Geheimwaffe Thermometer

Es gibt viele Pioniere der Photographie. Der bekannteste ist Daguerre. Als Dekorationsmaler für Theater hatte er das Diorama erfunden, eine Schaubühne für große, gemalte Szenerien. Eine Camera obscura diente dabei als Hilfsmittel, um die Szenerien möglichst realistisch zu gestalten. Mit Photographie hatte das noch nichts zu tun, aber bald sann Daguerre darauf, mit der Camera obscura Bilder herzustellen. Er behandelte Silberplatten mit Joddämpfen, um damit eine lichtempfindliche Schicht zu erzeugen. Wenn man diese Platten in eine Camera obscura einsetzte, entstand nach sehr langer Belichtungszeit ein sichtbares Bild. So ein Bild dunkelte aber nach und wirkte aufgrund der langen Belichtungszeit seltsam unnatürlich. Beide Probleme löste ein glücklicher Zufall. Eines Tages wurde das Wetter plötzlich trübe. Daguerre nahm die Platten heraus und stellte sie in einen Schrank. Am nächsten Tag hatte er plötzlich das fertige Bild vor sich. Er ahnte, dass in dem Schrank etwas sein musste, was die Entstehung des Bildes verursachte. Durch systematische Suche fand er schließlich die geheime Substanz: Die Quecksilberdämpfe eines zerbrochenen Thermometers. So entstand die Daguerreotypie, das beste Verfahren, um Landschaftsbilder, Portraits und Stillleben zu erzeugen. Daguerreotypien wurden in kürzester Seit ungeheuer populär. Das Verfahren hielt sich dennoch nur etwas mehr als ein Jahrzehnt: Daguerreotypien lassen sich nicht vervielfältigen, sind seitenverkehrt und berührungsempfindlich. (Bohn, Markus: “Louis Daguerre stellt ein fotografisches Verfahren vor”, in: SWR Zeitwort: 18/08/2014)

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Katastrophal

Als es in Europa vor 200 Jahren zu einer Sommerkälte kam, machten einige die Abholzung der Wälder dafür verantwortlich. Die habe Wärme nach oben entweichen lassen. Andere machten die zahlreichen Erdbeben der vergangenen Jahre verantwortlich, wieder andere die Blitzableiter. Sie hatten das Innere der Erde so stark erhitzt, dass nun der natürliche Wärmefluss gestört war. In Japan wurde noch die Katastrophe von Fukushima als Strafe Gottes angesehen. Diese Erklärung hat auch in Europa Tradition. Bei dem Erdbeben von Lissabon 1755 übertrafen sich die Kirchen mit Schuldzuweisungen. Die Protestanten sahen in dem Erdbeben eine Strafe Gottes, die sich gegen die Katholiken richtete. Das Erdbeben war schließlich an einem 1. November, Allerheiligen, ausgebrochen. Eindeutig eine Strafe für den Heiligenkult der Katholiken. Der Glaube an den strafenden Gott ist immer noch aktuell. Der Hurrikan Katrina wurde als Strafe für den promiskuitiven Lebenswandel der Bewohner von New Orleans gedeutet. Aber auch weltlichen Deutungen liegt das gleiche Muster zugrunde: Nach Hochwassern wird gesagt, die Natur schlage zurück. Das ist letztlich eine Fortsetzung religiöser Strafvorstellungen. Es geht um Buße und Wiedergutmachung. Wir pflanzen einen Baum, fahren mit dem Rad oder essen Biofleisch und haben ein gutes Gewissen. (Frey, Andreas: „Die Natur kennt keine Katastrophe“, in: Die Zeit 37/2014: 35-36)

 

 

