Ist mir auch passiert

Als Christian Ude seine spätere Ehefrau, Edith Welser (näher) kennenlernte, war er 25, Student und unverheiratet. Sie war acht Jahre älter, verheiratet und sechsfache Mutter. Es war eine Faschingsfeier. Er war als Robespierre verkleidet, mit einer langen schwarzen Perücke. Sie war als Opfer dieser Revolution verkleidet und trug ein Nachthemd. Sie verliebten sich. Irgendwann nahm Ude all seinen Mut zusammen und rief ihren Ehemann an. Der lud ihn sofort zum Spaghetti-Essen ein. Im Laufe des Gesprächs bekannte Ude, dass er sich in Edith verliebt habe. Der Ehemann sagte: “Kann ich verstehen, ist mir auch passiert.” Man arrangierte sich und zog die Kinder gemeinsam groß. Zehn Jahre später, 1983, heirateten Christian Ude und Edith Welser. Sie sind bis heute verheiratet. Wenn Ude gefragt wird, was er sich dabei gedacht habe, antwortet er: “Nichts. Hätte ich mir etwas dabei gedacht, hätte ich es nicht getan.”

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Be(ob)achtung

Auf Wattebäuschen, die er mit Tabaksaft und Parfüm getränkt hatte, reagierten sie nicht. Sie hatten offensichtlich kein Riechorgan. Auch auf die Trillerpfeife seines Enkels Bernard hatten sie nicht reagiert. Sie mussten taub sein. Aber als er sie in ihren Töpfen auf das Klavier setzte, zogen sie sich sofort in ihre Höhlen zurück, als seine Frau auf dem Klavier das hohe C spielte. Sie mussten die Schwingungen und Erschütterungen durch den Resonanzboden des Klaviers gespürt haben. Auch einen glutroten Schürhaken hatte er ihnen, zum Entsetzen von Frau und Enkel, vorgehalten, um sie auf Wärme zu testen. Für die Beobachtung ihres Liebesspiels musste er sich Zeit nehmen. Es dauerte eine Stunde und zwanzig Minuten. Dass sie sich überhaupt miteinander vergnügten, war keine Selbstverständlichkeit, denn er hatte unter dem Mikroskop gesehen, dass jedes Individuum sowohl mit Hoden als auch mit Eierstöcken versehen waren. Sie könnten also auch ihre Eizellen mit den eigenen Spermien befruchten. In der Regel zogen sie aber das aufwändige Liebesspiel vor. Auf Kohlblätter und Zwiebel standen sie, auch der Meerrettich gehörte zu ihren Lieblingsspeisen, nur noch übertroffen vom Grün der Karotte. Natürlich führte er auch Buch über ihre Exkremente, zählte die Exkrementkügelchen und rechnete hoch, wie viel Fläche sie im Laufe eines Jahres damit bedecken könnten. Bei all den Beobachtungen hatte er sie liebgewonnen und erkannt, dass es auch bei ihnen feine Unterschiede in Farbe, Beweglichkeit und Hübschheit gab. Seinen Intelligenztest hatten sie mit Bravour bestanden: Papierschnitzel, die er ihnen hinlegte, fassten sie mit ihren Lippen an den Spitzen Enden und zogen sie mit der schmalen Seite voran in ihre Höhlen. Erstaunlich, was man alles mit Regenwürmern anstellen kann. Vorausgesetzt, man heißt Darwin. (Jerger, Ilona: Und Marx stand still in Darwins Garten. Berlin: Ullstein, 2018: 16-36)

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Glasklare Ergebnisse?

