Landhunger

Man mag es kaum glauben, aber der Kolonialbesitz Deutschlands war der drittgrößte aller europäischen Mächte: Togo, Kamerun, Deutsch-Ostafrika, Deutsch-Südwestafrika, Neuguinea, die Marschallinseln, die Karolinen und die Marianen und das deutsche Gebiet um Tsingtao in China gehörten dazu. Dabei dauerte die Kolonialherrschaft gerade mal drei Jahrzehnte, und anfangs wollten gar keiner von Kolonien sprechen. Das Reich überließ es Privatleuten, das Land zu erschließen. Gemessen an der knappen Zeit richteten die deutschen ein enormes Maß an Unheil an. Willkürliche Gewalt gegen die Bevölkerung, Zwangsarbeit, eine rassistische Rechtsprechung, sexueller Missbrauch gehörten zum Alltag. Die Männer, die sich dort breitmachten, waren meist solche, die zuhause zu den Verlierern zählten: Sorgenkinder, schwarze Schafe aus Adelsfamilien, Büregliche, die in der adeligen Gesellschaft zuhause keine Aufstiegschancen hatten. Das Nebeneinander von Schwäche und Gewalttätigkeit trag dann besonders zutage, als es dem Ende zuging, zwischen 1914 und 1918. Zu wirtschaftlichem Gedeihen und zivilisatorischem Fortschritt hat der deutsche Kolonialismus nirgendwo beigetragen. Das Ziel war die Etablierung von Absatzmärkten und der Abbau von Rohstoffen. Zu einem würdigen Umgang mit den Opfern haben wir bis heute nicht gefunden. Zu wenig gerät die deutsche Kolonialherrschaft ins Bewusstsein angesichts der Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und des Holocaust. (Staas, Christian: “Der Untergang”, in: Die Zeit 40/2018: 20-21)

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Ins Schwimmen geraten

Seit 20 Jahren beschäftigt sich der Wuppertaler Sportwissenschaftler Theodor Stemper mit der Frage der Schwimmfähigkeit der Deutschen. Ob deren Schwimmfähigkeit in den letzten 20 Jahren abgenommen habe oder nicht, kann er nicht sagen. Dazu seien die Ergebnisse der Studien zu widersprüchlich. Auf den zweiten Blick nicht verwunderlich. Wie soll man das zuverlässig nachweisen? In den Medien gibt es dennoch regelmäßig einen Aufschrei über die nachlassende Schwimmfähigkeit. Öffentliche Bäder würden geschlossen, und immer weniger Kinder lernten schwimmen, heißt es. Und nicht nur das: Die Zahl der Ertrinkenden sei dadurch gestiegen. Daran ist fast alles falsch: Wenn die Zahl der Ertrinkenden steigt, muss das nicht an der sinkenden Zahl der Schwimmer liegen. Menschen, die ertrinken, sind in der Regel Schwimmer. Sie überschätzen sich, sie haben Alkohol getrunken, sie erleiden einen Herzinfarkt. Nichtschwimmer meiden das Wasser. Außerdem sind die Zahlen schlichtweg falsch: Die Zahl der Ertrinkenden ist von 1119 im Jahre 1970 auf 404 im Jahre 2017 gesunken! Und es befinden sich nicht besonders viele Kinder unter den Ertrunkenen. Woher kommt dann die Legende von der sinkenden Schwimmfähigkeit? Sie beruht allein auf einer Zahl der DLRG. Danach machen immer weniger Kinder das Schwimmabzeichen. Das hat natürlich wenig zu sagen. Viele Kinder, sagt Stemper, machten kein Abzeichen, könnten aber dennoch schwimmen. Aber das ist keine Nachricht wert. Die Medien beschwören lieber das schlimme Szenario. Dem liegt etwas zugrunde, was man Negativitätsbias nennt: Schlechte Nachrichten verkaufen sich einfach besser. (Spiewak, Martin: “Was nicht in der Zeitung steht”, in: Die Zeit 40/2018: 35-36)

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Pink it and shrink it

Frauen können, einer populären Vorstellung zufolge, mehr Farbnuancen unterscheiden als Männer. Jedenfalls können sie elaborierter darüber sprechen. Ein Mann sagt Blau, eine Frau sagt Veilchenblau, Schieferblau, Stahlblau, Taubenblau, Himmelblau. Auch Experimente belegen das. In einem Zeitungsartikel (Albrecht, Harro: “Pink als Wille und Vorstellung”, in: Die Zeit 34/2018: 29) wird eine internationale linguistische Umfrage zitiert, bei der Männer 7 Farben benannten, Frauen aber mindestens 29! Woher kommt das? Haben Frauen, wie der Artikel es nahelegt, ein “feineres Sensorium” für Farben? Falls ja, woher kommt das? Oder haben sie gelernt, mehr Unterschiede zu benennen? Und können gar nicht mehr Farbnuancen unterscheiden, sondern nur benennen? Manche Forscher beginnen die Spurensuche in der Urgeschichte. Sie unterwerfen jeder Verhaltensweise der Frage: Was bringt oder brachte sie dem Menschen? Bei den Farben wird so argumentiert: Die Frauen waren für das Sammeln von Früchten zuständig, und bei denen stand Rot für gehaltvolle, kalorienreiche Früchte, und die waren wertvoll und lecker, anders als das weniger begehrte grüne Beigemüse. Ist das ausreichend, um moderne Verhaltensweisen zu erklären? Ist das vielleicht der Nukleus, aus dem alles entstand? Und sind vielleicht auch Farbpräferenzen letztlich darauf zurückzuführen? Immer wieder ist die moderne Pink-Präferenz von Mädchen Gegenstand der Diskussion. Beliebt ist die These, dass pink = feminin das Ergebnis einer erfolgreichen Manipulation durch die kommerzielle Neuzeit sei. Die Werbung versteht es gut, die Farbpräferenzen emotional aufzuladen. Aber kommen die aus dem Nichts? Die These, es habe früher eine Zeit der Präferenz von Pink bei Jungen gegeben, ist zwar populär, aber für sie gibt es keinerlei Belege. Der rasende Trend zum Pink-Blau-Dualismus könnte nur die extreme Fortsetzung einer in der Vergangenheit liegenden, aus den materiellen Voraussetzungen abgeleiteten Präferenz sein. Minimale Unterschiede zwischen Männern und Frauen können sehr lange brauchen, um eine neue kulturelle Norm zu setzen.

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Patriotic apocrypha

“There, I guess King George will be able to read that!” are the words John Hancock, according to popular belief, used when he signed the Declaration of Independence, exubertantly scrawling his name in extra large letters under the text. Several paintings represent the scene like this, Hancock addressing the other men who had signed (or were going to sign) the Declaration. Actually, there was no one around he could have addressed. There was no dramatic group signing. Those who signed the Declaration did so over several days’ time, one after the other. Hancock most likely signed the Declaration in silence. (Keyes, Ralph: Quote Verifier. Who Said What, Where, and When? New York: St. Martin’s Griffin, 2006: 113-114)

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Proverbial wisdom

“Promises are like pie-crusts, made to be broken.” Many American politicians, but quite especially Ronald Reagan, were fond of quoting Lenin to this effect, insinuating that communists are not to be trusted. And as cynical as can be. Reagan thought he had read that Lenin had said this somewhere. As a matter of fact, Lenin had said “The promises like pie-crusts are leaven to be broken”, which he called “an English proverb”. Lenin’s point was not that he believed in what the proverb said but that his opponents did! The proverb actually first appears in an English text, Swift’s Polite Conversation, in the form of a comment by Lady Answerall: “I beg your pardon, my Lord, Promises and Pye-Crusts, they say, are made to be broken.” (Keyes, Ralph: Quote Verifier. Who Said What, Where, and When? New York: St. Martin’s Griffin, 2006: 174)

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Halewi Marx

1418 wurden die Juden vom Erzbischof aus Trier ausgewiesen. Viele ließen sich in den Dörfern der Umgebung, z.B. in Aach nieder. Ab 1620 wurden Juden wieder zugelassen, aber diesmal wurde ihnen nicht mehr der alte privilegierte Standort am Hauptmarkt zugewiesen, zentral gelegen, mit eigener Gerichtsbarkeit, sondern einer an der Weberbach, im Viertel der Tuchweber und Gerber, das wegen des Geruchs und wegen des Schmutzes nicht besonders angesehen war.

Der jüdische Friedhof Weidegasse ist nicht der älteste jüdische Friedhof Triers. Der älteste befand sich in der Nähe der alten Synagoge, an der Jüdemer Straße. Der Name ist Programm: Jüdemer bedeutet ‚Judenmauer‘! 

Die jüdischen Friedhöfe lagen, wie die römischen, immer außerhalb der Stadtmauern. Der Friedhof an der Jüdemer Straße wurde geschleift, als die Juden vom Bischof aus Trier vertrieben wurden. Der hatte, wie es heißt, rein „ideologische Gründe“. Die Juden hatten einfach nicht die richtige Religion.

Auf dem Boden dieses alten jüdischen Friedhofs entstand ein christliches Kloster. Von dem ist heute nur noch die Augustinerkirche erhalten. Bei den Ausgrabungen für die Viehmarktthermen kamen dann jüdische Grabsteine zum Vorschein. Die Christen hatten sie als Spolien für ihre Bauten benutzt.

Der jüdische Friedhof Weidegasse stammt aus der Zeit, als die Juden wieder zugelassen wurden. Der älteste Grabstein stammt von 1686, der letzte von 1922. Insgesamt sind heute noch 547 Grabsteine sichtbar. Dieser Friedhof wurde dann geschlossen – wegen Überfüllung. Der Grund war die Spanische Grippe. Die hatte ihren Tribut gefordert und war dafür verantwortlich, dass sogar die Gehwege zwischen den Gräbern belegt wurden. Die jüdische Gemeinde kaufte dann ein kleines Areal auf dem Städtischen Friedhof an der Paulinstraße.

Während der Nazizeit blieb der alte jüdische Friedhof unversehrt. Nach dem Krieg wurde die Umfassungsmauer erhöht. Trotzdem kam es zu Friedhofsschändungen, mit antisemitischen Parolen an der Friedhofsmauer und beschädigten oder umgeworfenen Grabsteinen.