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Das Salz der Erde

Salz konserviert, nicht nur das, was es konservieren soll. Manchmal ist die Konservierung ein unbeabsichtigter Nebeneffekt, wie ich jetzt in einer Ausstellung eindrucksvoll vor Augen geführt bekam. Der Salzstollen aus dem Hallstätter Salzbergtal stürzte 1245 zusammen, wurde dann erneuert (aber erst 400 Jahre später) und stürzte dann endgültig ein. Der Stollen hat bewahrt, was sonst verloren gegangen wäre, gibt aber auch ein paar Rätsel auf. Man kann zum Beispiel einen Kinderschuh aus Leinen (Größe 30-31), eine Säuglingsmütze aus Fell und Tragesäcke aus Rinderhaut sehen, alle aus dem 13. Jahrhundert vor Christus! Die Säuglinge wurden offensichtlich mit in den Stollen genommen. Kinder mussten mitarbeiten. Erstaunlich, was die Forscher aus den Funden ableiten: Im Stollen arbeiteten Frauen und Männer. Das weiß man, weil sich die Skelette von Frauen und Männern aus dem Stollen ähneln. Die Menschen waren bei der Arbeit ständig überbelastet. Das weiß man, weil Gelenke abgenutzt und Knochen verändert sind, an den Stellen, wo die Muskeln ansetzen. Neben der harten Arbeit gab es Läuse (in Kleidern entdeckt), die Infektionskrankheiten übertragen konnten und Spülwürmer, die Durchfall, Koliken und Bauchschmerzen verursachen konnten. Man hat Pestwurz gefunden, der zu Bündel zusammengefügt wurde. Vielleicht diente er der Behandlung von Wunden, vielleicht als Medizin gegen Darmparasiten, vielleicht als Toilettenpapier! Durch die Exkremente weiß man etwas über der Ernährung. Ein Forscher schlägt aufgrund der Untersuchungen folgendes Rezept vor: Füße, Schwänze und Schwarten vom Schwein, Saubohnen, Gerste, Hirse. Weich kochen, mit Essig, Thymian und Bohnenkraut würzen und mit Zwiebeln servieren. Und natürlich salzen! Dieses Gericht, das Ritschert, wurde im Stollen selbst zubereitet. Als Beleg sieht man in der Ausstellung einen riesigen Holzlöffel und ein Kegelhalsgefäß, das 50 Liter fasste. Die Zubereitung von Essen im Stollen erklärt auch die zunächst rätselhaften Tonscheiben, die in den Stollen gefunden wurden. Die Technik der Salzgewinnung war hervorragend entwickelt. Die Stollen gehen bis zu 200 Meter in die Tiefe. Man sieht hier große, abgebrochene Grubenhölzer. Auch Werkzeuge sind zu sehen. Ein Rätsel gibt ein Pickel auf, mit einem langen, dünnen Stiel und einem spitzen Arbeitswinkel aus Metall. Wie wurde der genutzt? Man hat es in verschiedenen Improvisationen ausprobiert, aber keine Lösung gefunden. Für einen direkten Schlag wie mit dem Hammer ist der Winkel zu spitz. Für eine ziehende Bewegung ist der Stiel zu dünn. Für eine Benutzung als Brecheisen ist ebenfalls der Stiel zu dünn. Und eine Benutzung als Schlägel kommt nicht in Frage, weil man keine Schlagspuren finden konnte. Außerdem wurde eine hölzerne Treppe gefunden, die mobil war und deren Stufen man verstellen konnte. Hallstatt hatte sogar sein eigenes Markenzeichen: herzförmige Salzplatten. Die gab es nur hier! Man meißelte vermutlich zuerst herzförmige Rillen in die Wand und löste dann die Salzplatte durch Druck heraus. Das erforderte eine präzise Handhabung von Pickel und Meißel. Bis heute weiß man nicht, warum ausgerechnet dieser Stollen bearbeitet wurde. Er war schwer zugänglich, lag 400 Meter über dem See und 30 Meter in der Erde und war bis in den Sommer zugeschneit. 40 Kilometer weiter gab es besser zugängliche Stollen. Trotzdem kamen schon vor 7.000 Jahren Menschen hierher, um Salz zu gewinnen. Und schon vor 4.000 Jahren hab es arbeitsteilige Verfahren bei der Salzgewinnung. Hallstatt hatte ein richtiges Monopol. Die anderen Salzförderstätten waren weit entfernt: Volterra, Tusla, Wielicka, Schwäbisch Hall. Salz machte von Jahreszeiten unabhängig. Man konnte Lebensmittel haltbar machen. Das machte man auch hier, vor Ort. Man hat Surbecken gefunden, in die mindestens 200 Schweine passten. Dort wurden Speck und Schinken produziert, und die kamen in den Handel. All das bedeutete großen Reichtum. Den dokumentieren die 1.500 im Salzbergtal gefundenen Gräber, mit ihren reichen Grabbeigaben. So wurde Hallstatt zu dem Namen für eine ganze Kulturepoche. Die Grabbeigaben, die man hier sieht, stammen meist aus der älteren Eisenzeit (800-400). Das Gräberfeld ist eine Art global village, mit exotischen Grabbeigaben aus allen Himmelsrichtungen: eine skytische Axt aus Eisen, ein norditalienisches Messer, Glas von der Adria, eine Bernsteinkette, afrikanische Vasen, Keramik aus Slowenien. Das Prachtstück der Ausstellung ist ein Schöpfergefäß aus Bronze, bei dem der Griff eine Kuh ist, hinter der ein Kälbchen an dem Gefäß hochklettert. Vermutlich ein Ritualgefäß, zu schade für den täglichen Bedarf. Ein Rätsel der Gräber stellt das Gold da: Es gibt so gut wie keins. Gab es eine Salzelite, deren noch unentdeckte Gräber all das Gold enthalten? Oder hatte Gold keinen guten Ruf? Dazu würde Cassiodorus‘ Ausspruch passen: „Auf Gold kann man verzichten, auf Salz nicht“. Gefärbt wurde auch in Hallstatt, und zwar, wenn ich das richtig verstanden habe, sowohl Kleidung als auch Keramik. Blau gewann man aus Waid, Gelb aus Färbervanille oder Färberginster. Und Grün? Da lernt man etwas Erstaunliches: Keine Pflanze färbt grün! Grün ergibt sich aus der Mischung von Blau und Gelb. Die am schwersten herzustellende Farbe aber war Schwarz. Und das war genau die Farbe, die den Schmuck der Hallstätter am besten zur Geltung kommen ließ. („Das weiße Gold der Kelten“, in: Landesmuseum Herne)