Ein Versuch mit 30 Studenten liefert weniger belastbare Ergebnisse als einer mit 3000. Aber: Wo bekommt man die 3000 her? Und: Wo bekommt man Probanden her, die keine Studenten sind? Man will ja schließlich repräsentative Ergebnisse. Und: Wie kann feststellen, ob die Ergebnisse einer in den USA durchgeführten Studie auch in Japan gelten? Das sind Probleme in allen Geisteswissenschaften, und die führen oft zu unsauberen Ergebnissen. Die Psychologie hat sich jetzt entschlossen, sich den Problemen der eigenen Disziplin zu stellen. In einem Mega-Projekt, Many Labs 2, wurden Forschungsergebnisse überprüft, und es stellte sich heraus, dass mindestens die Hälfte aller Erkenntnisse keiner Überprüfung standhielt. Zu den überprüften Thesen gehörte diese: Wer einige Minuten lang in einer Power-Pose verharrt, fühlt sich anschließend tatsächlich selbstsicherer und agiert risikofreudiger. O sancta simplicitas! Im Nachhinein ist man überrascht, dass solch eine simple Botschaft überhaupt Eingang in die Fachliteratur fand. Einfache Botschaften sind meist mit einem Haken versehen: Sie stimmen nicht. Noch hanebüchener diese These: Wer in den Experimenten nach einem Test mehr büffelte, hatte vorher bessere Ergebnisse. So eine in dem renommierten Journal of Personality and Social Psychology veröffentlichte Studie eines gewissen Daryl Bem. Kein Wunder, dass diese beiden Studien keiner Überprüfung standhielten. Aber nicht nur solch bizarre Studien waren betroffen, sondern auch wesentliche Ideen des Fachs. Zum Beispiel ließen sich auch einige Priming-Effekte nicht wiederholen, also die Idee, das winzige, unterschwellige Reize das Verhalten beeinflussen, dass z.B. der Gedanke ans Altern einen langsamer gehen lässt. Wie kommt es dann, dass es dieser Mega-Studie bedurfte, um solche Ergebnisse zu falsifizieren oder überhaupt auf den Prüfstand zu stellen? Müsste das nicht ohnehin geschehen? Die Antwort liegt in der Logik des Wissenschaftsbetriebs: Neue, überraschende, antiintuitive Ergebnisse lassen sich leichter publizieren. Replikationen sind langweilig. So lehnte das Journal of Personality and Social Psychology mehrere Forscher ab, die die versucht hatten, Bems Ergebnisse zu replizieren und erwartungsgemäß scheiterten. Was folgt aus all dem? Bedeutet das eine Krise der Psychologie, eine Krise der Wissenschaften gar? Nicht unbedingt. Größere Transparenz bei der Vorbereitung und Durchführung der Studien ist gefragt. Sie soll verhindern, dass Hypothese und Auswertung im Laufe des Versuchs in die gewünschte Richtung angepasst werden. Internationale Zusammenarbeit ist gefragt, um mehr als lokale Ergebnisse zu liefern. Und die Bereitschaft der Fachjournale, “langweilige” Replikationsstudien zuzulassen. Scheitert die Replikation einer Studie, muss das nicht unbedingt heißen, dass die Originalstudie wertlos war. Auch die Replikationsstudie kann danebenliegen. Aber dennoch fruchtbar sein und zu weiteren Überprüfungen führen. Und zu einer grundlegenden Skepsis gegenüber glasklaren Ergebnissen führen. (Herrmann, Sebastian: “Steile Thesen, nichts gewesen”, in: Süddeutsche Zeitung 277/2018: 35)

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Balance-Akt

Während einer Zugfahrt in der Zeitung einen Artikel über die Geschlechterrollen in der Natur gelesen (Knauer, Roland: “Sie ist hier der Boss, in: Welt am Sonntag 49/2018: 20-21) Demzufolge gibt es in der Natur, was die Geschlecherrollen angeht, kein festes Schema. Es gibt alle möglichen Varianten, je nach Lebensraum gibt es Lösungen, maßgeschneidert, immer in Verfolgung des einen, übergeorndeten Ziels: dem größtmöglichen Fortpflanzungserfolg. Albatrosse sind sich ein Leben lang treu. Allerdings trifft man sich auch nur alle zwei Jahre am Nistplatz. Nur wenn der Partner dort nicht auftaucht, wird neu gebalzt. Bei den Gorillas wacht das Alpha-Männchen über einen weiblichen Harem. Er muss seine Vormachtstellung gegen jüngere Rivalen verteidigen. Auch der stärkste Gorilla hält das nur ein paar Jahre durch. Beim Grillkuckuck ist es anders. Da hält sich das Weibchen einen männlichen Harem. Die Männchen sind auch für das Brüten und die Aufzucht zuständig. Bei den Tüpfelhyänen herrscht das Matriarchat. Die Weibchen sichern sich ihre Macht durch Seilschaften. Die Männchen müssen mit Beginn der Geschlechtsreife auswandern. Bei den Seepferdchen sind die Rollen vertauscht: Die Männchen werden trächtig. Dazu spritzt das Weibchen nach der Balz die Eier in die Bauchtasche der Männchen. Bei den Schimpansen ist der Boss in der Regel ein Männchen, bei den Bonobos ein Weibchen. Sie scheinen friedlicher miteinander umzugehen als die Schimpansen und ihre Konflikte oft durch Sex zu entschärfen. Und das, obwohl Schimpansen und Bonobos genetisch sehr ähnlich und außerdem die nächsten Verwandten des Menschen sind. Man erklärt den Unterschied durch die Lebensbedingungen: Die Bonobos leben südlich des Kongo-Beckens, wo der Urwald viel reichhaltiger ist als im Norden. Unter solch üppigen Bedingungen konnten sich die weniger aggressiven Männchen durchsetzen, die eher den Kontakt zu den hochrangigen Weibchen pflegen. Was aus all dem für den Menschen folgt, sagt der Artikel nicht. Jedenfalls kann man froh sein, dass eine Variante sich bei uns nicht durchgesetzt hat: Bei den Hyänen hat das Weibchen eine stark vergrößerte Klitoris, was dem Männchen im entscheidenden Moment einen schwierigen Balanceakt auf dem Rücken des Weibchens abverlangt, in dessen Verlauf er leicht unverrichteter Dinge nach hinten in den Staub herunterpurzeln kann.