Wenn man durch das Tor in der Begrenzungsmauer tritt, erkennt man sofort die Zweiteilung des Friedhofs: links traditionellere Gräber, rechts neuere, die der assimilierten Juden. Überall wachsen Gräser und Bodendecker, die sich teils der Grabsteine bemächtigt haben. Einige verschwinden komplett unter ihnen. Das entspricht der jüdischen Tradition.

Die Bestattung findet bei den Juden so bald wie möglich statt: am Morgen gestorben, am Nachmittag beerdigt. Das wird auf die Zeit des Auszugs aus Ägypten zurückgeführt. Da habe man immer weiter gehen müssen und habe sich nicht aufhalten können, wenn jemand starb. Man grub ein Loch, bestattete den Toten in einfachen Kleidern und legte einen Stein auf die Grabstelle. Daher soll die Tradition stammen, dass Juden noch heute kleine Steinchen auf Grabsteinen deponieren.

An der Erklärung stören mich zwei Dinge: Das schnelle Begräbnis gibt es auch bei Muslimen und bei Christen in Südeuropa, und die haben keine Wüste durchquert. Vielleicht hat die schnelle Beerdigung eher hygienische Gründe. Außerdem waren die Juden beim Auszug aus Ägypten ja nicht ständig unterwegs. Schließlich haben sie vierzig Jahre für die paar Kilometer gebraucht. Sie waren Nomaden und hielten sich so lange wie möglich in den Oasen auf, die sie erreicht hatten. So viel Bock scheinen sie auf das gelobte Land nicht gehabt zu haben.

Die jüdischen Frauen werden noch heute, sofern sie gläubig sind, in einfachen Leinentüchern beerdigt. Die jüdischen Männer im Tallit, dem Gebetsmantel, den sie bei der Bar Mitzwa bekommen. Deshalb muss der so groß sein! Hab’ ich mich schon immer drüber gewundert. Diese ganz einfache Bestattung gibt es noch bei einigen wenigen gesetzesgläubigen Juden, aber die meisten werden jetzt in einem Sarg bestattet. Allerdings ist es weniger ein Sarg im christlichen Sinne als eine einfache Holzkiste. So ist es auch hier auf dem Friedhof.

Die Gräber hatten ursprünglich Grabeinfassungen, die hier aber nicht mehr vorhanden sind. Sie verhinderten das Betreten des Grabs und hatten keinen Blumenschmuck. Die Grabsteine ließ man verwittern und auch dann liegen, wenn sie umgestürzt waren.

Was man als Laie nicht ohne weiteres erkennen würde, ist die Bedeutung der Embleme auf den Grabsteinen, obwohl sie sich sofort erschließen, wenn man die Erklärung hört: eine abgebrochene Stele (als Symbol für ein zu früh zu Ende gegangenes Leben), eine nach unten gerichtete Fackel, eine Mohnkapsel (für eine Droge, die einen in tiefen Schlaf versetzt). Auf einem Grabstein ist das „Auge Gottes“ angebracht, ein von einem Strahlenkranz umgebenes Auge, von einem Dreieck umschlossen, ein ursprünglich christliches Symbol, aber auch ein Symbol, das die Freimaurer verwandten.

Im strengeren Sinne jüdische Symbole sind die geschwungene Thora-Rolle, die einige Grabsteine bekrönt, sowie die betenden Hände, die Wasserkrüge und das Messer. Die betenden Hände sind das Kennzeichen der Rabbiner. Das sind keine Geistlichen. Sie können zwar einen Gottesdienst in der Synagoge leiten, aber das kann jeder erwachsene Mann. Die Rabbiner sind Rechtsgelehrte, Experten. Die segnenden Hände, mit gespreiztem Mittel- und Ringfinger, führen den aaronitischen Segen aus. Dabei wird der Buchstabe schin nachgebildet, kurz für ‚Allmächtiger‘. Die Nachkommen der Priester, die diesen Segen erteilten, den kohanin, erkennt man an Nachnamen wie Kahn, Kohn oder Kuhn. Das Messer ist das Beschneidungsmesser und deutet, zusammen mit Salbgefäßen, darauf hin, dass der Verstorbene mohel war, also die Beschneidung durchführte. Die wurde acht Tage nach der Geburt in einer religiösen Zeremonie durchgeführt. Die Vorhaut wurde mit wenigen Schnitten abgetrennt, wobei der Mohel Segenssprüche aufsagte und den Namen des Kinds nannte. Es bedurfte einer besonderen Ausbildung, um dieses Amt auszuüben. Die Leviten reichen den Rabbinern das Wasser während der Zeremonie. Daher der Wasserkrug. Familiennamen wie Levi, Löw oder Lavi zeigen die Abstammung von den Leviten an.

Ein Unterschied zwischen dem traditionellen Teil des Friedhofs links und dem modernen rechts ist der Gebrauch der Schrift: Links haben alle Grabsteine Inschriften in Hebräisch, rechts ist es entweder eine Mischung aus Hebräisch und Deutsch oder nur Deutsch, Ausweis der immer größer werdenden Assimilierung. Bei den Inschriften rechts gibt es gelegentlich Rechtschreibfehler. Da waren christliche Steinmetze am Werk!

Außerdem sind die Grabsteine rechts größer und aufwendiger gestaltet. Man könnte glauben, auf einem christlichen Friedhof zu sein. Hier gibt es auch gelegentlich, entgegen der jüdischen Tradition, Familiengräber.

Nach der aschkenasischen Tradition sind die Gräber in Ost-West-Richtung anzulegen. Dadurch blickt der Verstorbene, wenn er aufersteht, Richtung Tempelberg. Der Grabstein steht am Fußende des Grabes. Aber auch hier muss ein Wandel der Auffassung stattgefunden haben. Bei zwei Kindergräbern, in dem einen ein Junge, in dem anderen ein Mädchen, steht der Grabstein in einem Fall am Fußende, im anderen am Kopfende. Die beiden Grabsteine stoßen also mit dem Kopf aneinander.  

Jüdische Friedhöfe hatten auch immer eine Schandecke, für Selbstmörder (und wohl auch Verbrecher). Sie wurden zwar irgendwo in eine Ecke verbannt, aber immerhin wurde ihnen das Begräbnis auf dem Friedhof nicht verwehrt, wie bei den Christen. Wo sich die Schandecke dieses Friedhofs befindet, ist nicht bekannt.

Im alten Teil des Friedhofs sind die Großeltern von Marx bestattet, auf Grabsteinen mit einer hebräischen Inschrift. Marx’ Großvater war Rabbi und hieß Mordechai Marx Levy, seine Großmutter, Chaje Levofff, war die Tochter des Trierer Rabbiners Moses Lwow. Marx’ Vater, Heinrich Marx, konvertierte zum Protestantismus, um seinen Beruf als Rechtsanwalt voll ausführen zu können. Er ließ seine Kinder taufen. Bis zu seiner Konvertierung hieß er Heschel. Aus Heschel machte er Heinrich. Marx’ Mutter konvertierte erst viel später, warum, ist unklar. Marx ist ein sehr verbreiteter Name in dieser Region und deutet nicht auf eine Verwandtschaft mit KarlMarx hin. Es ist etymologisch eine Nebenform von Markus.

Auf diesem Teil des Friedhofs sind auch die Vorfahren von Marcel Proust begraben, in einem imposanten Doppelgrab. Prousts Großvater, Nathanael Bernkastel, knüpfte während der Zeit der Besatzung Kontakte nach Frankreich an und wanderte schließlich aus und ließ sich in Paris nieder. Prousts Großmutter, Adéle Bernkastel, verkehrte in mehreren literarischen Salons und gab ihrer Tochter, Prousts Mutter, eine gründliche humanistische Bildung mit.

Ein besonderes Schicksal ist verbunden mit dem Grab eines gewissen Siegfried Wolff. Er war Leutnant der Reserve und zog als Kompanieführer „für sein geliebtes Vaterland“ im Infanterieregiment in den Krieg. Er war Träger des Eisernen Kreuzes. Im Juni 1918 kam er, der einzige Sohn seiner Eltern, im Krieg ums Leben. Ein Eisernes Kreuz schmückte ursprünglich den Kopf des Grabsteins, wurde aber später entfernt. Sein Vater wurde mit 75 Jahren nach Theresienstadt deportiert und kam dort ums Leben. Den Sohn hätte dasselbe Schicksal ereilt, wenn er nicht gefallen wäre.

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Marx (2)

Am Treppenaufgang zur Ausstellung links eine Landkarte Europas, mit den Grenzen der Zeit von Marx und den heutigen Grenzen. Viele Dinge sind gleich geblieben, aber es gibt auch Unterschiede: Griechenland, Polen und Irland existierten (noch) nicht. Und im Osten gab es drei Großreiche: das Zarenreich, das Osmanische Reich und Kakanien.

Rechts eine Wand mit großflächigen Reproduktionen von Photos von Marx. Alle stammen aus der Londoner Zeit. Auf allen trägt er das Haar lang und hat einen Rauschebart. Es gibt kein Photo von ihm und Jenny. Wenn Frauen neben ihm posieren, sind es seine Töchter oder, in einem Fall, eine seiner Töchter neben der Tochter von Engels.

Die Ausstellung ist nicht im engeren Sinne über Marx Leben, sondern zeichnet die Stationen seines Lebens nach, eine ganze Menge, von Trier bis nach London. Dass er auch einmal in Algier war (um sich in dem milden mediterranen Klima von seinen vielen Leiden zu erholen), wusste ich nicht. Auf dem Rückweg war er sogar in Monte Carlo.

Es ist bezeichnend, dass Trier am Anfang steht, das kleine, provinzielle Trier mit gerade mal 10.000 Einwohnern, und London am Ende, die riesige, moderne Metropole, die größte Stadt Europas zu der Zeit. Sie hatte zu Zeiten von Marx schon fünf Bahnhöfe! Die verbanden sie mit allen Teilen Englands. Auf Gemälden – die meisten Exponate sind Gemälde – sieht man St. Pancras Station – romantisch in Abendlicht gehüllt, die Bahnhofshalle im Zwielicht fast verschwimmend, die Fassade wie eine gotische Kirche – und King’s Cross Station, geschäftig, mit großem Auflauf angesichts des Eintreffens der Königin.