 

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Pullover

Ich habe es immer geahnt und bin oft dafür belächelt worden: Frauen ziehen Pullover anders aus als Männer. Bei der weiblichen Technik kreuzt man die Arme vor dem Bauch, greift den unteren Saum und zieht den Pullover von unten über den Kopf. Bei der männlichen Technik greift man mit den Händen hinter den Kopf, bis man ein Stück des Pullovers zu fassen bekommt und zieht dann den Pullover von hinten über den Kopf. Meine Beobachtung wird jetzt in einer Zeitungskolumne bestätigt: Bei einer Befragung von 195 Männern und 136 Frauen ergab sich, dass drei Viertel der Frauen die weibliche Technik benutzen und 80% der Männer die männliche. Die Frage, warum das so ist, bleibt allerdings weiterhin offen. Und auch die Frage, die mich noch mehr beschäftigt: Wo lernt man das? Wer bringt einem das bei? (Drössser, Christoph: “Stimmt’s?, in: Die Zeit 34/2014: 32)

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Strapazierfähiger Tannenbaum

Im Radio hörte ich in einem Altkatholischen Gottesdienst ein Kirchenlied, das auf die (wunderbare) Melodie von Land of Hope and Glory gesungen wird, dem alten, jingoistischen Lied der britischen Imperialismus des 19. Jahrhunderts. In Schweden hörte ich ein Trinklied, Vi dricker en, das auf die Melodie von O Tannenbaum gesungen wird. Das ist auch die Melodie für The people’s flag, das Kampflied der Labour Party, der inoffiziellen Parteihymne, die am Ende jedes Parteitags gesungen wurde. Kurioser Kulturtransfer. Ob die Sänger wohl wissen, worauf sie sich da einlassen?