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Waldarbeiter

Die Eiche dominierte unsere Wälder jahrhundertelang, bis die Buche übernahm. Nachdem die Gletscher nach der letzten Eiszeit vor 12.000 Jahren geschmolzen waren, wuchsen zunächst Haselnuss und Erlen. Die wurden bald von der Eiche verdrängt. Und die wiederum von der Buche. Die hatte im Süden überlebt, da, wo das Eis nicht hinkam. Von da aus hatte sie sich bis in das Herz des Kontinents ausgebreitet. Vor tausend Jahren war Deutschland zu zwei Dritteln von Buchenwäldern bedeckt. Im Mittelalter wurden fast alle Bäume gefällt: Werften, Köhlereien, Glasfabriken – alle brauchten Holz. Dann propagierte der sächsische Förster Hans Carl von Carlowitz eine neue Strategie: Es sollte immer nur so viel Holz entnommen werden wie nachwächst. Er prägte das Wort Nachhaltigkeit. Das war kein ökologisches, sondern ein öknomisches Konzept. Dem ist es zu verdanken, dass Deutschland heute über eine große Waldfläche verfügt. (Habekuss, Fritz: “Eine Welt wie vor tausend Jahren”, in: Die Zeit 47/2018: 39-40)

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Mythos Marshall-Plan

In Großbritannien waren bis 1953 Lebensmittel rationiert. Man erhielt sie auf Lebensmittelmarken. In Deutschland war die Rationierung längst aufgehoben. Deutschland begann zu florieren. Dabei hatte Großbritannien den größten Anteil von dem Geld aus dem Marshall-Plan erhalten. Aber die britische Industrie war veraltet. Die deutsche war erstaunlich gut durch den Krieg gekommen. Entgegen dem eigentlichen Vorhaben, und entgegen der späteren Propaganda, war es den Alliierten nicht gelungen, die deutschen Industrieanlagen zu zerstören, und die waren bei Kriegsbeginn auf dem neuesten Stand. Die Alliierten hatten stattdessen Nazi-Deutschland durch Bombardierung der Innenstädte in die Knie gezwungen. Vom Marshall-Plan profitierte ganz Westeuropa, aber in keinem Land hatte er so viel Wirkung wie in Deutschland. Deutschland profitierte von seiner konkurrenzfähigen Industrie, aber auch davon, dass die Soldaten der Besatzungmächte hier waren und Geld ausgaben und deutsche Produkte kauften. Die Amerikaner setzten ihre ganze Propagandemaschine ein, um die Deutschen glauben zu machen, sie handelten aus Nächstenliebe. Das wirkt bis heute nach. Aber wahr ist das natürlich nicht. Ganz und gar nicht. Das meiste Geld aus dem Marshall-Plan für Deutschland floss gar nicht nach Deutschland, sondern ging an amerikanische Farmer, die damit die ihre Waren in Deutschland verkaufen konnten. Welche Waren? Zu 70% Tabak und Baumwolle. Bei der Baumwolle gab es sogar Probleme. Die deutsche Textilindustrie trat in den Streit, weil die Baumwolle aus den USA, die sie abnehmen sollte, teurer war als die ägyptische. Was die absurde Folge hatte, dass die amerikanische Baumwolle von der Bundesregierung subventioniert werden musste! Frankreich bekam tatsächlich Geld aus dem Marshall-Plan. Aber nur deshalb, damit Frankreich auf weitere Reparationszahlungen von Deutschland verzichtete. Die deutsche Industrie sollte blühen, damit amerikanische Waren abgenommen werden konnten!

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Plagegeister

Die zoologischen Namen von Tieren sind meist von einer nichtssagenden, langweiligen Neutralität. Eine Ausnahme bildet die Stechmücke: Culex molestus. Das ist mal eine Bezeichnung von erfrischender Parteilichkeit. Ganz aus der Sicht des Menschen gesehen. Vielleicht eignet sich der Name auch für gewisse Unterarten der Spezies Mensch: Socius molestus, Vicinus molestus, Auriga molestus, Argentarius molestus, Querulosus molestus, Babulus molestus … Dass hier keine spezifisch weiblichen Formen auftauchen, muss nichts zu sagen haben.

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Leben im Untergrund

Viele Arten sterben aus. Das hören wir oft genug. Aber nicht so oft hören wir, dass auch neue entstehen. Ein Beispiel dafür bietet die Stechmücke. Die hat sich in der Londoner U-Bahn ausgebreitet, seit deren Eröffnung 1863. Das Resultat: Sie unterscheidet sich genetisch inzwischen grundlegend von ihrem oberirdischen Pendant. So sehr, dass sie  sich nicht mehr miteinander fortpflanzen können. Der klassische Beweis, dafür dass eine neue Art entstanden ist. Verständlicherweise unterscheiden sie sich auch in ihrem Verhalten: Die oberirdischen leben von Vogelblut und halten Winterschlaf, die unterirdischen halten keinen Winterschlaf und ernähren sich nicht von Vogelblut. Vögel kommen unten in der U-Bahn nicht so häufig vor. Ist auch nicht nötig. Die Mücken haben Tausende von Passagieren, an deren Blut sie sich laben können. Auch die Mücken der unterschiedlichen U-Bahn-Linien entwickeln sich unterschiedlich. Die Mücken der Bakerloo-Line haben ein anderes Erbgut als die der Victoria-Line. Kein Wunder: Sie kommen kaum in Kontakt miteinander. Dafür müssten sie am Oxford Circus umsteigen. (Blage, Judith: “Die Mücken der Bakerloo-Linie”, in: Süddeutsche Zeitung 259/2018: 39)