Die meisten Exponate sind Bilder. Die nehmen Bezug auf die Lage in den verschiedenen Städten zu Marx‘ Zeiten. Für die Zeit in Trier steht ein Gemälde, das eine erwischte Reisigsammlerin im Wald zeigt. An ihrer Seite ihre weinende Tochter. Neben ihr ein Gendarm mit einem Notizbuch. Das Sammeln von Reisig, früher erlaubt, war von den Preußen unter Strafe gestellt worden. Das führte zu noch mehr Elend bei den Armen.

Die Franzosenzeit hatte für Trier Fortschritt bedeutet, hinsichtlich der Institutionen und hinsichtlich der Gesetze. Zum ersten Mal waren alle (Männer!) vor dem Gesetzt gleich. Hier ist eine Zeichnung von Goethe zu sehen, die die Freiheit feiert. Oben steht: Cette terre è libre. Im Hintergrund sieht man einen kleinen Ort: Schengen!

In der Preußenzeit wurde das alles rückgängig gemacht. Und es gab einen großen materiellen Rückschritt. Trier waren nach der Napoleonischen Zeit Absatzmärkte abhandengekommen.  Das beeinträchtigte die Lage der Kleingewerbetreibenden. Darunter litten auch die Winzer. Und die litten außerdem unter der Steuerlast. Weine aus dem Rheinland galten in Preußen als Auslandsprodukte und unterlagen hohen Zöllen. Dann schlug auch noch die Reblaus zu.Die Lage der Menschen wurde durch eine Schlacht- und eine Mahlsteuer noch verschlimmert. Viele lebten unter dem Existenzminimum, und in einigen Jahren waren 1.700 Menschen inhaftiert, von insgesamt 11.000!

Das führte zu Auswanderungen in großem Stil, von Trier aus u.a. nach Brasilien. Vor allem viele Winzer wanderten dahin aus. Auf einem Gemälde sieht man Auswanderer beim Aufbruch, auf einem anderen eine Amtsstube, in der man sich seine Papiere besorgen musste. Man benötigte einen Pass. Das bedeutete nicht dasselbe wie heute. Ein Pass war eher das, was man heute als Visum bezeichnen würde, aber man brauchte ihn nicht, um reinzukommen, sondern um rauszukommen! Die Länder wollten ihre Bürger behalten! Sie waren wichtig als Arbeitskräfte, als Erzeuger von Nachkommen, als Steuerzahler, als Soldaten. Rein kam man überall, ganz anders als heute. In einer Vitrine ist ein Pass ausgestellt, ein großformatiges Blatt Papier mit den üblichen Unterschriften und Stempeln.

Trier ist die kleinste Stadt auf Marx‘ Lebensweg, mit Ausnahme vielleicht von Bad Kreuznach. Dort heiratete er. Jenny war nach dem Tod des Vaters mit der Mutter dorthin gezogen. Auf der Hochzeitsreise, die ihn nach Bingen und Baden-Baden führte, kam er zum ersten Mal ins Ausland! Bingen gehörte zu Hessen.

Eine Bleistiftzeichnung zeigt den jungen Marx als Studenten in Bonn, mit 17. Er hatte schon mit 16 Abitur gemacht und Trier verlassen! Diese Bleistiftzeichnung ist die älteste erhaltene Darstellung von Marx.

Es gibt nur wenige Exponate mit direktem Bezug auf Marx. Eins davon ist ein Karzerbuch der Universität Bonn. Dort wird er, Carl Marx, zu einem Tag Karzer verurteilt, wegen „nächtlicher Ruhestörung”. Kurios, dass es bei der Schreibung des Namens noch keine Einheitlichkeit gibt. Außer Bonn gibt es zu der Zeit keine einzige Universität im Rheinland und in Westfalen!

In Bonn machte Marx, was man als Student so macht: Liebesgedichte schreiben, die Vorlesungen schwänzen, saufen, feiern, lärmen. Sein Vater sorgte dafür, dass die Sache bald ein Ende nahm, nach zwei Semestern. Er empfahl  Berlin als seriösen Studienort. Es ist genau das Gegenteil von dem, was man erwarten würde.

Tatsächlich wurde Marx in Berlin sofort zu einem ernsthaften Studenten, so sehr, dass der Vater sich jetzt sorgte, weil der Sohn nur noch die Bücher im Kopf hatte. Berlin war die erste Großstadt, die Marx kennenlernte, mit Fabriken, Palais, Paraden, Theater und 200.000 Einwohnern.

Entgegen der allgemeinen Vermutung musste Marx Berlin nicht wegen seiner politischen Einstellung verlassen, sondern weil er die Regelstudienzeit überschritten hatte! Promoviert wurde er dann in Jena, in Abwesenheit! Die Stadt hat er nie betreten!

Köln war, wie Trier, katholisch, liberal und antipreußisch. Wie sehr die Preußen diese Ideologie fürchteten, sieht man darin, dass sie den Rosenmontagszug verboten. Der war ihnen zu politisch.

In Paris lebten zu der Zeit, als Marx dorthin übersiedelte, 80.000 Deutsche, 8% der  Bevölkerung! Trotz der hohen Einwohnerzahl waren Teile der Stadt noch ganz ländlich. Auf einem Gemälde von Corot sieht einen Hügel mit Feldern, einem Felsen und einer Mühle: Montmarte!

In einer Schatulle ist ein Reiseschreibset aufbewahrt. Ob es von Marx selbst stammt, wird nicht ganz klar. Jedenfalls enthält es, säuberlich geordnet, Federn unterschiedlicher Stärke, zwei Tintenfässer und zwei Schreibstiele. So was muss Marx ständig bei sich gehabt haben. Bei Umzügen war man nicht zimperlich. Man schleppte den gesamten Haushalt mit. In der Regel fuhr Marx, mit dem Nötigsten ausgestattet, vor, und Jenny kam mit dem gesamten Haushalt hinterher.

Auf einem Gemälde sieht man ein Pfandleihhaus. Das hatte nichts Anrüchiges an sich. Man ging ins Pfandleihaus, wenn man einen Kredit brauchte, so wie man heute zur Bank geht. Auf dem Gemälde sieht man folgerichtig eine Familie aus dem Establishment, gut gekleidete, vornehm. Anders war es mit der Zwangsverpfändung. Auch die wird auf einem Gemälde illustriert. Die Zwangsverpfändung trat ein, wenn man seine Schulden endgültig nicht mehr bezahlen konnte. Das bedeutete dann auch den Verlust der Wohnung. Und genau das passierte bei Marx zu Beginn der Londoner Zeit: Die hochschwangere Jenny wurde mit mehreren kleinen Kindern auf die Straße gesetzt. Die Familie stand am Abgrund. Später wurde die Situation besser, durch verschiedene Erbschaften und durch die Unterstützung durch Engels. Aber die Klagen rissen nicht ab, aber es waren jetzt Klagen auf höchstem Niveau: Der Italienischlehrer will mehr Geld, wir können und den Klavierunterricht für Jenny nicht mehr leisten, der Preis für den Wein ist gestiegen usw.

Marx selbst und Jenny und die auf dem Kontinent geborenen Kinder waren staatenlos. Hier galt das ius sanguinis. Das galt nicht für die in England geborenen Kinder. Sie hatten die britische Staatsangehörigkeit. Hier galt das ius soli.

In einer Vitrine sieht man zwei Schreiben von Marx aus Brüssel an Trier, an den Oberbürgermeister, der gleichzeitig der Preußische Gesandte ist. Er benötigt Unterlagen für seine geplante Auswanderung in die USA. Daraus wurde nichts.

Ein aufgeschlagenes Exemplar der Rheinischen Zeitung liegt in einer Vitrine, mit einem eng gedruckten Text zu der Debatte in Preußen zum Holzdiebstahl. Geschrieben ist der Artikel „von einem Rheinländer“ – Marx. Er war Chefredakteur der Zeitung. Die Rheinische Zeitung wurde verboten, dann, nach der Revolution, als Neue Rheinische Zeitung wiedergegründet. Nach dem Niederschlag der Revolution wurde Marx aus Preußen ausgewiesen. Das letzte Exemplar der Neuen Rheinischen Zeitung, unmittelbar vor dem Verbot erschienen, ist ganz in Rot gehalten. Ein Exemplar ist in der Ausstellung zu sehen.

Vor der Ausweisung aus Brüssel landete Marx tatsächlich im Gefängnis – für eine Nacht. Zusammen mit Jenny, aber natürlich getrennt von ihr. Die war zusammen mit Wucherinnen und Prostituierten interniert. Marx lancierte die Sache geschickt und es kam zu einem öffentlichen Aufschrei, nicht so sehr wegen Marx, sondern wegen La Baronesse de Westphalie!

Für Manchester gibt es einen eigenen Raum, obwohl Marx nie dort wohnte. Er verbrachte aber lange Zeit dort, bei Engels, und in der Bibliothek. Kurz gesagt, wurde in Manchester aus dem Philosophen ein Wirtschaftswissenschaftler. Trotzdem hat Marx nie eine Fabrik von innen gesehen!

Hier gibt es auch ein Gemälde, das eine Fabrik mit hammerschwingenden Arbeitern zeigt. Hier ist alles hell, die Atmosphäre ist betriebsam, die Mühen der Arbeit und das Elend der Arbeiter bleiben verborgen. Hier wird die Industrialisierung gefeiert. Im Vordergrund, erst bei genauem Hinsehen zu erkennen, sitzt ein Mädchen mit einem Mathematik-Buch. Sie gehört zu den Gewinnern der Industrialisierung.

Daneben ein Bild, La Nena Obrera, das in der Zeit Furore machte. Ursprünglich großformatig, über zwei Meter lang, und so erfolgreich, dass der Maler,  Joan Planella, dieses zweite, kleinformatige Bild folgen ließ. Das erste war auf Ausstellungen in New York, Buenos Aires, Paris usw. gewesen. Das Bild zeigt eine Fabrikarbeiterin, eine absolute Neuheit. Die Malerei hatte früher Adelige, heute Unternehmer dargestellt, aber keine Arbeiter, und schon gar keine Frauen oder Kinder. Hier, bei der Nena Obrera, sind Kind und Frau gleichzeitig erfasst.

Von Algier, wo er von London aus hinreiste, um in dem milden Mittelmeerklima seine vielen Gebrechen zu kurieren, gibt es eine Tagebuchaufzeichnung von Marx, von der wir wissen, dass er einen Termin beim Photographen und einen beim Barbier hatte. In dieser Reihenfolge. Beim Barbier ließ er sich den Bart abnehmen. Wenn dieser Reihenfolge gibt es kein Photo des bartlosen Marx.