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Panamakanal: Glanz und Gloria?

Ferdinand de Lesseps und Gustave Eiffel im Gefängnis? Komische Vorstellung. Und doch nicht so weit hergeholt.  Beide wurden, im Zusammenhang mit dem Bau des Panamakanals, verurteilt, Eiffel zu zwei Jahren, Lesseps zu fünf Jahren. Die Urteile wurden später aufgehoben – wegen Formfehlern. Es handelte sich, dem Gericht zufolge, um den “größten Betrugsfall der Gegenwart”. Bei dem Prozess kamen ungeheuerliche kriminelle Praktiken ans Licht. Während de Lesseps feurige Rede hielt über den Fortschritt der Menschheit und die Größe Frankreichs, bestachen seine Hintermänner Hunderte von Parlamentsabgeordneten, damit die Wahrheit  über die katastrophalen Zustände an den Baustellen und die ausufernden Verluste nicht ans Tageslicht kam. Die Arbeiter an der Baustelle gingen an Mücken und Mikroben zugrunde. Insgesamt 22.000 kamen dabei um. Die meisten starben an Gelbfieber und Malaria sowie an Typhus und Cholera. Das Wüstenklima in Ägypten beim Bau des Suezkanals war ein Kinderspiel gewesen gegenüber der tropischen Hölle von Panama. Die Arbeiter – die meisten aus Jamaika, von den Bahamas und anderen karibischen Inseln – verendeten wie die Tiere und wurden auf einem Totenhügel verscharrt. In Frankreich waren 85.000 Kleinanleger dem charismatischen Lesseps auf den Leim gegangen und hatten Anteile, Anleihen und Lotteriescheine der Compagnie universelle du canal interocéanique de Panama gekauft und standen nun vor dem finanziellen Ruin. In Washington hatte man das französische Unterfangen im eigenen Hinterhof mit Misstrauen beobachtet und nahm das Scheitern mit Wohlwollen zur Kenntnis. 1902 beschloss der Kongress, die Konkursmasse zu übernehmen, für den Spottpreis von 40 Millionen Dollar. Die Amerikaner übernahmen den Bau und vollendeten ihn. Und hielten eine schützende Hand über den neuen Staat Panama, der sich 1903 für unabhängig erklärte. Die Kanalzone betrachtete man bis 1999 als einen Teil der USA, und als Senator John McCain, der in der Kanalzone geboren worden war, 2008 Präsidentschaftskandidat war, stellte sich niemand die Frage, ob er denn überhaupt amerikanischer Staatsbürger sei. (Rüb, Matthias: “Amerikas Triumph, Frankreichs Blamage”, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung 188/2014: 3)

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Geschlechtsneutrale Erziehung

Schulbeginn in NRW. Die Schultüten werden, wie alles, was mit Kindern zu tun hat, immer aufwändiger und größer. Und die Kinder können sie selbst dekorieren. Welche Motive wählen die Mädchen? Einhörner, Blumen und Prinzessinnen. Und die Jungen? Autos, Raketen und Fußball.