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Romantische Pragmatiker

Leoparden sind anpassungsfähige Tiere, anpassungsfähiger als andere Raubtiere. In Mumbai pendeln sie mittlerweile zwischen Wald und Stadt. Ihr angestammtes Habitat ist der Wald, ein großer Nationalpark, auf drei Seiten von der Stadt (und auf einer von einem Fluss) begrenzt. In die Stadt kommen sie meist nachts. Still und heimlich. Menschen greifen sie so gut wie nie an, nur, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlen. Sie haben es auf andere Opfer angesehen: die Hunde. Davon gibt es im Mumbai ca. 68,000. Die meisten herrenlos, herumstreunend. Die gibt es in so großer Zahl, weil die Müllberge von Mumbai sie mit reichlich Nahrung versorgen. Für die Leoparden eine willkommene Beute. Warum Hunde? Im Wald gibt es reichlich Beute: Hirsche, Hasen, Schweine, Affen. Aber: Die sind schwer zu jagen. Die Hunde nicht. Es gibt reichlich davon, oft auf einen Haufen, und sie sind es nicht gewohnt, gejagt zu werden. Da sind die Leoparden ganz Pragmatiker und entscheiden sich für die leichte Beute. Und sie tun den Menschen nebenbei einen Gefallen: Die Hunde sind Träger von Tollwut. Mehrere Hundert Menschen sind in den letzten Jahren an Tollwut gestorben. Die Zahl der Hunde zu reduzieren, liegt also im Interesse des Menschen. Aber Vorsicht: Die Leoparden könnten sich anstecken, und selbst Träger der Tollwut werden. Es gibt aber noch einen zweiten Grund, warum die Leoparden in die Stadt kommen, und das gibt der ansonsten eher rational zu erklärenden Geschichte eine schöne, geheimnisvolle Note: Die Leoparden kommen nachts in die Stadt, zu zweit. Suchen sich ein lauschiges Plätzchen im Garten, machen es sich gemütlich und tun dann das, was auch ein menschliches Paar abends an einem lauschigen Plätzchen im Garten tun könnte. (Vgl. Perras, Arne: “Besucher in der Nacht”, in: Süddeutsche Zeitung 259/2018: 38)

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Der kleine Unterschied

Und wenn dann mal wieder eine Sache propagiert wurde, die nur Frauen können, dann nahmen wir das resigniert hin, beschämt ob unserer Unfähigkeit. Wir waren nicht nur naturhaft unmoralisch, gewalttätig, egoistisch, asozial und gefühlskalt, wir waren auch unfähig, unfähig zum Multitasking. Nur Frauen konnten das. Sie konnten mit der Freundin telefonieren und gleichzeitig ein Gedicht auswendig lernen, sie konnten einen Geschäfsbrief schreiben und gleichzeitig Arabisch lernen, sie konnten ein Regal aufbauen und gleichzeitig Hausaufgaben mit den Kindern machen, und sie konnten im Zweifelsfalle auch jede mögliche Kombination von drei solchen Dingen bewältigen. Schließlich heißt es ja Multitasking. Männer konnten das nicht. Immer schön eins nach dem anderen. Und Fußball gucken und gleichzeitig Bier trinken galt nicht als Multitasking. Aber jetzt kommt eine frohe Botschaft: Forscher im Fachjournal Psychological Science betonen, der Mensch sei nicht zum Multitasking geboren – und zwar weder Frau noch Mann. Das Gehirn sei nicht in der Lage, mehrere kognitiv fordernde Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Die Aufmerksamkeit springe dabei ständig hin und her, und man erledige keine der beiden Aufgaben so gut, wie man es könnte, wenn man eine nach der anderen in Angriff nähme. Klingt überzeugend. Erklärt aber nicht, warum wir Fußball gucken und Bier trinken können – gleichzeitig.

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The world according to Pinker

The world is not as bad as we think it is. That, in a nutshell, is Steven Pinker’s principal argument. And he substantiated it in his Frankfort talk with an impressive amount of data. His main line of argument is as follows: The world is actually improving but we hardly take notice of this, for we are subject to what he calls the Availability Bias and what he calls the Negativity Bias. That is to say, more bad news than good news is available to us and newspapers and other media tend to focus on what is not good instead of what is good. A plane crash is news, all the planes that never crash aren’t.
Life expectancy, infant mortality, prosperity, peace, safety, knowledge, quality of life, education, in all these areas has the world improved since the Enlightenment (and, by implication, through the Enlightenment). To be more specific, people worldwide have now more leisure time than they used to have in the past. The number of hours dedicated to household work (the least popular of all activities) has dramatically decreased since the 1950s. As a result, mothers (and fathers) today spend more time with their children than in the past. Contrary to popular belief, crime rate has also decreased. We are less likely today to become victim of a crime. Even the risk of being hit by lightning has decreased. There are more democracies today and fewer dictatorships, and the death penalty has been abolished at a rate which, if it continues, will mean that it will have disappeared completely within a few decades. Illiteracy has decreased, and the number of poor people worldwide is going down at a rate of several tens of thousands daily! Actually, people are even happier than they were in the past. Happiness is a result of prosperity. People in richer countries are happier than people in poorer countries, and the rich in poorer countries are happier than the poor in poorer countries. As a result of increasing prosperity, people are happier now than they ever were in the past.
All this is substantiated by data, and Pinker regales his audience with an endless series of graphs during the talk, in such quick succession that you hardly have a chance to look at them in detail.
Pinker is well aware that you are likely to be accused of “naive optimism” (he does not consider himself an optimist) or “US-can-doism” if you point out how the world is becoming a better place. But he argues that pessimism is worse, as it is likely to trigger fatalism, terrorism, and the call for a “strong man” who alone can fix things.
All this is very well, and Pinker certainly has a point. However, one would have liked to ask some critical questions. To begin with, what about the sources for the data? Are there really any reliable figures which say how many people died of a flash of lightning 200 years ago? Who has gathered all these figures? Even today, is there any international body which could provide reliable figures – worldwide?
Secondly, Pinker has a way of choosing his time periods to suit his argument. He claims, for example, that the death toll in wars has gone down, proving his point with the number of deaths per day of war since the Second World War. That may well be true. But why choose the last 70 years or so and not look at the last century as a whole? Surely this would prove the opposite. The two world wars have claimed more victims than any wars till then.