Die Hoffnung auf das milde Mittelmeerklima erwies sich als trügerisch. Es stürmte und regnete ununterbrochen. Danach ging die Reise nach Monto Carlo, ausgerechnet nach Monte Carlo. Marx (und Marxismus) und Montecarlo – kann man sich einen größeren Gegensatz denken?

Von den sieben Kindern von Marx und Jenny starben vier als Säugling oder im Kindsalter. Nur drei erreichten das Erwachsenenalter, drei Töchter. Sie hießen, um Verwirrung zu stiften, mit erstem Vornamen alle Jenny! Alle drei wirkten zu irgendeiner Zeit als Sekretärin oder Assistentin von Marx.

Nur zwei überlebten Marx. Jenny Caroline, die älteste Tochter, starb wenige Monate vor Marx an Blasenkrebs, im selben Jahr, 1883.

Jenny Eleanor, “Tussy”, eine aktive Sozialistin, hatte ein Nerenkrankheit, von der sie auch mehrere Kurauftenhalte nicht heilten. Sie hatte ein Verhältnis zu einem Mann, der ihr verheimlichte, dass er verheiratet war. Die Nachricht davon könnte der Auslöser ihres Suizids gewesen sein. Sie nahm sich im Alter von 43 Jahren mit Blausäure das Leben.

Jenny Laura war die sprachbegabteste von allen und übersetze u.a. Ibsen und Flaubert. Ins Deutsche, vermute ich. Im Alter war sie so sehr von der Angst vor Armut und Gebrechen geplagt, dass sie sich auch das Leben nahm – zusammen mit ihrem Ehemann, Paul Lafargue. Sie hatten in den Jahren des erzwungenen Exils alle drei Kinder verloren.

Am Ende der Ausstellung stößt man in der Form von Faksimiles, aber auch als elekrtonische Dateien auf etwas, das den etwas irreführenden Namen Confessions trägt. Es sind keine Bekenntnisse im eigentlichen Sinne, sondern die Antworten auf Fragebögen, die man Freunden gab, eine unterhaltsame Art, etwas von sich preiszugeben. Jenny hielt ein komplettes Confessions Book. Da liest man einige eher nichtssagende, aber auch sehr originelle Antworten: Ihre Heldin? – Meine Kaffeekanne. Ihre Lieblingsbeschäftigung? – Luftschlösser bauen. Auch Schlafen und Rauchen werden als Lieblingsbeschäftigung genannt. Und „Bettler anbellen“. Das ist der Fragebogen von Whiskey. So hieß der Hund der Familie Marx. Bei der Antwort auf die Frage nach dem persönlichen Motto, der persönlichen Maxime, gibt es zwei, die mir auffallen: Fais ce que voudras, arrive ce que pourra. – Tue, was du willst. Es kommt, wie es kommt. Und: Là où il y a de la gène il n’est pas de plaisir.

Es bleiben ein paar Rätsel, und es sind ein paar neue hinzugekommen durch die Ausstellung, die Führung durch die Ausstellung und die Lektüre der letzten Wochen: Marx wurde mit einer Arbeit über griechische Philosophen promoviert, war aber als Jurastudent eingeschrieben. Ging das? Welchen Doktortitel erhielt er? Warum konnte er in Jena promoviert werden, obwohl er dort nie war? Ist es in Gerücht, dass Marx zeitlebens ein Photo seines Vaters mit sich trug? Stimmt es, dass die Photographie noch gar nicht erfunden war, als Marx’ Vater starb? Kann es statt eines Photos nicht eine Zeichnung gewesen sein? Wie ist es mit der Ausweisung aus Preußen? Ist das ein Mythos? Ist Marx gar nicht ausgewiesen worden? Schließlich hat er den Austritt aus der preußischen Staatsangehörigkeit selbst beantragt. Aber kann er nicht auch als Staatenloser ausgewiesen worden sein? Haben sich Marx und Engels kein bisschen um die Lage der Arbeiter in der Fabrik von Engels gekümmert? Wie konnten sie das mit ihren Theorien vereinbaren? Wie war es mit Engels und Marx’ unehelichem Kind? Irgendwo steht, es stimme nicht, dass er die Verantwortung für das Kind übernommen habe, das sei ein Gerücht. Aber vielleicht ist damit nur gemeint, dass er es nicht adoptierte, wohl aber sich dazu bekannte, der Vater zu sein. Und was hat es mit der Konversion von Marx’ Vater zum Protestantismus auf sich? Dass er zum Protestantismus und nicht zum Katholizismus konvertierte, ist eine Verbeugung vor den Preußen, ein Akt des Opportunismus. Aber warum überhaupt die Konversion? Stimmt es, dass er sonst nicht als Rechtsanwalt hätte arbeiten können? Oder hätte er als Rechtsanwalt arbeiten, aber nicht Beamter werden können?

(“Karl Marx 1818-1883. Stationen eines Lebens”, in: Stadtmuseum Trier, 2018)

 

 

 

 

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Marx (1)

Beim Aufgang zu den Ausstellungsräumen erfährt man, dass Marx bereits mit 23 promoviert wurde, und zwar in Jena. Dass auch Paris zu seinen Stationen gehörte, noch vor Brüssel und London, nach Bonn, Berlin und Köln. Und dass er Staatenloser war. Seine preußische Staatsbürgerschaft, heißt es, habe er „abgelegt“, 1845. Man fragt sich, ob das nicht bei den weiteren Stationen im Ausland, aber nicht nur da, schwierig war.

Die Ausstellung macht es einem nicht leicht und ist nicht jedermanns Sache, wie ich bereits gehört habe. Man muss lesen und sich konzentrieren, dann lohnt es sich.

Ganz am Anfang stehen einige Ausstellungsstücke, die auf Borsig Bezug nehmen. Darunter eine Lokomotive im Kleinformat und eine große, bauchige Vase, auf der Borsig gefeiert wird. Die Eisenbahn gehört zu den Erfindungen, die das Leben der Zeit auf rasante Art veränderten. D Als Marx geboren wurde, gab es noch keine Eisenbahnen, jedenfalls in Deutschland nicht. Als er nach Berlin kam, gab es ein paar von den Briten betriebene Eisenbahnen mit britischem Personal! Borsig forderte daraufhin Stephenson heraus und gewann eine Wettfahrt. Danach wurden unter seiner Regie deutsche Lokomotiven gebaut.

Am besten lassen sich die Eindrücke anhand von konkreten Exponaten zusammenfassen. Unter denen befinden sich einige, die von Marx selbst stammen. Am Anfang liegt die Doktorurkunde aus. Im Original. Alles ist auf Latein, auch die Namen sind latinisiert. Die Urkunde beantwortet endgültig eine Frage, die ich mir schon länger gestellt hatte: Marx wurde, obwohl ursprünglich in Jura eingeschrieben, zum Dr. phil. promoviert.

Marx wurde in Jena promoviert, in Abwesenheit, ohne mündliche Prüfung! Das ist einer der Gründe, warum er das Jenaer Angebot annahm. Ein anderer ist, dass er seine Dissertation zwar fertig hatte, die aber auf Deutsch abgefasst war. Er hätte sie in Berlin noch übersetzen müssen. Es scheint, dass die Universitäten autark genug waren, das selbst zu entscheiden. In Berlin war ihm das Geld ausgegangen. Sein Vater war inzwischen verstorben, und die Mutter drehte den Geldhahn zu, zum Entsetzen des Sohnes. Sie fand, dass genug Geld in die Förderung des Lieblingskindes geflossen war, dass jetzt auch mal die anderen an der Reihe waren. Das leuchtete Marx überhaupt nicht ein.

In einem verdunkelten Raum hängt ein Porträt von Proudhon. Der war Orientierung für Marx, aber er war, wie er fand, in der These steckengeblieben, der notwendigerweise die Antithese folgen musste. Seine Replik auf Proudhon schrieb er eigens auf Französisch, aber Proudhon antwortete nicht. Der Titel enthält eine typische Marxsche Volte: Misère de la philosophie. Réponse a la philosophie de la misère de M. Proudhon.

Dann kommt eine Seite, handschriftlich, aus dem Kommunistischen Manifest. Es soll die einzig erhaltene Seite sein. Die handschriftlichen Seiten wurden peu à peu, so wie sie zum Drucker kamen, vernichtet. Diese eine Seite muss durch einen Zufall erhalten geblieben sein. Vielleicht kam sie noch einmal zurück, weil es Unklarheiten gab. Es ist eine kleine, eng beschriebene Seite mit Unterstreichungen und einigen Korrekturen, ohne Linienblatt geschrieben, in einer  sehr krakeligen Handschrift. Man fragt sich, wie der Drucker das lesen konnte. Irgendwo heißt es, die arme Jenny habe alle seine handgeschriebenen Texte in Schönschrift übertragen. Auch Schreibmaschinen gab es zu der Zeit noch nicht. Erst Tussie Marx besaß gegen Ende ihres Lebens eine Schreibmaschine.

Rechts und links von der handschriftlichen Seite Ausgaben des Kommunistischen Manifests aus verschiedenen Zeiten in verschiedenen Sprachen, auch in Esperanto und in Blindenschrift. Das Manifest soll unter Zeitdruck entstanden sein. Es war eine Auftragsarbeit. Im Allgemeinen gilt Marx als ein akribischer und ausführlicher Autor, dem Sarkasmus und Polemik nicht fremd waren.

Zensur gab es nicht nur in der Literatur, auch in der Malerei. Das wird hier durch ein Gemälde veranschaulicht, Im Kerker von Ludwig Knaus. Der Gefangene ist alleine in einem dunklen Verlies. Er trägt aber Kleidung des 16. Jahrhunderts, um von der Gegenwart abzulenken. Gleichzeitig ist aber eine Fahne ein Hinweis auf die Gegenwart.

In einer Vitrine steht ein verrostetes Eisenteil, wie ein übergroßer Tannenzapfen. Was kann das nur sein? Es ist eine Kartätsche, eine Streubombe. Solche Kartätschen wurden in Berlin bei der Niederschlagung des Aufstands von 1848 eingesetzt. Damit wurde nicht gezielt auf einen Aufständischen gefeuert, sondern wahllos in die Menge. Wobei es egal war, wer das Opfer war.

