelshausens Simplizissimus fand er  eine Schilderung, die ihm gefiel. Die übernahm er. Und das, obwohl Grimmelshausen gar nicht die Schlacht von Zusmarshausen beschrieben hatte, sondern die von Wittstock. Das störte niemanden. Niemand bemerkte es. Was Wolkenstein aber nicht wissen konnte: Grimmelshausen hatte die Schlacht von Wittstock zwar erlebt, aber auch nicht selbst beschrieben. Er hatte die Beschreibung einem von Opitz übersetzten englischen Roman entnommen, dessen Autor selbst nie bei einer Schlacht gewesen dabei gewesen war.

Posted in Geschichte, Literatur | Tagged , , , , | Leave a comment

Kontrovers

Schreibt er seine Gedicht auf Latein oder auf Französisch. Das will Athanasius Kircher, Jesuit und Universalgelehrter, in einem (fiktiven?) Gespräch von Paul Fleming wissen. Der Dritte in der Runde ist Adam Olearius. Fleming hat sich als Arzt und Dichter vorgestellt. Die Antwort auf die Sprache der Gedichte ist so verwirrend, dass Kircher nachfragen muss: Wirklich, auf Deutsch? Wie kommt man denn auf so eine Idee? Fleming gesteht, dass das merkwürdig klingt. Er selbst habe frühre auch auf Latein geschrieben, aber jetzt versuche er es mit dem Deutschen. Das sei noch sehr ungelenk, eine Sprache, die erst noch im Erstehen sei, ein Wirrnis aus Dialekten. Und eine Sprache, die manchmal nicht das passende Wort parat habe. Dann greife man eben nach einem lateinischen, französischen oder auch italienischen Wort, um dieses Manko auszugleichen. Aber eines Tages werde auch das Deutsche erwachsen. Man müsse die Sprache nähren und pflegen, dass sie gedeihe. Das sei doch nur natürlich, dass man in seiner Sprache schreibe. Und üherhaupt, will er wissen: Ist es nicht komisch, dass wir drei hier, aus demselben Land kommten, Latein miteinander sprechen? (Daniel Kehlmann: Tyll. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 62018: 354-357)

Posted in Sprache, Sprachgebrauch | Tagged , , , , | Leave a comment

Im Glück gefangen

Ferdinand von Schierach, der Rechtsverteidiger, erzählt in einem Interview von Frauen in den USA, die Strafgefangene heiraten. Auch dann, wenn die zu 300 Jahren Haft verurteilt sind und kaum eine Aussicht haben, jemals freigelassen zu werden. Die freie Frau und der Strafgefangene führen eine glückliche Beziehung. Nur eins kann das Glück zerstören und die Beziehung scheitern lassen: Wenn der Strafgefangene frei kommt …

Posted in Leben | Tagged , , , , , | Leave a comment

Geschult

Wer auf dem Gymnasium war, weiß mehr über Wirtschaft als andere – und zwar, und darauf kommt es an, auch wenn es das Fach Wirtschaft an der Schule gar nicht gab. Er hat gelernt, zu lernen. Deshalb sind gebildetere Menschen besser für wirtschaftliche Entscheidungen im Alltag gerüstet als andere. Sie können besser entscheiden, ob ein Kredit günstig ist, was man zum Vermögensaufbau tun kann und welche Partei ihre Interessen besser vertritt. Sie haben also, ohne dass sie etwas “dazu können”, einen Vorteil, der einen anderen Vorteil, den sie haben, noch verstärkt. Denn gebildetere Menschen sind im Mittel auch wohlhabender. Reiche können also ihre Interessen besser durchsetzen als Arme. (Djahangard, Susan: “Und wer weiß was?, in: Die Zeit 7/2018: 26)

Posted in Gesellschaft | Tagged , , , , | Leave a comment

Ausgerechnet

Ein Tischtennisschläger und ein Ball kosten zusammen 1,10 €. Der Schläger kostet 1 € mehr als der Ball. Wie viel kostet der Ball? Meine Antwort bei  dieser Testfrage in einer Umfrage war: 10 Cent. Das ist falsch: Wenn der Ball 10 Cent kostet und der Tischtennisschläger 1 Euro mehr, dann kostet der Tischtennisschläger 1,10 €, und die Gesamtsumme wäre 1,20  €. Also falsch. Viele andere haben auch die falsche Antwort in der Umfrage gegeben. Ein schwacher Trost. Die richtige Antwort ist: 5 Cent. Dann kostet der Tischtennisschläger 1,05 €, und die Gesamtsumme beträgt 1,10 €.  Warum lässt man sich da so leicht in die Irre führen?

 

Posted in Leben, Mathematik | Leave a comment

Werbefeldzug

Über einen Zeitraum von sechs Wochen wurden in einem Kino in New Yersey während der Vorführung des Films Picknick alle fünf Sekunden die Botschaften Drink Coca-Cola und Eat Popcorn eingeblendet, so schnell, dass die Zuschauer diese Botschaften bewusst nicht wahrnehmen konnten. Im Kino wurde danach 18,1% mehr Coca-Cola und 57,9% mehr Popcorn verkauft. Ein eindrücklicher Beweis für den Effekt der “unterschwelligen Werbung”.