Similarly, Pinker has a way of choosing the right area. Whenever Latin America is quoted, the figures come from Chile, and in South East Asia his favourites are South Korea, Singapore and Taiwan. Surely the picture would change if he focussed on Bolivia or Venezuela or on Cambodia or Bangladesch.

Finally, there is the question of definition. Pinker assumes for most of the Western World, including the US, complete literacy. What does that mean? It is well known that there are lots of functional illiterates in many industrialized countries. The fact that you have had schooling does not mean that you can actually read and write. And surely not everyone attends school in the so-called civilised countries. Similar problems occur when it comes to speaking of dictatorships, of crime, of happiness.
Still, when all is said and done, a stimulating talk, a stimulating thought. Even if one does not subscribe to Pinker’s view that nuclear power stations and genetically modified food mean progress. And even if one does not share his – well – optimism.

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Linksruck

Daimler und Benz sind sich nicht persönlich begegnet. Das mag man kaum glauben, schon deshalb, schon wegen des alten Firmennamens Daimler-Benz. Aber die Fusion wurde später vollzogen.

Benz, der als Karl Friedrich Michael Wailand (fälschlich für Vaillant) ins Taufregister eingetragen worden war, hatte seine erste Fabrik in Mannheim,die Benz & Cie. Da war er, verärgert über eine Patentklage Daimlers, ausgestiegen und hatte eine neue Firma gegründet, in Ladenburg, Carl Benz Söhne. Hier, in Ladenburg, in der Fabrikhalle, befindet sich heute das Museum, in dem man das alles erfährt.

Am Rande der Fabrikhalle ist ein Raum mit Möbelstücken zeitgemäß hergerichtet, so wie zu der Zeit, als Benz hier seine Entscheidungen traf. Der Raum zeigt die gediegene Atmosphäre der Gründerzeit. Es heißt, dass Benz sich hierher heimlich mit seinen Söhnen zurückzog, um Karten zu spielen. Seine Frau durfte nichts davon wissen. Wenn sie sich näherte, musste einer der Angestellten rufen “Die Fee flattert ins Haus”. Daraufhin widmeten sich die Männer wieder der Arbeit.

In der Fabrikhalle sind, neben Paraphernalia wie einer Zapfsäule, Straßenschildern, Werbeplakaten, Verkehrszeichen, Fahrzeuge ausgestellt, die von Benz hergestellt wurden und, um sie herum gruppiert, alle möglichen Fahrzeuge anderer Unternehmen, meist emblematische Fahrzeuge wie der VW-Käfer (mit Brezelfenster), das T-Modell von Ford, ein Rennwagen von der Avus usw.

Die echten Hingucker sind aber die ersten Autos, sofern sie diesen Namen verdienen. Das allererste ist ein dreirädriges Gefährt, der Patentwagen Nummer 1, mit ganz dünnen Reifen. Mit ihm wurde 1886 die erste Fahrt unternommen, wohl die erste Fahrt mit einem motorgetriebenen Fahrzeug überhaupt, in Mannheim. Daneben steht der Wagen, der Patentwagen Nummer 3, schon etwas größer und mit breiteren Reifen ausgestattet, aber immer noch ein Dreirad, mit dem die erste Fernfahrt unternommen wurde, 1888, von Mannheim nach Pforzheim. Die unternahm nicht etwa Benz, sondern seine Frau Bertha, mit ihren Söhnen. Pforzheim war ihre Heimatstadt, und die Kinder wollten, so heißt es, ihre Oma besuchen (tatsächlich war es wohl eine Werbefahrt für den Wagen, der nicht so viel Anklang beim Publikum gefunden hatte). Das musste heimlich geschehen, ohne, dass der Vater es wusste, und so brach man am Morgen auf, als der noch schlief. Es waren insgesamt 106 Kilometer. Aufgetankt wurde unterwegs bei einem Apotheker!

Alle frühen Autos haben das Lenkrad auf der rechten Seite. Dann, ab Mitte der zwanziger Jahre, beginnt das Lenkrad, auf der linken Seite zu erscheinen. Das Museum gibt folgende Erklärung: Die Kutscher auf den Pferdewagen saßen auf der rechten Seite, damit sie die Fahrgäste auf der linken Seite herauslassen konnten, so, dass sie nicht durch den Straßenmatsch laufen mussten, sondern gleich auf den Gehsteig absteigen konnten, mit Hilfe des Kutschers, der ihnen die Tür aufhielt und die Hand reichte. Also hatten auch die ersten Automobile den Fahrersitz rechts. Dann wurde es aber immer deutlicher, dass die Gefahren auf der anderen Seite lauerten: Straßengräben und entgegenkommende Fahrzeuge. Die stießen oft aneinander, weil die Fahrer die Breite des entgegenkommenden Fahrzeugs nicht richtig einschätzten. Also verlegte man den Fahrersitz nach links.