Bemerkenswert auch eine aufgeschlagene Kladde. Da sieht man Marx‘ Arbeitsweise. Beide Seiten der Kladde sind bis auf den letzten Zentimeter gefüllt mit Zeitungsausschnitten, handgeschriebenen Tabellen, Listen und Kommentaren, wieder in ganz kleiner Schrift. Von diesen Kladden soll Marx, thematisch unterschieden, mehr als 160 gehabt haben. Eine immense, gut organisierte Arbeit.

Die meisten Exponate beziehen sich eher auf die Zeit als auf Marx selbst. Gleich zu Beginn der Ausstellung sieht man ein Ölgemälde, ein Porträt (1848), von Adolf Menzel. Am dem ist zunächst nichts Besonderes zu merken. Die Besonderheit liegt in dem Porträtierten. Es ist ein Weber, einer Weber aus Schlesien, dort, wo der Weberaufstand stattfand. Dies soll das erste Porträt eines anonymen Arbeiters überhaupt sein. Auch in der Malerei bedeutete die Umwälzung eine neue Zeit.

In einer Vitrine sieht man Broschen und Tabakpfeifen mit den Porträts der Revolutionäre wie Blum und Hecker. Eine Art der politischen Meinungskundgebung. Die Namen sind unter den Porträts angebracht, außer bei Blum. Den erkannte man auch so, an seinen markanten Gesichtszügen.

In einem Saal geht es um die kommunikative Revolution des 19. Jahrhunderts. Keine Übertreibung, sie mit der heutigen zu vergleichen. Als Ausweis der neuen Techniken ist ein Lochstreifenstanzer ausgestellt. Er sieht aus wie ein Vorläufer des primitiven Computers. Er diente zur Übertragung von Morsezeichen. 1832 dauerte es noch 14 Tage, mit jemandem in New York zu kommunizieren, 1870 nur noch wenige Minuten. Es ist auch ein Originalteil der Kabels zu sehen, mit dem 1866 Europa und Amerika verbunden wurden, ein 3000 Kilometer langes Unterseekabel, das von The Great Eastern verlegt wurde. 1866 war es dann soweit. Die Verlegung des Kabels galt als achtes Weltwunder. Nicht zu unrecht.

In einem Gang sieht man ein Gemälde von Hasenclever, das, in den Worten eines Beobachters, die Lage der Arbeiter besser darstellt als tausend Worte. Düsseldorfer Arbeiter protestieren beim Stadtrat gegen ihre Entlassung. Drei ihrer Vertreter stehen vor den hohen Herren und übergeben eine Petition. Der Arbeiter, der die Petition übergibt, steht in gebührendem Abstand, hat aber, vorsichtig und doch selbstbewusst, einen Fuß auf den Teppich gestellt, der dem Revier der Arbeitgeber vorbehalten scheint. Eine Geste, die Würde und Anspruch der Arbeiter ausdrückt.

In einem anderen Saal steht ein Kaufladen (1880). Es gibt einen Tresen, auf dem Boden stehen Säcke und Fässer mit Schaufeln, hinter dem Tresen fein mit Keramikschildern bezeichnete Schubladen und alle möglichen Gefäße, auf dem Tresen eine Waage und daneben Gewichte. Eine Kasse ist komischerweise nicht zu sehen. Dafür aber Kehrblech und Handfeger, ein charakteristisches Detail! Die Bedeutung des Kaufladens erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Kaufläden gab es in Mittelstandfamilien. Deren Kinder wurden von früh auf „trainiert“, als Käufer und Verkäufer. Die industrielle Revolution hatte einen Überschuss an Waren hervorgebracht, zum ersten Mal in der Geschichte, und aus der Sicht der Kaufmannskaste ging es darum, den Konsum anzutreiben, auch Waren zu verkaufen, für die es eigentlich keinen Bedarf gab. Eine echte Revolution, deren Folgen wir erst heute in vollem Maße übersehen. Und unter der wir leiden. Marx hatte einen klaren Blick dafür.

Ein Raum ist ganz dem Kapital gewidmet. Verschiedene Exemplare des Buchs liegen aus, und an den Wänden erscheinen Zitate. Auch hier ein Einblick in Marx’ Arbeitsweise, die im wahrsten Sinne des Wortes Bände spricht: Als endlich der erste Band des Kapitals erschienen war und alle den zweiten erwarteten, machte sich Marx erst mal an die Revision des ersten Bandes. Er hatte so viele neue Daten, neue Erkenntnisse. Das Buch war alles andere als ein Verkaufsschlager und enttäuschte Marx’ Erwartungen auf ganzer Linie.

Von einer ganz anderen Art ist die Heilige Familie, von Marx und Engels. Es greift aktuelle Situationen und Ereignisse auf. Der vollständige Titel ist Die Heilige Familie oder Kritik der kritischen Kritik. Und der Untertitel lautet Gegen Bruno Bauer und Konsorten. Das Buch ist Ausweis des akribischen Vorgehens von Marx und Engels. Der Lohn eines Arbeiters in England belief sich zu der Zeit auf 11 Schilling. Schön und gut. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Marx und Engels arbeiteten heraus, dass 11 Schilling zwar der Durchschnittslohn eines Arbeiters war, dass aber der Lohn zwischen 1,5 Schilling und 40 Schilling variierte. Da stellt sich fast die Frage, was denn überhaupt ein Arbeiter sei.

Ähnlich mit der Kinderarbeit. Man denkt vermutlich an 14jährige oder 16jährige Kinder. Tatsächlich wurden aber auch Kinder von 5 Jahren (und darunter!) in der Industrie eingesetzt. Die ganz kleinen hatten die Aufgabe, den Staub unter den Maschinen, an denen die importierte Baumwolle gereinigt wurde, zu entfernen. Es hatte sich herausgestellt, das England und vor allem Nordengland das geeignete Klima hatte – relativ stabile Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit das ganze Jahr über – um die Baumwolle zu reinigen. Das war lukrativer als er vor Ort zu machen, da, wo die Baumwolle geerntet wurde.

In einem Saal ist symbolisch eine Fabrikhalle nachgebaut, mit einem Fließband, auf dem statt Waren Begriffe transportiert werden wie Mehrwert. Alles ist Grau in Grau, ohne Tageslicht, eine bedrückende Atmosphäre. Als Emblem der neuen Zeit steht in einer Vitrine ein Wecker (1990). Nicht mehr die Natur bestimmt den Tagesablauf, sondern die Gesellschaft, die industrielle Produktion.

An der Seite ein Zitat von Marx: „Der römische Sklave war durch Ketten, der Lohnarbeiter ist durch unsichtbare Fäden an seinen Eigentümer gebunden.“

Am Rande dieses Raums eine Art Transparent, ein längliches Stofftuch mit einer Parole, Rot auf Weiß, zum Jahrestag eines Aufstands: „Rache für unsere Gemaſsregelten & Verfolgten. Hoch lebe die Social-Demokratie“.

In der Nähe ein besticktes, verziertes Stickbild, eines der wenigen Schmuckstücke aus den sonst kargen Arbeiterwohnungen. Auch hier ein Sinnspruch, mit den auf das ganze Bild verteilten Buchstaben, gar nicht so leicht zu entziffern: „Wir wollen den Frieden, die Freiheit und Recht dass Mensch (?) sei des anderen ???, dass Arbeit aller Menschen Pflicht und niemand es an Brod gebricht“.

Auch hier ein Marx-Zitat: „Die Befreiung der Arbeiterklasse muss das Werk der Arbeiterklasse selbst sein.“ Die Arbeiterbewegung hat sich nicht daran gehalten.

Zum Schluss gibt es einen Nachruf auf Marx, erschienen in Der Sozialdemokrat. Es ist ein ganzseitiger Nachruf auf der ersten Seite. Bemerkenswert, denn Marx hatte sich nie parteipolitisch gebunden oder gar engagiert.

Den Abschluss der Ausstellung, schon nahe dem Ausgang, bildet eine Büste von Marx mit dem weltweit vertrauten Anblick. Verwunderlich, dass das so ist, denn bei seinem Tod war er weitgehend aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. An seiner Beerdigung nahm nur ein Dutzend Trauernde teil. Das änderte sich dann bald, und am ersten Jahrestag waren es bereits 6000, mehr als Highgate fassen konnte, so dass man nicht alle zulassen konnte. Das war das Resultat des Wirkens von Engels, der Marx bekannt machte, nicht nur sein Werk, sondern auch sein Bildnis.

Über der Büste steht ein Zitat von Marx aus den Confessions: “An allem ist zu zweifeln.” Das sei allen ins Buch geschrieben, die von einem geschlossenen Theorie von Marx sprechen. Er setzte immer wieder neu an, revidierte seine Thesen. Als der erste Band des Kapital erschienen war und alle auf den zweiten warteten, machte sich Marx erst einmal an die Revision des ersten Bandes!

Vor dem Ausgang können Besucher auf rote Zettel ihre Eindrücke von der Ausstellung notieren. Der allgemeine Tenor: hochaktuell! Viele Dinge, die Marx für seine Zeit konstatiert hat, können auf unsere Zeit übertragen werden. Ein paar kuriose Zitate: „Ein Bartträger – der erste Hipster“, „Ein Trierer Jung, „Ein deutscher Denker, der Weltgeschichte gemacht hat, ohne es zu wollen“ und: „Junge, komm bald wieder“.

(„Karl Marx 1818-1883. Leben, Werk, Zeit“, in: Landesmuseum Trier, 2018)

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Marx (3)

Das Karl-Marx-Haus, das Haus, in dem Marx geboren wurde (aber nur wenige Monate lebte) hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Lange wusste man gar nicht, dass es das Haus war, in dem Marx geboren wurde. Das fand man erst zu Anfang des 20. Jahrhunderts heraus. Daraufhin erwarb die SPD das Haus (ein Prozess, der sich jahrelang hinzog, da so viele Parteien involviert waren) und machte es zu einer Gedenkstätte. Den Nazis war die ein Dorn im Auge. Sie enteigneten die SPD und brachten hier demonstrativ die Zentrale der Parteizeitung unter. Nach dem Krieg kam das Haus dann wieder an die SPD und wurde schließlich an eine Stiftung überführt. Brandt eröffnete hier 1968 das Karl-Marx-Museum, das dann regelmäßig von Politikern aus den Ostblockländern besucht wurde, bis zum Mauerfall. Seitdem sind es vor allem chinesische Politiker und chinesische Touristen, die das Geburtshaus besuchen.