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Käferplage

Die Beatles waren die netten Jungs von nebenan, die Stones die schlimmen Jungs, deren Umgang man seinen Kindern nicht zumuten wollte. Das ist die gängige Vorstellung heute. Ich habe mich schon immer gefragt, wo diese Vorstellung herkommt. Wer die Zeit miterlebt hat, sieht das anders. Damals verbreiteten beide Furcht und Schrecken, jedenfalls beim Establishment, die Beatles genauso wie die Stones. Das bestätigt jetzt auch ein Zeitungsartikel über den Beginn der Beatlemania vor fünfzig Jahren (Mrozek, Bodo: „Yeah, Yeah, Yeah“, in: Die Zeit 31/2014: 17). Die britische Presse sprach damals von einer mittelalterlichen Seuche, die deutsche von der Käferplage, in den USA sprach man von einer atavistischen Krankheit. In Israel wurde den Beatles die Auftrittserlaubnis entzogen, weil man negative Einflüsse auf die Jugend fürchtete. Christliche Aktivisten in den USA verbrannten vor laufenden Kameras Platten, Pilzkopfperücken und Bilder der Beatles auf einem Scheiterhaufen. In Japan wurde die Reise der Beatles von einem tropischen Sturm begleitet, der als Beatles-Taifun bezeichnet wurde, und Traditionalisten erklärten sich bereit, unter Einsatz von Kampfkünsten den Auftritt der Beatles im Budokan zu verhindern, der Halle, die der Vorführung traditioneller Kampfkünste vorbehalten war. Weltweit gaben Ordensträger ihre Medaille zurück, als die Beatles den Order of the British Empire bekamen. Im Westen erregten vor allem die Entgleisungen weiblicher Fans die Gemüter, die halb geschlossenen Augen, die entzerrten Gesichtszüge, die tierischen Schreie. Die Beatles selbst reagierten immer gereizter auf das Verhalten ihrer Fans, deren Schreie bei den Konzerten ihre Musik übertönte. Die Konzerte wurden immer kürzer, etliche wurden vorzeitig abgebrochen, und schon 1966 gaben die Beatles in San Francisco ihr letztes öffentliches Konzert.

 

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Lisztomanie

Der Begriff Beatlemanie spielte auf die Lisztomanie aus dem frühen 19. Jh. an. Schon damals hatte man, wie bei den Beatles, die ungewöhnlich langen Haare von Liszt und seinen exaltieren Vortragsstil verspottet, vor allem aber die weiblichen Fans, die dem Künstler auf manische Weise verfallen waren. Sie fielen in Ohnmacht, mussten mit Riechsalz wiedererweckt werden und balgten sich um Souvenirs wie das Wasserglas des Stars. Nichts Neues unter der Sonne. (Mrozek, Bodo: „Yeah, Yeah, Yeah“, in: Die Zeit 31/2014: 17)