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Erhaltungstrieb

Das Wort Mumie leitet sich vom persischen mūm ab. Das bezeichnete keine Mumie, sondern eine natürliche wachsartige Substanz. Das Wort wurde dann auf die Mumie übertragen, einfach, weil, wie man fand, beide ähnlich aussahen. Das erfährt man in der Mumien-Ausstellung im Reiss-Engelhorn-Museum in Mannheim.

Es gilt, zwischen natürlichen, zufällig entstandenen Mumien und künstlichen, absichtlich erstellten Mumien zu unterscheiden. Natürlich entstehen Mumien in extremen Gegenden: Sandwüsten, Salzwüsten, Eiswüsten, aber auch Mooren. Im Moor ist es zwar feucht, aber es fehlt der Sauerstoff, der zur Verwesung von Leichen führt. Aber auch auf Dachböden und in Kellern finden sich manchmal Mumien. Man stellt sich vor, wie es ist, wenn man unverhofft auf so eine Mumie stößt.

Ich erinnere mich an den Ratskeller in Bremen, an St. Michan’s Church in Dublin und an die Kapuzinergruft in Palermo. An allen drei Orten habe ich im Laufe der letzten Jahre natürlich entstandene Mumien gesehen.

In der Ausstellung sieht man ein Frettchen, einen Marder, eine Hyäne, eine Ratte, eine Schwalbe, eine Fledermaus – alle mumifiziert. Als Kontrast dazu wird der natürliche Prozess der Verwesung anhand eines Singvogels gezeigt, in verschiedenen Phasen. Wie lange da dauert, wird leider nicht gesagt. Ein halbes Jahr?

Aus dem Moor wird eine menschliche Mumie gezeigt, die besonders durch das erhaltene Haar auffällt, zwei geflochtene Zöpfe!

Eine besondere Attraktion ist das “Paar von Weerdinge” (NL), zwei Mumien, plattgedrückt, schwarzbraun, die ganz eng beieinander liegen, so, wie sie auch gefunden wurden. Fast sieht es aus, als würden sie sich umschlingen. Man denkt unwillkürlich an ein Paar, an Mann und Frau. Aber es sind zwei Männer! Das hat man an den Barthaaren ablesen können.

In der Nähe zwei ägyptische Mumien, ohne “Verpackung”. Auch hier handelt es sich um zwei Männer, was bei einem von beiden unschwer zu erkennen ist.

Dann eine ägyptische Mumie mit gekreuzten Armen. Das war ein Zeichen, das bis zum Neuen Reich königlichen Mumien vorbehalten war, später aber nicht mehr so restriktiv gehandhabt wurde. Das willkürliche Zeichen erhält seine Bedeutung erst aus der Entstehungszeit.

Eine Inka-Mumie ist auf den ersten Blick gar nicht als eine Mumie zu erkennen. Sie versteckt sich hinter einem Kleiderbündel, der äußere Umhang verziert mit einer Kordel, einer Muschel, einem Fuchsschwanz und verschiedenen Schnüren. In dem Bündel befindet sich die Mumie eines siebenjährigen Jungen. Man weiß von ihm, dass er durch Wanzenstiche ums Leben gekommen ist!

Dann wieder eine nackte Mumie, auch aus Peru, eine Frau mit gekreuzten Händen und gekreuzten Schenkeln. Wieder das Kreuz, wie bei der ägyptischen Mumie. Zufällige Übereinstimmung? Die Bedeutung kennt man nicht. Die Frau hat eine auffällig deformierten Schädel. Man rückte den hässlichen Schädel, wie ihn die Natur geschaffen hatte, mit Bändern und Brettern zu Leibe. Das kann einerseits einem Schönheitsideal entsprochen haben, kann aber andererseits auch Ausweis hoher gesellschaftlicher Stellung sein.

Eine mumifizierte Nonne aus Bratislava, bei der sogar der Name bekannt ist, Terezia Sandor, sieht man in vollem Ornat (XVIII). Bei ihr wurde das Herz entnommen. Warum, weiß man nicht, vielleicht aus Furcht, bei lebendigem Leib begraben zu werden.

Bei einer weiteren Nonne, Rozalia Tridentin (XVIII), befindet sich am Fuß ein verschnürtes Päckchen. Es enthält mumifizierte Finger. Die könnten von ihr selbst stammen (eine Hand ist nicht ganz erhalten). Was für eine Bewandtnis es mit den Fingern hat, weiß man nicht. Eine der vielen geheimnisvollen, rätselhaften Erscheinungen, die diese Ausstellung zu etwas ganz Besonderem machen.

Aus der Ming-Dynastie in China ist die Statue eines Mönchs im Schneidersitz zu sehen. Drinnen befindet sich die Mumie, von verschiedenen Lagen Textil umhüllt. Es hat keinerlei erkennbare Behandlung des Körpers stattgefunden, Warum die Mumie erhalten ist, ist nicht geklärt. Es gab allerdings in China Mönche, die sich der Selbstmumifizierung widmeten. Schon zu Lebzeiten reduzierten sie ihre Nahrungs- und Wasseraufnahme und nahmen entwässernde Substanzen zu sich. Vielleicht handelt es sich hier um einen Fall von Selbstmumifizierung.