Von dem alten, 1725 entstandenen Haus ist nicht mehr viel übrig. Das Haus wurde nach einem Brand verändert wiederaufgebaut, mit einem zusätzlichen Dachgeschoss und einer Erweiterung nach hinten hin. Von Marx und seiner Familie ist so gut wie gar nichts ausgestellt, einfach, weil nichts erhalten ist. Alle privaten Besitzstücke wurden längst weiterverkauft.

Eine kleine städtische Paradoxie besteht darin, dass das Karl-Marx-Haus nicht in der Karl-Marx-Straße steht, sondern in der Brückenstraße. Die Karl-Marx-Straße ist eine Verlängerung der Brückenstraße zur Mosel hin. Als man sich in Trier endlich entschied, eine Straße nach Marx zu benennen, konnte man sich nicht dazu durchringen, ihm eine Straße nahe der Innenstadt zu widmen. Heute befindet sich in der Karl-Marx-Straße – passenderweise? – das Trierer Rotlichtviertel.

Marx war eins von neun Kindern seiner Eltern. Von denen überlebten nur er und drei Schwestern. Das war nicht ungewöhnlich.

Die politische Situation stand unter dem Zeichen der Restauration. Die Freiheiten, die man in den zwei Jahrzehnten davor genossen hatte, wurden meist wieder zurückgenommen. Trier war ein Teil von Frankreich gewesen und die Trierer Franzosen. Das bedeutete auch, dass junge Männer aus Trier für den Kriegsdienst rekrutiert wurden und in den Napoleonischen Kriegen auf Seiten der Franzosen kämpften.

Trier hatte zu der Zeit von Marx’ Geburt gerade einmal 11.000 Einwohner. Die Armut war allgegenwärtig. Zwei Drittel der Bevölkerung lebte unter dem Existenzminimum. Mit dem Wiener Kongress und der Schließung der Grenze nach Frankreich war ein wichtiger Absatzmarkt weggefallen. Und die deutschen Kleinstaaten nahmen Zölle für die Einfuhr. Auch Trier, obwohl es zu Preußen gehörte, musste Zölle auf den Export von Wein nach Preußen zahlen. Für den Weinexport blieb in erster Linie England.

Dazu kamen Missernten. Die wichtigste wurde ausgelöst durch den Ausbruch des Vulkans Tambora in Indonesien (1815). Der brachte Westeuropa ein “Jahr ohne Sommer”. Später kam für die armen Winzer noch die Auflage hinzu, nur noch Riesling anzubauen. Das hatte der Erzbischof dekretiert, um die Qualität des Weins zu verbessern. Das Problem: Vielen armen Winzern fehlten die Reben und sie mussten sie für teures Geld beim Adel oder bei der Kirche kaufen. Marx erlebte diese Armut hautnah, auch wenn er selbst einer privilegierten Familie angehörte.

An der Ecke zur Innenstadt, nur wenige Meter von dem Marx-Haus entfernt, befindet sich ein Haus mit einer Apotheke im Erdgeschoss. Das ist die Villa Venedig, einst ein Hotel. Hier übernachtete Marx bei einer seiner wenigen Besuche Triers. Er wollte mit allen Mitteln der Mutter aus dem Weg gehen. Die beschuldigte er – unberechtigterweise – ihm Geld vorzuenthalten, das ihm zustand.

In der Neustraße befindet sich, durch eine moderne Plakette mit dem Profil ihres Gesichts gekennzeichnet, das Elternhaus von Jenny. Marx kam mit ihr durch ihren Bruder in Kontakt, einem gleichaltrigen Schulkameraden. Die Kinder spielten zusammen. Dabei bestimmte Marx, einer späteren Notiz Jennys zufolge, immer, was gespielt wurde. Er war erfindungsreich und duldete keinen Widerspruch.

Jenny selbst hat nie eine Schule besucht. Sie war dennoch sehr gebildet. Das war ihrem Vater zu verdanken, Ludwig von Westphalen, einem preußischen Beamten. Er las mit seinen Kindern Literatur, deutsche, französische, englische, und förderte ihre geistige Entwicklung ganz allgemein. Davon profitierte auch Marx. An Wochenenden machte er Spaziergänge mit den Kindern und zeigte ihnen die allgegenwärtige Armut.

Jenny war adelig, Marx bürgerlich, Jenny war Protestantin, Marx Konvertit, vor allem aber war Jenny vier Jahre älter als Marx. Das war fast ein Hinderungsgrund für eine Verbindung. Die Familie von Westphalen hatte allerdings keinen Grundbesitz. Jennys Vater musste, im Gegensatz zu den “richtigen” Adeligen, für seinen Unterhalt arbeiten.

Schon in diesem Haus war Helene Demuth als Haushälterin angestellt. Jenny und Marx nahmen sie später mit. Sie blieb ein ganzes Leben lang bei ihnen. Sie konnte alles, kümmerte sich um alles. Jenny war ganz und gar unpraktisch: Nähen, Bügeln, Kochen waren Fremdwörter für sie.

Später, in London, bekam Helene Demuth ein Kind von Marx. Unehelich. Das wurde heimlich gehalten. In der Beziehung war Marx durch und durch Großbürger. Engels übernahm die Verantwortung und behauptete, er wäre der Vater. Das nennt man einen Freund! Ob Jenny etwas ahnte? Man weiß es nicht. Vielleicht wollte sie es nicht wissen. Das Kind wurde allerdings in Adoption gegeben. Auch der Schwester von Helene Demuth drehte Marx ein Kind an. Das wurde abgetrieben, und die Mutter starb bei dem Eingriff. Alles wurde natürlich unter den Tisch gekehrt. Wie muss es für Helene gewesen sein, für den Mann zu arbeiten, der letztlich den Tod ihrer Schwester zu verantworten hatte? Oder wusste sie von nichts?

Jenny galt als das “schönste Mädchen von Trier”. Marx muss Jenny beeindruckt haben, weil er einfallsreich, charmant, gesellig, intelligent war und wohl auch große erotische Anziehungskraft hatte. Aber trotzdem fragt man sich, wie sie es mit ihm all die Jahre aushielt.

Ganz in der Nähe befindet sich das Haus (oder die Stelle, wo sich das Haus ursprünglich befand), in dem Fischers Maathes, das Trierer Original, wohnte. Er war etwas jünger als Marx, aber wohl auch Schulkamerad. Er war nicht nur Witzbold, sondern auch politischer Aktivist, glühender Anhänger der Achtundvierziger Revolution. Nach der Niederschlagung der Revolution vergrub er kompromittierende Schriften im Trierer Weißhauswald.

Aber auch die Anekdoten, die man von ihm erzählt, haben teils eine soziale Komponente. Lehrer: “Wie, du kommst ungekämmt in die Schule? Hast du keinen Kamm?” Fischers Maathes: “Doch, aber ohne Zinken.” – Schulkamerad: “Wo hast du denn die tote Maus her?” Fischers Maathes: “Aus unserer Speisekammer. Die ist da verhungert.” Auch so kann man Armut charakterisieren.

In der Schule lernte man nicht nur Griechisch und Latein, sondern auch Englisch und Französisch. Davon sollte Marx später sehr profitieren. Offen ist die Frage, welches Deutsch er sprach. Es wird behauptet, im Hause Marx wäre bis zum Schluss, auch in London noch, Trierer Dialekt gesprochen worden. Jenny stammte zwar aus Preußen, war aber mit zwei Jahren schon nach Trier gekommen. Merkwürdig, sich die Thesen aus dem Kommunistischen Manifest im Dialekt vorzustellen.

Das Haus ist nur ein paar Schritte von der Jesuitenkirche (streng genommen Dreifaltigkeitskirche) entfernt. In den angrenzenden Gebäuden befand sich die erste Trierer Universität und später das Gymnasium, das Marx besuchte, sechs Jahre lang. Marx war ein guter Schüler, aber kein Überflieger. Bekannt geworden ist sein Abituraufsatz, in dem es um die Berufswahl ging. Man hat darin gedankliche Spuren seiner späteren Entwicklung sehen wollen. Erst jetzt hat ein findiger Forscher herausbekommen, dass Marx bei den Mathematikaufgaben im Abitur abgeschrieben hat – von Edgar von Westphalen.

In der Jesuitenkirche wurde Marx getauft. Die Jesuitenkirche wurde von beiden Konfessionen benutzt! Marx’ Vater war zum Protestantismus konvertiert, ohne Überzeugung, aus rein pragmatischen Gründen: Er hätte als Jude nicht als Rechtsanwalt arbeiten können. Seine Frau konvertierte erst viel später. Ihr fiel es bedeutend schwerer.

Auf dem Trierer Viehmarkt steht das Casino, ein klassizistischer Bau. Er ist inzwischen, seit dem Abzug der Franzosen, anderen, meist gastronomischen Zwecken zugeführt worden. Zur Zeit von Marx war es eben das Casino – hat nichts mit Casino im Sinne von Spielcasino zu tun, sondern war eine Art Begegnungs- und Bildungsstätte für die Trierer Elite, zunächst ausschließlich die männliche Elite. Später fanden auch Festlichkeiten mit Frauen hier statt, und ging das schönste Mädchen von Trier auf ihren ersten Ball.

Eine Art Vorgänger des Casinos war ein Lesekreis, fortschrittlich, liberal gesinnt, den der Erzbischof 1773 genehmigte, aber 1793, unter dem Eindruck der Revolutionswirren in Frankreich, zur Sicherheit wieder verbot. Dann kam, nach dem Wiener Kongress, eben das Casino. Gleiche Ausrichtung. Beide Väter, Marx und von Westphalen, nahmen lebhaft an den Aktivitäten teil und hielten auch eigene Vorträge und waren wohl auch an einem denkwürdigen Tag präsent, als es hier, in weinseliger Stimmung, zum Absingen der Marseillaise kam. Das Casino wurde vorübergehend geschlossen. Marx wuchs also in einer weltanschaulich liberalen Atmosphäre auf und hatte das Glück, von drei gebildeten, weltoffenen Männern geprägt zu werden: seinem Vater, Jennys Vater und dem Direktor des Gymnasiums.