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Mozart-Effekt

Der Mozart-Effekt: Paradebeispiel für fragwürdige Forschung und die fragwürdige Wiedergabe von Forschungsergebnissen an die Öffentlichkeit. Und eine Öffentlichkeit, die diese Ergebnisse mit religiöser Inbrunst aufnimmt: Mozart-Musik, so hieß es, verbessere die kognitiven Leistungen von Studenten. Das hatten Frances Rauscher und Gordon Shaw von der University of California in einem Experiment “nachgewiesen”. Es wurde kolportiert, klassische Musik mache Kinder kreativer, intelligenter und geistig gesünder. Auf einer wilden Begeisterungswelle versorgten ehrgeizige Eltern ihre Babys mit klassischer Musik, und der Gouverneur von Georgia versprach, jedes Baby von Seiten des Staates mit einer CD mit klassischer Musik auszustatten. Den Skeptikern wollte, wie immer, niemand mehr zuhören. Die machten darauf aufmerksam, dass a) der Effekt nach einer Viertelstunde wieder verpufft war, dass b) jede Musik diesen Zweck erfüllte und dass c) überhaupt jede geistige Anregung diesen Zweck erfüllte. Es musste nicht Mozart sein, es konnte auch Stephen King sein. Die Legende verbreitete sich trotzdem. Dass Musik irgendwie das Gehirn beeinflusst, steht (fast) außer Frage, die Frage ist nur: wie? Und wie kann man das nachweisen? Wenn Kinder, die ein Instrument spielen, bessere Sprachleistungen erbringen als Kinder, die kein Instrument spielen, muss das nicht am Musikunterricht liegen. Vielleicht haben überdurchschnittlich sprachbegabte Kinder einfach mehr Interesse an Musik. Oder vielleicht sind Eltern, die ihre Kinder ein Instrument erlernen lassen, einfach wohlhabender und gebildeter als andere Eltern und fördern ihre Kinder mehr. Es besteht also eine Korrelation, kein Kausalzusammenhang zwischen den beiden Phänomenen. Ob sich Musik auf den IQ oder überhaupt auf andere Fähigkeiten oder die Persönlichkeit auswirkt, ist schwer nachzuweisen. Dazu müsste man eine repräsentative Gruppe von Kindern aus allen sozialen Schichten haben und sie viele Jahre lang beobachten. Man müsste also eine Längsschnittstudie machen. Man könnte dann per Los entscheiden, welche Kinder Kunst- und welche Kinder Musikunterricht bekommen und könnte dann sehen, welcher der Kinder den besseren Schulabschluss bekommen. Aber das machen erfahrungsgemäß weder Eltern noch Kinder mit, und für die Forscher ist es eine zeit- und kostenintensive Angelegenheit. Man könnte auch versuchen, herauszufinden, ob sich Musik auf die sozialen Fähigkeiten der Kinder auswirkt. Werden Kinder durch Musik emphatischer, friedlicher, kooperativer? Schön wär’s. Immerhin berichten viele Musiklehrer, dass sich die Atmosphäre in der Klasse schlagartig ändert, wenn der Musikunterricht beginnt und auch ausgewiesene Rabauken ihre Instrumente mit Sorgfalt behandeln. Auch das beruht aber zunächst einmal nur auf Beobachtungen. Stichhaltige Nachweise gibt es kaum. Man sollte Musik um der Musik willen ausüben, nicht um irgendwelcher Nebeneffekte willen. (Drösser, Christoph: “Machen Töne schlau?”, in: Die Zeit 26/2014: 31-32)

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Merkel als Pilotin

Bei Angela Merkel, so Franz Müntefering, fühlt man sich so wie bei einem sicheren, erfahrenen Piloten. Man setzt sich ganz entspannt ins Flugzeug. Nur weiß man nicht, wohin die Reise geht!

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Frühreifes Früchtchen

Aprikose heißt wörtlich ‘frühreif’. Dass man das nicht erkennt, liegt daran, dass sich ein Artikel in das Wort eingeschlichen hat. Der Stamm ist praecox und dessen Variante praecoquium. Über griechisch πρεκóκκια kam das Wort dann ins Arabische, und daher kommt der Artikel: al-barquq. Daraus wurde port. albricoque und span. albaricoque (in beiden ist der arabische Artikel noch erhalten) und frz. abricot. Über ndl. abrikoos kam das Wort dann ins Deutsche, das wie das Englische (apricot) und das Schwedische (aprikos) den Anfangslaut /b/ durch /p/ ersetzt hat (wahrscheinlich durch eine Fehlinterpretation) und damit wieder näher am Original ist! (Kluge. Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. Berlin, New York: De Gruyter, 1999: 641; DudenDas Herkunftswörterbuch. Mannheim, Wien, Zürich: Dudenverlag, 1963: 49)

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Nord gegen Süd

Der typische Nordurlauber ist etwas älter, etwas wohlhabender und deutlich gebildeter als der typische Südurlauber. Und er kommt eher aus den nördlichen Bundesländers. Anders als der Südurlauber, nimmt er sein eigenes Auto mit, mietet eine Ferienwohnung und fährt durch die Gegend. Der Tag hat keine immer wiederkehrende feste Form. Der Tag des Südurlaubers folgt dagegen einer festen Choreographie. Der Süden wird genauso romantisiert wie der Norden: Lebensfreude, Leichtigkeit, gutes Essen einerseits, unberührte Natur, Stille, Einsamkeit, weite Räume andererseits. Nach Süden fährt man wegen des Essens und wegen des Wetters, nach Norden trotz des Essens und trotz des Wetters. Der Norden verlangt mehr “Rechtfertigung”. Dabei hat der Norden im Sommer mehr Sonnenstunden als der Süden. Der Südurlauber verklärt den Süden. Mit Abstand geht das besser. Kein Mailänder käme auf die Idee, Apulien zu verklären. Obwohl der Urlauber den Süden verklärt, kommt er kaum mit ihm in Berührung. Oft bleibt er im Club oder der Hotelanlage und schafft es noch nicht einmal bis zum Strand. (Allmaier, Michael, Baumstieger, Moritz: “Viele mögen es heiß”. Interview mit Professor Martin Lohmann, in: Die Zeit 30/2014: 56)