Der Ötzi ist in der Ausstellung persönlich nicht vertreten, wohl aber virtuell. Auf einer Konsole gibt es Abbildungen und Informationen. Man weiß, dass der Ötzi braune Augen hatte, etwas 45 Jahre alt war und einen Bart trug. Er hat sich von Emmer ernährt, dem Urweizen. Er war kein Vegetarier, aber Fleisch machte nur den kleineren Teil seiner Nahrung aus. Milch kann er nicht in großen Mengen zu sich genommen haben, da er laktoseintolerant war. Er hatte einen hohen Cholesterinspiegel. Sein Körper wurde erst mit Schnee bedeckt und dann in Eis eingefroren. Das Eis schmolz dann, neuer Schnee fiel auf den Körper, und am Ende war er wieder im Eis eingeschlossen. Als man ihn fand, war ganz und gar nicht klar, aus welcher Epoche er stammte, ob er überhaupt alt war. Jetzt weiß man, dass er im Neolithikum lebte. Er starb keines natürlichen Todes, sondern wurde ermordet. In seinem Körper steckt eine Pfeilspitze.

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Marx 4

Auch das Dommuseum stellt zum Marx-Jubiläum aus. Die Ausstellung hat allerdings zu Marx einen bestenfalls indirekten Bezug. Es wird moderne Kunst ausgestellt, die das Thema Arbeit in der einen oder anderen Weise darstellt. Man kann allenfalls das Thema Entfremdung als Marxsche Anleihe verstehen.

Aber auch der Bezug zum Thema Arbeit wird nicht immer klar, wie bei einem der kuriosesten Exponate, einem fingierten archäologischen Fund von 320 n. Chr., den Objekten, alle noch in einer Sandschicht eingehüllt, die Helena auf ihrem Weg nach Jerusalem bei sich hatte: GPS, Laptop, Lippenstift, Revolver. Der dient dazu, Widerstände zu überwinden, die sich ihr beim Einsacken der Nägel und Holzstücke vom Kreuz entgegenstellen sollten.

Das Thema Arbeit taucht in vier Photographien auf, die schwere oder unwürdige Arbeitsbedingungen heute darstellen, außerhalb der westlichen Welt. Auf zwei Photographien sieht man Erntearbeiter, beide, nicht ohne Stolz, mit einem Bündel Sellerie vor ihrem Feld posierend, der eine vor einem eher unaufgeräumten Feld in eher schäbiger Kleidung, der andere, adrett gekleidet, vor einem Feld, in dem alles in Reih und Glied steht. Die eigentliche Bewandtnis der Photos macht erst der Titel deutlich: Suppengemüse: 0,99 Cent.

Auf den beiden anderen Photos sieht man einen Jungen auf einer brennenden Müllhalde. Das ist nicht etwa ein zufällig ausgebrochenes Feuer, sondern ein absichtlich gelegtes Feuer. Es dient dazu, die Einzelteile der Geräte auf der Müllhalde zu trennen und so die “Ernte” zu erleichtern. Der Junge hält einen Motor oder Kanister hoch, den er gerade geerntet hat. Er trägt ein Trikot des FC Barcelona mit der Aufschrift UNICEF. Auf dem Photo daneben, noch bedrohlicher aussehend, zwei asiatische Frauen in einem schlecht beleuchteten Raum voller Müll. Ihre Aufgabe ist es, den Müll zu sortieren.

In einem anderen Raum ein Gemälde, das eine indische Näherin darstellt. Beim genaueren Hinsehen entpuppt es sich als dreidimensional. Das Gemälde ist aus Stoffresten gemacht. Dahinter eine Tapete. Darauf, so sieht es auf den ersten Blick aus, längliche Kartuschen, die sich an den Enden berühren. Beim genaueren Hinsehen merkt man, dass eigentlich eine Näherin dargestellt ist, die eine Faden abbeißt.

Als Gegengewicht sozusagen gibt es Photographien von Robotern, eine Straßenszene, auf der ein spazierender Roboter Aufmerksamkeit erregt, eine andere, in der die Leute einfach uninteressiert weitergehen. Dazwischen eine Photographie mit einem Roboter in einem Arbeitszimmer, am Schreibtisch sitzend. Hinter ihm erahnt man eine Gittertür. Die schließt den Raum ab, in den er abends, nach Verrichtung der Arbeit, eingesperrt wird. Dem Roboter gegenüber steht ein weiterer Schreibtischstuhl. Der ist bezeichnenderweise leer.

In einem Durchgang läuft ein Film, einer der ältesten Filme überhaupt, wenn nicht der älteste. Er zeigt Arbeiter beim Verlassen einer Fabrik. Die Fabrik ist die der Brüder Lumière, die auch den Film gedreht haben. Der Film besteht aus einer Reihe hintereinandergeschalteter Photographien. Das ist so gut gemacht, dass es “echt” aussieht. Die Arbeiter, unter ihnen viele Frauen, verlassen die Fabrik in schnellen Schritten, dicht nacheinander und nebeneinander. Die Frauen sind so gut gekleidet, mit langen Kleidern und breiten Hüten, dass man kaum glaubt, sie kämen aus einer Fabrik. Sie könnten genauso gut aus der Kirche kommen.