Das eigentliche Elternhaus von Marx ist ein kleines, zweistöckiges Haus in der unmittelbaren Nähe der Porta. Hierher war die Familie gezogen, als Marx gerade ein halbes Jahr als war. Hier blieb er bis zum Abitur und kehrte nie wieder hierher zurück. Dieses Haus war kleiner als das Geburtshaus, aber es war kein Rückschritt, sondern eine Verbesserung: Früher hatte man zur Miete gewohnt, jetzt hatte man sein eigenes Haus.

Marx’ Mutter lebte hier bis zu ihrem Tod. Sie überlebte ihren Mann um 25 Jahre. Ihr Sohn hatte da noch 20 Jahre zu leben. Der Tod der Mutter scheint keine große Trauer bei Marx hinterlassen, wohl aber ein Gerangel um das Erbe ausgelöst zu haben. Marx verhielt sich nicht gerade feinfühlig.

In dem Hausrat befanden sich beim Tod der Mutter 8 Fuder Wein, eine ungeheure, fast unvorstellbare Menge für einen Privathaushalt. Man fragt sich, wo man all das Zeug gelagert hat. Eins ist klar: Gesoffen wurde ständig, und Wein war durchaus auch für Kinder an der Tagesordnung, auch als Arznei. In Karls Aufzeichnungen aus London geht es auch ständig um Wein, die Sorge um den zu Neige gehenden Vorrat und die Versorgung mit qualitätsvollem Wein.

Nur ein paar Schritte vom Elternhaus entfernt steht Triers letzte Errungenschaft: die Marx-Statue, ein Geschenk der Volksrepublik China an Trier zum 200. Geburtstag von Marx. Die Statue ist, wie sollte es anders sein, umstritten, aber es gibt natürlich gute Gründe dafür, dass Trier seinem berühmtesten Sohn seine Reverenz erweist, bei aller Diskussionswürdigkeit einiger seiner Thesen. Dass viele seiner Ansichten hochaktuell sind, ist kaum zu bestreiten.

Die Statue ist eher konventionell, entspricht den Marx-Darstellungen auf unzähligen Abbildungen. Sie hätte sicher auch so in der DDR stehen können. Die Statue ist nicht glatt und rund, sondern eher kantig, ganz der Persönlichkeit Marx’ entsprechend. Er hält ein großformatiges Buch unter einem Arm. Und er macht einen Schritt nach vorn, so wie für ihn der Sozialismus einen Schritt nach vorn bedeutete. Er wendet seinem Elternhaus (und Trier) den Rücken zu und geht von hier in die große, weite Welt.

Als kleinen Gag hat man, kurz vor der Einweihung der Statue, an der Ampel vor der Statue aus dem Fußgängermännchen ein Marxmännchen gemacht.

 

 

 

 

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Katzenjammer

Man soll bei einer Sorte bleiben, nicht durcheinander trinken, so vermeide man einen Kater, heißt es. Heißt es. Stimmt aber nicht. Dem Körper ist es egal, woher der Alkohol kommt. Aber die volkstümliche Vorstellung hält sich hartnäckig. Vermutlich deshalb, weil man sich anders verhält, wenn man bei einer Sorte bleibt: Man trinkt weniger. Aber wenn man dieselbe Menge Alkohol zu sich nimmt, ist es egal, ob der von Bier alleine oder von Bier und Schnaps kommt. Ein anderes populäres Rezept gegen den Kater ist die “gute Grundlage”. Die müsse geschaffen werden, durch reichliches und möglichst fettes Essen. Stimmt auch nicht. Auch hier fordert der Alkohol seinen Tribut, ganz egal, was man vorher gegessen hat. Allerdings: Wenn man eine gute Grundlage hat, dauert es länger. Der Alkohol wird länger im Dünndarm gebunden. Am Ende aber schlägt der Alkohol unbarmherzig zu, mit oder ohne Grundlage.

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Gluten oder Gluten?

Früher hieß es Gluten. Heute heißt es Gluten. Kein Unterschied? Doch. Die Betonung ist anders. Früher war die Betonung auf der ersten, heute ist sie auf der zweiten Silbe. Und mit dem Betonungswechsel  haben sich auch die Konnotationen verändert. Das Gluten war normal, es war weder gut noch schlecht, auf jeden Fall aber zweckdienlich. Es hielt den Teig zusammen. Heute ist es böse. Es muss unter allen Umständen gemieden werden. Überall findet man glutenfreie Produkte. Die meisten, die sie kaufen, brauchen sie nicht. Nur 1% der Bevölkerung hat eine Empfindlichkeit gegen Gluten. 25% glauben, sie zu haben. Sie tun damit in erster Linie der Lebensmittelindustrie einen Gefallen. Und sich selbst. Sie lenken  die Aufmerksamkeit auf sich. Sie werden beachtet.  Sie sind anders als die anderen, empfindlicher, etwas Besonderes (noch!).  Ein Zeichen unserer Zeit? Vielleicht. In früheren Zeiten konnte man nicht so wählerisch sein. Man war froh, dass es überhaupt etwas zu essen gab. Aber es gibt einen Vorläufer, eine literarische Figur, eine Figur in einem Theaterstück, das ganze Buhei vorwegnimmt: Molières Eingebildeter Kranker. Die Literatur eilt der Wirklichkeit voraus.

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Vor der Haustür

Statt auf Bäume stoße ich auf Bagger. Es wird gebaut im Park, umgebaut. Ein Teil des Parks fällt neuen Krankenhausgebäuden zum Opfer. Das Schöne muss dem Nützlichen weichen.  Der Baumparcours ist aber noch zum Teil begehbar. Es sind Bäume aus allen Teilen der Welt angepflanzt worden, jeweils einer, als Demonstrationsobjekt sozusagen.  Es ist jetzt keine günstige Jahreszeit, man sieht keine Blüten (mehr) und (noch) keine Früchte. Aber der Rundgang wird zu einer sprachlichen Entdeckungsreise. Die Bäume haben phantastische Namen: Schnurbaum, Zerreiche,  Rostbartahorn,  Taschentuchbaum, Götterbaum, Judasbaum, Teufelskrückstock. Wunderbar! Im Zentrum des Parks steht eine moderne Skulptur, der Brunnen des Lebens. Rund um den zentralen Pfeiler eine Figurengruppe. Eine Mutter, die ihre Hände noch beschützend um die Hüfte des sich von ihr abwendenden Kindes hält, es aber nicht mehr festhält, es in die Selbständigkeit entlässt. Auf der anderen Seite ein Junge, barfuß, mit bequemer Hose, der faulenzend herumsitzt, lächelnd, den Ellbogen auf Bücher gestützt, die Schulbücher vermutlich. Die Muße, das Nichtstun als eine der Bestimmungen des Menschen. Auf der anderen Seite ein alter Mann mit einem Buch in der Hand. Er liest. Er lernt. Life-long learning ist das Stichwort. Zu ihm krabbelt ein kleines Kind hoch, neugierig auf das Buch blickend. Wissensbegierde, Entdeckerfreude, dem Menschen von Natur aus mitgegeben. Und oben auf dem Brunnen steht eine Frau, die Flöte spielt. Die Muse. Die Kunst als im wahrsten Sinne höchste Bestimmung des Menschen. 23 Jahre habe ich gebraucht, um diesen Park zu entdecken. Er liegt, beinahe, vor der Haustür.

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Lammfromm

An die Wand gekettet, nackt, schlecht ernährt, Opfer von Schlägen und Vergewaltigungen – das wäre ihr Schicksal gewesen, wenn sie nach Bedlam gekommen wäre, das berüchtigte Londoner Irrenhaus, Bethlehem Hospital, später Gegenstand der gesellschaftskritischen Zeichnungen von Hogarth in The Rake’s Progress. Es war ihrem Bruder, Charles Lamb zu verdanken, dass ihr das erspart blieb. Sie kam in ein anderes Irrenhaus, nach Islington, wo sie besser behandelt wurde. Ihr Bruder kam für die Kosten auf. Und schon 1997, ein Jahr nach der Tat, wurde sie dort entlassen und konnte unter Aufsicht wieder in gewohnter Umgebung leben. Und dass, obwohl sie einen Mord begangen hatte! Sie hatte ihre Mutter getötet. Die hatte sie gescholten, weil sie ihre Magd zurechtgewiesen und aus dem Raum geschubst hatte. Mary hatte ein Messer in der Hand und stach auf ihre Mutter ein, eine Tat, in der sich jahrelange Frustration Bahn brach. Mary Lamb hatte in jeder Hinsicht Glück. Schon wenige Tage später befand ein Richter, dass es sich bei der Tat um geistige Umnachtung handele. Und dass sie später ein mehr oder weniger normales Leben führen konnte, grenzt an ein Wunder. Erstaunlich, wie rücksichtsvoll ihre Familie mit ihr umging – die Tat wurde in ihrer Gegenwart nie wieder erwähnt – und erstaunlich, wie gelassen Mary selbst mit ihrer Schuld umging. Sie befand, sie sie eine gute und treusorgende Tochter gewesen, “for the most part.” Den Namen ihrer Mutter erwähnt sie in ihrer Korrespondenz nur ein einziges Mal. Sie überlebte ihre Mutter um 40 Jahre. (Polowetzky, Michael: Prominent Sisters. Mary Lamb, Dorothy Wordsworth, and Sarah Disraeli. Westport, Connecticut und London: Praeger, 1996: 9-10)

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Minden

Was mich neugierig gemacht hatte: die Schiffsmühle. Ich hatte keine Ahnung, was das war. Aber Minden hat eine. Eine nachgebaute. Die letzte echte Schiffsmühle hatte Anfang des 20. Jahrhunderts den Betrieb eingestellt. Aber was war eine Schiffsmühle? Worauf bezieht sich der Wortteil Schiff? Das erfährt man bei der Besichtigung der Schiffsmühle: Eine Schiffsmühle ist eine Mühle, die sich auf dem Schiff befindet. So kommt die Mühle zum Bauern und nicht der Bauer zur Mühle. Die Schiffsmühle verrichtet ihre Arbeit an einer Stelle und macht sich dann auf den Weg zum nächsten Halt. So erklärt es uns ein junger Mann, der durch die Mühle führt. Die vielen technischen Details rauschen über die Köpfe seiner Zuhörer hinweg, aber sein Enthusiasmus ist einfach gewinnend. Er wirft die Mühle eigens für uns an. Roggen wird hier gemahlen. Er kommt als ganz feiner Staub unten in dem Beutel an. Das Mehl kann feiner oder gröber gemahlen werden, je nachdem, wie eng die beiden Mühlsteine aufeinander reiben. In den Schiffsmühlen wurde nicht nur Mehl gemahlen, auch Steine, die für den Bau zerkleinert wurden, landeten hier.