Das Interessanteste an diesem Experiment ist, dass es nie stattfand. Alles war schlichtweg erfunden. Erstunken und erlogen. Der angebliche Trick mit der “unterschwelligen Werbung” war eine falsche Behauptung des Marktforschers James Vicary. Er wollte seiner schwächelnden Werbefirma Auftrieb geben. Es war Werbung für Werbung.

Das Experiment, das nie stattfand, ist noch aus einem weiteren Grund interessant: Die Menschen halten es offensichtlich für plausibel, dass man so manipuliert werden kann. Und bis heute wird immer wieder von dem Experiment erzählt, als ob es stattgefunden hätte. Dabei haben Werbepsychologen längst Experimente mit “unterschwelliger Werbung” durchgeführt und festgestellt: So funktioniert es nicht. (Kara, Stefanie: “Wir wissen nicht, was wir tun”, in: Die Zeit 5/2018: 31-32)

Posted in Gesellschaft, Psychologie | Tagged , , | Leave a comment

Lovely day for a stout

Some time ago a colleague, checking a text I had written, spotted a spelling mistake in a passage in which I had referred to an advertising slogan: Guiness is good for you. The colleague pointed out the Guinness is spelt with double <n>. On the following day, I bought him a couple of bottles of Guinness. This is one of the few memorable instances where correction had both immediate and lasting effect: I have never misspelt Guinness since, and I think I never will. Then, the other day, rereading Heinrich Böll’s Irisches Tagebuch, I came upon a passage (p. 102) where another Guinness slogan is referred to: A lovely day for a Guiness. It contained exactly the same spelling mistake. Nobody had noticed. Böll and his editors, however, had a much better excuse for making this mistake: at the time of writing, Guinness was much less well known in this country than it is now.

Posted in Leben, Schreibung, Sprache | Tagged , , , , , | Leave a comment

Hohes Gericht!

Ein paar herausfordernde Gedanken zur christlichen Religion (Fischer, Thomas: “Das Jüngste Gericht”, in: Die Zeit 53/2017: 12)

– Die Vertreibung aus dem Paradies und die Sintflut waren als Strafen unverhältnismäßig angesichts der begangenen “Sünden”. Ein bisschen Hurerei, und schon fällt Feuer vom Himmel.

– Viele Götter zu haben machte manches einfacher: eine(r) für die Krätze, eine(r) für die Ernte, eine(r) für die Jagd, eine(r) für die Fruchtbarkeit usw. Da weiß man, wo man dran ist und an wen man sich wenden muss. So konnte ich sicherstellen (oder wenigstens sicherstellen, alles getan zu haben), dass das Unglück ausbleibt, das Glück kommt, dass ich nicht hungrig, sondern satt bin. Dann kam die jüdische Religion und erklärte all diese Götter zum Teufelswerk. Das Christentum musste sie erst in Form von Engeln und Heiligen wieder heimlich importieren.

– Religion ist, wenn der Mensch sich fürchtet. Die Furcht ist Ursache und Ergebnis der Religion.

Wenn Gott mit Wundern und Katastrophen auf der Welt für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt, dann muss man sagen, dass er das ohne großen Erfolg tut. Mangelnder Anbetungseifer kann vielleicht für eine Seuche oder Hungersnot verantwortlich gemacht werden, solange ich mit Schafherden über die Ebenen ziehe, aber nicht für Sklaverei, Krieg und Pest, für die Einteilung der Welt in Eigentümer und Habenichtse. Da kommt dann das Jüngste Gericht ins Spiel. Da wird für Gerechtigkeit gesorgt.

– Es wird zweimal Gericht gehalten über uns, nach unserem Tod und am Ende der Zeiten. Es gibt das Partikulargericht und das Jüngste Gericht. Wie das eine im Verhältnis zum anderen steht, ist nicht klar. Werden die vorläufig Verdammten dann endgültig verdammt? Und was geschieht mit ihnen bis dahin? Soll man sich das Partikulargericht so vorstellen, dass eine Zwischenlösung gefunden werden muss (eine Zwischenlösung für immerhin 206.000 Kandidaten täglich)? Und wo werden die zwischengelagert? Beim Jüngsten Gericht wird dann endgültig geschieden in Gut und Böse. Aber: nach welchen Kriterien? Die Gesetzestafeln, die Moses erhielt, sind nichts als allgemeine Grundregeln. Sie geben keine Auskunft darüber, in welchem Stadium man abtreiben darf, was unter Notwehr zu verstehen ist oder ob “humanitäre” Bundeswehreinsätze zu vertreten sind.

– Beim Jüngsten Gericht ist Gott Ankläger, Zeuge, Sachverständiger und Richter in einem. Und Vollstrecker. Das Verfahren flößt kein großes Vertrauen ein. Warum kann man sich nicht verteidigen? Oder von Experten verteidigen lassen?

Posted in Religion | Tagged , , , , , | Leave a comment