In der Nähe des archäologischen Funds steht eine Skulptur, ein Mann, dessen Torso aus Kohlestücken besteht. Als Kopf dient ihm ein schwerer Motor. Erstaunlich, wie leicht der Motor die grobe Form des Kopfes wiedergibt. Von dem Motor hängen Kabel herunter, die dem Mann über das Gesicht laufen. Die Skulptur ist Minotaurus betitelt. Er ist der Minotaurus des Industriezeitalters.

Am Schluss der Ausstellung das rekonstruierte Arbeitszimmer von Nell-Breuning, dem Antipoden von Marx und gleichzeitig sein Adept. Das Arbeitszimmer ist aus Pappmaché gemacht und gibt die Wirklichkeit leicht verzerrt wieder: Der Schreibtischstuhl ist übergroß, das Bett zu klein. Die Platte und die Füße des mächtigen Schreibtischs bestehen aus großformatigen Büchern. Auf dem Schreibtisch steht eine Schreibmaschine, nicht aus Pappmaché, eine Schreibmaschine des Fabrikats, das Nell-Breuning benutzte. Mittels elektronischer Impulse huschen Buchstaben und Blätter über die Wände. Man hört das mühsame Klappern der Schreibmaschine und die Stimme Nell-Breunings, der langsam, leise, mit Überlegung über die “soziale Marktwirtschaft” und ihre Grenzen doziert und einen Platz für die Kultur einfordert.

Nell-Breuning, der keineswegs der Erfinder, sondern ein Entwickler der katholischen Soziallehre war, wäre vielleicht ein besseres Thema für die Ausstellung gewesen und hätte einen klareren Bezug zu Marx gehabt. Nell-Breuning hatte sich immer wieder auf Marx berufen.

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Ganz natürlich?

In einem Radiovortrag geht es um das selbstständige Lernen. Im “Stationenlernen”, einer Form des sog. “schülerzentrierten Unterrichts”, bestimmen die Schüler selbst über das Tempo, die Reihenfolge und den Umfang ihrer Arbeit an den einzelnen Stationen. Der schülerzentrierte Unterricht erfreut sich großer Beliebtheit, u.a. deshalb, weil er eine Form ist, der immer größeren Heterogenität der Schulklassen gerecht zu werden. Anleitungen für den schülerzentrierten Unterricht finden sich oft in Ratgebern für Praktiker, von Praktikern geschrieben. Die Begründungen für die Unterrichtspraxis greifen aber oft zu kurz oder schließen die Theorie ganz aus und haben keinerlei empirische Grundlagen. Theorieanleihen werden gemacht bei popularisierten Darstellungen der Hirnforschung und nicht aus der Erziehungswissenschaft. Das Gehirn interessiere sich nur für persönlich Relevantes und lerne nur dann, wenn der Aufwand sich subjektiv lohne, heißt es. Die Lernumgebung müssten persönliches Interesse wecken und einen Anschluss an die Lebenswelt der Lernenden herstellen. Der Rekurs auf die Hirnforschung dient also in erster Linie der Legitimation handlungsorientierter und schüleraktivierender Lernformen. Wie sich Lernen tatsächlich vollzieht, wird dadurch aber nicht erklärt, und dass das Lernen selbständig verlaufen soll und kann scheint keiner weiteren Begründung zu bedürfen. Das selbständige Lernen erscheint schlicht als natürliche Form des Lernens. Welche Belege haben wir aber, dass die Kinder, die die verschiedenen Stationen des Stationenlernens (zum Thema Brücken) durchlaufen haben, tatsächlich etwas gelernt haben? Die Kinder haben ihre Arbeitsaufträge erledigt und sie auf ihren Laufzetteln abgehakt. Ob die inhaltsbezogenen Kompetenzen, die der Lehrplan vorsieht, tatsächlich erworben wurde, weiß man nicht. Die Kinder haben zwar ausgefüllte Arbeitsblätter in den Händen und selbstgebastelte Brücken, aber haben sie etwas über deren Konstruktionsprinzip verstanden? Haben sie Transferfähigkeiten entwickelt? So die Argumente einer Freiburger Pädagogin in dem Radiovortrag (Nicole Vidal: “Relevanz neurowissenschaftlichen Wissens für die pädagogische Praxis und Theoriebildung”, in: Aula, SWR 2: 30/09/2018). Mir persönlich scheint hier ein zentrales Problem berührt zu sein, ein Problem, das nicht nur für den schülerzentrierten Unterricht gilt, sondern auch für andere Lernformen: Lernerfolg wird vorausgesetzt, ohne Nachweise. Tun wird mit Lernen gleichgesetzt. Dass man sich mit etwas beschäftigt, heißt aber noch lange nicht, dass dabei “etwas herauskommt”. Das weiß jeder, der mal mit stupidem Fleiß seitenweise Fachliteratur gelesen hat oder jeder, der mal eine Seite Vokabeln gelernt hat. Ob und wann etwas “hängenbleibt”, wann es tatsächlich “Klick” macht, ist oft nicht einmal im Nachhinein zu entscheiden, geschweige denn, vorauszusagen. Lernen ist eine verdammt komplizierte Angelegenheit.

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