Die Schiffsmühle liegt an der Weser, nur ein paar Schritte vom Zentrum entfernt. Die Weser sieht wie ein richtiger Fluss aus, ist nicht kanalisiert. Und die Wege sind fast auf dem gleichen Niveau wie die Wasseroberfläche. Das ganze Gelände entlang der Weser ist voller Bäume, und dann taucht auch noch das auf, was man jetzt am dringlichsten benötigt: ein Café, mit Sitzplätzen draußen.

Vorher war ich in der Innenstadt gewesen. Auf dem schönen Marktplatz ein besonders prächtiges Haus im Stile der Weserrenaissance und ein besonders schönes Haus im Stile des Historizismus. Darin war eine alte Apotheke, und man sieht von außen noch die Regale und Schubladen mit Messingbeschlägen und Keramikschildern. Jetzt ist da ein Konfektionsgeschäft drin. Schrecklich!

In den anderen Straßen weitere Häuser im Stile der Weserrenaissance, von denen mehrere renoviert werden und nicht sichtbar sind. Ein besonders schönes Exemplar steht am Ende des Scharn, mit rechteckigen Fenstern in den Obergeschossen und rundbogigen Fenstern in den Giebelgeschossen. Vorgestellte Säulen teilen die Fassade in sechs Achsen, wobei die oberste Säule ein Fenster halbiert. Auf den Giebelkanten hocken nackte Gestalten.

Über die ganze Stadt verteilt moderne Skulpturen, meist ebenerdig: ein Junge, der aus seinem Mund in regelmäßigen Abständen Wasser in den Brunnen vor ihm spuckt; der Mindener Buttjer, eine Art Straßenjunge, barfuß, Mütze, Hände in den Taschen, Schlägermütze, Kopf schräg; und eine Statue von drei Figuren, fast ineinander verschlungen, mit einfachen, glatten, reduzierten Formen, die aber durch Gestik und Haltung als Vater, Mutter und Kind erkennbar sind. Schön.

In der Nähe des Buttjer ein Geschäft mit dem Namen Shirtladen. Man hört förmlich die entsetzten Proteste der Sprachpuristen. Aber es ist nichts anderes als Regierungsbildung. Darüber regt sich keiner auf.

An verschiedenen Stellen sieht man Firmennamen in antiquierter Schreibweise: Crane-Optic, Mindener Tageblatt.

Ohne zu suchen finde ich auch eine Reihe von kuriosen Shop Names: Haarmonie, Schöne Aussischten (Landschaftsarchitekt), Überschaubar, Bücherwurm, Das kleine Schwarze (mit einer Dependance für Dessous, die Na und? heißt).

Im Dom halte ich mich nur kurz auf. Erstaunlich der Kontrast zwischen dem sehr dunklen Chor und dem sehr hellen Hauptraum. Im nördlichen Seitenschiff eine bemerkenswerte Skulptur, die Erweiterung des Motivs der Anna Selbdritt um Annas Mutter, der legendären Emerentia. Hatte ich noch nie gesehen und noch nie von gehört. Die Figur hier ist vermutlich der Rest eines Schnitzaltars. Leider ist das Jesuskind verloren gegangen. So wird die Figur ihrem Namen Emerentia Selbviert nicht ganz gerecht.

An der Westwand liest man die Geschichte eines Menschen, der sein Kreuz loswerden will und sich ein anderes sucht. Erst fällt ihm eins ins Auge, das schön und glänzend ist, aber es stellt sich heraus, dass es aus Metall und viel zu schwer für ihn ist. Dann sieht er ein anderes, das leichter aussieht, aber als er es schultert, merkt er, dass Nägel aus dem Balken heraustreten, die sich ihm in die Schulter bohren. Die Suche geht immer weiter. Am Ende findet er eins, das passt. Als er es ansieht, merkt er, dass es sein eigenes Kreuz ist, das, das er loswerden wollte. Eine etwas simple Geschichte, aber sie verfehlt ihre Wirkung nicht.

Gleich am Morgen, genau zur richtigen Tageszeit, war ich in St. Martini gelandet. Zufällig. Die Stiftsallee hatte mich vom Hotel aus direkt auf das Stift hin geführt. Das ehemalige Stift, müsste es heißen. Es herrscht herrlicher Sonnenschein, und die einfachen, aber schönen Buntglasfenster kommen voll zur Wirkung. Die geometrischen Muster spiegeln sich auf dem Fußboden und auf den massiven Pfeilern.

Die Kirche hat keinen Turm. Der ist irgendwann, im Mittelalter, eingestürzt, dann neu gebaut worden und wieder eingestürzt, bis man es aufgegeben hat.

Die Kirche ist, typisch Westfalen, im Laufe ihrer Geschichte in eine Hallenkirche verwandelt worden, genauso wie der Dom. Sie sieht aber von außen ganz anders aus, geradezu “normal” im Vergleich zu dem Dom mit seiner ganz merkwürdigen Fassade mit dem Querriegel und den turmartigen oberen Geschoss. Im Norden sieht man an der Martinikirche auch die vor das Dach gesetzten Giebel, wie ich sie von früher aus dieser Gegend in Erinnerung habe.

Die Kirche hat ein paar sehenswerte Ausstattungsstücke, und man kann sich alles aus der Nähe ansehen, auch, was im Chor steht. Keine Alarmanlage, keine Verbotsschilder. Und ich bin ganz alleine. Es muss nicht immer der Louvre sein.

Vorne im Chor steht ein sehr schön verziertes, oben spitz zulaufendes Gerät aus Messing (XV). Auch beim zweiten Hinsehen kommt man nicht darauf, was es ist: ein Taufbecken. Der Unterbau hat eine eigenwillige Form mit Balustersäulchen und der Oberbau hängt an einem schwenkbaren Kranarm!

Das Chorgestühl ist eigentlich einfach, aber am hinteren Ende ist es bekrönt von zwei gefesselten Drachen links und zwei gefesselten Nashörnern rechts. Ein Nashorn in der Kirche! Ein schönes Photomotiv. Die beiden Tiere stehen für Zorn und Zwietracht, und die Fesseln dafür, wie man sie in den Griff bekommt.

Das auffälligste Ausstattungsstück ist die Kanzel, farbig gefasst, mit gemalter Holzmaserung und Marmorierung, mit allerlei Schnitzereien am Aufgang, am Kanzelkorb und am Schalldeckel. Den Schnitzereien liegt ein aufwändiges Programm zugrunde, das ich aber nicht ganz verstehe. Es heißt, man müsse die Kanzel von unten nach oben lesen. Das Programm erklärt auch die Anwesenheit von vier barbusigen, die dem Betrachter ihre Brust entgegenstrecken. Es müssen Sirenen sein oder Meerjungfern, und die entsteigen den Wellen unter ihnen und verbinden die heidnische Welt mit der christlich geprägten Welt weiter oben. So ähnlich. Auf dem Schalldeckel oben thront der triumphierende Christus, und er ist mit vier von Engeln verzierten Bögen mit vier Frauengestalten verbunden, die vier Tugenden repräsentieren: Weisheit (mit Doppelgesicht), Gerechtigkeit (mit Reichsapfel), Liebe (mit trinkendem Kind an der Brust), Hoffnung (als Tänzerin dargestellt). Leider kann man von unten nicht alle Details gut erkennen, und man möchte gerne noch mehr über die allegorische Sprache wissen: Warum verkörpert das Doppelgesicht die Weisheit?

Als ich später in der Innenstadt nach der Alten Münze frage, muss ich erstaunt feststellen, dass kein Mensch sie kennt, auch nicht die Straße, an der sie liegt. Am Ende stellt sich heraus, dass sie gleich hinter St. Martini liegt. Eine Verkäuferin aus einem Laden der Alten Münze gegenüber kann es kaum fassen: In Minden muss doch jeder die Alte Münze kennen. Es ist ein Quaderbau aus dem Hochmittelalter, wohl der älteste Profanbau der Stadt, und hat eine schön gestaltete Fassade. Der Name deutet darauf hin, dass Minden tatsächlich früher das Münzrecht gehabt hat. Heute beherbergt das Haus ein Restaurant, aber nicht deutsche Hausmannskost, sondern griechische!

Das ganze Viertel hier oben ist ausgesprochen sehenswert, mit schief stehenden Fachwerkhäusern an gekrümmten Gassen. Es hat etwas Heimeliges. In einem der Fachwerkhäuser ist auch das Stadtmuseum. Das wird auf dem Programm stehen, wenn es das nächste Mal nach Minden geht.

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Nicht im Bilde sein

Die sowjetische Fahne auf dem Berliner Reichstag – ein Bild für das Ende des 2. Weltkriegs, das sich dem kollektiven Gedächtnis eingeprägt hat: Hammer und Sichel statt Hakenkreuz. Das Photo suggeriert, es wäre genau in dem historischen Moment aufgenommen worden, dem Moment, wo die Sowjetarmee in Berlin eindrang und die Stadt unter ihre Kontrolle brachte. Das war aber schon Tage vorher geschehen. An dem Tag hatten sowjetische Soldaten zwar ein rotes Tuch, aber keine sowjetische Flagge und auch keine Fahnenstange. Erst dann flog der Photograph, Jewgeni Chaldej, nach Berlin. Er machte eine besonders gelungene Aufnahme, weil er das Brandenburger Tor im Hintergrund hatte. Die Idee mit der Fahne hatte er auch selbst und bat einen sowjetischen Soldaten, auf den Reichstag zu klettern und die Fahne zu schwingen. Alles war gestellt. Chaldej flog dann umgehend nach Moskau zurück. Als er das Bild unter die Lupe nahm, merkte er, dass der Soldat an beiden Armen eine Armbanduhr trug – eine musste gestohlen sein. Das würde einen schlechten Eindruck machen. Er machte sich also daran und retuschierte eine der Uhren weg.

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