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South African Coconuts

Under Apartheid, South Africa had quite a rigid social division based on race: Whites, Blacks, Coloureds, Indians. There was little mixing between them. There were also four easily identifiable social dialects of English corresponding to these classes. After the end of Apartheid, from the 1990s onwards, young children of all backgrounds could join high-quality schools once reserved for the Whites – provided their parents could afford it. Initially, white children dominated in these schools. Social networks developed which favoured the English of this class, and children of the other classes accommodated to these prestige norms. As a result, certain features were “deracialised”. The GOOSE vowel, for instance, the vowel of food, who, true, etc., is traditionally fronted in White South African English, a feature that was first described in the 1920s. The vowel is fronted to different degrees. One can describe fronting in this way: the higher the social position and the younger the speaker, the fronter the vowel. In an experiment involving young, middle-class students it was shown that the Black children had almost entirely accommodated their White mates as far as fronting is concerned. This can be interpreted favourably: the linguistic feature has become de-racialised, young Blacks were confidently using the prestige accent of most educated people, a new middle-class was emerging in which race was no longer a barrier to friendship and social relations. However, it also introduced new divisions where there had not been any: division between children who had made it to these schools and their parents and divisions between Blacks who had made it to these schools and those who had not. Apartheid (and Black solidarity) gave way to a sense of differentiation between “authentically” Black or not, ultimately encapsulated in the term coconut: dark on the outside, white on the inside. (Mesthrie, Rajend: “Social change and changing accents in South Africa, in:  Seargeant, Philip & Swann, Joan (ed.): English in the World. History, Diversity, Change. Abingdon: Routledge, 2012: 316-22)

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A sign of Cajunness

Language change can be systematically studied by comparing contemporary speech with historical records but also by comparing the speech of different age groups, as in this study (carried out by Dubois and Horvarth) of the Cajun dialect spoken in Louisiana. One of the features of this dialect is the nasalised pronunciation of vowels. This feature is associated with the traditional community and is gradually disappearing. As might be expected, middle-aged speakers use it less than older speakers. There is no gender difference in these groups. There is a gender difference, however, in the group of younger speakers. Younger women use nasalised vowels even less than middle-aged people, i.e they continue the trend. But younger men reverse the trend. They nasalise almost all their vowels. This may be due to the fact that young men are often involved in the tourist industry and have re-adopted the feature as a sign of their “Cajunness”. A similar trend can be observed with regards to another feature of the Cajun dialect, the absence of aspiration in voiceless plosives. Older and middle-aged men and women use this variant more often than not, with no significant difference between men and women. This is different in the younger group, where women have almost entirely given up the old feature but men have not. In both cases, gender and age seem to related, and in both cases, women lead the change towards Standard English. Not all young women, however, behaved in the same way. Those who have closed networks, i.e. those who have more ties with their local community and spend most of their time with other members of their community behave differently from those who have open networks. This was reflected in the results for another feature of the Cajun dialect, the replacement of the dental fricative in think or this by plosives, /t/ and /d/. Women with closed networks use the traditional Cajun forms more often than those with open networks. (Meyerhoff, Miriam, Strycharz, Anna: “Variation and change in English”, in: Seargeant, Philip & Swann, Joan (ed.): English in the World. History, Diversity, Change. Abingdon: Routledge, 2012: 302-10)

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